Die Sage/Form und Anordnung der Sagen

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Die Tiere in der Sage Die Sage (1908) von Karl Wehrhan
Form und Anordnung der Sagen
Literatur der Sagensammlungen


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XII. Form und Anordnung der Sagen.

Was die Form der Sagen anbetrifft, so ist auf jeden Fall die gebundene Rede nicht vorzuziehen, besonders aber sollte man in Sagensammlungen von solcher Form Abstand nehmen. Wenn gesagt wird, die Sage ist Poesie und hat ursprünglich in gebundener Rede im Volke gelebt, so darf nicht vergessen werden, daß die ungebundene Form oft viel poetischer ist als die gebundene. Reimwerk ist noch lange keine Poesie; heute leben die Sagen auch meistenteils nicht mehr in gebundener Rede im Volke. Damit soll nicht jedem Gedicht, das einen Sagenstoff behandelt, der Stab gebrochen sein; aber wie Meiche[1] richtig sagt, nicht jeder Forscher ist zugleich ein Goethe oder Bürger, und was das wichtigste ist, meist streift eine solche Be- oder Verarbeitung den Schmelz von dem eigenartigen Gebilde. Schon die Brüder Grimm klagen in dem Vorwort zu den deutschen Sagen über die 1815 von Jos. Rud. Wyß herausgegebenen Idyllen, Volkssagen usw. aus der Schweiz: „Ihr Herausgeber hat [104] sie geschickt und gewandt in größere Gedichte versponnen; wir erkennen neben dem Talent, was er darin bewiesen hat, doch eine Trübung trefflicher einfacher Poesie, die keines Behelfs bedarf.“ Überhaupt ist dem, der die Blumen der Sage im Volke pflücken will, die keusche Hand der Brüder Grimm zu wünschen und deren Geleitswort auf den Weg zu geben: „Das erste, was wir bei Sammlung der Sagen nicht aus dem Auge gelassen haben, ist Treue und Wahrheit. Als ein Hauptstück aller Geschichte hat man diese noch stets betrachtet; wir fordern sie aber eben so gut auch für die Poesie und erkennen sie in der rechten Poesie ebenso rein. Die Lüge ist falsch und bös, was aus ihr herkommt, muß es auch sein. In den Sagen und Liedern des Volkes haben wir noch keine gefunden; es läßt ihren Inhalt, wie er ist und wie es ihn weiß; dawider, daß manches abfalle in der Länge der Zeit, wie einzelne Zweige und Äste an sonst gesunden Bäumen vertrocknen, hat sich die Natur auch hier durch ewige und von selbst wirkende Erneuerungen sicher gestellt … Die ungenügsamen Gebildeten haben auch das unverletzliche Gut der Sage mit Unwahrheiten zu vermengen, zu überfüllen und überbieten getrachtet. Dennoch ist der Reiz der unbeugsamen Wahrheit unendlich stärker und dauernder als alle Gespinste … Darum darf ihr [der Sagen] Innerstes bis ins Kleinste nicht verletzt, und darum müssen Sachen und Tatumstände lügenlos gesammelt werden“. Auch auf Kleinigkeiten kommt es da an; eine einzige dialektische Wendung, eine einzige echt volkstümliche und altmodische Redensart besagt für den Volksforscher oft mehr, als eine lange feinstilisierte Beschreibung. Also nicht modernisieren, wenn auch der Stil unbeholfen erscheint. Auch den gedruckten Überlieferungen der Sagenwelt aus früherer Zeit gegenüber kann man am besten recht nachsichtig verfahren; in der alten unbeholfenen Ausdrucksweise ihrer Zeit machen sie meistens einen besseren Eindruck, als der heutigen Sprache angepaßt, und besonders die oft recht unpoetischen Gespenstersagen, die meist aus dem 17. Jahrhundert überliefert sind, hören sich in ihrer altertümlichen Form jedenfalls ursprünglicher und echter an, sie bringen auch äußerlich den charakteristischen Ton jener Zeit mit[2].

[105] Hinsichtlich der Anordnung der Sagen in den Sammlungen begegnen wir noch durchaus keiner Einheitlichkeit; fast jedes Werk geht da seine eigenen Wege. Wo das in der Eigentümlichkeit der geographischen Verhältnisse begründet ist, mag dem nichts entgegnet werden; im Sagenwerk eines größeren Landes muß die Anordnung auch nach den politischen Landesteilen oder besser nach den Landschaftsstämmen berücksichtigt werden. Da die politischen Grenzen mit den Stammes- oder Landschaftsgrenzen nicht immer zusammenfallen, so wird die nach den ersteren Grenzen eingeteilte Sammlung nicht den Eigentümlichkeiten gerecht, welche den Landschaften zukommen, sich auch in den Sagen ausprägen und so eine gewisse Einheit erfordern. Dem kommt der hier und da auch ausgeführte Vorschlag Felix Dahns[3] etwas entgegen, der einer Anordnung nach natürlichen Grenzen der Fluß- und Bachgebiete das Wort redet, so daß das Gebiet jeder Abteilung von einer Wasserscheide zur andern geht. Gewiß bilden Wasserscheiden in den meisten Fällen die Landschaftsgrenzen als natürliche Hindernisse; aber auch diese Einteilung ist nur in gewissen Beschränkungen zweckmäßig. Eine konsequente Durchführung würde die einzelnen Abteilungen so zahlreich machen, daß Zusammengehöriges auseinandergerissen würde; eine jede Wasserscheide ist noch keine Landschaftsscheide. Am besten ist noch immer eine Anordnung der Sagen nach dem sachlichen Inhalt. Die Brüder Grimm sprechen sich allerdings in der Vorrede zu den deutschen Sagen gegen jede chronologische und sachliche Anordnung aus; sie wollen keine Einteilung in Zwerg-, Riesen-, ätiologische und andere Sagen, weil in fast jeder Sage die verschiedensten Elemente lebendig miteinander verwachsen sind, „in jeder mannigfache Verwandtschaften und Berührungen mit andern anschlagen“. Sie ordneten deshalb nach „geheim und seltsam waltenden Übergängen“. Das ist aber schon eine kleine Konzession an die Forderung nach sachlicher Anordnung. Diese ist jedenfalls für den Sammler die schwerste. Er kann wohl öfter in Zweifel kommen, ob eine Sage gerade diesem oder jenem Teile zuzuweisen ist; aber zugegeben, daß in den meisten Sagen verschiedene [106] Züge vorkommen, die dieser und jener Gruppe angehören, daß einzelne als Gespenstersage ansehen, was andere als Schatzsage ansprechen u. a., so tritt doch in fast allen Fällen eine stärkere Hinneigung zu irgend einer bestimmten Gruppe hervor. Die sachliche Einteilung kann aber den übrigen Einordnungsprinzipien daneben auch noch in einer Weise gerecht werden, daß der Forscher alles miteinander verbunden findet und ihm ein langes zeitraubendes und dabei noch unsicheres Suchen erspart bleibt. Das geschieht mit Hilfe eines ausführlichen, peinlich sauber gearbeiteten Sachregisters, das für den Forscher jedenfalls weit mehr Wert hat, als eine gewisse Fülle historischer, philologischer und mythologischer Anmerkungen, die wohl, wie Meiche sagt, viel Gelehrsamkeit auskramen, aber selten vor dem Richterstuhl der Kritik bestehen. Das Sachregister ist mit einem Landschaftsregister, wenn wir es so nennen dürfen, kombiniert, indem die Sagen derselben Gruppe aus je einer Landschaft gemeinsam und so landschaftsweise nacheinander aufgeführt sind. Ein besonderes Ortsregister führt dann noch die einem einzelnen Orte zukommenden Sagen wieder zusammen. Auf diese Weise sind alle Wünsche befriedigt, die man an eine gute Sammlung stellen kann. Im folgenden bringen wir das Sachregister der vielleicht bedeutendsten neueren Sagensammlung, nämlich der von Alfred Meiche[4], der wie folgt einteilt:

A. Mythische Sagen.

I. Seelensagen.
1. Körper und Seele.
2. Seelenheer und Geisterkämpfe.
3. Bergentrückte Geister.
4. Tiergespenster.
5. Gespenster in Menschengestalt.
6. Spuksagen; Poltergeister.
7. Irrwische; Feuermänner; Druckgeister; Binsenschnitter.
II. Elbensagen.
1. Hausgeister.
a) Gütel, Kobold, Spiritus familiaris.
b) Drache.
2. Luft- und Erdgeister (Elfen, Zwerge oder Querxe).
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3. Wald- und Feldgeister.
a) Moosmännchen, Holz- oder Buschweibel.
b) Mittagsfrau.
4. Wassergeister (Nixen, Wassermänner).
III. Dämonen- und Göttersagen.
1. Tierdämonen.
2. Bergdämonen.
3. Winddämonen.
4. Riesen.
5. Götter (germanische und slavische).
IV. Teufelssagen.
1. Der Teufel.
2. Teuselsbündnisse.
a) Hexen.
b) Hexenmeister und Teufelsjünger.
3. Zaubersagen.
V. Wundersagen.
VI. Schatzsagen.
1. Glockensagen.
2. Eigentliche Schatzsagen.


B. Geschichtliche Sagen.

I. Landesgeschichte.
1. Aus der Urzeit unseres Volkes.
2. Aus religiösen Bewegungen.
3. Aus Kriegsnöten.
4. Aus Fehdetagen.
5. Aus den Tagen der Pest.
II. Ortsgeschichte.
1. Ätiologische Sagen (Gründung u. Benennung von Orten).
2. Bergbausagen, Walensagen.
3. Sprungsagen und Ähnliches.
4. Steinkreuzsagen u. dgl.
5. Bausagen.
6. Handwerkssagen u. dgl.
7. Spottsagen.
8. Verschiedenes.
III. Familiengeschichte.
1. Geschlechter-, Helden- und Schildsagen.
2. Sagen über einzelne Personen.


C. Romantische (literarische) Sagen.


[108] „Das Geschäft des Sammlers[5], sobald es einer ernstlich tun will, verlohnt sich bald der Mühe, und das Finden reicht noch am nächsten an jene unschuldige Lust der Kindheit, wenn sie in Moos und Gebüsch ein brütendes Vöglein auf seinem Nest überrascht; es ist auch hier bei den Sagen ein leises Aufheben der Blätter und behutsames Wegbiegen der Zweige, um das Volk nicht zu stören und um verstohlen in die seltsam, aber bescheiden in sich geschmiegte, nach Laub, Wiesengras und frischgefallenem Regen riechende Natur blicken zu können.“


  1. a. a. O. S. XVIII.
  2. Vergl. Meiche, Vorwort z. d. sächs. Sagen S. XVIII f.
  3. Die deutsche Sage (Allgem. Zeitung. 1874. Beil. Nr. 17 ff.) u. Bausteine, gesammelte kleine Schriften. I. Berlin 1879. S. 360 ff.
  4. Alfred Meiche, Sagenbuch des Königreichs Sachsen. Leipzig 1903. Näheres im Vorwort.
  5. Brüder Grimm, Vorrede in den deutschen Sagen.


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