Die Schüler und ihre Lehrer (Theodor Lessing)

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Textdaten
Autor: Theodor Lessing
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Titel: Die Schüler und ihre Lehrer
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aus: Prager Tagblatt, 1. November 1928, S. 3-4
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum: 1928
Erscheinungsdatum: 1928
Verlag: Heinrich Merch Sohn
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Erscheinungsort: Prag
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Quelle: ANNO und Scan auf Commons
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Theodor Lessing (Hannover):

Die Schüler und ihre Lehrer.

Zum Hußmann-Prozeß

Ein dunkler Mord ist geschehen. In einer deutschen Kleinstadt findet man einen Abiturienten des Gymnasiums abscheulich verstümmelt, mit durchschnittener Kehle. Vor dem Zaun seines Elternhauses.

In der Nacht, bevor der Ermordete gefunden wurde, war der Abiturientenkommers. Der Getötete ist gegen zwei Uhr morgens mit seinem Freunde heimgegangen. Vor der Pforte haben sie sich getrennt. Bald danach muß der Mord geschehen sein.

Das Verhältnis der beiden Freunde ist das folgende: Der Getötete ist der einzige Sohn des Rektors Daube. Ein guter Schüler, Sportfreund, körperlich gewandt, aber zart und empfindsam. Der robustere Freund, namens Hußmann, befindet sich mit zwei jüngeren Brüdern in Schülerpension beim Rektor Kleinhöwer. Seine Eltern leben in Mittelamerika. Die zwei Primaner verband eine Zeitlang innige Freundschaft. Die hatte aber in der letzten Zeit Sprünge und Risse erlitten.

Mancherlei Gründe nun verdichteten den gräßlichen Verdacht: der Schüler Hußmann könne nach dem nächtlichen Trinkgelage seinen Freund Daube umgebracht haben. Aus Eifersucht. Aus Rache. Vielleicht nur infolge geschlechtlicher Belastung.

Der Prozeß dauerte durch zwei Wochen. Er hielt alle Leser deutscher Zeitungen in Atem. Das Ergebnis war: Der dunkle Mord blieb unaufgeklärt. Die gegen den jungen Hußmann zeugenden Indizien fallen in sich zusammen. Seine Angaben erwiesen sich durchwegs als richtig. Auch für das einzige Anzeichen, das ihn wirklich ernst belastete, Blutspuren an seinen Stiefeln, fanden sich mehrere andere Erklärungsmöglichkeiten. Wie bei allen derartigen Mordprozessen, die die Phantasie breiter Menschenmassen beschäftigen, entstand alsbald ein Rattenknäuel von Vermutungen, Unterstellungen, Möglichkeiten.

Nicht weniger als zehn Personen meldeten sich bei der Staatsanwaltschaft mit der Selbstbezichtigung: die Schändung und Ermordung des unglücklichen jungen Daube vollführt zu haben. Es fanden sich Zeugen für eine in derselben Nacht in der Nähe des Tatortes stattgefundene blutige Messerstecherei. Ein Zeuge will in der Nähe der Leiche ein Auto mit unbekannten Männern gesehen haben. Ein Schlächtergeselle namens Osthof, der bald nach dem Bekanntwerden der Mordtat Selbstmord verübte, soll vor dem Tode sich der Tat bezichtigt haben. Aber andere Zeugenaussagen machten auch diese Version recht unwahrscheinlich. Es sei gestattet, im folgenden auf einige Punkte hinzuweisen, die bei dieser Schülertragödie auffallen.

Wie immer die düstere Mordgeschichte sich abgespielt haben mag, es ist eine merkwürdige Schülerschaft und Lehrerschaft, die dieses Gymnasium der kleinen Stadt Gladbeck bevölkert.

Die seelischen Einstellungen, die sich in den Verhandlungen offenbarten, verrieten oft solche Verkehrtheit oder gar Borniertheit, daß dem Ethiker, dem Pädagogen doch dabei graute. Zunächst die Entäußerungen des beschuldigten Schülers Hußmann. Man rühmte seine Selbstbeherrschung, Sicherheit, undurchdringliche Sachlichkeit. Aber gerade diese Erweise erschienen oft erschreckend unnatürlich in der Lage des jungen Menschen. Ihm ist sein liebster Freund ermordet, und er redet vor Gericht vom „Objekt der Tötung“. Der Junge redet, als wenn ihn der Fall nichts anginge. Er ist bärenstark und hält fünf Liter Bier für einen normalen Festtrunk. Aber er frömmelt in ganz unjugendlichen Briefen, süßlich und keineswegs naturecht.

Die Verworrenheit der jungen Leute (die doch einige Jahre später „die führenden Häupter der Nation“ sind) ist erstaunlich. Worüber sprechen sie? Was haben sie für Inhalte, Ziele, Ideale? Sie streiten, ob es feudaler sei, in Bonn oder in Erlangen „aktiv“ zu werden. Sie männern auf Kommersen, bei denen studentische Sitte und Unsitte nachgeahmt wird. Mit dem stählernen Schläger wird gefuchtelt und auf die Platte geschlagen, „in die Kanne gestiegen“, „Prost Blume“ getrunken, „Salamander gerieben“. Und am Tage darauf schwefeln sie im „Bibelkränzchen“ über die Nachfolge Jesu und das Ideal christlichen Lebenswandels. Wie verträgt sich das? Ungesund ist ihr Verhältnis zum anderen Geschlecht, ungesund das zum eigenen Geschlecht. Sie treiben viel gesunden Sport neben Grammatik der alten Sprachen. Sie prügeln und knuffen sich wie Knaben und ihr Führer ist der Muskelstärkste. Das ist der Jugend gutes Recht. Aber erschreckend ist bei alle dem die Seelenöde, die Gefühlsstumpfheit ihres Lebens. Ebenso unverständlich unnatürlich wie diese verbildete Jugend aus gutem Bürgertum sind ihre Lehrer, ihre Eltern, unfrei, von schiefen Idealen besessen. Zunächst: Alte und Junge wissen nichts von einander. Sie leben unter demselben Dache, zehn Jahre, zwanzig Jahre. Und kennen nicht einer den andern.

Die Mutter des Ermordeten sah in ihrem Jungen das Ideal religiöser Zucht, sittlicher Reinheit, männlicher Unberührtheit. Daß er nachts ausblieb, auf Kommersen zehn Glas Bier und mehr trank, seine Schwärmerei für Mädchen, für Freunde, das alles hat die Mutter nie beunruhigt, nie zum Denken gestimmt. Der Vater hört nachts drei vor dem Hause die Hilfeschreie des Sohnes. Er macht darüber eine schriftliche Notiz: „Ich hörte vor dem Fenster laut Hilfe schreien. Ich dachte bei mir: Der hat wohl auch genug gekriegt. Dann ging ich in das Zimmer des Jungen, um zu sehen, ob er zurückgekehrt sei. Da ich sah, daß er noch nicht zurückgekehrt war, so beruhigte ich mich, ging zu Bett und schlief ein.“ Wer kennt sich aus in der Seele des Mannes? Wieso ist es, nachdem er Hilfeschreie gehört hat, beruhigend, daß der Sohn nachts um drei noch nicht zu Hause ist? Und pflegen christliche Rektoren so auf Hilfeschreie zu antworten? Er hört einen Gepeinigten schreien, konstatiert gemütsruhig: Der hat wohl auch genug gekriegt, legt sich zu Bett und schläft weiter. Der selbe Vater äußert, als der Mord festgestellt und der junge Hußmann verhaftet wird, zu seiner unglückseligen Frau: „Wenn es Hußmann gewesen ist, Mutter, dann müssen wir ihm verzeihen und wollen ihn nicht hassen.“ Das ist zu viel an Edelmut und Nächstenliebe. Zeitungen haben des Vaters Heldentum bestätigt; ich kann mir nicht helfen, ich sehe darin nur ein Stück Unnatur.

Wenn mein einziges Kind, am Tage, wo er mannbar geworden ist, in die Welt hinaustreten soll, gemordet, geschändet, verstümmelt wird vom Freunde, dann ist die einzig gesunde und mögliche Reaktion die: zu wünschen, daß der unselige Täter, der den Namen Mensch durch solche Tat geschändet hat, schleunigst an sich selber Gericht vollstrecken möge. Gewisse Dinge darf niemand „verzeihn“ können. Es sei denn, daß er, ein wahrer Heiliger, sich selber den Tod gäbe, um nicht einen anderen hassen zu müssen.

[4] Die gleiche Art Seelenverstumpfung zeigte sich aber auch an anderen Seiten des Prozesses. Es liegt nämlich so, daß gleichgültig, ob die Untat wirklich geschehnn ist oder nicht geschehen ist, die bloße Annahme, daß gewisse Taten bei gewissen Menschen überhaupt möglich sein könnten, eine ethische Abstempelung der Menschen in sich birgt. In vielen Fällen (zum Beispiel bei dem jüngst in Dresden verahndelten Gattenmordprozeß) führt die Unmöglichkeit des lückenlosen Indizienbeweises zum Freispruch, dennoch aber bleibt der bittere Nachgeschmack: Diesem Angeschuldigten wäre solche Tat immerhin zuzutrauen. Ich glaube nun, daß dort, wo eine gesunde Jugend natürlich aufblüht, kaum je ein Junge von 18 Jahren gefunden wird, dem man die ungeheuerlich bestiale Tat von Gladbeck überhaupt zutrauen könnte, so, daß man nach langen Monaten der Prüfung und Untersuchung nicht ganz sicher wissen müßte: Es kann das ja gar nicht gewesen sein! Hat man diese volle Sicherheit nicht, so ist da schon viel zu viel Faules.

Aus dem Wust des Gladbecker Prozesses drang nicht eine wirklich freie, gute, menschliche Stimme an unser Ohr. Bezeichnend für den Geist des Falles schien mir auch dies: Der Angeschuldigte schickt aus dem Gefängnis Kassiber an seine Mitschüler, in denen er von den ihn vernehmenden Kriminalbeamten (deren Protokoll freilich ein Monstrum an brutaler Ungeschicklichkeit darbot) aussagt, sie seien „Sozialisten“ und „Republikaner“. In diesem Kreise angehender Studenten ist das Wort Sozialisten und ebenso das Wort Republikaner – ein Schimpfwort. Das Gericht, Beamtete einer Republik, findet für solche Geschmacklosigkeit keine Rüge …

Unbegreiflich die Lehrer! In allen deutschen Landeserziehungsheimen ist es längst erreicht, daß die Lehrer sich verpflichten, so lange sie Lehrer sind, weder zu rauchen noch zu trinken. Daß kein Schüler Alkohol genießen darf, versteht sich für die moderne Pädagogik ganz von selber. Der Direktor des Gymnasiums in Gladbeck veranstaltet mit seinen Kindern Kommerse. Die Studienräte kneipen mit. Feste trinken ist männlich. Daneben blühen die Stahlhelm- oder Bibelkränzchenideale. Kommt es nun aber zur Aussprache von Seelischem, dann stellt sich heraus, daß die Lehrer nichts von Dem gesehen haben, was unmittelbar vor ihren Augen geschah. Die Lehrer müssen den Saal verlassen, damit die Schüler und auch noch die ehemaligen Schüler frei reden, denn sie würden vor den „Paukern“ nie ihr Inneres preisgeben. Wo das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern gesund ist, so sollte man meinen, da dürfte keiner mehr mein Vertrauen haben als der Lehrer, der für mich denkt und sorgt und mit dem ich meine ganze Jugend verbrauchte. Die Verlogenheit des Anbiederns und Verbrüderns bei Alkohol und Parteiphrase zeigt sich immer in den Augenblicken, wo wirklich Verständnis der Herzen, Seelengemeinschaft, wechselweises Vertrauen offenbar werden müßte. Dort aber, wo bei den Lehrern wirklich der Versuch psychologischen Durchdringens aufleuchtete, da zeigt sich deutlich eine Seelenkunde, die aus Papier und Büchern kommt, nicht aus lebendigem Eigengefühl und Zusammenleben Mensch und Mensch. –

Wie immer die Rechtslage des Falles sein mag, wie immer der gräßliche Mordfall künftig sich aufklärt, solche Prozesse werfen Lichter auf Erziehung und Seele, Wirtschaft und Gesellschaft. Dieser Prozeß hat gezeigt, daß noch viel zu tun ist, nicht nur zur Erziehung der Kinder, sondern auch der Lehrer.