Die Stiefmutter (Gerstäcker)

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Autor: Friedrich Gerstäcker
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Titel: Die Stiefmutter
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aus: Die Gartenlaube, Heft 48, S. 631–636
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Die Stiefmutter.

Eine Erzählung von Fr. Gerstäcker.

In dem freundlichen, von weiten Laubgängen durchzogenen Garten eines kleinen Landhauses lustwandelte eine hohe, stattliche Frau, deren ernster wenn auch milder Blick reiferes Alter verrieth, als die sonst noch fast frischen und jugendlichen Züge wohl eingestehen mochten. Die Jahre schienen kaum ihre Spur auf dem lieben Antlitz zurückgelassen zu haben, und ein junges Mädchen von etwa siebzehn Jahren, das jetzt auf sie zusprang und sie küßte und „liebe Mutter“ nannte, hätte fast eben so gut für eine jüngere Schwester gehalten werden können.

„Denke Dir nur, Mama,“ rief die Letztgekommene, während die Mutter ihr liebkosend die vollen, kastanienbraunen Haare zurück strich und ihre Stirn küßte, „denke Dir nur, unser Nachbar Pahlmann wird wieder heirathen, und die arme Adele bekommt jetzt eine Stiefmutter!“

Eine leichte Wolke, wie ein zuckender Schmerz, schoß über die lieben offenen Züge der Mutter, aber wie der an der Sonne vorüberstreichende Schatten schwand sie wieder und ruhig sagte sie:

Arme Adele? – Weshalb bedauerst Du sie? – Ist es nicht viel besser für die Kinder, wenn sie wieder eine Mutter in’s Haus bekommen, die sorgsam das Hauswesen in Ordnung hält und der Wirthschaft ein Ende macht, die gemiethete Leute die letzten Jahre dort geführt?“

„Das schon, liebe Mutter,“ erwiderte Sabine, wie das junge Mädchen hieß, etwas verlegen, „aber eine Stiefmutter.“

Die sanften Augen der Frau trübten sich immer mehr, sie faßte der Tochter Hand und sagte freundlich, doch mit recht ernst zum Herzen dringendem leisen Ton:

„Und so hat Alles, was ich Dir über das häßliche Vorurtheil bis jetzt gesagt, und wovor ich Dich gewarnt habe, liebes Kind, doch nichts gefruchtet, und Du plauderst nach, was Du die Menge plaudern hörst. Leider schmücken die Verfasser der Kinder- und Jugendbücher ihre Erzählungen nur zu gern mit den billigen Schrecknissen einer bösen Stiefmutter aus, die arme Kinder peinigt und quält, und in unserer Zeit schon den Namen einer Stiefmutter mit dem einer recht schlechten bösen Frau ganz gleichbedeutend gemacht hat. Die Herzen der Kinder werden dadurch von frühester Jugend auf mit Haß und Furcht vor allen Stiefmüttern erfüllt, und nimmt das Schicksal ihnen die eigene Mutter und bringt der Vater eine zweite Frau in’s Haus, dann hat die Aermste, mag sie es so gut auch mit den Kindern meinen, wie sie will, gleich von Anfang an ein furchtbares Vorurtheil zu bekämpfen, das ihr entgegensteht, und nur zu oft all ihre Müh’ und Liebe zu Schanden macht. Komm, Sabine,“ fügte sie dann hinzu, als das junge Mädchen verlegen still schwieg. „Setz Dich zu mir hier auf die Bank, ich will Dir eine Geschichte erzählen aus früherer Zeit – vielleicht ändert das, wenn irgend etwas, Deinen Sinn.“

Sabine folgte der Mutter zu der Gartenbank unter dem blühenden Fliederbaum. Dort, mit der Rechten die Hand der Tochter gefaßt, den linken Ellbogen auf den niedern neben ihr stehenden Tisch, und das Haupt in die linke Hand gestützt, während die dunklen schwermüthigen Augen sinnend und der alten Zeiten gedenkend den Boden suchten, begann sie mit ihrer klaren, so zum Herzen sprechenden Stimme in folgender Weise:

„In dem kleinen Städtchen Wendheim am Rhein lebte ein wackerer, ziemlich bemittelter Kaufmann, den ich Olbers nennen will, in so freundlichen und glücklichen Familienverhältnissen, wie es sich ein Mensch nur wünschen kann. Seine Frau hatte ihm in sechsjähriger Ehe zwei Kinder, einen Knaben und ein Mädchen geboren. Das Mädchen war aber erst sieben, der Knabe fünf Jahr alt, als ein Nervenfieber, das überhaupt in der Stadt wüthete und zahlreiche Opfer forderte, auch in diesen friedlichen Kreis guter Menschen seine Schrecken sandte. Die Mutter erkrankte und starb trotz jeder Sorgfalt, jeder Pflege schon nach wenigen Tagen.

Für den Gatten wie die Kinder begann jetzt eine recht schwere, traurige Zeit. Die Mutter hatte sich des ganzen Hauswesens so angenommen gehabt, so jedes Einzelne überwacht und geleitet, daß sie nicht allein in den Herzen der ihr theueren Wesen schwer vermißt wurde, sondern auch in jeder Kleinigkeit im Hause selber fehlte. Für den zurückgebliebenen Gatten freilich hatte alles Andere, mit dem furchtbaren Schlag, der ihn in dem Verlust seines Weibes betroffen, seine Bedeutung verloren. Nur die nothwendigsten Arbeiten zu leiten, nahm er eine Haushälterin in seine Familie auf, ja überließ dieser sogar die Sorge für seine Kinder. In fast übermäßigem Eifer für seine Geschäfte schien er indeß Betäubung zu suchen, und den herben Schlag, der ihn getroffen, durch unausgesetzte Arbeit zu ertödten – wenigstens auf kurze Zeit zu vergessen.

Drei volle Jahre hatte er es solcher Art getrieben. Wie sich aber der Schmerz um den erlittenen Verlust mit der Zeit abstumpfte, wandte sich seine Aufmerksamkeit auch wieder mehr den häuslichen Verhältnissen, seinen Kindern, seiner eigenen Bequemlichkeit zu. Da fand er denn freilich bald, daß nicht Alles so war, wie es eigentlich sein sollte. Es war ungemüthlich bei ihm geworden; er fühlte sich fremd in den eigenen Räumen. Die Kinder selber kamen ihm [632] dabei verwahrlost vor, wenn er sie mit früher verglich, wo sie unter dem Auge der sorgenden Mutter aufgewachsen. Er sah ein, daß er gefehlt hatte, sich seiner eigenen Familie so ganz zu entziehen, und wollte das jetzt durch verdoppelten Eifer und unnachsichtige Strenge wieder gut machen. Dadurch entstand Streit und Unfrieden mit der Haushälterin, der ernstlich zu begegnen er von zu gutmüthigem, schwankendem Charakter war. Sein häuslicher Frieden aber, um dessentwillen er doch eigentlich Alles ertrug, wurde dadurch nur noch mehr und mehr verbittert. Ein verzweifelter Entschluß war es endlich, der ihn dazu trieb, mit der Erinnerung an die verstorbene Gattin noch so warm im Herzen, auf’s Neue zu heirathen, und seinen Kindern wieder eine wirkliche Mutter zu geben. Möglich, daß er auch nur auf diese Art glaubte sich der ihm lästig werdenden Wirthschafterin entledigen zu können.

Olbers, übrigens selber schon in den reiferen Jahren, war vernünftig genug, zu seiner zweiten Lebensgefährtin eine nicht mehr ganz junge Frau zu wählen. Diese, eines Arztes Wittwe, zog ihn zuerst durch ihr stilles, bescheidenes Wesen an, und als er sie näher kennen lernte, fühlte er sich bald fest überzeugt, daß sie ihm selber eine brave Gattin, seinen Kindern eine Mutter, seinem Alter eine treue Pflegerin, seinem Hauswesen eine tüchtige Wirthin werden würde.

So geheim er übrigens diese seine Absichten, gehalten haben mochte, hatten die Nachbarinnen doch nur zu bald gemerkt, um was es sich hier handele. Sie säumten denn auch natürlich nicht, vor allen Dingen die Haushälterin von der vermutheten Thatsache in Kenntniß zu setzen, die jedenfalls am Stärksten dabei interessirt sein mußte. Diese auch, die recht gut wußte, daß mit einer neuen Frau im Hause ihr Regiment dort ein rasches Ende nehmen würde, war außer sich und machte ihrem Herzen in allen möglichen Ausrufungen und Befürchtungen Luft. „Die armen Kinder bedauere sie nur am Meisten, denn sie selber mache sich, wie sie meinte, auch nicht so viel aus der Verbindung. Nur die Kinder wären zu beklagen, die bis jetzt wie im Himmel gelebt hätten, und nun ganz plötzlich unter die eiserne Ruthe einer Stiefmutter kommen sollten, Sie wüßte, was es hieß, eine Stiefmutter im Hause haben, sie hätte das schon aus tausend und tausend Büchern gelesen, und wenn Herr Olbers, der übrigens sein eigener Herr wäre und thun und lassen könne, was er wolle, solcher Art blind und taub in sein eigenes Schicksal hineinrenne, so möge er denn auch nachher sehen, wie er damit fertig würde. Das Einzige, was ihr jetzt zu thun übrig bleibe, sei, die armen Kinder so viel als möglich auf das was sie erwarte, vorzubereiten. Könne sie ihnen später noch helfen und beistehn, so solle das mit Freuden und mit Aufopferung aller ihrer Kräfte geschehen. Sie sei das ja allein der Seligen schuldig.“

Die Kinder spielten eben in ihrer Stube, als Tante Louise, wie die Haushälterin gewöhnlich in der Familie genannt wurde, von der Freundin zurückkam, von der sie die erste Nachricht über die Verlobung erhalten hatte.

„Wißt Ihr die Neuigkeit schon?“ sagte die Wirthschafterin, als sie zu ihnen in’s Zimmer trat, „Ihr bekommt eine Stiefmutter.“

„Eine Stiefmutter?“ rief Franz erschreckt. –

„Eine Stiefmutter?“schrie Lisbeth. „Wir wollen keine Stiefmutter, Tante Louise, wir wollen Dich behalten. Eine Stiefmutter schlägt und kneipt uns, und giebt uns nicht satt zu essen.“

„Was sollen wir mit einer Stiefmutter?“ klagte auch Franz, „daß es uns etwa geht, wie der armen Geldmarie?“[1]

„Oder wie Aschenbrödel[1] und Schneeweißchen,“[1] setzte Lisbeth hinzu,

„Oder daß sie mir gar den Kopf mit dem Kistendeckel abschlägt,“ rief Franz, „wie es in der schönen Geschichte vom Wachholderbaume[1] steht, die Du uns so oft vorgelesen hast? – Aber dann würde ich auch singen:

„Meine Mutter, die mich g’schlacht,
Mein Vater, der mich aß,
Mein’ Schwester, das Marlenichen
Sucht alle meine Beenichen,
Bind sie in ein seiden Tuch,
Legt’s unter den Wachholderbaum.
Kiwit, Kiwit,
Was für ein schöner Vogel bin ich!“

und wenn die böse Stiefmutter dann vor die Thür käme, würf’ ich ihr den großen Mühlstein auf den Kopf, daß sie in tausend Stücken ging.“

„Nun, so schlimm darf sie es schon nicht machen,“ sagte die Wirthschafterin, „das leidet die Polizei gar nicht. Und dann brauchtet Ihr auch nur zu mir zu kommen; ich wollte Euerem Vater schon reinen Wein einschenken.“

„Aber ich mag keine Stiefmutter,“ weinte Lisbeth, „dann bete ich lieber zu Gott, daß das Himmelsmütterlein zu mir kommt und mich fortnimmt mit sich, wie wir es in der „schwarzen Tante“ gelesen haben.“

Die Kinder weinten jetzt Beide und Tante Louise tröstete sie und sagte ihnen, daß sie immer, wenn sie die Stiefmutter auch fortschicke, dann und wann zu ihnen kommen und sie besuchen wolle. Und wenn sie die Stiefmutter schlecht behandele, sollten sie es ihr nur sagen; sie wolle schon dafür sorgen, daß es der Vater erführe und ihnen kein Unrecht geschähe. Jetzt aber sollten sie sich noch nichts merken lassen, sonst bekäme sie, die Tante Louise, Ausgezanktes darüber, und sie habe es doch gut mit ihnen gemeint.

Hätte sich Olbers mehr um seine Kinder und sein Hauswesen bekümmert, so würde er wohl gesehen haben, daß den Kleinen etwas auf dem Herzen läge, was sie ängstigte und drückte. Aber die neue Heirath ging ihm auch im Kopf herum, und mit seinen anderen Geschäften blieb ihm keine Zeit, auf das zu achten, was dem Vater immer das Wichtigste bleiben sollte, will er nicht später schwere Verantwortung auf sich nieder ziehen: das Wohl der eigenen Kinder. Nur zu empfänglich für fremde Eindrücke ist des Kindes Herz, und die zu überwachen, daß sie wohlthätig und segensreich darauf einwirken, und nicht bösen Samen in die junge Brust tragen, sollte das Hauptziel und Augenmerk der Aeltern sein. Wie häufig aber wird gerade das von ihnen vernachlässigt, und das ganze Leben des Kindes in die Hand gleichgültiger Personen gelegt. Nur daß die Kleinen artig sind, verlangen sie von denen, und wie oft auch noch mehr ihrer selbst, als der Kinder wegen; an das Andere denken sie gar nicht.

Heinrich Olbers hatte indessen wirklich um die junge Wittwe geworben und das Jawort erhalten; auch eine glückliche Wahl für sich und die Seinen getroffen, denn Sabine, wie seine Braut hieß, war eine brave, wackere Frau und sich des schweren Berufes, dem sie sich unterzog, die Mutter fremder Kinder zu werden, vollkommen bewußt. Mit sorgender Liebe hoffte sie sich die Herzen der Kleinen bald zu gewinnen, und wenn sie ihnen auch nicht die verstorbene Mutter so vollständig wieder ersetzen konnte, sollten sie in ihr doch eine treue Freundin, eine zweite Mutter finden.

Sabine hatte gewünscht, die Kinder vor ihrer Verheirathung einmal zu sehen, und mit ihnen zu sprechen, und Olbers befahl der Wirthschafterin eines Nachmittags, die Kinder rein anzuziehen. Sie waren ihm noch nie so schmutzig und vernachlässigt vorgekommen – weil er eben gerade heute besonders auf sie achtete.

„Und wozu wollen Sie heute, an einem Sonnabend, mit den Kindern Besuche machen?“ frug die Wirthschafterin, die sich den Grund recht gut denken konnte, und damit auch ihre letzte Hoffnung von einem möglichen Nichtzustandekommen der Verbindung schwinden sah. „Es ist schon drei Uhr, und bis morgen früh sind sie wieder schmutzig.“

„Dann müssen sie wieder rein gekleidet werden, Louise,“ sagte Olbers ernst. „Ich wünsche überhaupt nicht, daß ich die Kinder noch einmal in einem solchen Zustande finde. Uebrigens,“ fuhr er rasch fort, als er sah, daß die Wirthschafterin etwas darauf erwidern wollte, „will ich Ihnen hiermit gleich etwas anzeigen, das von heute an doch kein Geheimniß mehr bleiben kann. Ich bin mit der verwittweten Frau Sabine Helbig verlobt und werde heute über vier Wochen Hochzeit halten.“

„Heute über vier Wochen schon?“ rief Louise erschreckt.

„Ja, allerdings,“ lautete die ernste Antwort. „Es versteht sich von selbst,“ fuhr Olbers dabei freundlicher fort, „daß die neue Hausfrau dann auch das Hauswesen übernehmen wird. Damit Sie aber indessen nicht außer Brod sind, und Zeit behalten, sich nach einer andern passenden Stelle umzusehen, werde ich Ihnen indessen bei einer Verwandten einen Platz verschaffen, in dem Sie wenigstens so lange bleiben können.“

„Ich danke Ihnen, Herr Olbers,“ entgegnete aber etwas schnippisch und beleidigt Mamsell Louise – „man ist auch nicht blind, man hat seine Augen und kann selber sehen. Der Herr Olbers [633] brauchen nicht etwa zu glauben, daß Sie mir ein Geheimniß entdecken. Wie das kommen würde, habe ich mir aber schon im voraus gedacht, und mit einer Stiefmutter hätt’ ich mich doch hier nicht vertragen. Ich hätt’ es der Kinder wegen nicht mit ansehen können, und habe mich deshalb schon unter der Hand nach einer neuen Stellung umgethan. Gott sei Dank, Leute, die ihre Sache verstehen, finden überall in der Welt ein Unterkommen, und ich brauche keine Minute außer Platz zu sein. Wenn ich Ihnen jetzt im Wege bin, kann ich schon morgen der Madame Olbers den Platz räumen, von der ich wünschen will, daß Alles mit ihr so einschlagen mag, wie der Herr Olbers jetzt vielleicht glauben.“

Olbers war eben nicht angenehm überrascht, daß seine Wirthschafterin die neue, so geheim gehaltene Verbindung als eine alte, stadtbekannte Sache betrachtete , und schon so lange darum wußte. Er überhörte darüber auch den zweiten, bitteren Theil ihrer Rede, und erwiderte nur rasch und etwas verlegen lächelnd:

„Nein, Mamsell Louise, so rasch kann ich Ihre Dienste nicht entbehren; Sie sind mir noch sehr nothwendig im Haus, und ich bin auch keinesweges undankbar genug, zu vergessen, wie eifrig Sie sich meiner Wirthschaft und Kinder in der ersten schweren Zeit nach dem Tode meiner seligen Frau, wie auch später angenommen haben. Ich werde Ihnen das nie vergessen.“

„O bitte, Herr Olbers – war nicht mehr als meine Schuldigkeit,“ versetzte die Haushälterin, keineswegs dadurch zufriedengestellt. „Wenn nur andere Leute, die nach mir kommen, ihre Schuldigkeit eben so gut erfüllen. Die armen Kinder sind am Meisten zu beklagen.“

„Ich hoffe nicht, Mamsell Louise,“ sagte Olbers rasch – „Sabine Helbig liebt die Kinder und ich bin gerade im Begriff, sie zu ihr hinzuführen. Sie wird ihnen eine treue Mutter sein.“

„Das gebe Gott,“ sagte Mamsell Louise, nahm ihre Schlüssel auf und warf die Thür hinter sich in’s Schloß, daß die Scheiben klirrten.




Eine Stunde später ging Herr Olbers, mit den beiden Kindern an der Hand, der Wohnung seiner Braut entgegen. Die Augen der Kinder sahen aber roth und verweint aus, denn Mamsell Louise hatte ihnen gesagt, daß sie jetzt zum ersten Male der neuen Stiefmutter vorgeführt werden sollten, die dann wahrscheinlich bestimmen werde, was mit ihnen anzufangen wäre. Sie hatten sich im Anfange auch gesträubt, und gar nicht mitgehen wollen, das Herz war ihnen gar so schwer geworden, bis ihnen die Mamsell selber Muth einsprach und sie versicherte, die Stiefmutter werde ihnen nicht gleich etwas zu Leide thun. Sie sollten ihr nur zeigen, daß sie sich nicht vor ihr fürchteten.

Sabine hatte die Kinder schon mit Sehnsucht erwartet. Sie ging ihnen bis draußen an die Saalthür entgegen, und umarmte und küßte sie.

„Habt mich lieb, Ihr Kleinen,“ sagte sie dabei zu ihnen, während ihr die Thränen in den großen, klaren und so gutmüthigen Augen standen, „und ich will mit ganzer Seele an Euch hängen und Euch wieder lieben. Die verstorbene Mutter kann ich Euch freilich nicht ersetzen, aber eine treue Mutter will ich Euch dennoch werden nach meinen besten Kräften.“

„Aber doch nur eine Stiefmutter,“ sagte Lisbeth, und sah scheu den Bruder an.

Der armen Frau gab es bei dem Worte einen jähen Stich durch’s Herz. Es lag ein so herber Vorwurf darin, der doppelt schmerzlich von des Kindes Lippen klang und ihr unendlich weh that. „Wohl nur eine Stiefmutter,“ sagte sie endlich mit leiser, tiefbewegter Stimme, „aber doch eine Mutter, und wenn Ihr selber erst einmal erwachsen seid, Ihr lieben Kleinen, werdet Ihr begreifen lernen, was der Name bedeutet. Fürchtest Du Dich etwa vor einer Stiefmutter, Lisbeth, und glaubst Du, daß sie böse mit Dir sein würde?“

„Ja!“ sagte das Kind, halb in Angst, halb in Trotz der freundlich nach ihr ausgestreckten Hand entweichend – „wir wollen keine Stiefmutter haben.“

„Wer, um Gottes willen, hat den Kindern das in den Kopf gesetzt?“ rief Olbers jetzt erschreckt und tief erschüttert aus – „Lisbeth, Lisbeth! Du bist ein böses, unartiges Kind, und machst Deiner Mutter Schmerz, ehe sie nur unsere Schwelle betreten. Sieh, Franz ist weit artiger.“

„Franz mag auch keine Stiefmutter haben,“ sagte der Knabe trotzig, „daß sie mir den Kopf mit dem Kistendeckel abdrückt oder Lisbeth vergiftete Aepfel giebt.“

„Laß die Kinder, Heinrich,“ bat die Frau, als sie sah, wie der Vater ärgerlich darauf erwiedern wollte. „Sie haben den Kopf voll von den Märchen und Geschichten böser Stiefmütter, mit denen unsere Kinderbücher leider gefüllt sind, und der Zeit allein muß es überlassen bleiben, das zu verdrängen. Wenn sie mich näher kennen lernen, werden sie finden, daß ich ihnen keine solche Stiefmutter bin, und mich am Ende doch lieb gewinnen müssen.“ Sie küßte dann die Kleinen nochmals, die sich das nur ungern gefallen ließen und frug dann nach ihren Stunden und Spielen, bekam aber doch unvollkommene, scheue Antworten, und der Vater, der wohl fühlte, wie weh das unfreundliche Betragen der Kinder dem Herzen der armen Frau thun mußte, nahm sie bald wieder mit sich fort.

Vier Wochen später war die Hochzeit. Mamsell Louise verließ an demselben Tag, an dem die junge Frau einzog, das Haus, und nahm von den Kindern, die festlich gekleidet vor der Thüre spielten, während der Vater noch in der Kirche war, Abschied.

„Arme Kinder,“ sagte Madame Schmidt, die gekommen war, ihre Freundin abzuholen, indem sie Lisbeth aufnahm und küßte und Franzens Lockenkopf streichelte – „arme Kinder, Ihr bekommt nun heute eine Stiefmutter – aber wenn sie Euch knapp hält oder gar schlägt, dann kommt nur zu mir herüber. Ich bin es Euerer seligen Mutter schuldig, daß ich mich ihrer Kinder annehme. Ach, was die Männer doch für schreckliche Geschöpfe sind und daß sie eine solche Frau vergessen können.“

Die Kinder hörten auf zu spielen; es war ihnen gar so ängstlich und beklommen zu Muthe, und all’ die alten Geschichten und Märchen, die sie über böse Stiefmütter gehört, und die nur zu häufig und thörichter Weise den Kinderherzen eingeprägt werden, fielen ihnen wieder ein. Eine Stiefmutter war für sie, mit den Vorbildern von Aschenbrödel, Schneeweißchen, dem Wachholderbaum und wie die unglückseligen Erzählungen alle heißen, das Schrecklichste, was sich ihre jugendliche Phantasie nur ausmalen konnte, und als sie nun sogar auch noch von fremden Leuten bedauert wurden, fingen sie bitterlich an zu weinen.

Der Nachmittag und Abend verging in einem wahren Gewirr von Dingen. Es war eine Menge Leute geladen worden, die Hochzeit mit zu feiern, und wie das bei Hochzeiten ist, die Gäste tanzten und waren guter Dinge. Nur die junge Frau blieb still, so viel Mühe sich auch ihr Gatte geben mochte, sie aufzuheitern und fröhlicher zu stimmen. Sie hatte die Kinder zu Bett bringen wollen, diese aber weinten und schrien, als sie zu ihnen in’s Zimmer trat, und wollten sich nicht anrühren lassen. Sabine war dann still, und ohne Jemandem ein Wort zu sagen, zu der Gesellschaft zurückgegangen, aber sie vermochte nicht die schmerzlichen Gedanken zu bannen, daß ihr die Kinderherzen so entzogen sein sollten. Sie kam sich wie eine Fremde in dem Hause vor, daß von jetzt an ihre Heimath war, und selbst das Bild der früheren Gattin Olbers, das in der Wohnstube nach wie vor seinen Platz behauptete, schien ernst und zürnend auf sie niederzuschauen, als ob es sie aus den einst behaupteten Räumen zurückweisen wollte.




Sabine fand auch bald, daß ihre Furcht nicht ganz grundlos gewesen war, und sie in ihrem neuen Wirkungskreis mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte.

Die Mutter von Olbers verstorbener Frau, die stets großen Einfluß auf ihren Schwiegersohn ausgeübt, wohnte in derselben Straße mit ihnen und besuchte sie besonders in den ersten Wochen ihrer Ehe häufig. Theils geschah das, wie sie sagte, ihnen die Wirthschaft mit in Ordnung bringen zu helfen, „wie es ihre selige Tochter gehalten hätte,“ damit Olbers nicht so viel von seinen früher gewohnten Bequemlichkeiten vermisse, theils „nach den Kindern zu sehen.“

Sabine, von mildem, freundlichem Charakter empfing sie stets auf das Herzlichste, und folgte, wo das irgend ging, ihren Anordnungen. Den Kindern selber suchte sie dabei, wie sie es auch versprochen, in jeder Hinsicht die Mutter zu ersetzen, und vor allen Dingen ihre Liebe, ihr Vertrauen zu erwerben. Dabei aber hatte sie einen schweren Stand. Die Kinder waren in den letzten Jahren von der Wirthschafterin entsetzlich verwahrlost, von der Großmutter arg [verzogen worden, und gerade, wenn sie als] Mutter [634] an ihnen handeln und sie zu guten tüchtigen Menschen erziehen wollte, durfte sie das nicht Alles nachsehen, und mußte es ändern. Zuerst versuchte sie es wohl mit Liebe und ernsten Ermahnungen; sie wusch die Kinder selber und hielt sie zur Reinlichkeit an, sie regelte ihre Arbeits- und Spielstunden und verwieß ihnen die zahlreichen Unarten und Neckereien. Wo sie sich aber den eingerissenen Uebeln ernsthaft entgegenstellte, liefen die Kinder zur Großmutter, klagten ihr ihre Noth, und bekamen von ihr Näschereien, sie zu trösten und zu entschädigen.

Sabine erfuhr das und machte dem Gatten ernsthafte Vorstellungen darüber. Olbers hatte aber so viel mit seinen Geschäften zu thun und dabei eine so durch lange Jahre eingewurzelte Scheu vor seiner Schwiegermutter, besonders in allen die Kinder betreffenden Fällen, daß er sich jeder persönlichen Einwirkung auf das Aengstlichste entzog und Sabinen das schwere Werk allein überließ.

Und wäre es ihr nur allein überlassen worden, sie hätte sich der Aufgabe nicht gescheut; aber Andere arbeiteten zu gleicher Zeit daran, das, was sie nützte, mit geschäftigen Händen zu zerstören, und mit Gram und bitterem Leid sah sie, wie sich die Herzen der Kleinen trotz ihrer Liebe und Aufopferung mehr und mehr von ihr abwandten.

Nicht allein die Großmutter, nein, auch die frühere Wirthschaftsmamsell, wie geschäftige und müßige Nachbarsleute, säeten dabei giftige Körner in den Acker, den sie mit ihrem eigenen Herzblut düngte. Verwieß sie den Kindern ihre Unarten, oder war sie genöthigt, sie zu strafen, so schrien Alle, die vorgaben es gut mit den Kindern zu meinen: „Ja, die Stiefmutter! Jetzt streckt sie die Fänge heraus, nun sie festen Fuß gefaßt hat – jetzt können die armen verlassenen Würmer sehen, wie es ihnen geht, und zu ihrer seligen Mutter beten, daß sie sie zu sich nimmt.“ Und sah sie leichtere Fehler nach, hoffte sie, müde des Strafens, durch Geduld und freundliche Warnung die Kinder zum Bessern zu führen, hieß es eben wieder auch: „Ja, die Stiefmutter! – wären es ihre eigenen Kinder, würde sie ihnen das nicht hingehen lassen. Was liegt ihr aber daran, wie die aufwachsen und was einmal aus ihnen wird – es sind ja doch nur ihre Stiefkinder – die armen Würmer!“

Wohin die Kinder kamen, wurden sie gehätschelt, bedauert und – ausgefragt, nach Allem was im Hause vorging und wie sich die Stiefmutter gegen sie benähme. Die Menschen sind ja nur zu sehr geneigt, Böses von einander zu glauben und zu reden, und den Kinderherzen prägt sich das in unverwischbaren Zügen ein. Was die Mutter auch zu Hause that, sich ihre Liebe zu gewinnen, ohne ihnen selber dabei zu schaden, andere Leute, die ihnen schmeichelten und ihnen Näschereien gaben, „sie für die Entbehrungen im Hause zu trösten,“ bestätigten sie in dem Glauben, daß sie schlecht behandelt würden, und die Kluft, die sich zwischen Kindern und Mutter geöffnet hatte, riß weiter und weiter.

In diese Zeit fiel es, daß Lisbeth an einem Scharlachfieber erkrankte, das wenige Tage später auch den Bruder ergriff und auf sein Lager warf. Sabine pflegte die Kinder mit Aufopferung aller ihrer Kräfte. Die Krankheit trat aber besonders bei dem Knaben so bösartig und hartnäckig auf, daß jede Sorgfalt der Aerzte, jede Pflege der Mutter nutzlos blieb. Während in Sabinens Armen der Knabe starb, lag Lisbeth in Fieberphantasien in ihrem Bettchen und rief nach ihrer rechten Mutter, denn ihre Stiefmutter hätte ihr Gift gegeben und wolle sie jetzt erwürgen.

Sabine ertrug Alles; das Herz hätte ihr bei den Anklagen, die von den bewußtlosen Lippen des Kindes strömten, brechen mögen, aber sie wankte nicht in ihrer Pflicht und wachte Tag und Nacht an dem Lager der Fieberkranken, bis diese die schwere Krisis überstanden hatte und wieder zur Besinnung kam.

Was aber den, Geist des Kindes in wirren Träumen vorgeschwebt, lag ihm in dunklen Bildern auch noch auf der wachenden Seele, und kaum erkannte sie die Stiefmutter an ihrem Lager, als sie laut aufschrie, die nach ihr ausgestreckte Hand von sich stieß und sie von ihrem Bette wehrte. Keine Bitte, keine Vorstellung half dabei, sie beruhigte sich nicht eher wieder, bis die Großmutter selber kam sie zu Pflegen, und als sie sich endlich wieder erholte und den Tod des Bruders erfuhr, jammerte und weinte sie und klagte die Stiefmutter an, die ihn mit ihren Tränken vergiftet habe.

Es war eine trübe, schwere Zeit im Haus, und die arme Frau litt am Meisten dabei. Sie hatte Niemanden, der sie verstand, Niemand, der sie in dem schweren unternommenen Werk unterstützt hätte, und so sehr sie sich auch Gewalt anthat, dem Gatten nicht merken zu lassen, wie unglücklich sie der Widerwille mache, den das Kind zu ihr gefaßt, und so wenig Olbers auch sonst Augen für das hatte, was in seinem eigenen Hause vorging, konnte es ihm doch endlich nicht länger verborgen bleiben. Das bleiche abgehärmte Aussehen der Frau fiel ihm zuerst auf, und als er auf seine Fragen im Anfang ausweichende Antworten erhielt und zuletzt die Frau ihm mit Thränen im Auge, den wahren Sachverhalt gestand – wie sie Alles thäte was in ihren Kräften stände, sich die Liebe der Tochter zu erwerben, aber nur mehr und mehr von ihr gehaßt werde – faßte er, zu spät den Entschluß, da selber einzuschreiten.

Der früheren Wirthschaftsmamsell, in der Sabine mit Recht ihre gefährlichste Gegnerin fürchtete, wurde das Haus verboten, und Lisbeth, die doch jetzt alt genug geworden war, den Unterschied zwischen einer guten und bösen Stiefmutter machen zu können, nahm er ernsthaft vor, schilderte ihr die Sorge, die ihre jetzige Mutter mit ihr gehabt, den Gram, den sie leide, sich des Kindes Herz nicht gewinnen zu können, und forderte Lisbeth auf, ihm zu sagen, was sie gegen die Stiefmutter habe – was sie gethan, was unterlassen, daß sie ihr nicht die gebührende Achtung und Liebe erweise. – Lieber Gott, was helfen Worte einem Gefühl, einem Vorurtheil gegenüber, daß schon so fest und unvertilgbar in dem Herzen des Kindes seine giftigen Wurzeln geschlagen. Einen Grund vermochte Lisbeth auch nicht anzugeben, denn die Märchen und Geschichten zu nennen, die sie über Stiefmütter gelesen, schämte sie sich; versprach auch, sich zu ändern und der Mutter in Allem zu folgen, was sie ihr befehlen würde. Dabei blieb es aber; im Anfang that sie sich Zwang an, den Vater nicht zu kränken, denn in allen anderen Stücken war Lisbeth ein gutes, braves Mädchen, den Widerwillen gegen die Stiefmutter vermochte sie jedoch nicht zu unterdrücken.

Selbst mit den Jahren milderte sich das nicht, ja wuchs eher und wurde schlimmer und bösartiger. In jedem Befehl der Mutter sah die Tochter irgend eine Kränkung, die ihr, dem fremden Kinde, angethan wurde, und so ungern Sabine sich dazu verstand, blieb ihr zuletzt doch nichts Anderes übrig, als den Bitten des Gatten nachzugeben und die Stieftochter, die sich nun einmal nicht wohl und glücklich bei ihr fühlte, in ein entferntes Pensionat zu thun. Es war ihr ein unendlich schmerzliches Gefühl, ihrethalben das Kind vom Vater zu trennen, aber sie sah auch endlich ein, daß es das einzige, letzte Mittel blieb, den schon längst verlorenen Hausfrieden wieder zu gewinnen.

Das Geschrei, das die Nachbarn darüber erhoben, läßt sich denken. Die Stiefmutter hatte natürlich, ihrer Auslegung nach, das rechte Kind aus dem Hause gestoßen, das Herz des Vaters ihm zu entfremden und dessen Liebe allein dem eigenen jetzt erwarteten Kinde zuzuwenden. Die Großmutter widersetzte sich auch im Anfang mit allem Einfluß der Maßregel, die sie allein von der Frau ausgehend glaubte. Olbers blieb aber zum ersten Mal fest in seinem Entschluß, und Lisbeth selber jauchzte der Stunde entgegen, die sie aus der Nähe der verhaßten Frau brachte und einem, wie sie glaubte, freierem Leben entgegenführte.

Sabine hoffte dabei, daß Lisbeth, entfernt von ihr und dem Einfluß entzogen, den bösgesinnte Menschen hier auf sie ausübten, ihre Ungerechtigkeit gegen sie mit der Zeit einsehen würde, alte, mit der Muttermilch eingesogene Vorurtheile sind aber schwer zu beseitigen, und Lisbeth nährte eher den Haß in der Fremde als daß sie ihn vergaß.

Sechs Monate war sie vom Haus jetzt entfernt, und dachte schon daran, den Vater wenigstens in der nächsten Zeit einmal zu besuchen und ihre Großmutter wieder zu sehen, an der sie mit ganzer Liebe hing, als sie die Nachricht von zu Hause erhielt, daß ihre Stiefmutter den Gatten vor einigen Tagen mit einem Töchterchen beschenkt habe. Das Kind, setzte der Vater hinzu, befinde sich wohl, die Mutter sei aber noch sehr angegriffen und schwach, und hätte ihm nur viele und herzliche Grüße an sie aufgetragen.

Lisbeth knitterte den Brief zusammen, schleuderte ihn in die Ecke und öffnete einen zweiten, den sie gleichzeitig von ihrer früheren „Erzieherin,“ der „Tante Louise,“ erhalten hatte. Diese meldete ihr ebenfalls die Geburt der Stiefschwester, aber mit hämischen Beibemerkungen, „wie jetzt des Lebens im Hause kein Ende [635] sein, und das rechte Kind, erst verstoßen, nun auch wohl bald vergessen werden würde. „Der kleine Wurm sei der wirkliche Abgott im Hause geworden und werde förmlich angebetet.“

„Ich wollte zu Gott, der Balg stürbe,“ murmelte Lisbeth zwischen den fest zusammengebissenen Zähnen durch, und eine bittere Thräne des Unmuths und Hasses füllte ihre sonst so klaren Augen. Hatte sie vorher ihre Stiefmutter gehaßt, so war dies böse Gefühl durch die Geburt des Kindes womöglich noch gesteigert worden, und fand nur neue Nahrung in dem Dasein des kleinen unschuldigen Wesens.

So vergingen mehrere Wochen. Lisbeth hatte in der Zeit keine weitere Nachricht von zu Hause erhalten, als plötzlich ein Brief eintraf, der ihr den rasch erfolgten Tod des Kindes meldete. Die Nachricht traf sie wie ein Donnerschlag, und von regem Geist wie sie war, stieg in ihr jählings der furchtbare Gedanke auf, daß dieser Tod ihrem frevlem Wunsch gefolgt und sie die Ursache sei. Ein heftiger Weinkrampf überfiel sie, der noch am nämlichen Abend in ein hitziges lebensgefährliches Fieber ausartete und sie Monate lang an ihr Lager fesselte. Ihr Vater kam in der Zeit, sie zu besuchen, und zum ersten Mal verlangte sie nach ihrer Stiefmutter. Sabine lag aber selber, durch den Tod des Kindes furchtbar erschüttert und angegriffen, auf dem Krankenbett und konnte nicht zu ihr eilen, und einsam, von fremden Leuten gepflegt, verbrachte Lisbeth die lange traurige Zeit.

Ihre jugendlich kräftige Natur erholte sich endlich wieder, aber das nicht allein, nein, mit der Krankheit hatte sie auch noch einen anderen, schlimmeren Feind abgeschüttelt, der sie und Andere bis dahin elend, unglücklich gemacht. Es war das Vorurtheil gegen die Stiefmutter, das bis jetzt ihr sonst gutes Herz umnachtet gehalten. Noch nie hatte ihr Sabine ein böses, wenigstens ein ungerechtes Wort gesagt, noch nichts Anderes ihr wie Liebes und Gutes, mit einer Engelsgeduld erwiesen, und wie hatte sie selber ihr nun das gedankt? – Alles, Alles war vergebens, und Liebe und Aufopferung an sie verschwendet gewesen, nur des Phantoms wegen, das in ihr die Stiefmutter gesehen, und die Augen hätte sie sich jetzt aus dem Kopf weinen mögen, wenn sie daran zurückdachte, was sie gethan und wie sie sich betragen. Andere Menschen trugen wohl mit ihr große Schuld, und hatten, vielleicht mit selbstsüchtigen Absichten, vielleicht aus Unwissenheit, den bösen Samen noch gepflegt und genährt, den sie mit der Wurzel hätten ausreißen und vernichten sollen. Aber sie selber machte sich doch die bittersten Vorwürfe, mit Absicht blind gegen Alles gewesen zu sein, was ihr die Stiefmutter Gutes gethan und womit sie gestrebt, sich ihre Liebe zu erwerben. Sie sehnte sich danach, das endlich zu sühnen, endlich ihr Alles, Alles zu gestehen und – wenn das möglich sei – ihre Verzeihung zu erlangen.

Diese Sehnsucht gab ihr Kräfte und beschleunigte ihre Genesung, und noch ehe der Arzt ihr volle Erlaubniß ertheilt, das Krankenzimmer verfassen zu dürfen und eine Reise zu unternehmen, flog sie mit dem Bahnzug ihrer Heimath wieder zu.

Eine eigene Angst überkam sie, als ihr Wagen vor dem väterlichen Hause hielt und Niemand herbeieilte, sie zu bewillkommnen. Todtenstille herrschte im Haus, und nur ein paar fremde Frauen kreuzten mit heimlicher Geschäftigkeit die Hausflur und nahmen nicht die geringste Notiz von ihr. Sie eilte die Treppe hinauf, die zu den Zimmern der Stiefmutter führte und begegnete hier dem Arzt. Dieser, der sie erkannte, bat sie, sich zu fassen, und verkündete [636] ihr dabei mit dürren Worten, daß ihre Stiefmutter den heutigen Tag nicht überleben würde.“

Die Frau schwieg hier und holte tief Athem. Es war fast als ob sie sich Gewalt anthue, den Antheil nicht zu verrathen, den sie selbst an der Erzählung nähme, die Tochter aber wagte nicht, sie zu unterbrechen oder zu stören, und nach einigen Minuten fuhr jene mit kaum hörbarer, tief bewegter Stimme langsam fort:

„Lisbeth stand eine ganze Zeit lang wie in den Boden gewurzelt, und in Schmerz, Reue und Furcht drohten ihr fast die Glieder den Dienst zu versagen. Sie kam auch wirklich erst wieder zu sich, als ihr Vater selber die Thür öffnete, die Tochter erkennend, das liebe Kind in seine Arme schloß und es dann leise und zögernd, mit flüsternder Bitte, der Kranken nur ein einziges freundliches Wort zu sagen, zum Bett derselben führte.

Da brach das Eis, das bis dahin Lisbeth’s starres Herz umschlossen, da, mit aufquellenden Thränen und von innerer Rührung fast erstickter Stimme, warf sie sich am Bett der Kranken nieder, und diese mit ihren Armen umschlingend, rief sie:

„Mutter – liebe, liebe Mutter – kannst Du mir verzeihen?“

„Mein Kind – mein liebes Kind – o, Gott sei ewig gepriesen und gelobt,“ rief die Kranke. Sie schlang die Arme dabei fest um Lisbeth’s Nacken und zog sie zu sich nieder, ihrem Kuß begegnend. Aber ihre Arme wurden schwer – ihr Kopf bog sich zurück – ihre Lippen erkalteten – das treue Herz hörte auf zu schlagen und ich – hielt eine Leiche in meinen Armen.“

„Du, Mama?“ rief Sabine überrascht.

„Ich war jene Lisbeth,“ flüsterte die Mutter, langsam und traurig, dazu mit dem Kopfe nickend – „ich war jenes leichtsinnige, thörichte Geschöpf, das das Herz der besten Frau mit brechen half, und jetzt seine Lebenszeit kaum für hinreichend hält, durch Warnung Anderer den Schaden wieder gut zu machen. Ja, mein Herz, wohl manche Frau mag es geben, die gegen ihrer Sorgfalt anvertraute Stiefkinder nicht die Liebe zeigt, die sie zeigen sollte, sie hier und da auch schlecht und bös behandelt – es giebt in allen Lebensfällen, böse Menschen. Aber unrecht, entsetzlich unrecht handeln wir, wenn wir durch rasche Worte oder mehr noch durch eine systematische Verbreitung dieses Vorurtheils in der Kinderwelt, den armen Frauen, die ihr Geschick einmal in diese Stellung führte, die Ausübung ihrer Pflicht so arg erschweren, ja, oft von vornherein unmöglich machen. Du, mein Kind, bist nach einer der besten Frauen genannt, die je gelebt, nach meiner Stiefmutter, und ihret-, ja auch meinetwegen bitte ich Dich, nicht allein Dein altes Vorurtheil zu vergessen, nein, auch bei Andern zu bekämpfen. Versprichst Du mir das, und willst Du auch Sabinens Schatten mir versöhnen helfen?“

„Du liebe, gute Mutter,“ rief, innig gerührt, die Tochter und warf sich an der Mutter Brust – „wie hast Du mich beschämt, daß ich so ungerecht gewesen.“

„Du bist nicht schlimmer als alle Andere, liebes Kind,“ sagte die Mutter, ihre Stirn küssend – „ich wollte nur, Du solltest besser sein.“

„Und darf ich Adelen Deine Geschichte erzählen?“ rief das junge Mädchen, sich plötzlich mit leuchtenden Augen emporrichtend.

„Wenn Du willst, mein Kind,“ lächelte die Mutter durch ein paar klare Thränen hin, die die Erinnerung ihr in’s Auge getrieben – „denn wenn nur einer armen Mutter Herz durch die Erzählung unverdienter Sorge, ungerechter Klage ledig wird, so hat sie ihren schönsten Zweck erreicht.“


  1. a b c d Bechstein’s Märchenbuch.