Die evangelische Kirche und Theologie (1914)

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Autor: August Wilhelm Hunzinger
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Titel: Die evangelische Kirche und Theologie
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aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band, Achtes Buch, S. 8–54
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
Auflage:
Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
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Erscheinungsort: Berlin
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Die evangelische Kirche und Theologie
Von Prof. D. Dr. Hunzinger, Hauptpastor zu St. Michaelis in Hamburg


I. Die Krisis der evangelischen Landeskirchen.[Bearbeiten]

Die evangelischen Landeskirchen befinden sich seit mehr als einem halben Jahrhundert in einer Krisis, welche in der Gegenwart ihren Höhepunkt erreicht hat. Diese Krisis hat eine mehr äußere und eine innere Seite. Die äußere besteht in der fortschreitenden Abnahme der Kirchlichkeit, die innere in der Erweichung des Bekenntnisstandes.

Unkirchlichkeit das eigentliche Problem.[Bearbeiten]

Den Gründen für die Entstehung und das stetige Wachstum der Unkirchlichkeit unter der evangelischen Bevölkerung des Deutschen Reiches nachzuforschen, ist eine der wichtigsten Aufgaben des Kirchenhistorikers der Gegenwart. Sie bildet das eigentliche Problem für die gesamte Kirchenleitung, von den Kirchenregierungen an bis zu den Gemeindehelfern herab. Ja, auch über die offizielle Kirche hinaus ist sie längst für weitsichtige Freunde unseres Volkes und Förderer seines geistigen Lebens ein Gegenstand ernstester Sorge geworden. Das Suchen nach Mitteln gegen die unkirchliche Haltung ganzer Schichten unseres Kirchenvolkes kennzeichnet seit geraumer Zeit die gesamte Arbeit der Kirche. Es wird dabei immer deutlicher, daß wir es nicht, wie man zeitwellig geglaubt hat, mit einer verhältnismäßig einfachen und vorübergehenden, sondern mit einer fest eingewurzelten, verwickelten und umfassenden Kulturerscheinung zu tun haben. Und es läßt sich nicht verhehlen, daß dieser Zustand für den Fortbestand unseres bisherigen evangelischen Kirchenwesens gefährlich werden muß, wenn keine Besserung eintritt.

Die Zukunft unserer Kirche wird davon abhängen, ob wir es hier mit einem unabänderlichen Zustand zu tun haben.

Zweierlei ist zunächst über die moderne Unkirchlichkeit zu sagen. Einmal, daß sie keineswegs bloß einzelne Schichten und Klassen der Bevölkerung ergriffen hat, sondern daß sie einen allgemeinen Charakter angenommen hat. Auch die ländlichen Gemeinden werden immer mehr von ihr ergriffen. Die kirchlichen Gegenden und Gemeinden, die gewiß noch vorhanden sind, können nur als Ausnahmen von der Regel gelten. Sodann muß gesagt werden, daß die moderne Unkirchlichkeit durchaus keine [977] überall gleichartige Erscheinung ist, sondern die verschiedensten Grundzüge zeigt. Beides hängt indessen eng zusammen.

Entfremdung vom Kultus. Subjektivismus.[Bearbeiten]

Will man das Phänomen der Unkirchlichkeit unserer Zeit verstehen, so muß man ihre verschiedenen Typen unterscheiden. Für eine ganze Kategorie sagen wir „moderner“ Menschen besteht sie wesentlich in einer mehr oder weniger bewußten Entfremdung vom Kultus. Sie sind dort zu suchen, wo man, ohne der Religion und dem Christentum verständnislos oder gar gegnerisch gegenüberzustehen, dennoch sich von den gottesdienstlichen und überhaupt kirchlichen Formen unbefriedigt oder abgestoßen fühlt. Hier hat man mit Bewußtsein die Lebenswendung mitgemacht, die sich immer deutlicher im 19. Jahrhundert angebahnt hat, die Wendung von dem Objektivismus, Autoritätsgefühl und Jenseitsbewußtsein der alten Zeit zu dem modernen Subjektivismus, Individualismus und Diesseitigkeitsgedanken. Hier ist ein neuer Lebenstypus entstanden und mit ihm eine neue individualistisch und spiritualistisch geartete Frömmigkeit, welche sich von der hergebrachten Predigtweise formell und inhaltlich unbefriedigt fühlt und die kultischen Formen der kirchlichen Religiösität als viel zu äußerlich, realistisch, formalistisch und unmodern empfindet. Auch spricht hier häufig ein sehr empfindliches ästhetisches Gefühlsleben mit, eine überzarte Scheu vor der Profanierung innerer Heiligtümer und ein Selbständigkeitsbewußtsein, das jede seelsorgerliche Bevormundung vor allem von seiten eines „amtlichen“ Vertreters der Religion ablehnt.

Entwöhnung von Tradition und Sitte.[Bearbeiten]

Ganz anders geartet ist die Unkirchlichkeit jener großen Schicht äußerlich zur Kirche Gehöriger, deren Unkirchlichkeit ebenso auf Entwöhnung beruht, wie einst die Kirchlichkeit ihrer Vorfahren auf Gewohnheit. Diese Erscheinung hängt in erster Linie mit der enormen Fluktuation der Bevölkerung zusammen, die seit dem Freizügigkeitsgesetz die Seßhaftigkeit und Bodenständigkeit unseres Volkes immer mehr aufhebt, zur Entvölkerung des platten Landes, zur Anhäufung gewaltiger Massen in den Großstädten und damit zur Aufhebung aller volkstümlichen Traditionen und Sitten führt. Die Abwanderung in die Großstädte bedeutet für Zahllose einen Übergang von der organischen zur atomistischen Lebensform, dessen nächste und charakteristischeste Wirkung die völlige Lösung des heimatlichen Verhältnisses zur Kirche zu sein pflegt.

Grund in der Kulturveräußerlichung. Praktischer Materialismus.[Bearbeiten]

Der tiefere Grund dieser Massenentkirchlichung liegt freilich in der äußerlichen Richtung, die unser Kulturleben im 19. Jahrhundert eingeschlagen hat. Die tiefreligiöse und echt idealistische Grundtendenz der nationalen Erhebung von 1813 ist im Laufe des Jahrhunderts immer stärker durch die äußere Kulturentwickelung zurückgedrängt worden. Das ist verständlich, denn es galt in der Tat zuerst den deutschen Volkskörper zu konsolidieren. Die Faktoren, die das Leben des 19. Jahrhunderts beherrschten, waren in erster Linie der nationalpolitische, [978] der naturwissenschaftlich-technische, der wirtschaftlich-kapitalistische. Durch sie ist besonders zu Ende des Jahrhunderts das deutsche Volk auf einen ungeahnten Höhepunkt der Macht und des Wohlstandes gehoben. Aber dies konnte nicht ohne bedenkliche Rückwirkungen auf das geistige und religiös-sittliche Leben der Nation geschehen. Kulturveräußerlichung und Kulturseligkeit war die fast unvermeidliche Folge des neuen wirtschaftlichen Aufschwungs. Die Herrschaft des Erwerbsgedankens, des Geldes und der Technik hat im Verein mit dem Luxus und der gesteigerten Genußsucht eine sittliche Laxheit und religiöse Gleichgültigkeit erzeugt, welche, je länger je mehr, besonders in den Kreisen des schnell reich gewordenen Bürgertums, zu nahezu völliger Entwöhnung vom Kirchenbesuch geführt hat. Die gewohnheitsmäßige Unkirchlichkeit eines satten Bürgertums steht unter dem Zeichen des praktischen Materialismus.

Intellektuelle Gründe. Die historischen Wurzeln weit zurück.[Bearbeiten]

Wesentlich tiefer begründet ist die Unkirchlichkeit derer, die aus vorwiegend intellektuellen Gründen mit der christlichen Weltanschauung zerfallen sind. Die historischen Wurzeln dieses Zerfalles liegen weit zurück. Bereits im Zeitalter der Renaissance beginnt der Prozeß allmählicher Auflösung der Weltanschauungseinheit unseres Volkes, der um die letzte Jahrhundertwende seinen Höhepunkt erreicht hat. Die Schuld an der zunehmenden Entfremdung zwischen dem neuen selbständigen Kulturleben und der kirchlichen Weltanschauung liegt auf beiden Seiten. Einmal verbündete sich die altprotestantische Kirche anstatt mit dem neu aufstrebenden noch einmal wieder mit dem absterbenden Geistesleben; sodann drang bei uns über England und vor allem Frankreich immer mehr ein radikal-kritischer und naturalistischer Geist ein, der seine Spitze immer deutlicher und feindlicher gegen die Kirche kehrte.

Monismus. – Sozialdemokratie.[Bearbeiten]

Durch den Monismus ist die Weltanschauungszerrissenheit unseres deutschen Volkes neuerdings besiegelt. Der Monistenbund macht ebenso wie die Sozialdemokratie Propaganda für den Austritt aus der Kirche. Er möchte das Sammelbecken für alle unkirchlichen Elemente der gebildeten Kreise sein. In Wirklichkeit ist es die breite Schicht der Halbgebildeten, wo Haeckels Welträtsel ihre Triumphe feiern. Auf der Höhe der Bildung und Intelligenz, Kunst und Wissenschaft begegnet man zumeist einer vornehmen Ablehnung des Monismus sowohl wie der kirchlichen Weltanschauung. Hier stoßen wir vielmehr auf einen ästhetisch gearteten Pantheismus oder auf einen Skeptizismus und Agnostizismus, der auf jede Weltanschauungsbildung verzichtet. Einen besonderen Typus der Unkirchlichkeit bildet endlich die offizielle Sozialdemokratie. Hier steigert sich die Entfremdung zur förmlichen Kirchenfeindschaft. Die Ursachen liegen vor allem auf sozialem und politischem Gebiete. Die Kirche wird als „Klasseninstitut“, als staatlich privilegierte Einrichtung zur Wahrnehmung der Interessen der Besitzenden und Herrschenden, als Bollwerk der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung, als Volksverdummungsanstalt [979] parteipolitisch verdächtigt und perhorresziert. Die Unkirchlichkeit der Sozialdemokratie ist in erster Linie ein politischer Boykott und steht dort unter der Parteikontrolle, wo die offizielle Sozialdemokratie ihre volle Macht entfalten kann, tritt dagegen aus taktischen Gründen besonders in ländlichen Gegenden zurück. Daneben wirkt freilich die von Anfang an mit dem Sozialismus verbundene materialistische Weltanschauung, welche von der roten Presse grundsätzlich vertreten wird, namentlich in den Kreisen der aufgeklärten Genossen nicht unwesentlich mit. Die Kombination „Monismus und Sozialismus“ ist charakteristisch für unsere Zeit. Dort wie hier die grundsätzlich geschichtslose Betrachtung, die internationale Gesinnung, das antipatriotische Erziehungsideal und die entschlossene Kirchenfeindschaft.

Brechen wir hier ab; ziehen wir das Fazit.

Folgendes hat sich ergeben: die Gründe des allgemeinen, oben aus sehr verschiedenen Typen zusammengesetzten Phänomens der modernen Unkirchlichkeit sind vor allem in geistigen Strömungen zu suchen, welche außerhalb der Kirche, in der neuzeitlichen Entwickelung der Kultur ihren Ursprung haben. Die hauptsächlichsten sind: 1. der moderne religiöse Subjektivismus und Individualismus; 2. die allgemeine durch die Aufklärung erzeugte Weltanschauungskrisis mit ihrem materialistischen Höhepunkt im Monismus; 3. die Fluktuation der Bevölkerung und ihre sozialethischen Folgen; 4. die Verweltlichung der Kultur und der praktische Materialismus des 19. Jahrhunderts; 5. die antikirchliche Agitation und Erziehungspraxis der sozialistischen Partei.

Die Unkirchlichkeit unserer Zeit ist ein Produkt aus diesen Faktoren. Gründe, die sonst noch mitgewirkt haben, sind untergeordneter Natur.

Es ist eine der wichtigsten Tatsachen, daß die evangelische Kirche trotz aller Anstrengungen nicht die Kraft besaß, den Prozeß der zunehmenden Unkirchlichkeit zum Stillstand zu bringen. Fragen wir nach den Gründen, so führt uns diese Frage auf die Betrachtung der inneren Seite unserer kirchlichen Krisis.

Entwicklung des Kampfes gegen die Union.[Bearbeiten]

Das ganze Jahrhundert stand unter dem Zeichen kirchlicher Einigungsbestrebungen. Sie haben nicht zum Ziele geführt. Die Durchführung der preußischen Kirchenunion gab anfangs der dreißiger Jahre Anlaß zu den Anfängen freikirchlich-lutherischer Kirchengebilde, welche sich im Laufe des Jahrhunderts vermehrt und entwickelt haben. Im Mittelpunkt ihres kirchlichen Bewußtseins steht der nie verstummende Protest gegen die Union. Er hat sogar die jahrzehntelang in diesen Kreisen unbestrittene Herrschaft der Orthodoxie des 17. Jahrhunderts überdauert. Aber auch im Schoße der unierten Kirche Altpreußens selbst stießen die unionistischen Bestrebungen der folgenden Jahrzehnte, wiewohl von hervorragenden und zahlreichen Theologen und Kirchenmännern getragen, auf einen hartnäckigen Widerstand, der zwar die Einigung der Konfessionen nicht rückgängig zu machen vermochte, wohl aber zu einer Organisation der Lutheraner innerhalb der Union führte (Vereinslutheraner, 1849) welche in der konfessionellen Gruppe der Generalssynode über der relativen Selbständigkeit der lutherischen Gemeinden [980] innerhalb der unierten Landeskirche wacht. In einigen nichtpreußischen Landeskirchen aber erstarkte unter der Führung bedeutender und zielbewußter Führer das konfessionelle Bewußtsein derartig, daß die Union nicht einmal auf die neugewonnenen Provinzen ausgedehnt werden konnte. Damals führte die freilich unbegründete Furcht für die kirchliche Selbständigkeit der annektierten Länder zur Gründung der Allgemeinen Evangelisch-lutherischen Konferenz und ihres Organs, der Allg. Ev.-Luth. (Luthardtschen) Kirchenzeitung. Sie bildete bis zum Ende des Jahrhunderts den Sammelpunkt der antiunionistischen Bestrebungen des kirchlichen Luthertums. Ihr anfänglicher scharfer Gegensatz gegen die Union milderte sich jedoch, nachdem der konföderative Charakter derselben immer deutlicher wurde, mehr und mehr ab. In demselben Maße sank freilich auch die Bedeutung und die Anziehungskraft der Konferenz. Die jetzige „Allgemeine Evangelisch-Lutherische Konferenz“, seit Anfang des Jahrhunderts neu organisiert, hat auch Vertreter des außerdeutschen, namentlich des nordischen Luthertums, sowie auch die Lutheraner innerhalb der Union in sich aufgenommen. Ihr Programm ist nicht mehr kirchenpolitischer Art, sondern erstrebt eine freie Zusammenfassung des Luthertums überhaupt. Auf ihren imposanten Tagungen, von denen zwei in Schweden gehalten sind, werden bedeutsame Fragen des kirchlichen Lebens unserer Zeit unter die Beleuchtung des lutherischen Bekenntnisses gestellt. Ein universalistischer Zug ging bisher durch ihre Verhandlungen. Dagegen hat sich das immer mehr zusammenschrumpfende exklusive Luthertum von der Konferenz getrennt und im „Lutherischen Bunde“ eine Sonderorganisation zur weiteren Bekämpfung der Union als des „Grundübels“ aller kirchlichen Schäden unserer Zeit gegründet.

So hat sich in hundert Jahren heftigen konfessionellen Kampfes gegen den „Unionsgedanken“ der Gegensatz gegen denselben ganz erheblich abgeschwächt. Die Gründe dafür sind verschiedener Art. Einer ist schon erwähnt. Die Entwicklung der preußischen Landeskirche hat bewiesen, daß die Union keinen absorptiven, sondern konföderativen Charakter trägt und tragen wird.

Der neue Einigungsgedanke in der preußischen Kirchenpolitik.[Bearbeiten]

Die preußische Kirchenpolitik bedeutet nicht eine „dauernde Gefahr“ für die Selbständigkeit der lutherischen Kirchen und ihren Bekenntnisstand. Es bestehen in Preußen keinerlei Tendenzen zu mehr oder weniger unfreiwilliger Unionisierung der evangelischen Landeskirchen oder gar zu einer planmäßigen Durchführung der hochpolitischen Konstruktion der „Nationalkirche“. Man hat auf konfessioneller Seite zweifellos sehr oft Gespenster gesehen, und was dabei in erster Linie mitwirkte, waren politische Animositäten. Gewiß – und ich füge hinzu: Gott sei Dank – lebt in der preußischen Kirchenpolitik ein Einigungsgedanke. Aber er bezweckt keineswegs irgendwelche Beeinträchtigung vorhandener kirchlicher Rechtsbeständigkeit. Auch drückt er sich nicht in irgend welchen kirchenpolitischen Machinationen aus. Er arbeitet vielmehr in loyalster und offenster Weise an der Herbeiführung eines freiwilligen, das Sonderbekenntnis nicht berührenden, in die Selbständigkeit der Landeskirchen nicht eingreifenden, engeren Zusammenschlusses der evangelischen [981] Kirchenkörper, an einer stärkeren Zusammenfassung des kirchlichen Protestantismus, und er tut das nicht aus irgendwelchen politisch bestimmten Macht- und Zentralisationsgelüsten, Uniformitätsbestrebungen, Nivellierungsabsichten, sondern aus dem wohlverstandenen und wohlverständlichen innersten Interesse der evangelischen Kirche, in dem Bewußtsein, daß eine freie Zusammenfassung und gemeinsame Vertretung des Protestantismus für die Zukunft eine Lebensfrage der deutschen reformatorischen Kirchen ist. An eine zentralistische Regelung der Bekenntnisfrage denkt niemand und kann niemand denken. Dabei handelt es sich um Entscheidungen, die nur in den einzelnen Kirchen getroffen werden können. Wir werden gleich sehen, wie die Dinge in dieser Beziehung kompliziert liegen. Worum es sich im Gesamtinteresse des evangelischen Kirchentums Deutschlands allerdings handelt, ja in allererster Linie handelt, ist, ob es gelingt, dem trotz aller Bekenntnisdifferenzen im deutschen kirchlichen Protestantismus noch vorhandenen evangelischen Gemeingeist einen Körper zu schaffen, eine Organisation, ein Betätigungsfeld, eine Möglichkeit zu leben, zu erstarken, seine Kraft zu entfalten, seine Aufgabe an unserem Volke zu erfüllen. Das ist es, was unzähliche Freunde der Reformationskirche heiß ersehnen, wofür sie arbeiten und kämpfen. Es handelt sich darum, den inneren Gegensätzen im Protestantismus ein Gegengewicht zu schaffen, damit seine Aktionskraft gegenüber den destruktiven Zeitmächten und der katholischen Machterweiterung nicht neutralisiert werde. Was in Verfolg dieser Ziele von dem Wittenberger Kirchentag (1848) und der Gründung der „Eisenacher Konferenz deutscher evangelischer Kirchenregierungen“ bis zum „Deutschen evangelischen Kirchenausschuß“ auf preußische Anregung hin geschehen ist, sind zwar bis jetzt nur Anfänge, aber doch wichtige Etappen auf dem Wege zu einer das gesamte evangelische Deutschland umfassenden freien kirchlichen Konföderation.

Abschwächung des Gegensatzes gegen die Union.[Bearbeiten]

Gewiß begegnet man in konfessionellen Kreisen auch diesen Bestrebungen noch mit Mißtrauen. Das ist bei der Gründung des Kirchenausschusses sehr deutlich geworden. Aber dieses Mißtrauen beginnt, wenigstens in den maßgebenden Kreisen, zu weichen. Seitdem dieser gegen die Bekenntnisunterschiede neutrale freie Konförderationsgedanke vordringt, tritt die Furcht vor der Union zurück und damit der Gegensatz gegen sie.

Andererseits haben sich nachgerade auch die überzeugtesten Lutheraner – ausgenommen bleiben freilich die Männer des „Lutherischen Bundes“ – durch die Tatsache davon überzeugen lassen, daß unser kirchliches Leben durch schlimmere Feinde bedroht wird, als die „Union“. Bereits der erste Abschnitt dieser Abhandlung hat gezeigt, daß das „Grundübel“ unseres Kirchentums ganz wo anders zu suchen ist als in der Union der lutherischen und reformierten Bekenntnisse. Erst recht wird ein Blick in die inneren Zustände unserer Kirchen beweisen, daß ganz andere Fragen als die Unionsfrage den Bestand der evangelischen Kirche bedrohen. Die Unionsfrage ist tatsächlich durch die innere Entwicklung des Lebens der Kirche überholt. Das führt uns zu dem eigentlichen Thema dieses Abschnittes: der innerkirchlichen Krisis.

[982]

Die innerkirchliche Krisis. Auflösung der Bekenntniskirchen.[Bearbeiten]

Sie ist neben der allgemeinen Unkirchlichkeit die verhängnisvollste Erscheinung des modernen Kirchentums. Wir stehen gegenwärtig vor der Tatsache, daß unsere evangelischen Landeskirchen mit wenigen Ausnahmen faktisch aufgehört haben, Bekenntniskirchen im ursprünglichen Sinne des Wortes zu sein. Zwar besteht das Bekenntnis in allen diesen Kirchen verfassungsmäßig zu Recht, und ihre Geistlichen haben sich der Bekenntnisverpflichtung bei der Amtsübernahme zu unterziehen. Aber weder die Rechtsbeständigkeit der Bekenntnisse noch der Verpflichtungszwang haben den Prozeß der allmählichen Erweichung der Bekenntnisverpflichtung, der in einigen Kirchen rascher, in anderen langsamer sich vollzieht und hier und da bereits zur tatsächlichen Gleichberechtigung aller Richtungen geführt hat, aufhalten können. Ebensowenig haben disziplinarische Eingriffe der Kirchenregierungen in bekannten Fällen, deren jüngster, der Fall Jatho, bekanntlich die Absetzung des Beklagten bewirkte, dies vermocht. Alle Gegenmaßregeln offizieller oder privater Art haben sich als vergeblich erwiesen. Unaufhaltsam hat sich die Entwicklung vollzogen. Zahllose Aktionen zum Schutze der Bekenntnisse und des Bekenntnisstandes der Kirchen sind unternommen. Aber trotz aller Agitation gegen den Liberalismus, aller Organisation der Bekenntnisfreunde, aller Gründungen von Konferenzen, theologischen Schulen und Kursen, trotz allen kirchenpolitischen Unternehmungen, öffentlichen Protesten, Appellationen an der Kirchenregierung, Drohungen mit Massenaustritten aus der Kirche, freikirchlichen Projekten usw. ist die Auflösung der Glaubens- und Bekenntniseinheit beständig fortgeschritten. Der Gegensatz von Lutheranern und Reformierten ist längst hinter dem Kampf um die sogenannten „Grundwahrheiten des Christentums“ zurückgetreten.

Apostolikumstreit.[Bearbeiten]

Im Jahre 1892 entbrannte der Streit um das Apostolikum, im vorigen Jahre trat er plötzlich in ein neues Stadium. Er hat nicht bloß die Theologie, sondern auch die Gemeinden, die Laienschaft ergriffen und mobil gemacht. Er greift aufs tiefste in das kirchliche Leben in seinem ganzen Umfange ein, tobt in den theologischen Fakultäten, in den kirchlichen Synoden, den Presbyterien und Kirchenvorständen, bei den Kirchen- und Pfarrwahlen, Professorenberufungen und kirchenregimentlichen Besetzungen. Die Erregung pflanzt sich fort bis in die kommunalen und politischen Körperschaften, die parlamentarischen Parteien und beeinflußt die Gesetzgebung. Die Schule mit ihren Erziehungsfragen, vor allem der Religionsunterricht ist in heftigste Mitleidenschaft gezogen. Die Presse nimmt Stellung und Partei und beeinflußt die öffentliche Meinung. Das innerste Leben der Kirche in Predigt und Seelsorge, Gemeindepflege und -verwaltung, das kollegiale Verhältnis der Amtsbrüder wird durch diesen Kampf betroffen. Pastoren und Laien befehden sich in öffentlichen Blättern, Versammlungen, Druckschriften. Es gibt nachgerade keine Frage, keine Arbeit, keine Angelegenheit in der Kirche, die nicht entscheidend durch das pro und kontra, altgläubig oder neugläubig, positiv oder liberal berührt wird. Das schlimmste ist, daß das Vertrauen zur Kirche, zur Aufrichtigkeit, Wahrheits- [983] und Friedensliebe der Pastoren in der Gemeinde untergraben wird. Immer mehr differenziert sich dieser Streit. Neue Parteien, Richtungen, Kampforganisationen bilden sich und verwickeln die Lage.

Streit um die Heilstatsachen; verschiedene Parteien in der Kirche.[Bearbeiten]

Um die „Heilstatsachen“ geht der Kampf und um ihre Deutung, um die „jungfräuliche Geburt, Auferweckung und Himmelfahrt Christi, Auferstehung des Fleisches“, im Grunde um die „Gottheit Jesu Christi“, um die Auffassung der „übernatürlichen Offenbarung“ und der „Wunder“. Aber er bleibt nicht theologisch, er wird praktisch. Man kämpft um die Grenzen der Lehrfreiheit, den Sinn der Bekenntnisverpflichtung, die Gleichberechtigung der Richtungen. Überall führt der kirchliche Kampf zu Kraftproben. Majorisierungen werden unvermeidlich.

Die Abweichungen der Einzelnen von der Theologie der Glaubensbekenntnisse sind verschiedensten Grades. Es ist unmöglich, scharfe Grenzlinien zwischen den einzelnen Richtungen zu ziehen. Sogar zwischen den „Positiven“ und „Liberalen“ überhaupt sind die Grenzen längst fließend. Zudem läßt sich nicht leugnen, daß neuerdings auf der äußersten Linken ein Radikalismus hervorgetreten ist, der der monistischen Weltanschauung näher steht als der christlichen. Immer zahlreicher werden die Theologen, die auf dieser Grenzlinie balancieren. Sie werden zu einer Gefahr für den Bestand der Landeskirche. Denn ihnen gegenüber wird die Frage immer unvermeidlicher, ob das, was sie nicht bloß vertreten, sondern als bewußte Reformer, wenn nicht gar Reformatoren, mit Leidenschaft propagieren, überhaupt noch Christentum ist.

Die Tatsache, die sich bereits vollzogen hat, ist diese: Im letzten Menschenalter hat sich die Glaubens- und Erkenntniseinheit, auf der die Bekenntniskirchen in ihrer historischen Gestalt beruhten, völlig aufgelöst. In der dadurch verursachten inneren geistigen Zerrissenheit und Schwäche liegt die Erfolglosigkeit des Kampfes der Kirche gegen die allgemeine Unkirchlichkeit begründet.

Auflösung der Lehreinheit.[Bearbeiten]

Die Auflösung der Glaubens-, Erkenntnis- und Lehreinheit in der evangelischen Kirche, also die vollzogene Aufhebung der Bekenntniskirche im altprotestantischen Sinne ist eine Tatsache von ungeheurer Bedeutung und Tragweite. In Kombination mit der anderen Tatsache der allgemeinen Entkirchlichung, bildet sie geradezu das Problem der evangelischen Kirchenfrage.

Ehe wir darauf eingehen, ist die Frage zu beantworten, wie es zu dieser innerkirchlichen Katastrophe gekommen ist.

Diese Frage ist eine wesentlich theologische.

Die Ursache der Krisis in der theologischen Entwicklung zu suchen.[Bearbeiten]

Denn die Auflösung der Bekenntniseinheit in der evangelischen Kirche ist in allererster Linie eine Folgeerscheinung der Entwicklung der wissenschaftlichen Theologie im 19. Jahrhundert. In den theologischen [984] Fakultäten hat jener Prozeß begonnen, der jenes Ergebnis hatte. Die theologische Entwicklung aber steht wiederum in Verbindung mit dem neuzeitlichen Fortschritt des allgemeinen kulturellen und geistigen Lebens, das bereits charakterisiert ist. Dieselben Kräfte, welche die allgemeine Unkirchlichkeit erzeugt haben, waren es, die in die theologische Arbeit hineinwirkten und somit nicht nur von außen, sondern auch von innen her den Bestand der Kirche im überlieferten Sinne bedrohten.

Im 17. Jahrhundert sperrte die kirchliche Theologie sich gegen das neu aufstrebende Geistesleben ab. Dadurch gelang es ihr, die Bekenntnis- und Lehreinheit, auf der die Kirchen beruhten, unangefochten über hundert Jahre zu erhalten.

Als sich dann im 18. Jahrhundert die Absperrung nicht mehr durchführen ließ, auf der die geistige Einheit der altprotestantischen Kirche beruhte, erlag diese sogenannte orthodoxe Theologie völlig dem Ansturm des mächtig erstarkten neuen Geisteslebens, mit dem sie sich rechtzeitig auseinanderzusetzen versäumt hatte. Bereits im 18. Jahrhundert erlebte die evangelische Kirche eine weitgehende Auflösung ihrer Bekenntniseinheit.

Kirchliche Restauration im 19. Jahrhundert.[Bearbeiten]

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfuhren die durch die Aufklärung so gut wie neutralisierten Bekenntnisse, bis zu einem hohen Grade sogar die altorthodoxe Theologie, eine Restauration. Sie stützte sich auf sehr verschiedenartige und verschiedenwertige Faktoren, auf altgläubige Elemente, die auch in der Aufklärung nicht ausgestorben waren, auf die Erweckungsbewegung der Befreiungskriege, auf alte und neue pietistische Kreise, aber auch auf ihr günstigen äußeren Machtverhältnisse und reaktionäre politische Instanzen. Die Bekenntniskirchen wurden überall durch bedeutende Kirchenmänner meist unter staatlicher Mithilfe wieder hergestellt, der Bekenntnisgedanke stramm durchgeführt. In dieser Restauration steckte zweifellos eine religiöse Kraft, die durch das ganze Jahrhundert auf allen Gebieten des kirchlichen Lebens segensreich fortgewirkt hat und vor allem auch in der äußeren und inneren Mission wirksam geworden ist. Sie erwies sich als der Aufklärung und dem Rationalismus religiös und kirchlich überlegen. Von ihr zehrt unser Kirchentum noch heute. Es war trotz aller Engigkeit und Unfreiheit etwas Charaktervolles und Produktives in dieser Neu-Orthodoxie. Kirchenmänner, wie Hengstenberg, Stahl, Harleß, Kliefoth, Vilmar u.., Prediger wie Ludwig Harms, Löhe, Petri, Münkel und Ahlfeld, Theologen wie Kahnis, Luthardt, Delitzsch, Zezschwitz u. a. gehörten zu den bedeutendsten Erscheinungen der neuesten Kirchengeschichte und gewannen einen außerordentlichen Einfluß auf Landesherren, Staatsmänner, Ministerien, Adel und die gläubigen Kreise ihrer Zeit. Sie erzeugten eine kräftige Kirchlichkeit, welche gewiß einer tieferen religiösen Begründung nicht entbehrt.

Ignorierung des neuen Geisteslebens durch die Neu-Orthodoxie.[Bearbeiten]

Und doch trug diese neuorthodoxe Kirchlichkeit zu viel des Rückständigen in sich, um sich im modernen Leben durchzusetzen oder überhaupt nur in umfassender Weise alle religiös Lebendigen an sich zu ziehen.

[985] Man setzte sich in diesen Kreisen doch allzu leicht über die veränderte kulturelle und geistige Lage hinweg, ignorierte die neuen Ideen und Probleme in Praxis und Wissenschaft, welche das 18. Jahrhundert dem 19. überliefert, deren tiefste Interpreten unsere Klassiker und idealistischen Philosophen, Männer wie Kant, Schleiermacher, Hegel u. a. waren, und knüpfte viel zu unmittelbar wieder an das Kirchentum des 17. Jahrhunderts an. Das zeigt sich vor allem an der Stellung zu den Bekenntnissen und der altorthodoxen Theologie. Hier kam man gerade an den entscheidenden Punkten im wesentlichen nicht über eine Repristination des Alten hinaus.

Die Folgen.[Bearbeiten]

Darum vermochte die kirchliche Restauration trotz aller ihrer äußeren und inneren Mittel den geistigen, vor allem den wissenschaftlichen Ansprüchen und Bedürfnissen des Jahrhunderts nicht zu genügen. Sie empfand die sich immer mehr häufenden und komplizierenden intellektuellen und überhaupt kulturellen Lebensfragen der Zeit überhaupt nicht, oder beurteilte sie als „aus dem Geiste des Unglaubens“ entsprungen. Man glaubte tatsächlich, die grundlegend neuen Aufgaben, die Kant der Wissenschaft, Schleiermacher der Theologie und Hegel dem Kulturleben überhaupt gestellt hatten, für die Kirche und ihr geistiges Leben beiseite schieben zu dürfen. Man blieb bei dem alten Intellektualismus, der alten Apologetik, dem alten Supranaturalismus, der alten Geschichtsbetrachtung mit ihrer Verbalinspirationstheorie, und man verwies die historische Kritik von dem Heiligtum der Theologie. Man war mit einem Worte wissenschaftlich, theologisch nicht auf der Höhe der Zeit.

Fehler der Orthodoxie.[Bearbeiten]

Der Geist, der dem widersprach, war keineswegs ohne weiteres der Geist des Unglaubens, sondern zunächst der unterdrückte Geist der Wissenschaft. Es ist von jeher einer der verhängnisvollsten Fehler der Orthodoxie gewesen, daß sie zwischen diesem und jenem nicht zu unterscheiden vermochte. Wir sind es der Gerechtigkeit schuldig, zu bekennen, daß der Geist, dem in mehr oder weniger direktem Gegensatz gegen die Orthodoxie die sogenannte liberale Theologie in ihren verschiedenen Richtungen entstammte, nicht an sich ein antichristlicher und antikirchlicher war, sondern der Geist wissenschaftlicher Sachlichkeit und Wahrhaftigkeit. Den Theologen des 19. Jahrhunderts soll man erst noch suchen, dem man vorwerfen könnte, er sei darauf ausgegangen, das Christentum zu zerstören. Der einzige David Fr. Strauß war, als er sich dahin verirrte, kein Theologe mehr.

Die liberale Theologie. Grundgedanke.[Bearbeiten]

Der Liberalismus wollte ein wissenschaftlich geläutertes und kritisch gereinigtes Christentum, aber er wollte eben doch Christentum; und er wollte eine mit der Kultur der Zeit und ihren Lebenswerten in Einklang gebrachte Kirche, aber eben doch eine Kirche. Er wollte auf Grund der neuen Bildungselemente und Methoden ein neues Gleichgewichtsverhältnis schaffen zwischen Wissenschaft und Kirche. Er suchte [986] nach neuen Formen für die alte Wahrheit. Daß dabei die neuen wissenschaftlichen Werte oft stärker empfunden wurden als der bleibende religiöse Gehalt der Überlieferung, läßt sich freilich nicht leugnen. Während die Orthodoxie bis heute die Furcht vor der Wissenschaft und das Mißtrauen gegen sie niemals los geworden ist, überspannte jener Liberalismus auf der anderen Seite vielfach den Begriff der Wissenschaft und wähnte sich im Besitze einer Voraussetzungslosigkeit, die das allergrößte Mißtrauen verdiente. Heutzutage beginnt man sich energisch auf die Relativität und Bedingtheit aller wissenschaftlichen Erkenntnis zu besinnen – auch eine heilsame Frucht des erneuten Kantstudiums.

Wirkungen der wissenschaftlichen Kritik.[Bearbeiten]

Es ist hier noch nicht der Ort die theologische Entwicklung der neuesten Zeit zu beschreiben. Es soll nur verständlich gemacht werden, wie es zu jener Spannung der „kirchlichen“ „positiven“ und der „unkirchlichen“, „negativen“, „modernen“, „liberalen“ Theologie gekommen ist, welche heute zu einer den Fortbestand der Volkskirche gefährdenden innerkirchlichen Krisis geführt hat. Der Geist der modernen Wissenschaft drang mit allen seinen Problemstellungen in die Theologie ein und machte auch mehr und mehr alle scheinbar feststehenden Erkenntnisse problematisch. Nirgends machte er Halt, keine Grenzen erkannte er an. Von zwei Seiten her vollzog sich eine fortschreitende Reduktion der kirchlichen Lehre. Vor allem von seiten der neuen entwicklungstheoretischen und kritischen Geschichtsforschung. Die „historische Kritik“ warf sich auf alle Teile der christlichen und kirchlichen Überlieferung und gestaltete die traditionelleren Anschauungen vollkommen um, welche in der kirchlichen Gedankenwelt als ein unveräußerlicher, geheiligter Besitz galt, mit dem alles „stand und fiel“. Die textliche, literarische, kanongeschichtliche, profan- und religionshistorische Kritik erzeugte ein in beständiger Wandlung begriffenes, stets unvollendetes, aber völlig verändertes Bild der alt- und neutestamentlichen Geschichte, der Entstehung des Urchristentums und der Kirche. Die kirchen- und vor allem dogmengeschichtliche Forschung gewann ebenfalls ganz neue Gesichtspunkte und Methoden für ihren Gegenstand und infolgedessen ganz neue Auffassungen vor allem des Ursprungs und der Weiterentwicklung des kirchlichen Dogmas, der Bekenntnisse, der Reformation und Theologie. Diese historisch-kritische Umgestaltung des kirchlichen Überlieferungsbildes vollzog sich keineswegs geradlinig und in regelmäßigem Fortschritt, sondern durch starke Kurven und oft durch Extreme hindurch. Immer wieder wurde dabei erlebt, daß die Grenzüberschreitungen der Kritik ganz von selbst auf ihr richtiges Maß reduziert werden.

Keine fertigen Resultate, aber negative Ergebnisse.[Bearbeiten]

Auch gegenwärtig besteht keineswegs, ja nicht einmal in den Hauptfragen, ein erhebliches Maß von Einigkeit unter den Forschern. Das bisherige Ergebnis der kritischen Bearbeitung der historischen Grundlagen des Christentums ist jedenfalls in fertigen und „feststehenden“ Resultaten nicht zu fassen. Das Ergebnis ist in vielen Punkten noch negativer Art, soll darum in negativer Form ausgesprochen werden: Die Verbalinspiration [987] ist unwiderbringlich dahin. Die exklusiv-supranaturalistische Betrachtung der biblischen Geschichte ist unhaltbar geworden. Das Dogma der alten Kirche ist keineswegs rein biblisch-religiösen Ursprungs. Die religiösen Grundprinzipien der Reformation sind nicht zur Durchführung gekommen, weder in den evangelischen Kirchenbildungen, noch in den Bekenntnisschriften, noch in der Theologie des 17. Jahrhunderts. Diese Erkenntnisse werden immer mehr Gemeingut der Theologen, während die offizielle Kirche sich noch immer gegen ihre öffentliche Anerkennung sträubt; sie dringen immer mehr durch die zahlreichen Röhren des modernen Popularisierungsapparates in die Kreise der Gebildeten ein, werden hier allerdings vielfach hinsichtlich ihrer rein religiösen Tragweite mißverstanden. Ja auch die sogenannte „positive Theologie“, sofern sie sich entschlossen von den alten theologischen Methoden der Orthodoxie abgewandt und ihre veraltete Apologetik aufgegeben hat, befindet sich in weitgehendem Maße im Einklang mit diesen Anschauungen, während das Vertrauen zur Orthodoxie weithin in der öffentlichen Meinung immer mehr erschüttert wird, je mehr und deutlicher zutage tritt, was für Irrtümer sie im Namen des Glaubens konserviert hat und noch immer weiter konservieren möchte. Durch diesen immer zunehmenden kritischen Prozeß, der sich an der historischen Theologie vollzogen hat, sind alle geschichtlichen Unterlagen der Kirchenlehre, wenigstens in ihrer alten Fassung, problematisch geworden und damit das Dogma erschüttert. Die „Heilstatsachen“ sind zum Gegenstand der allgemeinen Skepsis geworden, wenigstens in ihrem traditionellen Verständnis. Dazu ist die philosophische, psychologisch-erkenntniskritische und religiöse Kritik der Dogmatik gekommen, welche weithin eine völlige Umwertung der religiösen Werte der Vergangenheit vollzogen hat.

Grenze zwischen Kirchlicher und Nichtkirchlicher Theologie.[Bearbeiten]

Die Folgerungen, welche aus der kritischen Bearbeitung der Dogmas gezogen wurden, sind sehr verschieden. Die Grade, in denen die moderne Theologie in ihren verschiedenen Typen von der Kirchenlehre abweicht, sind sehr mannigfaltig, je nach der Tragweite, welche man hinsichtlich des religiösen Gehaltes des Christentums den kritischen Ergebnissen zuschreibt. Die Grenze zwischen den noch „Kirchlichen“ und den nicht mehr „Kirchlichen“ ist sehr schwer zu ziehen. Tatsache ist, das die alte Erkenntnis- und Bekenntniseinheit in der evangelischen Kirche grundsätzlich und faktisch aufgelöst ist, und daß die Kirche mit der Unwiderruflichkeit dieses Zustandes zu rechnen hat. Es ist keine Frage, daß dadurch eine allgemeine Lehr- und Wahrheitsunsicherheit herbeigeführt ist, der sich überall verwirrend und trennend geltend macht.

Folgen der innerkirchlichen Krisis. Lehrunsicherheit.[Bearbeiten]

Die Folgen dieser innerkirchlichen Krisis sind allerdings für das Leben und den Bestand der Kirche geradezu verhängnisvoll. Auf die immer mehr unter Theologen und Laien um sich greifende Wahrheitsunsicherheit religiöser Skepsis ist schon hingewiesen. Manche fragen schon: [988] Ist überhaupt noch etwas übrig geblieben von den reformatorischen Bekenntnissen? Gibt es überhaupt noch so etwas wie eine christliche Weltanschauung? Oder ist die christliche Religion bloß noch Gefühls- und Stimmungsreligion, Gesinnung, Mystik? Welch ein Schwanken zwischen Mystizismus und Moralismus! Man fragt sich weiter: Kann die Volkskirche überhaupt auf die Dauer auf diesem schwankenden Boden bestehen? Ohne jeden gemeinsamen Wahrheitsbesitz, ja bei diametral entgegengesetzten Standpunkten? Man sieht ein Reich, das mit sich selbst uneins ist, zerfallen. Manche sprechen schon nicht mehr von verschiedenen theologischen Richtungen oder kirchlichen Parteien, sondern von verschiedenen Religionen innerhalb der Kirche. Auf der äußersten Rechten berührt man sich mit dem römischen Katholizismus, auf der äußersten Linken mit dem Monismus. Ist da noch irgendwelche Gemeinschaft möglich? Kann man überhaupt Anschauungen, wie sie ein Jatho, ein Traub, ein Kalthoff u. a. vertreten, überhaupt noch „Christentum“ nennen? Nicht selten hörte man von dem „Atheismus“ in der Kirche reden. Dabei besteht doch das Bekenntnis zu Recht, und die Bekenntnisverpflichtung ist in Übung. Man ruft aus: welch einer Unwahrhaftigkeit macht sich die Kirche schuldig, die ja und nein aus einem Munde anerkennt, legitimiert. Wo bleibt da die gläubige Gemeinde, auf deren Seite doch das sachliche und formale Recht ist. Sie wird mißhandelt. Ihr wird ihr Recht vorenthalten. Sie kann das unverfälschte Evangelium verlangen. – Darüber kann jedenfalls kein Zweifel bestehen, daß von unbegrenzter Lehrfreiheit in der Kirche nicht die Rede sein kann, und daß ein bestimmtes Maß grundsätzlichen gemeinsamen Wahrheitsbesitzes unentbehrliche Voraussetzung der kirchlichen Gemeinschaft ist. Die Frage, ob nicht jetzt schon, und zwar womöglich definitiv, die äußerste Grenze dessen, was an Dissensus erträglich ist, überschritten, und damit die kirchliche Einheit innerlich schon aufgelöst ist, bewegt nicht bloß die Freunde der Bekenntniskirche im überlieferten Sinne.

Kirchliche Parteikämpfe.[Bearbeiten]

Andererseits lähmen die den ganzen Kirchenkörper durchwühlenden und erschütternden Parteikämpfe, welche die unvermeidlichen Folgeerscheinungen der Krisis bilden, das Leben und die Aktionsfähigkeit der Kirche auf allen Gebieten. Es gibt kaum eine in Verbindung mit der Kirche stehende Erscheinung, welche demoralisierender und diskreditierender in den Gemeinden und überhaupt in der öffentlichen Meinung gewirkt hätte und noch wirkte, als der kirchenpolitische Parteikampf, der seit geraumer Zeit durch das ganze Gebiet der Evangelischen Kirche tobt und alle Leidenschaften rege macht. Welchen Eindruck muß auf die Dauer eine Kampfesweise auf unsere Gemeinde ausüben, bei der unaufhörlich im Namen des Evangeliums, der Wahrheit, des Glaubens, ja Gottes die einfachsten Gebote des Anstandes, der guten Sitte und der christlichen Ethik verletzt werden, geschweige die Liebe, die ein Paulus über Glaube und Hoffnung stellt. Zahllose Gemeindeglieder welchen die Dinge, um welche gestritten wird, ferne liegen, aber die häßlichen Begleiterscheinungen des Streites in die Augen fallen, wenden sich, angewidert, von diesem „Pastorengezänk“ und oft genug auch von der Kirche selbst ab. Andere, die in strenggläubigen Anschauungen aufgewachsen sind, folgen in dem Glauben, ihre heiligste Pflicht [989] zu erfüllen, ihren Pastoren blindlings. Wieder andere sind von dem „Laienfanatismus“ ergriffen, der die rabies theologorum noch um ein erhebliches übertrifft. Auf der andern Seite werden im Namen der „Gewissensfreiheit“ und „Toleranz“ die zahlreichen Glieder einer sonst unsichtbaren Kirche um die Fahne des Fortschritts gesammelt, um einen merkwürdigen Typus von kirchlichem Interesse außerhalb der Kirche zu kultivieren. Alles ungesunde und unerfreuliche Erscheinungen, kirchliche Entartungsphänomene, die der Parteikampf erzeugt. Hier wird alles andere herrschen, als das, was die höchste Aufgabe, die große Errungenschaft der Kultur sein sollte, die Sachlichkeit.

Verlust der Sachlichkeit.[Bearbeiten]

Der Verlust der Sachlichkeit im tiefsten Sinne des Wortes, der religiösen und kirchlichen Sachlichkeit, das ist der schwerste Schaden, den uns die kirchlichen Kämpfe eingetragen haben.

Denn die Sachlichkeit – und mit ihr die innerste Lebenskraft eines Phänomens – geht dort verloren, wo man zwar unaufhörlich von „der Sache“ redet, um die es einem lediglich zu tun sei; aber nichtsdestoweniger stets und geflissentlich nur eine Seite der Sache im Auge hat, alle anderen grundsätzlich ignoriert, und dadurch das Phänomen, dem man dienen will, völlig zerstört. So aber geht es dort, wo man in Angelegenheiten des „Christentums“ und der „Kirche“ alles auf bestimmte Entfaltungsseiten des Gesamtlebens dieser Größen, aber nicht auf das Ganze des Gesamtlebens selbst zuspitzt. Leute, welche einzelne, an sich vielleicht außerordentlich wichtige, Lebensbedingungen oder Lebensfunktionen der Kirche, etwa das Bekenntnis oder andererseits die Glaubensfreiheit, als Lebensbasis des Ganzen ansehen und in Gegensatz gegen einander setzen, verlieren die Totalität der Lebenserscheinung aus dem Auge und bringen alles aus dem Gleichgewicht.

Überwiegen der kirchenpolitischen Tendenz[Bearbeiten]

Die in den letzten Jahren immer stärker hervorgetretene kirchenpolitische Aktivität, welche durch die Auflösung der Erkenntniseinheit in der Kirche hervorgerufen ist, gehört zu den ungesundesten Erscheinungen unseres gegenwärtigen kirchlichen Lebens. Es ist garnicht zu sagen, welch eine Summe von Kraft dadurch der dringenden Arbeit und den immer sich mehrenden kirchlichen Aufgaben schon entzogen worden ist und noch täglich entzogen wird. Denn der Prozeß der kirchenpolitischen Parteibildung ist noch keineswegs zur Ruhe gekommen.

Positive Kampfesorganisationen.[Bearbeiten]

Neuerdings haben sich in Bayern die schon immer vorhandenen Richtungen organisiert; im „deutsch-evangelischen Volksbunde“ ist eine neue Kampforganisation auf den Plan getreten, welche dem kirchlichen Liberalismus Kampf auf Leben und Tod angesagt hat. Kurz vorher erst fällt die Gründung und erste Tagung des „Allgemeinen positiven Verbandes“, und wenige Jahre zurück liegt die der „kirchlich-positiven Vereinigungen“ – alles neueste Kampfesorganisationen der „Positiven“ zum Schutz des Bekenntnisses und zum Kampf gegen den Liberalismus.

[990]

Liberale Kampfesorganisationen.[Bearbeiten]

Auf der anderen Seite fühlte sich die stark angewachsene Schar der Freunde der 1886 noch im Sinne des Rischlianismus gegründeten „Christlichen Welt“ durch die sich seit dem Apostolikumstreit verschärfende Lage veranlaßt sich (1903) als „Freunde der Christlichen Welt“ zu organisieren und in ihr Programm einige wichtige, wenn auch gemäßigte liberale kirchenpolitische Forderungen aufzunehmen. Auch der Protestantenverein ist wieder mobil geworden und für sein altes Programm in den Kampf eingetreten. Vor allem aber haben sich die radikaleren Elemente der gesamten Linken in den 1905 unter Traubs Führung zunächst für das Rheinland und Westfalen gegründeten Vereinen der „Freunde evangelischer Freiheit“ gesammelt. Diese haben sich inzwischen über fast alle evangelischen Landeskirchen verbreitet und überall eine außerordentliche Aktivität entfaltet.

Radikalismus.[Bearbeiten]

Überhaupt gilt es für rechts und links, daß die neuesten Parteien und Organisationen wesentlich schärfer und radikaler vorgehen, als die älteren. In Bremen hat sich unter Kalthoffs Führung ein Radikalismus entwickelt, der den Übergang zum Monismus (Steudel) bereits vollzogen hat, während Männer wie Jatho und einige weniger bedeutende, aber ebenso unruhige Geister sich augenscheinlich auf der Grenzlinie bewegen. So spitzen sich die Gegensätze immer schärfer und bewußter zu. Sie sind an einem Punkte angekommen, wo nicht nur jede Verständigung, sondern jede sachliche Auseinandersetzung unmöglich geworden zu sein scheint.

Notwendigkeit der Mäßigung.[Bearbeiten]

Diejenigen, die sich den Blick für die Sache und die sachliche Berechtigung dessen, was auf beiden Seiten vertreten wird, nicht trüben lassen wollen und zur Mäßigung mahnen, haben einen schweren Stand und eine undankbare Aufgabe. Indem sie vor Überspannung der Gegensätze warnen, das Gemeinsame des Besitzes und der Aufgaben gegenüber den trennenden Parteien betonen, und wenigstens für die kirchliche Praxis nach einem Einigungsboden suchen, erscheinen den extremen Geistern rechts und links, welche überall, vor allem in der kirchlichen Presse das Wort führen, als die „Halben“, welchen einen „faulen Frieden“ begünstigen, oder gar als die „Unwahrhaftigen“, welche die Wahrheit verleugnen und die „landeskirchliche Form“ über die „Wahrheit“ stellen. Und doch wird alles davon abhängen, ob diese Vertreter der Mäßigung mit ihrer Stimme durchdringen. Das Schicksal der Evangelischen Kirche hängt geradezu davon ab, ob der Geist der Mäßigung, der über den Parteien steht, in den kirchlichen Kämpfen die Oberhand gewinnt. Denn die extremen Forderungen sowohl der Rechten als der Linken werden in ihrer Undurchführbarkeit immer erkennbarer. Die Wiederherstellung der historischen Bekenntniskirchen mit ihrer strengen Auffassung und Handhabung der Bekenntnisverpflichtung und Lehrzucht ist unter den gegenwärtigen Verhältnissen ebenso unmöglich geworden, wie die Aufhebung jeder Bekenntnisbindung und die Proklamierung unbegrenzter Lehrfreiheit. Weder in einer gänzlich staatsfreien Kirche, wie sie ja von [991] beiden Seiten, wenn auch aus sehr entgegengesetzten Motiven, gewünscht wird, würden diese Utopien sich verwirklichen, noch in der gegenwärtig ebenfalls von verschiedenen Standpunkten aus projektierter „Kirche“ als „Zweckverband“, die nur noch eine rein äußerliche Verwaltungseinheit darstellt, dagegen auf irgendwelche Bekenntnisgemeinschaft grundsätzlich verzichtet.

Mitleidenschaft der kirchlichen Arbeitsgebiete.[Bearbeiten]

Schlimmer indessen als diese Utopien wirkt das Eindringen des kirchenpolitischen Parteigeistes in das Verfassungs-, ja auch Arbeitsleben der Kirche. Die kirchlichen Fragen sind zu kirchenpolitischen und diese zu Machtfragen geworden. Die Parteien und vorzugsweise die extremen, entfalten ihre ganze Aktions- und Agitationskraft in den Wahlen zu den Synoden, Kirchenvorständen und Pfarrämtern. Dabei gehen alle sachlichen Gesichtspunkte in dem alleinigen Streben unter, Majoritäten zu gewinnen und so die kirchliche Gesetzgebung und Verwaltung im Sinne der Partei zu beeinflussen. Was dabei herauskommt, mag es „positiv“ oder „liberal“ sein, erweckt, wie zahlreiche kirchliche Wahlkämpfe schlimmster Sorte in den letzten Jahren bewiesen haben, einen andern als den Geist, der allein die Kirche bessern kann. Hier siegt regelmäßig die „beste Organisation“.

Sogar in unsere großen freien Arbeitsgemeinschaften treibt der Parteigeist seine Keile hinein. Man erinnere sich der Scheidung der „Kirchlich-sozialen Konferenz“ vom „Evangelisch-sozialen Kongreß“, an die Richtungsfragen, die hier und da in den Inneren Missionsvereinen brennend geworden sind und selbst die letzten Tagungen des „Kongresses für Innere Mission“ nicht unberührt gelassen haben; an kirchliche Gegensätze, die zeitweilig die Arbeit des „Gustav-Adolf-Vereins“ beunruhigten und neuerdings geflissentlich in den „Evangelischen Bund“ hineingetragen worden sind. Das alles sind geradezu verhängnisvolle Symptome. Wird es dahin kommen, daß unsere großen und überaus bedeutungsvollen kirchlichen Arbeitsorganisationen durch den Parteigeist gesprengt werden? Ist das auch eine Forderung des Evangeliums?

Verquickung des kirchlichen mit dem politischen Parteiwesen.[Bearbeiten]

Am allerschlimmsten wirkt aber die geradezu als ein nationales Unglück zu beklagende Tatsache, daß unsere kirchlichen Parteien stillschweigend sozusagen feste politische Verbindungen eingegangen sind. Damit ist indes nicht gemeint, daß kirchliche Fragen gelegentlich in unseren politischen Körperschaften zur Besprechung kommen und dann natürlich im parteipolitischen Sinne erörtert werden. Das ist bei dem nahen Verhältnis unserer Landeskirche zum Staat fast unvermeidlich und besonders auf dem Gebiete der Schulgesetzgebung, die dem Staate zwar vorbehalten ist, aber doch vermittelst des Religionsunterrichtes in die kirchlichen Funktionen übergreift, verständlicherweise oft hervorgetreten. Auch bei den Besetzungsfragen der Theologischen Fakultäten, wo ja in ähnlicher Weise eine Konkurrenz zwischen Staat und Kirche verfassungsmäßig obwaltet, hat sich das bemerkbar [992] gemacht. Nein – das alles wäre zu ertragen. Unerträglich dagegen ist für das kirchliche Leben das wie es scheint unkündbare Verhältnis, das sich zwischen den bestimmten kirchlichen und reinpolitischen Parteien sozusagen programmäßig herausgebildet hat. Jeder Deutsche weiß, daß politisch konservativ und kirchlich positiv und politisch liberal und kirchlich liberal als unlöslich zusammengehörige Begriffe gelten, sozusagen als korrelate Größen, auf Gegenseitigkeit gegründet. Diese Bezeichnungen stammen bereits aus der Zeit der politischen Reaktion und des älteren Liberalismus und haben alle politischen Wandlungen der Parteien mitgemacht. Die kirchlichen Parteien pflegen ihre politischen Kartellbrüder bei den Wahlen zu unterstützen, während diese wiederum in den Parlamenten für jene eintreten. Sehr charakteristisch für dieses Verhältnis ist, daß bei oder nach großen politischen Wahlen häufig auch die kirchlichen Parteikämpfe ausbrechen. Dieses Schauspiel erlebten wir noch jüngst nach den letzten Reichstagswahlen. Daß diese offizielle Verbindung dem Evangelium und dem Geiste der Reformationskirche widerspricht, daß sie die Kirche – denn sie ist doch hier im Unterschiede von der mit dem Zentrum verbundenen Römischen Kirche der leidende Teil – in ein geradezu unwürdiges Abhängigkeitsverhältnis von weltlichen Faktoren bringt, daß sie in den Köpfen unserer Gemeindeglieder eine heillose Verwirrung hervorruft, dafür scheint vielen Kirchenpolitikern völlig das Bewußtsein verloren gegangen zu sein, für so selbstverständlich halten sie diesen Zustand. Ja gerade diejenigen, die am lautesten nach Trennung von Staat und Kirche rufen, kultivieren am meisten dieses Verhältnis von Staat und Kirche, dem gegenüber jenes andere wahrlich harmlos zu nennen ist. Es ist selbstverständlich, daß der evangelische Pastor sich von niemandem an Patriotismus und nationaler Gesinnung übertreffen, ebenso daß er sich von niemandem das Recht seiner politischen Überzeugung verkümmern lassen darf. Daß er aber in den Augen seiner Gemeindeglieder mit seiner religiös-kirchlichen Stellung zugleich seinen politischen Stempel erhält, ist ein unwürdiger Zustand, an dessen Beseitigung alle vernünftigen Leute arbeiten sollten. Die Liberalen aber haben nicht das Recht, den Konservativen in diesem Punkte Vorwürfe zu machen.

Die beiden Seiten des Kirchenproblems.[Bearbeiten]

Damit haben wir die beiden Erscheinungen, welche das moderne Kirchenproblem geschaffen haben, die „allgemeine Unkirchlichkeit“ und die „innerkirchliche Krisis“. Beide haben gegenwärtig ihren Höhepunkt erreicht und dadurch das Problem aufs höchste verschärft. Betrachten wir sie in ihrem gegenwärtigen Verhältnis, so kann ihr Zusammenhang nicht verborgen bleiben. In denselben Faktoren des neuzeitlichen Geisteslebens, welche im allgemeinen entkirchlichend gewirkt haben, ist auch der Grund für die allmähliche Auflösung der kirchlichen Bekenntniseinheit zu suchen. Umgekehrt wird durch die innerkirchliche Krisis die Unkirchlichkeit beständig vergrößert. In dieser Wechselwirkung gewinnt die verhängnisvolle Situation der evangelischen Kirche ihren deutlichen Ausdruck.

[993]

II. Die theologische Lage der Gegenwart.[Bearbeiten]

Bedeutung der Theologie.[Bearbeiten]

Im vorigen Abschnitt ist die in das Leben der Kirche tief einschneidende Bedeutung der theologischen Wissenschaft und ihrer Entwicklung im 19. Jahrhundert im allgemeinen bereits hervorgehoben. Nunmehr werfen wir einen Blick auf ihre jüngsten Wandlungen und ihren gegenwärtigen Stand, nicht um eine Übersicht über die Fortschritte im einzelnen zu geben, sondern um den Gesamtfortschritt und das Charakteristische in ihm in seiner Bedeutung für Wissenschaft und Kirche zu verstehen und zu würdigen.

Umschwung in der Würdigung der Theologischen Fakultäten.[Bearbeiten]

Im August des Jahres 1911 veröffentlichten die Rektoren der preußischen Universitäten eine Erklärung, in der sie im Hinblick auf die damals geplante Frankfurter Universitätsgründung vor der Ausschaltung der theologischen Fakultät warnten. In den theologischen Fakultäten werde eine unentbehrliche wissenschaftliche Forscherarbeit getan. Inzwischen ist es nötig geworden, auch der Hamburgischen Universitätsvorlage gegenüber, auf diese Erklärung hinzuweisen. Bedeutende Gelehrte aller Fakultäten wenden sich augenblicklich gegen theologielose Universitätsprojekte. Vergleicht man mit diesen Stimmen die Stimmung, die etwa in den siebenziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gegenüber den theologischen Fakultäten herrschte, so findet man in diesem Stimmungswechsel eine Wendung ausgedrückt, die immer mehr die Theologie in ihrem ganzen Umfang und in allen ihren Richtungen ergriffen hat, die Wendung zur universellen Wissenschaftlichkeit.

Kulturelle Tendenz der theologischen Wissenschaft.[Bearbeiten]

Die theologischen Fakultäten werden nicht mehr in erster Linie als kirchliche Bildungsanstalten und darum als Fremdkörper innerhalb der Universitas literarum empfunden; sie sind eingetreten in die umfassende Wechselwirkung der Wissenschaften und werden als Mitarbeiter an den gemeinsamen Aufgaben der Wissenschaft als solchen längst auch von denen begrüßt, welche ihrem besonderen kirchlichen Beruf fremd gegenüber stehen. Nur einige statt vieler Hinweise auf äußere Belege dieser Wandlung; die letzten Jahrzehnte haben unseren bedeutenden Theologen auffallend viele Ehrendoktorate von allen möglichen Fakultäten und Universitäten, und nicht weniger Ehrenmitgliedschaften und Mitgliedschaften der wissenschaftlichen Akademien des In- und Auslandes eingetragen; vor einigen Jahren erhielt Albert Hauck einen Ruf auf den einstigen Lehrstuhl seines Lehrers und Meisters Leopold von Ranke in Berlin, und auch sonst sind ähnliche Berufungen namhafter Theologen aus philosophischen Fakultäten ergangen oder geplant worden; Adolf Harnark ist nicht nur Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, sondern auch Sekretär und der Geschichtsschreiber der kgl. preußischen Akademie der Wissenschaft. Werke wie Haucks Kirchengeschichte [994] Deutschlands, Harnacks Dogmengeschichte und viele andere haben durch ihren umfassenden Charakter längst eine weit über das theologische Interesse hinausgehende Bedeutung gewonnen. Die Kultur- und Geistesgeschichte der Antike verdankt der alt- und neutestamentlichen Forschung die wertvollsten Beiträge. Von Theologen veranstaltete Ausgrabungen liefern Ergebnisse von größter kulturgeschichtlicher Bedeutung. Der neuerdings stark hervortretende religionsgeschichtliche Gesichtspunkt in der historischen Theologie fördert die Geschichtswissenschaft an verschiedenen Punkten. Gewisse Zweige der Philologie sind von theologischer Seite außerordentlich befruchtet. Die moderne, von Amerika herübergekommene Religionspsychologie liefert sowohl der allgemeinen Seelenkunde, wie der Psychiatrie neues Material. Die Mitarbeit der systematischen Theologie an den philosophischen Problemen der Gegenwart ist von nicht zu unterschätzendem Wert, die Missionswissenschaft hat außerordentlich anregend auf die linguistische und ethnologische Erforschung der kulturlosen Völker gewirkt.

So hat die Theologie unter der Einwirkung der stets fortschreitenden Lebenserweiterung auf allen Gebieten auch auf dem obigen in dem letzten Jahrzehnt eine ungeheure Gebietserweiterung vollzogen. Während auf der einen Seite die Spezialforschung in oft beängstigender Weise fortschritt, hat sie auf der anderen die universellsten Gesichtspunkte gewonnen. Die sondertheologischen Methoden sind auf allen theologischen Gebieten, wenn nicht beseitigt, so doch stark zurückgedrängt. Die Theologie arbeitet in erster Linie mit allgemeinwissenschaftlichen Prinzipien, die historische nach der historisch-kritischen Methode und ihren Gesetzen, die systematische auf philosophisch-erkenntniskritischer Basis, die Religionspsychologie mit den Mitteln der Experimentalpsychologie usw.

Beschleunigung der Säkularisierung der Theologie.[Bearbeiten]

Mit anderen Worten: In den letzten Jahrzehnten hat sich der Saekularisierungsprozeß in der Theologie ganz außerordentlich beschleunigt. Nicht nur das, er hat bedeutend an Umfang gewonnen und auch die noch isolierten Gebiete und die weitesten Richtungen in seinen Machtbereich gezogen. Denn darin liegt vielleicht das bedeutsamste Moment dieser neuesten Entwicklung, daß allmählich auch die gegenwärtige „positive“, „kirchliche“ Theologie, die Tochter der Neuorthodoxie, wenigstens in ihren einflußreichsten und fruchtbarsten Richtungen und Vertretern, sich immer entschlossener und freier dem universal-wissenschaftlichen Zuge der Zeit hingegeben hat, ohne im geringsten die religiösen Werte und Realitäten der Altgläubigkeit mit der Theologie der Altgläubigkeit aufzugeben. Eine ganz neue Kombination ist auf diese Weise im theologischen Leben der Gegenwart entstanden, die Verbindung: „modern-wissenschaftlich“ mit „positiv-kirchlich“. Die Frage, ob diese Kombination durchführbar, zukunftskräftig oder innerlich haltlos und nur ein Übergangsstadium zum Radikalismus ist, gehört zu den allerentscheidendsten Gegenwarts- und Zukunftsfragen der evangelischen Kirche.

Wirkungen dieses Phänomens.[Bearbeiten]

Auf den ersten Blick mag freilich diese Wandlung der Theologie im letzten Menschenalter [995] für die Kirche bedrohlich genug erscheinen. Der Eindruck bei den altkirchlichen Kreisen und ihren Führern ist darum auch vielfach der: Es geht rapide bergab mit der Theologie, unaufhaltsam dem völligen Ruin entgegen. Tatsache ist ja auch, daß die beschriebene innerkirchliche Krisis im engsten Zusammenhang mit der neuesten theologischen Entwicklung steht. Der Liberalismus von einst wird zum Radikalismus von heute, der jeden religiösen Boden unter den Füßen zu verlieren scheint. Die Positiven scheinen immer mehr Konzessionen an die „Wissenschaft“ zu machen. Mancher sieht schon den Tag kommen, wo die ganze Theologie in ein- und derselben Verdammnis steckt. Sie werden immer weniger, die dem Baal nicht geopfert haben.

Und in der Tat vergleicht man die Alt-Ritschlianer mit den modernen Religionsgeschichtlern und die Frankianer und Luthardtianer von damals mit den heutigen Modern-Positiven, so scheint sich eine verhängnisvolle Perspektive zu eröffnen. Dort wie hier die offensichtliche Tendenz nach links. Nur daß hier der Prozeß sich etwas langsamer vollzieht als dort. Die Positiven scheinen nur das Privileg der polyphemischen Höhle zu haben.

Die Ritschlsche Schule. Die Franksche.[Bearbeiten]

Als Wilhelm II. den Thron bestieg, stand die Schule Ritschls, der 1889 starb, auf dem Höhepunkt ihres Ansehens und Einflusses. Der dritte Band von „Rechtfertigung und Versöhnung“, der das System enthielt, erschien 1888 in 3. Auflage. Die theologischen Fakultäten waren überall mit Ritschls Schülern besetzt, deren Hauptwerke fast alle aus dieser Zeit herauskamen. Der ältere (protestantenvereinliche) Liberalismus war ebenso überflügelt, wie die Vermittlungstheologie überwunden. Die Ritschlsche Theologie entfaltete nicht bloß auf systematischem und historischem Gebiete eine bedeutende Kraft, sondern barg einen kräftigen kirchlichen Geist und eine Fülle warmer und praktischer Frömmigkeit in sich. Heute erkennen das selbst strengpositive Theologen an. Damals sahen die Altgläubigen in den Ritschlianern die gefährlichsten Feinde der Kirche. Der Kampf gegen die Ritschlsche Theologie, in dem die Führer der Rechten, Frank und Luthardt, in erster Reihe standen, gehört zu den heftigsten und zugleich bedauerlichsten Kämpfen der neueren Kirchengeschichte. Damals fielen zuerst die bösen Worte „Falschmünzerei“ und „Umdeutung“. Und doch besaßen die beiden Antipoden sehr viel des Gemeinsamen: die starke Betonung des Lutherischen und Christozentrischen, des Offenbarungspositivismus und des exklusiven, absoluten Charakters des Christentums; der religiösen Subjektivität und der gläubigen Gemeinde als Voraussetzung aller Theologie; die Absperrung der Theologie gegen die Philosophie und der Dogmatik gegen die Wissenschaft, die Abneigung gegen die Apologetik usw. Das sind nicht geringe Berührungspunkte, die aber gänzlich in der Leidenschaft der Kämpfe gegen den Hauptstreit um das „Metaphysische“ im Christentum zurücktraten. Die Positiven sahen in der „Metaphysikfeindlichkeit“ Ritschls eine versteckte Verleugnung des Supranaturalismus. In Wirklichkeit waren es viel mehr zwei allerdings diametral verschiedene Erkenntnistheorien, als Glaubensdifferenzen, die miteinander stritten. Es war nicht der Supranaturalismus, sondern [996] seine Fassung und Begründung, worum man stritt. Es war zudem der Kantianismus, gegen den der theologische Realismus der Altgläubigen sich erhob. Und doch gehört gerade die Fruktifizierung des Kritizismus für die Theologie mit zu den größten Verdiensten der Ritschlschen Theologie. Denn erst seitdem die theologische Systematik mit Kant in Berührung gekommen ist, und soweit dieses geschah, ist sie methodisch geworden. Auch den Schülern und Fortsetzern der Erlanger Theologie hat die Kantsche Philosophie zum wenigsten zur methodischen Selbstbesinnung gedient, wenngleich es bei den meisten unter ihnen bei dieser rein negativen Anregung verblieben ist. Übrigens gilt es auch von der Erlanger, speziell von der Theologie Franks, daß sie in den achtziger Jahren auf dem Höhepunkt ihrer Bedeutung stand. Trotz ihres stark konservativen Zuges läßt sich doch nicht verkennen, daß sich bereits von Hofmann her in ihr eine bewußte und entschlossene Umwandlung vom Traditionalismus der Orthodoxie zur modernen Wissenschaftlichkeit vollzog. Schließlich ist dieselbe Tendenz wie bei Ritschl in ihr wirksam, wenn auch in anderen Formen, nämlich die Wendung von dem starren Objektivismus der Orthodoxie zu dem modernen Subjektivitätsprinzip. Ohne Subjektivität keine Objektivität! Das war die große fruchtbare These der Erlanger „Erfahrungstheorie“. Diese Wendung zum Subjekt ward zwar von Ritschl kritischer, aber von Frank weit energischer vollzogen. Hier war Schleiermacher der Redivivus. Darum war es nicht zu verwundern, daß der Subjektivismus, den Frank Ritschl vorwarf, ihm selbst von seiten der Orthodoxie vorgeworfen wurde. Es war wirklich eine neue „Weise alte Wahrheit zu lehren“, die durch Hofmann und Frank in den Kreisen zur Geltung kam, die die Orthodoxie bei der Verbalinspiration festzuhalten hofften.

Weiterentwicklung des Ritschlianismus.[Bearbeiten]

Es waren sowohl wissenschaftlich wie religiös-kirchlich starke, fruchtbare und charaktervolle Positionen, die Frank und Ritschl gegeneinander vertraten. Aber ein einfaches Stehenbleiben war nicht einmal ihren nächsten Schülern möglich. Die Theologie Ritschls enthielt ähnlich wie diejenige Schleiermachers, sehr verschiedenartige, ja entgegengesetzte Motive. Das zeigt ihre Weiterentwicklung, die hier nicht im einzelnen verfolgt werden kann. Einige seiner Schüler betonten stärker den biblizistischen Zug und entwickelten sich weiter nach rechts. Auch die von dem Meister schroff abgelehnte Mystik kam wieder hinein. Andere verfolgten mehr die subjektiv-erkenntnistheoretische Richtung, unter ihnen solche, die die „Metaphysik in der Theologie“ wieder zu Ehren brachten, freilich eine gegenüber der Erlanger Theologie wesentlich reduzierte. Ihre stärkste ethische Durchdringung, religiöse Verinnerlichung, erkenntniskritische Reinigung empfing die Theologie Ritschls durch den originellsten seiner Schüler, W. Herrmann, besonders durch energischen Rückgang auf Schleiermacher.

Weiterbildung der Frankschen Theologie.[Bearbeiten]

Auch die Franksche Theologie wies trotz ihrer anscheinenden Geschlossenheit über sich hinaus und wurde in mannigfaltiger Weise fortgebildet. Dabei zeigte sich die Notwendigkeit einer grundleglichen Revision und Neubegründung [997] dieses Erfahrungsbegriffes im Zusammenhang mit dem biblischen Prinzip, einer stärkeren Betonung des Erkenntnistheoretischen und einer neuen Grenzregulierung zwischen einerseits der Theologie und dem Glauben, andererseits der Theologie und dem natürlichen Geistesleben und der Wissenschaft. Hier mußten Scheidewände teils gezogen, teils niedergerissen werden. Hier ist vor allem Ihmels zu nennen. An die Weiterbildung der Erlanger Theologie knüpft dann vor allem die moderne positive Theologie an, von der noch zu reden sein wird.

Abkehr von der dogmatischen Problemstellung.[Bearbeiten]

Inzwischen hat sich nun seit Ritschl und Frank überhaupt eine entschiedene Abkehr von den dogmatischen Problemen vollzogen. Charakteristisch für den gegenwärtigen Theologen, seine Bildung und seine Stimmung ist nicht mehr wie vor fünfundzwanzig Jahren seine dogmatische Bewertung, sondern seine historische Auffassung des Christentums. Jener bereits geschilderte Säkularisierungsprozeß in der neuesten Theologie war ein Historisierungsprozeß. „Der Historismus in der Theologie“ – so könnte man die neuesten Entwicklungsphasen überschreiben. Nicht als ob jene ältere dogmatisch gerichtete Generation historisch unfruchtbar geblieben wäre. Im Gegenteil, sowohl die Ritschlsche wie die Erlanger Theologie hat bedeutende historische Arbeiten geliefert, besonders zur Lutherforschung und zur Dogmengeschichte überhaupt. Aber das dogmatische Interesse überwog dabei das rein historische. Das wird ganz deutlich bei Ritschl und Frank selbst, aber auch bei vielen ihrer Schüler. Gewiß eine historische Kritik hat es seit langem gegeben, aber erst in dem letzten Jahrzehnt hat sie sich der gesamten Theologie bemächtigt und ihren dogmatischen, ja geradezu kirchlichen Charakter nahezu neutralisiert. Diese historische Theologie empfand sich selbst vielfach als geradezu unkirchlich. Die Losung einer „unkirchlichen“, zum wenigsten „außerkirchlichen“ Theologie wurde erhoben. Instruktiv für diese Bewegung zur weiteren Historisierung und Säkularisierung der Theologie ist das 1897 erschienene Buch von Bernoulli über „die wissenschaftliche“ und „die kirchliche Methode in der Theologie“, in welchem er im Anschluß an Lagarde, Overbeck, Wellhausen und Duhm an die Stelle der Theologie eine „historische Religionswissenschaft“ setzen will, wobei dann auch die systematische Theologie eine „historische Disziplin“ werden soll. Hier wird also von seiten der wissenschaftlichen Theologie das Verhältnis zur Kirche abgebrochen. Man will nicht gerade antikirchlich sein, aber akirchlich. Auch da, wo der Historismus nicht so weit ging, drängt er die Dogmatik in den Hintergrund. In dieser Beziehung ist Harnacks „Wesen des Christentums“ lehrreich. Hier ist in der Tat der Versuch gemacht, das Wesen des Christentums auf historischem Wege zu bestimmen.

Programm der Religionsgeschichtlichen Schule.[Bearbeiten]

In der Tat hat die moderne „Religionsgeschichtliche Schule“ mit allen kirchlichen Voraussetzungen aufgeräumt. Ihr Programm möglichste ist Umwandlung der Theologie in Religionswissenschaft. Der gewaltige Fortschritt gegenüber der älteren „historischen Kritik“ des Alten und Neuen Testamentes [998] besteht darin, daß die literarkritische Betrachtungsweise, mit der jene in erster Linie arbeitet, zur „religionsgeschichtlichen“ erweitert worden und als solche auf das ganze Gebiet der Theologie bis in die neueste Kirchengeschichte ausgedehnt worden ist. Der Offenbarungspositivismus, an dem noch Ritschl und seine Schüler mit Energie festhielten, wird hier als das größte Hindernis des historischen Verständnisses des Christentums und der Kirche völlig beseitigt, die Schlagbäume zwischen der biblischen und der allgemeinen Religions- und Kulturgeschichte abgebrochen. Das Christentum in allen Stadien, seine neutestamentliche und kirchengeschichtliche Entwicklung wird zu einem Ergebnis des allgemeinen religionsgeschichtlichen Prozesses. Sein besonderer Offenbarungs- und Absolutheitsanspruch fällt dahin. Die heilsgeschichtliche und supranaturalistische Betrachtungsweise wird grundsätzlich abgelehnt. Das Christentum ist wie alle anderen Religionen als eine rein historische Größe zu erforschen nach den allgemeinen Regeln der historischen Methode, den Gesetzen der Analogie, Correlation und Relativität. Dabei sind der Immanenzgedanke und die Entwicklungstheorie maßgebend.

Errungenschaften der neuen Methode.[Bearbeiten]

Es kann Zweifel sein, daß diese Forschungsweise einen gewaltigen Fortschritt für die wissenschaftliche Erkenntnis des Christentums bedeutet. Sie hat sich bereits als außerordentlich fruchtbar erwiesen, zu einer umfassenden Revision aller bisherigen, zum großen Teil vermeintlichen Ergebnisse der historischen Erforschung des Christentums geführt, die Relativität aller geschichtlichen Erkenntnisse gezeigt, zahllose Irrtümer berichtigt, neue Zusammenhänge aufgedeckt, die umfassende Wechselwirkung, in der das Christentum mit der Umgebungswelt gestanden hat und steht, immer deutlicher nachgewiesen, die Herrschaft des Entwicklungsgedankens auch für seine Geschichte erwiesen und die gewaltige allgemeingeschichtliche, geistige und kulturelle Bedeutung der christlichen Religion ans Licht gestellt. Dabei ist der unerschöpfliche Reichtum ihrer Beziehungen zu der allgemeinen Religions- und Geistesgeschichte aller Zeiten zum Bewußtsein gekommen. Es ist dieser Forschung mit einem Wort zu verdanken, daß das Christentum wie nie zuvor im Lichte der Geschichte steht.

Es ist weiter unbezweifelbar, daß diese Resultate weder von der älteren literarkritischen noch der irgendwie kirchlich bestimmten historischen Theologie erreicht worden sind und erreicht werden können. Denn sie beruhen in der Tat in dem grundsätzlichen Absehen von jeder das Christentum irgendwie isolierenden Betrachtungsweise. Das gute Recht dieser Forschungsart ist damit erwiesen. Niemals wird sie als solche rückgängig zu machen sein. Kein einsichtiger Theologe, mag er auf einer kirchlichen Seite stehen, auf welcher er will, wird das wünschen oder fordern können.

Stellungnahme der kirchlichen Theologie.[Bearbeiten]

Auch der kirchlichste Theologe muß ja, wenn er wirklich Vertrauen zu der sich selbst bezeugenden und unzerstörbaren Macht der göttlichen Offenbarung in Christo hat, geradezu fordern, daß die rein historische Methode sich ungehindert und unbeschränkt an dem geschichtlichen Christentum versuche. Er kann ja unmöglich wünschen, daß die [999] Geltung, in der das Christentum steht, irgendwie dem Umstande zu verdanken sei, daß die rein wissenschaftliche Untersuchung von ihm ferngehalten wird. Ja er muß wissen, inwieweit die Religion, der er einen absoluten Charakter zuschreibt, als eine innerweltliche Erscheinung erkannt werden kann. Gerade ihm muß ja doch im höchsten Maße daran gelegen sein, daß die menschliche Seite der Offenbarungsreligion in ihrem ganzen Umfange deutlich werde, damit alles, was niemals Gegenstand des Glaubens werden kann, weil es Gegenstand des Wissens ist, sich immer schärfer abgrenze, und so der evangelische Glaube vor der Versumpfung bewahrt bleibe. Diesen Dienst kann nur eine rein historische Bearbeitung des Christentums der Religion leisten. Die evangelische Kirche darf deshalb nicht mit dem Zeugnis zurückhalten, daß sie der historisch-kritischen Arbeit niemals entraten kann, um so weniger, je konsequenter und methodischer sie verfährt.

Gefahr des Traditionalismus.[Bearbeiten]

Solange freilich auch in der evangelischen Kirche der Traditionalismus das Interesse an der Reinerhaltung des Glaubensbegriffes überwiegt – und diese Gefahr besteht auch heute noch –, wird sie der historischen Kritik dieses Zeugnis versagen. Sie wird voller Furcht auf die immer fortschreitenden Reduktionen hinstarren, welche jene an dem geschichtlichen Material des Christentums vollzieht und vollziehen muß. Diese quantitative Betrachtungsweise beherrscht auch heute noch weite kirchliche Kreise. In ihnen regiert die Furcht vor der Wissenschaft. Das Wort „Religionsgeschichte“ ist für sie ein Schreckgespenst.

Auf der anderen Seite wächst erfreulicherweise die Zahl der positiven Theologen, denen immermehr die Augen darüber aufgehen, wohin der kirchliche Traditionalismus mit solchen Anschauungen führt, und welche sich dem religionsgeschichtlichen Zuge der Zeit rückhaltlos hingeben. In ihnen ist der wissenschaftliche Sinn erwacht, der der Neu-Orthodoxie fehlte und heute noch fehlt. Ja, wir machen die Beobachtung, daß der unter der Herrschaft der Orthodoxie lange zurückgedrängte wissenschaftliche Sinn in ihren Enkeln nun um so energischer durchbricht. Diese im modernen Sinne Positiven können der apostolischen Forderung: die Vernunft gefangen zu nehmen unter den Gehorsam Christi, nicht mehr die alte Auslegung geben, daß es Pflicht sei, gewissen historischen Fragen gegenüber das wissenschaftliche Gewissen zu unterdrücken. Ja man gewinnt den Eindruck, daß diese „Positiven“ für die religionsgeschichtlichen Probleme viel aufgeschlossener sind als mancher Ritschlianer.

Prinzipieller Gegensatz gegen die neue Schule.[Bearbeiten]

Allerdings an einem Punkte entspringt ein prinzipieller Gegensatz, nicht gegen die religionsgeschichtliche Forschungsmethode, wohl aber gegen die „religionsgeschichtliche Schule“, wenn diese unter der Führung ihres Methodikers und Systematikers Ernst Troeltsch behauptet, daß jede konsequente historische Forschung die bisherige christliche Dogmatik aufhebe und zu einer völligen Umgestaltung und Neubegründung einer christlich bestimmten Weltanschauung auf philosophischer Grundlage [1000] nötige. Der religiös-sittliche Gedankeninhalt des Christentums, der nach Beseitigung des kirchlichen Supranaturalismus und Absolutheitsanspruches übrig bleibe, könne, um den Anforderungen moderner Wissenschaftlichkeit zu genügen, nur an eine Religionsphilosophie angeknüpft werden, welche ihrerseits wiederum auf der Basis einer umfassenden idealistischen Metaphysik und Geschichtsphilosophie auf dem Wege erkenntnistheoretischer und psychologischer Untersuchung des religiösen Phänomens zu gewinnen sei. Im einzelnen auf die von Troeltsch selbst und anderen unternommenen Versuche, eine solche christliche Religionsphilosophie zu begründen, hier einzugehen, müssen wir uns versagen. Es ist bisher auch bei bloßen Programmen und Entwürfen geblieben, welche alle auf den deutschen Idealismus irgendwie zurückgehen, und, an sich betrachtet, bedeutsame und fruchtbare religionsphilosophische Anregungen enthalten. So erwünscht aber für die Gegenwart die Verbindung der christlichen Dogmatik mit dem philosophischen Idealismus sein muß, und so bedeutsame Momente speziell die Troeltsch’sche Religionsphilosophie aufweist, so kann man sich doch nicht verhehlen, daß hier die Philosophie allerdings die Selbständigkeit der christlichen Erkenntnis aufhebt, an deren Begründung die Dogmatik des 19. Jahrhunderts ihre beste Kraft gesetzt hat, weil sie in ihr eine Aufgabe sah, welche unserer Zeit durch das reformatorische Verständnis des Christentums gestellt ist. So bedeutet diese neueste aus dem Historismus erwachsene Position in der Tat eine radikale Umwälzung in der Theologie, eine Rationalisierung derselben, die dazu nötigt, hinter Frank und Ritschl, ja Schleiermacher zurückzugehen. Als solche ist sie auch von allen älteren Richtungen empfunden worden. Das beweist der heiße Kampf um die Absolutheit des Christentums, den kirchlichen Supranaturalismus und die Selbständigkeit der Dogmatik, den vor allem Ernst Troeltsch gegen fast alle Dogmatiker unserer theologischen Fakultäten zu führen hatte. Dabei zeigte sich immer deutlicher, daß es sich bei diesem Kampfe nun doch nicht bloß und nicht einmal in erster Linie um Fragen der Wissenschaft, sondern um sehr ernste religiöse Differenzen handelte. Die eindringenden Arbeiten der neuen Schule zur Geschichte der Reformation und des Protestantismus haben auch deutlich genug bewiesen, daß ihre religiöse Gedankenwelt und Weltanschauung, wie ihnen selbst bewußt genug ist, nicht in der Reformation, sondern in der Aufklärung wurzelt. Alle Theologen des 19. Jahrhunderts, die um Hegel und die um Schleiermacher, der ältere Liberalismus und die Vermittelungstheologie, die Erlanger und die Schüler Ritschls, hatten unbeschadet großer Gegensätze in der Auffassung des Christentums, doch alle mit gleicher Energie als einen gemeinsamen Grundbesitz den Absolutheitscharakter und das reformatorische Wesen des Christentums behauptet. Wir haben es in diesem „Neuprotestantismus“ mit einer Theologie zu tun, die den Grundgedanken der Reformation gegenüber ein Abstandsgefühl zeigt, wie es in solcher Stärke auf dem Boden der evangelischen Kirche noch nicht hervorgetreten ist.

Notwendigkeit der Auseinandersetzung.[Bearbeiten]

Es ist darum nicht zu verwundern, wenn die Kirche mit schweren Sorgen dieser Entwicklung der Theologie gegenübersteht und die Gefahr empfindet, daß in ihr [1001] der moderne Kulturgedanke mit seiner Diesseitigkeitsstimmung, seinem Immanenz- und Relativitätsprinzip in stärkerer Weise als bisher jede liberale Auffassung wesentliche Inhalte des Christentums absorbiert und die Kirche aus der ihr durch die Reformation gewiesenen Bahn herauszudrängen bestrebt ist. Auch solche kirchliche Theologen, welche der wissenschaftlichen Arbeit in der Theologie den weitesten Spielraum gewähren wollen, empfinden vieles an diesem „Neuprotestantismus“ als „unkirchlich“ und sehen in ihm eine schwere Gefahr für die evangelische Kirche. Und in der Tat: hier handelt es sich vielfach nicht mehr um verschiedene Auffassungen der reformatorischen Bekenntnisse, sondern um ihre grundsätzliche Ablehnung als auf mittelalterlichen Fragestellungen beruhende Zeugnisse einer überwundenen Zeit.

Darum ist es verständlich, daß die kirchliche Theologie der Gegenwart die Überwindung des Neuprotestantismus als ihre Aufgabe betrachtet. Den verkehrtesten Weg zu diesem Ziel würde sie freilich einschlagen, wollte sie die in ihm wirksame wissenschaftliche Kraft verleugnen und ihrerseits von neuem die reaktionäre Bahn beschreiten. Es fehlt unter den kirchlichen Theologen nicht an solchen, die sich zu solchem Werke anschicken. Noch törichter freilich ist das Beginnen derer, die mit kirchenpolitischen Machtmitteln, etwa durch Beschränkung der theologischen Lehrfreiheit oder gar durch disziplinarische Maßregeln dem Vordringen dieser Theologie Halt gebieten zu können und zu dürfen glauben. Sofern ihnen das nicht ihr eigenes Gewissen verbietet, sollten sie wenigstens von der Geschichte lernen, wohin solche Wege führen und wohin nicht.

Es gibt nur einen ethisch-wissenschaftlich und evangelisch richtigen Weg zur Überwindung der der Kirche von der fortgeschrittensten Theologie drohenden Gefahr. Diesen, daß die kirchliche Theologie selbst den Beweis des Geistes und der Kraft erbringt. Das wird sie nur können, wenn sie den wissenschaftlichen Geist, der in jener Bewegung waltet, rückhaltlos anerkennt und sich ihm in voller Ehrlichkeit und mit ganzem Herzen hingibt. Das andere Erfordernis aber ist, daß sie die religiöse und sittliche Lebendigkeit und Energie aufbringt, um in der Spannung zwischen dem alten Glauben und dem neuen Wissen die reformatorische Position in der Ursprünglichkeit eigenen Erlebens festzuhalten und theologisch zu behaupten.

Die Arbeit der modernen kirchlichen Theologie.[Bearbeiten]

An dieser Aufgabe arbeitet gegenwärtig eine große Schar jüngerer moderner kirchlich gerichteter Theologen mit frischem Mute und bisher ungebrochener Kraft, und dieser Arbeit sollte die Kirche Vertrauen schenken, mehr Vertrauen schenken, als sie tat. Diese Theologen kommen aus verschiedenen Lagern der „Positiven“ älterer Observanz, vor allem auch von der Erlanger Schule, einige von der Ritschlschen Rechten. Einer ihrer ersten und wirksamsten Repräsentanten ist Reinhold Seeberg. Die Ausgangspunkte, Wege und Methoden sind bei den einzelnen sehr verschieden, und die anfängliche Gefahr einseitiger Schulbildungen hat sich sehr bald verzogen. Fast alle suchen sie neue und selbständige Wege und marschieren getrennt, oft sehr getrennt. Aber der Grundcharakter ihrer Theologie ist darin ein gemeinsamer, daß sie alle die Synthese suchen, die die evangelische Kirche braucht, um sich in dem Geistesleben [1002] der Gegenwart behaupten zu können, die Synthese von Wissenschaftlichkeit und Kirchlichkeit, von Reformation und modernem Leben. Niemand, der diese Arbeit und ihre hervorragenden Resultate auf allen Gebieten der Theologie mit dem Blick der Gerechtigkeit verfolgt, wird leugnen können, daß sie vollen Ernst mit den wissenschaftlichen Methoden der Gegenwart machen. Bücher, wie – um nur wenige und die allerneuesten „positiven“ Erscheinungen zu nennen – Seebergs neue Dogmengeschichte, Feines Neutestamentliche Theologie, Sellins Alttestamentliche Einleitung, Jordans Altchristliche Literaturgeschichte, Heims Gewißheitsproblem sind vollwertige wissenschaftliche Leistungen, welche die Ebenbürtigkeit der modernen kirchlichen Theologie bezeugen. In allen diesen Werken kommt die historische Methode zu ihrem vollen Recht. Und doch erliegt hier nicht die altgläubige Grundposition dem Historismus.

Neue dogmatische Ansätze auf der kirchlichen Seite.[Bearbeiten]

Nicht weniger geben sich unsere jungen kirchlichen Dogmatiker dem wissenschaftlichen Zuge der Zeit hin. Auf allen Gebieten der systematischen Theologie haben sie sich mit dem Historismus und überhaupt mit der modernen Wissenschaft kritisch auseinandergesetzt. In diesen Arbeiten kommen durchweg hüben genau so wie drüben die neuen systematischen Methoden zur Anwendung. Erkenntnistheorie und Psychologie stehen augenblicklich im Vordergrund. Die fruchtbarsten Ergebnisse der Philosophen werden in Anknüpfung an Kant, Schleiermacher, Hegel, überhaupt den deutschen Idealismus und seine gegenwärtige Wiederbelebung zur Begründung des eigenen Standpunktes verwertet. Die Religionsphilosophie kommt durchaus auch hier zu ihrem Recht. Die Probleme und problematische Lage werden in der ganzen Schwere empfunden. Mit der oberflächlichen Apologetik von früher ist es vorbei. Das ernsteste Streben geht nach einer um jeden Preis für die wissenschaftlichen Denkweise einwandfreien Position. Man will nicht mehr kritiklos anerkennen und übernehmen, das kritische Moment überwiegt einstweilen noch. Es geht ähnlich wie bei den neuprotestantischen Religionsphilosophen. Viel Methodisches und Programmatisches, noch wenig Positives. Und doch behaupten sich in dieser kritischen Selbstbesinnung die positiven Werte des alten Glaubens. Sie ringen sich los von veralteten theologischen Formen und drängen zu einem neuen noch im Werden begriffenen Ausdruck.

Daß diese Arbeit von denen, die zwischen Theologie und Glauben noch immer nicht zu unterscheiden wissen – sie sind auf beiden Seiten zu finden – als Halbheit oder noch Schlimmeres gescholten wird, darf ehrliche Arbeiter nicht bekümmern. Es ist auch selbstverständlich, daß es nicht ohne Reduktionen abgeht, und daß bei dem Umgießen der alten Weine in neue Schläuche etwas verschüttet wird.

Der entscheidende Punkt in der Stellung zu der neuen Schule.[Bearbeiten]

So liegt es also – und alles kommt darauf an, die theologische Lage der Gegenwart an diesem Punkte zu erfassen –, daß ein prinzipieller Gegensatz zwischen der modernen kirchlichen und der neuprotestantischen Theologie nicht hinsichtlich der in der Theologie [1003] anzuwendenden Methoden, wohl aber hinsichtlich ihrer Tragweite besteht. Die Neuprotestanten überschätzen die Wirkungen des Historismus, überschreiten zuweilen die Grenzen der historischen Begriffsbildung, ähnlich so wie vorher die Naturalisten (mit denen sie übrigens nicht verglichen werden sollen) die Grenzen der naturwissenschaftlichen. Was sich der Methode, die doch nur ein Auswahlverfahren darstellt, nicht fügen will, wird vielfach als ungeschichtlich verdächtigt. Als ob die Grenzen des historisch Feststellbaren auch die Grenzen der Wirklichkeit wären. Die Historie findet natürlich nur einen Jesus, der immer mehr zusammenschrumpft. Wird der Glaube auf diesen beschränkt, so muß er freilich auch zusammenschrumpfen. Aber darauf kann man doch nur kommen, wenn man die Gebiete des Wissens und Glaubens vermischt wie einst, wenn auch mit dem entgegengesetzten Resultat, die orthodoxe Theologie. Der Neuprotestantismus mutet in dieser Beziehung zuweilen als die umgekehrte Orthodoxie an. Die modernkirchliche Theologie lernt andere Wege gehen. Sie kommt oft zu denselben historisch-kritischen Resultaten wie jener. Aber sie zieht andere Schlüsse daraus. Sie unterscheidet, was sie im Namen der Wissenschaft und was im Namen des Glaubens über Jesus auszusagen vermag. Sie verhehlt sich keinen Augenblick, daß dieses weit über jenes hinausgeht, aber auch hinausgehen muß und kann. Darum denkt sie bei voller Aufgeschlossenheit gegenüber der Wissenschaft nicht daran, dem Historismus die Absolutheit des Christentums, die supranaturale Offenbarung, die Heilsgeschichte und den Christus des Glaubens zu opfern.

Ich glaube, daß allein durch die konsequente Verfolgung dieser Aufgabe allmählich ein Boden zu gewinnen ist, auf dem ein neues Verhältnis von Wissenschaft und Kirche begründet werden kann – in einer Theologie, die sich mit der Wissenschaft und mit der sich die Kirche zu verständigen vermag. Gewiß wird ein solcher Gleichgewichtszustand nur annähernd und nicht ein für allemal zu erreichen sein. Es kann auch noch nicht davon die Rede sein, daß er schon bestände. Aber der unbefangen Prüfende wird doch sagen dürfen, daß eine zukunftskräftige und produktive Theologie in der Gegenwart sich diesem Ziele nähert.

Faßt man diese im Entstehen begriffene neue Literatur ins Auge, so gewinnt das Urteil innere Berechtigung, daß die Entfremdung zwischen Kirche und Theologie, die sich im 19. Jahrhundert immer mehr vergrößerte und schließlich durch den Neuprotestantismus und Historismus ein bisher in der gesamten Kirchengeschichte kaum dagewesenes Maß erreichte, ihren Höhepunkt bereits überschritten hat.

Der Historismus hat auf die kirchliche Theologie den denkbar stärksten Angriff gemacht. Er hatte ohne Zweifel die Tendenz in sich, den kirchlichen Charakter der Theologie überhaupt zu neutralisieren. Das ist ihm nicht gelungen und wird ihm nicht gelingen. Zwar hat er den ganzen bisherigen theologischen Besitz der Kirche in Frage gestellt und zu einer gründlichen Revision der Überlieferung genötigt. Ja mehr als das! Er vermochte den durch die kirchliche Restauration wiederhergestellten Bekenntnischarakter der evangelischen Kirche zu neutralisieren. Eine völlig neue Situation ist dadurch geschaffen. Aber schon jetzt wird deutlich erkennbar, daß das Ergebnis der theologischen Entwicklung eine neue Synthese von Wissenschaftlichkeit und Kirchlichkeit sein wird, keine definitive Scheidung beider.

[1004]

Zukunftsaussicht.[Bearbeiten]

Diese Aussicht gehört zu den hoffnungsvollsten Symptomen der gegenwärtigen kirchlichen Lage. Das muß man den kirchlichen Pessimisten unserer Tage sagen. Die kirchliche Theologie im weitesten Sinn ist im Begriff, nicht nur die fast verloren gegangenen Anrechte der Kirche an die Wissenschaft unserer Zeit wiederherzustellen, sondern durch die Überführung des wissenschaftlichen Geistes der Gegenwart in die kirchliche Gedankenwelt, ein ganz neues Erkenntnisstadium für die Kirche herbeizuführen. Erkennen wir es doch endlich: die Kirche wäre zugrunde gegangen, wenn sie auf dem Erkenntnisstandpunkt, auf dem die Neuorthodoxie sie festhalten wollte, stehen geblieben wäre. Sie wäre an der Stagnation des intellektuellen Lebens verkümmert. Es mußte eine Krisis kommen, die zunächst mit der ganzen Überlieferung aufzuräumen schien. Dieser Schein hat manche allzulange getäuscht und geängstigt. Die aus dem intellektuellen Gleichgewicht gekommene Kirche beginnt sich nun theologisch zu befestigen. Der Tag ist nicht fern, an dem die Notwendigkeit und Heilsamkeit des ganzen Erschütterungsprozesses auch von denen anerkannt werden wird, die jetzt noch nichts als Wirrwarr sehen.

Das Erreichbare.[Bearbeiten]

Daß jemals wieder der Zustand eintreten wird, der im Mittelalter und in der Ära der altprotestantischen Theologie herrschte, der der kirchlichen Homogenität der gesamten Theologie, ist allerdings nicht zu erwarten, aber auch nicht nötig, nicht einmal wünschenswert. Die Spannung, welche das neuere Geistesleben in das Verhältnis von Kirche und Wissenschaft hineingebracht hat, läßt sich nicht wieder ganz beseitigen. Es wäre das auch weder für die Kirche noch für die Theologie gut. Einmal würde das eine äußere Beschränkung der Freiheit der Forschung, des Spielraums des rein wissenschaftlichen Gedankens in der Theologie voraussetzen, welche den Prinzipien der Reformation widerspräche. Sodann würde mit der Spannung leicht eine lebendige Kraft des Fortschritts beseitigt werden. Die Theologie, auch die kirchliche, hat den Entwicklungsgedanken in sich aufgenommen und muß dem Rechnung tragen. Lediglich darauf kommt es an, daß die Spannung nicht bis zum Gegensatz überhaupt ausarte.

Die Kirche hat unter der großen Entfremdung von der Wissenschaft unsäglich gelitten. Sie verlor durch sie immer mehr die Fühlung mit dem Denken der Zeit. Sie wurde immer untheologischer im 19. Jahrhundert. Die Spuren davon lassen sich auf allen Gebieten des kirchlichen Lebens verfolgen. Überall sehen wir die alte Theologie das kirchliche Denken beherrschen. Infolgedessen konnte die Kirche ihre erzieherischen Aufgaben an dem neuen Geschlecht nicht erfüllen.

Die Theologie ist eine notwendige Lebensfunktion der Kirche, deren intellektuelles Leben verkümmern muß, wenn es nicht im fortdauernden geistigen Leben der Zeit erhalten wird. In dieser Gefahr ist die Kirche schon öfter gewesen, auch im 19. Jahrhundert.

Davon wird das Schicksal unserer Volkskirche abhängen, ob es ihr gelingen wird, ohne Einbuße an religiösem Gehalt eine Synthese mit dem fortgeschrittenen wissenschaftlichen Geist unserer Zeit einzugehen. An Aussicht dafür und Ansätzen dazu fehlt es nicht.

[1005]

III. Wendung und Weiterbildung.[Bearbeiten]

1.[Bearbeiten]

Wendung zu neuer Religiosität.[Bearbeiten]

Und nun zu der überraschenden Erscheinung, die den besprochenen kirchlichen Fragen und Problemen eine besondere Aktualität verleiht: es vollzieht sich in jüngster Zeit ein Umschwung und Aufschwung im religiösen Leben unseres Volkes.

Allerdings noch ist dieses neue Streben verdeckt. Es regt sich hie und da unter der Oberfläche unseres glänzenden Kulturlebens. Noch hat es keineswegs die greifbare Gestalt einer bewußten Lebensrichtung des ganzen Volkes angenommen. Viele bemerken darum nichts davon. Und doch lassen sich schon auf nahezu allen Lebensgebieten Anzeichen des Kommenden, ja mit Sicherheit Nahenden und mit Macht Hereinbrechenden beobachten, wenn auch manches davon nur gefühlsmäßig erfaßt werden kann.

Überwindung des Naturalismus.[Bearbeiten]

Wie ganz anders ist die religiöse Stimmung seit den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts, etwa dem Erscheinen der „Welträtsel“, geworden. Damals schien in der öffentlichen Meinung der Untergang des religiösen Lebens im deutschen Volke besiegelt. Heute wird es uns immer deutlicher, daß sich gerade seit jenen Tagen, in denen der Materialismus Angriffe von noch nie dagewesener Heftigkeit gegen Religion und Christentum richtete, in den unbewußten Tiefen der Volksseele lange zurückgedrängte und halb vergessene Ideale kräftig regen und sich gegen die Tyrannei einer Weltanschauung aufbäumen, die alles höhere Leben zu ersticken drohte. Alles, was noch an Idealismus im deutschen Geistesleben steckte – in Wissenschaft und Kunst, Philosophie und Religion – vereinigte sich, um an einer unerträglich gewordenen naturalistischen Theorie ein furchtbares Gericht zu vollziehen und ihm eine unwiderrufliche Niederlage zu bereiten. Man muß sich klarmachen, daß die wissenschaftliche, philosophische, religiöse Überwindung des Naturalismus, unter dem unser Volk jahrzehntelang theoretisch und praktisch unendlich gelitten hatte, Tatsache geworden ist. Das bedeutet eine der hervorragendsten Wendungen im deutschen Geistesleben. Seitdem stehen wir in einem fortschreitenden Prozeß sittlicher, überhaupt geistiger Selbstbesinnung. Auf allen Lebensgebieten ringt sich von ihren besten Vertretern das Bewußtsein von der Selbständigkeit und Ursprünglichkeit geistigen Lebens, um die höchsten Lebenswerte und Lebensgaben aus dem dumpfen Druck des ausschließlich naturwissenschaftlichen Denkens, das auf uns lastet, los.

Renaissance des deutschen Idealismus.[Bearbeiten]

Und hier nun zeigt sich immer deutlicher der Zusammenhang dieser Bewegung mit der großen Zeit vor hundert Jahren. Denn das Emporkommen eines neuen Idealismus in unserem Volk ist nichts anderes als das Wiedererwachen des älteren deutschen Idealismus. Es ist schon mehrfach darauf hingewiesen, welche Renaissance der deutsche Idealismus, in dem die beste Kraft der deutschen Erhebung von 1813 steckte, vor allem [1006] literarisch und philosophisch gegenwärtig erlebt. Man braucht nur zweier Tatsachen sich zu erinnern, einmal, daß fast die gesamte Literatur nicht nur unserer Klassiker, sondern auch unserer idealistischen Philosophen in neuen Ausgaben vor uns liegt; sondern, daß eine Philosophie und Weltanschauungslehre sich gegenwärtig machtvoll Bahn bricht, die sich ihrer Abstammung von unseren großen deutschen Idealisten deutlich bewußt ist. Dadurch aber wird auch die Herkunft des religiösen Aufschwungs klar, der sich anzubahnen beginnt. Denn die tiefsten Wurzeln des Idealismus sind stets religiöser Natur gewesen und mit dem Grundgedanken des Christentums auf das engste verwachsen. Das trat vor allem in der nationalen Erhebung von 1813 hervor.

Ringen nach idealistischer Weltanschauung.[Bearbeiten]

Gewiß, ebensowenig wie sich dieser neue Weltanschauungsidealismus bereits in der gegenwärtigen Philosophie überall negierend durchgesetzt hat, kann die Wendung zu religiösem Leben als eine vollendete Tatsache angesehen werden. In der Philosophie liegen die Dinge so, daß, wiewohl der rein naturalistische Monismus, sei es in Haeckelscher oder in Ostwaldscher Gestalt, als überwunden anzusehen ist, dennoch die herrschende Philosophie, soweit man von einer solchen reden kann, immer noch sehr stark unter dem Einfluß naturwissenschaftlicher Methode und Begriffsbildung steht. Das beweisen so weit verbreitete Systeme, wie die von W. Wundt, Fr. Paulsen, Ed. v. Hartmann und vielen anderen, in denen es die grundsätzlich naturwissenschaftliche Denkweise nicht zu einem reinen Idealismus kommen läßt. Aber die sachliche Leidenschaft, gedankliche Schärfe und Tiefe, mit der andererseits Männer wie Eucken, Windelband, Rickert, Husserl, Hermann Leser und viele andere darum ringen, unserem Volke die seiner Geschichte und seinem Genius, seinen Gaben und Aufgaben entsprechende echt idealistische Weltanschauung aus den reichen Quellen der deutschen Vergangenheit neu zu erringen, zeigt schon jetzt, namentlich durch ihre starken Wirkungen auf die akademische Jugend, daß sie sich durchsetzen wird. Die Zahl derer wird täglich größer, die sich um die Fahne des neuen und doch alten Idealismus scharen. Wir haben es mit einer Bewegung zu tun, die weit über das rein akademische Interesse hinausgreift. Diejenigen, welche in dieser Bewegung stehen, sind sich der Tragweite ihres Tuns und Strebens bewußt. Es handelt sich um einen neuen Durchbruch ursprünglich geistigen Lebens in der deutschen Nation. Das ist die große Aufgabe, die zur weltgeschichtlichen Tat werden will, das Leben des deutschen Volkes aus dem naturalistischen Bann, in dem es gefangen liegt, zu befreien und es in allen seinen Funktionen in jener Welt des Geistes, der ewigen Normen und Werte zu verankern, in der die edelsten Kämpfer und tiefsten Denker deutscher Geschichte von jeher die wahre Wirklichkeit empfunden und verehrt haben. Davon, ob dieses Streben zu seinem Ziele kommt, wird das innere Schicksal unseres Volkes abhängig sein.

Überwindung des Intellektualismus und Individualismus.[Bearbeiten]

Um Lebensvertiefung und -gestaltung ringt dieser Idealismus, nicht um Theorien und Abstraktionen. Eine [1007] viel tiefere und umfassendere Tendenz steckt in ihm als die Unwissenschaftliche. Bei aller streng wissenschaftlicher Methodik, die ihm eigen ist, will er doch das deutsche Geistesleben von dem unfruchtbaren Intellektualismus befreien, der jedes Leben aus dem Ganzen und Vollen unmöglich macht, die Gedanken festhält im irdischen Lebenskreis und jedes Vordringen zur Ursprünglichkeit, zum Ewigen und Göttlichen verhindert. Auf der anderen Seite gilt es ihm die Überwindung seines Gegenstückes, des haltlosen Individualismus, in dem das auf sich selbst gestellte Einzelleben in ohnmächtigen Versuchen, aus eigenen Kräften über sich selbst hinwegzugelangen, sich erschöpft. Eine neue ursprüngliche Lebensrichtung will dieser Idealismus der Gesamtheit geben, indem er das Leben des Einzelnen und der Einzelnen aus der Zufälligkeit der bloßen Naturbestimmtheit löst und in lebendigen Kontakt setzt mit dem überindividuellen und überweltlichen Geistesleben, welches in der Geschichte nach charaktervoller Ausprägung im menschlichen Lebenskreis ringt und dem Tatcharakter des Geistes innerhalb des bloß Natürlichen und Gegenständlichen zur persönlichen Wirklichkeit verhilft.

Wendung zu neuer Religiosität.[Bearbeiten]

Mit dem Aufkommen dieses Idealismus hängt – sei es bewußt oder unbewußt – zweifellos die bezeichnete Wendung zu neuer Religiosität zusammen, ja sie bildet seinen tiefsten Kern. Denn eine solche idealistische Lebenserfassung beruht und kann nur beruhen auf dem, was in der Religion Offenbarung, Gotteserlebnis heißt. Darum unterscheidet sie sich auch gründlich von dem modernen religiösen Individualismus, der ästhetischen Gefühlsfrömmigkeit oder der mystischen Stimmungsreligiosität, die wir schon längere Zeit unter uns haben, wobei die Religion in Vorgängen, die in der Zuständlichkeit des einzelnen aufgehen, gesucht wird. Eine solche Religiosität bloßer psychischer Zuständlichkeit mag ja in zahlreichen literarischen und künstlerischen Erzeugnissen der Gegenwart viel Wesen von sich machen. Zu einer Regeneration des Volkes wird sie niemals führen.

Selbständiger Rückgang auf den Grundgehalt des Christentums.[Bearbeiten]

Darin beweist vielmehr das neue religiöse Streben, das dem Idealismus innewohnt, seine Überlegenheit über die moderne individualistische Religiosität, daß es dem religiösen Leben des Einzelnen wieder einen festen Halt in allgemeingültigen Normen der Weltanschauung und Lebensgestaltung geben will. Dabei tritt immer deutlicher hervor, daß nur ein energisches Zurückgehen auf die Grundideen und den Urgehalt des geschichtlichen Christentums, zu diesem Ziele führen kann. Allerdings steht hier auch wieder der Intellektualismus im Wege, der von einer möglichst treuen Repristination des theologischen Dogmas alles Heil erwartet. Das entspricht nicht dem Tatcharakter des Geistes und der Forderung ursprünglichen Erlebens, ohne die der Idealismus zur bloßen Theorie würde. Es handelt sich vielmehr um ein Neuerleben und Neugewinnen und darum auch um ein Neugestalten und Weiterbilden geschichtlich ererbter Güter. Darum, ob und daß der neue Idealismus [1008] in der Selbstbesinnung auf die tiefsten Grundlagen des Lebens die Kraft und Konzentration aufträgt, um die durch die christliche Offenbarung, durch das Evangelium Christi und von Christo in der Geschichte als Erlösung eingetretene höchste geistig-göttliche Wirklichkeit vom neuem in ihrer ganzen Tiefe und Nacht zu erleben und aus diesem Erleben heraus eine neue unerschütterliche Grundlage für das geistige Leben unseres Volkes zu gewinnen. Dieses Streben unterscheidet sich nicht nur von dem sentimentalen Spiel mit religiösen Stimmungen, sondern auch von dem schnell fertigen und bequemen Rezept einer bloß repristinierenden Orthodoxie. Hier liegt die denkbar ernsteste Aufgabe vor: die transzendenten Lebenswerte des Christentums, befreit von der Zufälligkeit ihrer zeitgeschichtlichen Umhüllung, in einer umfassenden Welt- und Lebensauffassung dem Geschlechte der Gegenwart so eindrücklich zu machen, daß ein neues tiefes Leben entstehen kann.

Eine ganze Literatur, unter der die Euckenschen Schriften führend hervorragen, ist im Entstehen begriffen, durch die sich in bewußter Weise eine neue lebendige Verbindung zwischen dem neuen Idealismus und dem geschichtlichen Christentum anbahnt. Es ist aber für den Beobachter des gegenwärtigen geistigen Lebens ganz gewiß, daß sich dieselbe Verbindung in unbewußter Weise in zahlreichen tiefen Gemütern heutzutage vollzieht. Die neue Kombination, die gegenwärtig philosophisch-theologisch herausgearbeitet wird, ist darum nicht künstlich gemacht, sondern nur die gedankliche Gestaltung eines tiefen Erlebens, das die Besten unserer Zeitgenossen ergriffen hat.

Gewiß ist das, was ich hier theoretisch und praktisch gestalten will, noch im ersten Werden begriffen und darum noch vielfach ungeklärt und unfertig. Aber wir verstehen unsere Zeit überhaupt nur, wenn wir sie als Übergangszeit verstehen. Unter diesem Gesichtspunkte aber muß auch die werdende Frömmigkeit gewertet werden, wenn ihre Bedeutung für die Zukunft nicht verkannt werden soll.

Heutige Bedeutung der Gestalt Jesu.[Bearbeiten]

Eines der deutlichsten Symptome für das neue religiöse Werden ist die staunenswerte intensive und extensive Beschäftigung unserer Zeit mit der Gestalt Jesu. Eine Jesusliteratur, wie sie keine Zeit aufzuweisen hat, liegt vor uns. So wunderlich und mannigfaltig sich auch sein Bild in den so unendlich verschiedenen Köpfen derer spiegelt, die von allen möglichen Lebensgebieten und Seelenverfassungen aus sich mit ihm auseinandersetzen müssen, – die außerordentliche Rolle, welche seine Person seit einigen Jahrzehnten in der Gedankenwelt der geistig Lebendigen unter uns zu spielen beginnt, drängt sich nur um so stärker auf. Alles, was gegenwärtig in der Philosophie nach neuer Lebensanschauung, in der Dichtung nach neuer Lebensgestaltung, in der Sozialpolitik nach neuer Lebensordnung ringt, fühlt sich gedrungen, zur Persönlichkeit Jesu Stellung zu nehmen. Wir stehen in den Anfängen einer neuen Periode von Jesuswirkungen umfassender Art.

Stellungnahme der Jugend.[Bearbeiten]

Nicht zum wenigsten macht sich das bei der Jugend bemerkbar. Hier hat Empfänglichkeit, Sinn [1009] und Verständnis für religiöses Leben, insbesondere für die Gestalt Jesu in den letzten Jahren bedeutend zugenommen. Dieser Umschwung läßt sich aber weder aus der vom Ausland zu uns gekommenen, in verschiedenen Formen bei uns eingebürgerten und bis in die Kreise unserer Studentenschaft vorgedrungenen religiös-christlichen Jugendbewegung, noch aus den parallelen vereinsmäßigen Bestrebungen der organisierten Inneren Mission erklären, soviel auch diesen Bestrebungen zu danken sein mag. Vielmehr ist in unserer deutschen Jugend augenblicklich offenbar etwas Selbständiges, Spontanes, Bodenständiges im Werden begriffen, das sich vielfach unter ungünstigen Umgebungsbedingungen, ja mitten unter den Miseren des modernen Religionsunterrichtes emporgearbeitet hat und in einer gesunden Reaktion gegen das Krankhafte, Enge und Beschränkte des vom Auslande importierten religiösen Geistes begriffen ist. Jedenfalls schlägt die deutsch-christliche Studentenbewegung in steigendem Maße gesunde Bahnen ein.

Die Gemeinschaftsbewegung.[Bearbeiten]

In diesem Zusammenhange ist auch die Gemeinschaftsbewegung zu nennen, deren Auftreten und Verbreitung für das hinter uns liegende Menschenalter charakteristisch ist. Sie ist zwar wie zahlreiche Sekten, welche inzwischen in unser zerklüftetes evangelisches Kirchengebiet eingedrungen sind, englisch-amerikanischer Herkunft und trotz ihrer außerordentlichen Propaganda im großen und ganzen auf bestimmte innerkirchliche Kreise beschränkt geblieben, während von einer nennenswerten Gewinnung der entchristlichten Volksmassen durch ihre Evangelisation und Gemeinschaftspflege nicht die Rede sein kann. Aber sie vermochte ihren tatsächlichen Einfluß doch nur dadurch zu erreichen, daß sie sich starker religiöser Bedürfnisse bemächtigte, welche die Kirche in ihrer damaligen Verfassung nicht zu befriedigen vermochte. Irren wir nicht, so beginnt sich auch in den Kreisen des sonst als kirchenfeindlich bekannten Flügels der Gemeinschaftsbewegung ein gesünderer, weltoffenerer und selbständigerer Geist, der seine Zufuhr aus jenen neuen nationalen, idealistischen und religiösen Impulsen unserer Zeit zu erhalten scheint.

Nähere Bestimmung des Umschwungs.[Bearbeiten]

Ein Dreifaches ist noch zur näheren Bestimmung der im Entstehen begriffenen Wendung zur Religion zu bemerken. Einmal liegt es in der Natur der Sache, daß die Ankündigungen des Neuen, das da werden will, in einem Augenblick, wo noch alles im Stadium der ersten Vorbereitung liegt, mehr Gegenstand feinfühliger Empfindung als greifbarer Wahrnehmung ist. Sodann geht zweifellos diese Bewegung einen Weg, der sich der allgemeinen Beobachtung entzieht, den Weg von oben nach unten, denselben Weg, den auch seinerzeit der Unglaube gegangen ist. Endlich aber marschiert, wie überhaupt oft in der Geschichte der Frömmigkeit, die moderne Religiosität keineswegs ohne weiteres pari passu mit der Kirchlichkeit. Aus den Gründen sind nicht wenige kirchliche Beobachter, welche nach den greifbaren Merkmalen, volkstümlichen Ursprüngen und kirchlichen Tendenzen einer neuen Frömmigkeit suchen, überhaupt abgeneigt, die Tatsache einer Wendung zum Besseren zuzugeben.

[1010]

Keine grundsätzliche Kirchenfeindschaft.[Bearbeiten]

Trotz alledem kann man nicht sagen, daß sich die neue Frömmigkeit, die im Werden begriffen ist, durchweg grundsätzlich gegen die Kirche ablehnend verhielte. Im Gegenteil macht sich in letzter Zeit vielfach das Bedürfnis nach einer neuen Kirchlichkeit geltend, und Ansätze zu ihr sind vorhanden, deren verständnisvolle Pflege und Weiterbildung die Hauptaufgabe der kirchlichen Gegenwart ist. Es scheint bisweilen, als habe die früher geschilderte moderne Unkirchlichkeit in bestimmten Kreisen ihren Höhepunkt nicht bloß erreicht, sondern auch schon überschritten. Allerdings wird man sich schon jetzt nicht verhehlen können und dürfen, daß die neue Kirchlichkeit, die wir kommen sehen, ein anderes Gepräge tragen wird als die der hinter uns liegenden Zeit. Die moderne Frömmigkeit wird im großen und ganzen die Beteiligung am Kultus der Kirche nicht mehr in erster Linie als religiöse Pflicht empfinden. Ererbte Sitte und Gewohnheit wirken freilich auch noch in manchen von der neuzeitlichen Lebenswendung unberührter gebliebenen Gegenden nach und werden hoffentlich noch lange nachwirken. Dort jedoch, wo gegenwärtig spontan eine neue Kirchlichkeit entsteht, vor allem in unseren Großstädten, trägt sie einen stark persönlichen, bewußten, temperamentvollen Charakter. Sie bildet sich überall da, wo eine Predigtweise sich energisch zur Geltung bringt, die sich ganz neue aus der Gegenwart entstandene Aufgaben stellt und dem modernen Menschen das alte Evangelium in neuer Weise nahezubringen sucht.

Die großen Arbeitsgemeinschaften in der Kirche.[Bearbeiten]

Die stärksten Garantien für die trotz der tiefgehenden und umfassenden Krisen in ihrem Schoße noch ungebrochene Lebenskraft der evangelischen Kirche liegen auf einem Gebiete, wo dieselbe in letzter Zeit mit immer größerer Entschlossenheit die Wendung zum modernen Leben vollzogen hat, auf dem Gebiete der genossenschaftlichen Organisation ihres Arbeitslebens. In den großen Arbeitsgemeinschaften der Äußeren und Inneren Mission, des Gustav-Adolf-Vereins und Evangelischen Bundes, der evangelisch- und kirchlich-sozialen Bestrebungen, der Gemeindearbeit und Frauenhilfe ist eine staunenswerte kirchliche Energie entfaltet, eine Aktivität, die für die Zukunft noch weit Größeres verspricht als für die Gegenwart. Hier liegen wirklich gewaltige Fortschritte, und auf ihnen beruht die Hoffnung der Kirche. Denn die Arbeit, die hier gemeinsam getan ist und weiter getan wird, hat die Kraft besessen, über die Interessen der Einzelgemeinden, ja der einzelnen offiziellen Kirchengebiete und Kirchenkörper hinaus zahllose evangelische Christen zusammenzufassen und zu verbinden; sie hat sich bis jetzt den Gegensätzen im Innern gewachsen gezeigt und im Sinne des reformatorischen Priestertums aller Gläubigen eine Fülle von Laienkraft für die Reichsgottesarbeit mobil gemacht. Mitten unter den Erschütterungen, denen unsere Landeskirchen ausgesetzt waren, hat hier das volkskirchliche Bewußtsein der evangelischen Kirche eine neue Heimat und neue Ziele gefunden. Hier, wo die großen Aufgaben und Notwendigkeiten des Reiches Gottes zur Arbeit drängen, entfaltet das Evangelium seine zentripetale Kraft. Und darin vollzieht sich eine [1011] innerliche und äußerliche Erweiterung des evangelischen Kirchengedankens, der eine hoffentlich nicht mehr allzu ferne Zukunft gehören wird. Niemand kann dafür ein schärferes Auge und ein tätigeres Interesse beweisen als der Kaiser. Es ist kein Zufall, daß gerade seiner Regierung dieser Aufschwung der kirchlichen Arbeitsgemeinschaften vorbehalten blieb. Die erfreuliche Jubiläumsspende für die deutsche Kolonialmission ist die Quittung für die intellektuelle und materielle Mitarbeit des Kaisers und seines Hauses an den umfassenden Aufgaben der evangelischen Kirche.

Innere Mission. Soziale Frage.[Bearbeiten]

Die Innere Mission hat sich in den letzten Jahrzehnten außerordentlich entwickelt, erweitert, vereinheitlicht, vertieft. In großer Zahl sind ihr neue Vereine, Anstalten und Arbeitsfelder entstanden. Persönlichkeiten wie Bodelschwingh und Stöcker haben die fruchtbarsten Impulse gegeben. Stöcker ist durch das gewaltige Werk der Berliner Stadtmission der Vater einer sich nachgerade über alle Groß- und Mittelstädte erstreckenden Stadtmissionstätigkeit geworden. Bodelschwingh hat in den letzten Jahren seines Lebens die Augen geöffnet für die Riesenaufgaben, die aus der Not der vagabundierenden, heimat- und arbeitslosen Bevölkerung erwachsen. Mächtige Anstöße gab nach vielen Richtungen hin die soziale Frage und die soziale Gesetzgebung des Reiches. Zwar hat hier die Kirche lange Zeit gebraucht und viel Lehrgeld zahlen müssen, ehe sie zu begreifen anfing, wo ihre sozialen Aufgaben liegen und wo nicht. Der soziale Übereifer auf kirchlichem Boden, der in der Stöckerschen Bewegung kirchlich und evangelisch nicht unbedenkliche Wege einschlug und Übergriffe der Religion und ihrer Vertreter in das politische und gesetzgeberisch-technische Gebiet verursachte, hat längst ein ruhigeres und besonneneres Tempo eingeschlagen. Von den beiden ursprünglich vereinten freien Organisationen, welche den sozialen Gedanken in seiner Beziehung zur Kirche und Religion grundsätzlich vertreten, sucht der freier gerichtete Evangelisch-soziale Kongreß sein Ziel vor allem durch gründliche Orientierung über die sozialen Probleme und Aufgaben unserer Zeit sowie durch Weckung sozialer Gesinnung zu erreichen, während die kirchlich-soziale Konferenz, in engster Berührung mit der Kirche und Praxis stehend, für unmittelbare Anregungen und Anstöße zu sozialer Arbeit sorgt. Daneben gewinnt auch in der Arbeit der Inneren Mission im engeren Sinne das soziale Element immer mehr an Einfluß. Es ist zu hoffen, nachdem seit 1908 der Geist Wicherns wieder lebendiger zum Bewußtsein gekommen ist, daß die Innere Mission in ihrer umfassenden Arbeit immer mehr die organische Verbindung zwischen dem religiösen und dem sozialen Gesichtspunkte findet. Unter ihren besonders ausgebauten alten und den hinzugekommenen neuen Aufgaben seien besonders hervorgehoben: die Organisierung der Arbeit an der Presse, die männliche und weibliche Diakonie, die Fürsorgeerziehung und die Jugendarbeit, die Krippen- und Krüppelpflege. An einem außerordentlich wichtigen Punkt aber hat sie sich den Anforderungen der Zeit neuerdings in besonderem Maße erschlossen und dadurch einen wichtigen Schritt vorwärts getan, daß sie sich unter dem Eindruck der akuten Weltanschauungskrisis, die etwa um die Wende des Jahrhunderts über uns kam und alle Kreise der Bevölkerung ergriff, mit großem Eifer der Mitarbeit

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Evangelisatorische und apologetische Arbeit.[Bearbeiten]

an den evangelisatorischen und vor allem apologetischen Aufgaben der Zeit hingab und dadurch nicht nur die bisher einseitig betonte Liebestätigkeit in der durch Wicherns Programm selbst gewiesenen Richtung zu ergänzen, sondern auch die früher stark vernachlässigte Fühlung mit dem Geistesleben der Gegenwart und damit die Einwirkung auf die „gebildeten Stände“ zu gewinnen suchte. Hier hat vor allem durch seine apologetischen Instruktionskurse der Zentralausschuß für Innere Mission in Berlin, der nicht bloß durch seine Kongresse immer mehr zu einer geistigen Zentrale aller inneren Missions-Arbeit wird, die Führung übernommen.

Frauenarbeit.[Bearbeiten]

Charakteristisch für den mächtigen Fortschritt der inneren Missions-Arbeit in den letzten Jahrzehnten ist die immer stärkere Heranziehung und Ausbildung freier weiblicher Arbeitskräfte für ihre Liebeswerke. Was hier durch die „Frauenhilfe des Evangelisch-kirchlichen Hilfsvereins“, die umfassendste und bedeutungsvollste dieser Art Arbeitsgemeinschaften, vor allem für die Organisierung der kirchlichen Krankenpflege, die „Frauengruppe der kirchlich-sozialen Konferenz“ z. B. für die Heimarbeit, den „Internationalen Verein der Freundinnen junger Mädchen“ für Mädchenschutz und den „Verband der evangelischen Jungfrauenvereine Deutschlands“ für die Pflege weiblicher Jugend geschieht, bedeutet ein Ruhmesblatt in der neuesten Geschichte der Inneren Mission. Auch der „Deutsch-evangelische Frauenbund“ widmet sich einer Reihe von sozialen Aufgaben, stellt aber in letzter Zeit je länger je mehr unaufhaltsam weiterdrängende frauenrechtliche Gesichtspunkte in den Vordergrund.

Apologetische Bewegung.[Bearbeiten]

Die apologetische Bewegung, welche seit etwa einem Dutzend Jahren bei uns eingesetzt hat und sich über das ganze Gebiet der evangelischen Kirche außerordentlich rasch verbreitet hat, geht in ihrer Gesamterscheinung weit über den Rahmen der Inneren Mission hinaus. Sie ist aus den Weltanschauungskämpfen, die uns vor allem der Haeckelsche Monismus aufgezwungen hat, herausgeboren. Sie hat der Theologie neue fruchtbare Aufgaben gestellt, eine Riesenliteratur hervorgebracht, einen enormen Vortragsapparat erzeugt und durchdringt unser gesamtes kirchliches Leben in Theorie und Praxis. Neben dem bereits erwähnten Instruktionskursus des Zentralausschusses für Innere Mission dient das 1909 gegründete Apologetische Seminar zu Wernigerode a. H. der apologetischen Ausbildung von Theologen und Religionslehrern. Unter der Führung der wissenschaftlichen Apologetik unserer Zeit bemächtigen sich der apologetischen Praxis immer mehr neue kritische, zeitgemäße Methoden. In der Auseinandersetzung mit dem Monismus hat die moderne Apologetik ihre Ebenbürtigkeit der Wissenschaft unserer Zeit gegenüber bewiesen. Diesem Umstande verdankt sie ihre unleugbaren Erfolge, die darin bestehen, daß vielen unserer der Religion entfremdeten Zeitgenossen durch sie das Recht der christlichen Weltanschauung im Geistesleben der Zeit wieder deutlich geworden ist. Die religiöse Krisis der Gegenwart erzeugt zahlreiche geistige Typen, [1013] denen nur auf apologetischem Wege beizukommen ist, und es ist zweifellos, daß viele auf dem Umweg über die Apologetik wieder den Weg zum Evangelium und zur Kirche gefunden haben. Noch niemals hat die evangelische Kirche in Deutschland eine derartige apologetische Ära erlebt wie in dem letzten halben Menschenalter. In die kirchliche Arbeit ist dadurch ein neues geistiges Element, ein neues Kraftbewußtsein, ein neues Moment von Zeitgemäßheit hineingekommen, das sich so leicht nicht wieder verlieren wird. Überhaupt hängt die apologetische Bewegung innerlich mit der neuen Wendung zur Religion zusammen. Sie war nicht ohne den Optimismus möglich, dem die Zukunft gehört.

Äußere Mission.[Bearbeiten]

Zum mindesten gleichen Schritt mit der Entwicklung der Inneren hat die der Äußeren Mission gehalten. Vergegenwärtigt man sich, mit welchen Schwierigkeiten der Missionsgedanke bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein noch bei kirchlichen Kreisen, bis in die jüngste Zeit hinein bei der öffentlichen Meinung zu kämpfen gehabt hat, so staunt man über das Erreichte und mehr noch über das im Werden Begriffene. Zwar wird die Missionsarbeit der deutschen evangelischen Kirche noch auf lange hinaus einen Vergleich mit der englisch-amerikanischen nicht aushalten können. Das liegt nicht nur an den ungünstigen kirchlichen Bedingungen, unter denen bei uns von alters her die Mission gearbeitet hat, sondern vor allem daran, daß Deutschland bislang nicht im entferntesten die politische und kulturelle überseeische Einflußsphäre besitzt, geschweige besessen hat, wie jene Länder. Denn ohne Zweifel hängt der enorme Aufschwung der Mission auf das engste mit dem modernen Weltverkehr zusammen. Seitdem das Deutsche Reich Kolonien erworben hat, Weltpolitik treibt, der deutsche Handel zum Welthandel geworden ist, ist die deutsche evangelische Mission in das Stadium eingetreten, in welchem die englisch-amerikanische Mission schon länger steht: der Entwicklung zur Weltmission. Das zeigt sich nicht bloß an der außerordentlichen Erweiterung ihrer Arbeitsgebiete auf allen Erdteilen, sondern auch an der auffallenden Zunahme des Missionsinteresses in der Heimat.

Zunahme des Missionsinteresses.[Bearbeiten]

Während noch bis vor kurzer Zeit in Deutschland die öffentliche Meinung, allerdings zum Teil unter dem Eindruck der bekannten fälschlichen Beschuldigungen unserer Missionen gelegentlich der chinesischen Wirren und des Hererokrieges, zum Teil infolge der eingewurzelten Unwissenheit und Gleichgültigkeit unserer gebildeten Kreise in Missionsangelegenheiten, eine durchaus kühle und ablehnende Haltung gegenüber den Aufgaben der Heidenmissionen einnahm, so daß das ganze Werk eigentlich von dem Interesse einzelner kleiner Kreise getragen wurde, hat sich hierin neuerdings ein Umschwung vollzogen, welcher beginnt, den deutschen Missionen endlich aus ihrer beschränkten Lage herauszuhelfen und sie für ihre Weltaufgabe, die sie gemeinsam mit den übrigen Missionen hat, flott zu machen. Zu dieser Wendung, die in der Jubiläumsspende für den Kaiser zum Ausdruck kam, haben verschiedene Umstände und Faktoren beigetragen. In erster Linie auch der geistige Einfluß der englisch-amerikanischen Missionsbewegung, der besonders in dem Laienmissionsbund und dem Studentenmissionsbund [1014] und den Weltmissionskongressen weitere Kreise Deutschlands erreicht hat und immer weiter vordringt. Sodann beginnt in den Kreisen der Kolonialfreunde und Kolonialverwaltung allmählich das Verständnis für die Kulturarbeit der Mission zu wachsen. Dazu kommt, daß die wissenschaftliche Bedeutung der Mission (Linguistik, Völkerkunde, Religionsgeschichte usw.) immer mehr zur Anerkennung kommt. Auf diese Weise ist von zunächst rein nationalen und kulturellen Gesichtspunkten aus das Interesse für die Mission im Wachsen begriffen, wenn auch noch lange nicht so allgemein, wie zu wünschen wäre.

Die veränderte Lage bleibt nicht ohne Einfluß auf die Mission selbst. Nicht daß sie sich in der Verfolgung dieser religiösen Ziele beirren ließe. Wohl aber bringen es die Verhältnisse mit sich, daß sie sich der Wechselwirkung, in der ihre Arbeit mit den erwähnten weltlichen Faktoren steht, deutlicher bewußt wird und stärker Rechnung trägt. Mit anderen Worten: die pietistische Praxis und Tendenz früherer Zeiten weicht in der gegenwärtigen Missionsmethode immer mehr einer umfassenderen Arbeitsweise. „Nicht Einzelbelehrung, sondern Volkschristianisierung“ ist das letzte Ziel. Damit steht die Schularbeit im Vordergrunde und folgeweise die Pflege deutscher Kultur und Sitte. Man sieht, auch der Missionsgedanke ist in einer Entwicklung begriffen, welche zu seiner Erweiterung führt.

Gustav-Adolf-Verein und Evangel. Bund.[Bearbeiten]

Seit dem Jahre 1890, wo die definitive Arbeitstrennung zwischen dem Gustav-Adolf-Verein und dem 1886 gegründeten Evangelischen Bunde erfolgte, haben diese beiden mächtigen evangelischen Organisationen schiedlich-friedlich nebeneinander gearbeitet; jener im Dienste der großen Aufgabe, der Pflege der deutschen evangelischen Diaspora, vor allem in Österreich, Ungarn und Siebenbürgen; dieser in Wahrnehmung der deutsch-protestantischen Interessen gegenüber dem Ultramontanismus.

Was der Gustav-Adolf-Verein gerade in den letzten Jahrzehnten für die Sammlung der zerstreuten Protestanten in katholischen Landen, für die gottesdienstliche Versorgung, für die Erhaltung und Neubegründung evangelischer Kirchen, Gemeinden und Gemeindeschulen, für die moralische Stärkung der Diasporageistlichen und endlich insbesondere für die Versorgung der in der Los-von-Rom-Bewegung Übergetretenen geleistet hat, ist staunenswert. Die Rückwirkungen dieser Arbeit auf das heimatliche kirchliche Leben und der Art seines Wirkens auf das evangelische Gemeingefühl sind Imponderabilien bedeutsamster Art. Daneben, getrennt marschierend, vereint schlagend, ist der Evangelische Bund ein Hauptträger der ideellen Einheit des Protestantismus geworden, indem er in noch stärkerem Maße wie der Gustav-Adolf-Verein nicht nur die konfessionellen, sondern auch die religiös-kirchlichen Gegensätze des Protestantismus, unbeirrt durch den Widerspruch und die Bekämpfung der Parteimänner, zu überwinden strebt. In derselben Richtung arbeitet erfreulicherweise die 1910 gegründete „Konferenz für evangelische Gemeindearbeit“, deren jährlich veranstaltete „Evangelischen Gemeindetage“ in immer stärkeren Maße den Mittelpunkt der von Sulze in Fluß gebrachten Bestrebungen bilden, welche der Erhaltung unserer Kirche durch Belebung der Gemeinden und durch engeren Zusammenschluß der Gemeindeglieder dienen wollen.

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2.[Bearbeiten]

Ringen des Neuen mit dem Alten.[Bearbeiten]

Der letzte Teil unserer Untersuchung hat uns gezeigt, daß die Krisis, in der sich die evangelische Kirche seit längerer Zeit befindet, keineswegs, wie viele meinen, rein negativer und destruktiver Art ist, sondern auch neue und fruchtbare Momente in sich birgt. Sie befindet sich in einem Übergangsstadium. Altes stirbt ab, aber zugleich will sich ein Neues gestalten. Das Alte und das Neue ringen noch miteinander. Das macht die Lage unserer Kirche so schwierig und undurchsichtig. Die altprotestantische Konfessionskirche, welche durch die Kirchenrestauration in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch einmal wiederhergestellt werden sollte, erliegt immer mehr den Einflüssen der modernen Lebens- und Geistesentwicklung. Andererseits bereiten sich mitten aus dieser Krisis heraus zukunftskräftige Ansätze zu einer neuen Kirchenform vor, eine Erweiterung, ja Vertiefung des reformatorischen Kirchengedankens. Den organischen Übergang von einem zum anderen zu finden, das ist die Hauptaufgabe der Gegenwart und Zukunft. Niemand hat sie klarer erfaßt als der Kaiser. Das spricht sich immer wieder in seinen religiösen Kundgebungen aus. Es ist eine wichtige kirchengeschichtliche Erscheinung, daß der Oberbischof des größten evangelischen Kirchenkörpers Deutschlands das bezeichnete Übergangsstadium mit vollem Bewußtsein und tiefem Verständnis durchlebt und die Notwendigkeit seiner „Weiterbildung“ empfiehlt und ausspricht.

Niemand kann die endgültige Gestalt der Zukunftskirche voraussagen. Aber die Richtung läßt sich jetzt schon bestimmen, in der die Weiterbildung sich vollziehen wird.

Richtlinien für die Zukunft.[Bearbeiten]

Die Tage der konfessionellen Lehrkirche im alten Sinne sind gezählt. Vergeblich arbeitet eine rechts-radikale Partei an ihrer Wiederherstellung. Lebensformen, die geistesgeschichtlich überwunden sind, lassen sich nicht einfach wiederherstellen. Und so steht es mit jener Kirchenform. Das Dogmatische, die religiöse Theorie, das Lehrhafte des Glaubens, besitzt heute nicht mehr die Tragkraft, wie einst zur Zeit des Intellektualismus. Es kann nicht für alle Zeiten der ausschließliche Träger der Kirche sein, auch dann nicht, wenn das religiöse Erkenntnisleben im 16. oder 17. Jahrhundert stehen geblieben wäre. Aber erst recht nicht, wenn sich, wie gezeigt wurde, gerade auf diesem Gebiete eine derartige Umwandlung vollzogen hat, daß auch der konfessionellste Theologe sich nur mit den allerstärksten Einschränkungen auf die Bekenntnisse verpflichten kann. Die Bekenntnisverpflichtung hat heute auch für den denkbar konservativsten Geistlichen einen ganz anderen Sinn als im 17. Jahrhundert. Es ist für uns alle ganz unmöglich geworden, uns zu den dogmatischen Theorien, Spekulationen, Formeln und Deduktionen, der Bibelauslegung, den Geschichtsauffassungen und dem Weltbild jener Zeit zu bekennen. Wer das Gewicht dieser Tatsache verkennt, dem fehlt jeder Sinn nicht nur für das Wesen der Geschichte, sondern auch des Protestantismus. Der Protestantismus fordert im Unterschiede von dem Katholizismus, der nur unveränderliche [1016] Dogmen kennt, aus seinem innersten Wesen heraus eine beständige Kritik, Revision und Weiterbildung des Dogmas. Die evangelische Lehre wird nie fertig. Es ist unzulässig, daß solche, die das ignorieren, sich in besonderem Maße als Erben der Reformation fühlen.

Hinfälligkeit der äußeren Grundlagen der altprotest. Kirchenform.[Bearbeiten]

Aber auch die äußeren Bedingungen der Wiederherstellung der altprotestantischen Kirchenform: der konfessionelle Staat oder die Staatskirche in optima forma, die ungebrochene Kirchen- und Lehrzucht und die Herrschaft der Kirche über die Schule sind nahezu verloren gegangen. Mit der grundsätzlichen Trennung von Staat und Kirche, der Durchführung der Parität im Staatsleben, der Emanzipation der Schule von der Kirche, der Zivilstandsgesetzgebung und Freizügigkeit, der Freiheit der Wissenschaft und Forschung auf den Universitäten und der fortschreitenden Erweichung der Lehrzucht sind allerdings die äußeren Bedingungen für die Existenz der Kirche in jener alten Form dahingefallen. Die Reste, welche davon hie und da noch übrig geblieben sind (am meisten wohl in Mecklenburg), reichen zu einer Wiederherstellung des Alten nicht aus und sind überdies im Schwinden begriffen. Nur eine radikale politische Reaktion könnte der alten Kirchenform wieder zu ihrem alten Dasein verhelfen.

Angesichts dieser Lage der Dinge muß die Kirchenpolitik derer, welche alles Heil der Kirche darin sehen, daß möglichst viel von diesen Resten gerettet wird, kurzsichtig genannt werden. Ebenso aber diejenige derer, welche sich eine Repristination der Bekenntniskirche von noch weiterer oder sogar vollständiger Trennung der Kirche vom Staate versprechen.

Keine Verfassungsänderungen.[Bearbeiten]

Geistige Entwicklungen lassen sich durch Verfassungsänderungen ganz gewiß nicht zurückdämmen, am wenigsten auf dem religiösen Gebiete. Auch in die Freikirchen und Sekten dringt, wie das Beispiel Amerikas und Englands zeigt, der moderne Geist unaufhaltsam ein. Er wird, wie man schon jetzt deutlich beobachten kann, auch vor den deutschen Freikirchen nicht haltmachen. Ja, auf freikirchlichem Boden werden die Gegensätze noch viel schärfer aufeinanderstoßen, die Kämpfe noch viel heftiger entbrennen, als da, wo der Staat mit seinen moderierenden Einflüssen hinwirkt.

Keine weitere Trennung von Kirche und Staat.[Bearbeiten]

Die völlige Trennung der Kirche vom Staat würde zu einer Menge von privaten Kirchenbildungen führen und damit die religiöse und konfessionelle Zerrissenheit Deutschlands noch vergrößern, das politische Leben erschweren. Den Vorteil davon würde nur Rom und der Monismus haben. Der Staat aber hat sicherlich kein Interesse an einer noch weiteren Zerklüftung des Protestantismus. Die reformatorische Kirche aber, in lauter einander befehdende Teile aufgelöst, würde nicht nur ihre materielle, sondern auch ihre volkskirchliche Aufgabe nicht mehr erfüllen können. Das Band, [1017] welches heute noch zahllose Volksgenossen, wenn auch zunächst nur äußerlich mit der evangelischen Kirche verknüpft, würde zerschnitten. Große Massen der Bevölkerung würden dann völlig kirchenlos – eine Beute des Naturalismus werden. Eine weitere Konsequenz wäre die Aufhebung der theologischen Fakultäten und damit die Seminarisierung der theologischen Bildung. Welche Rückwirkung diese Folgen nicht nur auf das religiös-kirchliche, sondern überhaupt auf das kulturelle Leben unseres Volkes ausüben würde, kann gar nicht pessimistisch genug vorgestellt werden.

Kirchlicher „Zweckverband“.[Bearbeiten]

Ebenso undurchführbar erscheint das neueste kirchenpolitische Projekt, welches von verschiedenen Seiten als All-Heilmittel für unsere kirchlichen Schäden empfohlen wird. Danach soll die Kirchengemeinschaft zwischen den Alt- und Neugläubigen nur noch in Form eines die gemeinsame Regelung der äußerlichen Geschäfte beider Teile bezielenden Zweckverbandes fortbestehen, im übrigen aber eine völlige kirchliche Scheidung zwischen „Positiven“ und „Liberalen“ durchgeführt werden. Aber dieser Vorschlag geht von der grundfalschen Voraussetzung aus, als wären „positiv“ und „liberal“ auch in Wirklichkeit und nicht nur in den Köpfen der Ideologen zwei scharf abgegrenzte, sich absolut ausschließende religiöse Standpunkte, unter die sich alle Theologen und Laien subsumieren ließen, und stellt zudem die bedenkliche Aufgabe, die momentanen Gegensätze in der Kirche in Permanenz zu erklären, anstatt sie zu überwinden. Auch müßte ja eine Kirche, welche die innere Gemeinschaft grundsätzlich preisgibt, die äußere aber aus praktischen Gründen festhält, als ein sehr opportunistisches Gebilde erscheinen.

Gesunde Kirchenpolitik.[Bearbeiten]

Die Aufgabe einer gesunden Kirchenpolitik kann ebensowenig die Repristination der altprotestantischen Lehrbekenntniskirche, als die immer stärkere Isolierung und Absperrung der in der Kirche vorhandenen Parteien und Sonderbestrebungen sein. Die Richtung, die sich für sie aus der Entwicklung der letzten Jahrzehnte immer deutlicher ergibt, ist eine größere Zusammenfassung und Konzentrierung der in ihr lebendigen Kräfte. Dazu bedarf es freilich vor allem der Überwindung der inneren Gegensätze in der Kirche, in unserem kirchlichen Leben. Sie ist freilich auf dem Boden einer bloß rückwärts schauenden Restauration ebenso unmöglich, wie vom Standpunkte eines Radikalismus aus, der mit den religiösen Grundlagen und der historischen Kontinuität des kirchlichen Lebens gebrochen hat.

Nicht Lehreinheit, sondern Lebensgemeinschaft.[Bearbeiten]

Der evangelische Kirchenbegriff hat namentlich im Laufe der Entwicklung des letzten Jahrhunderts viel stärker innerlich als äußerlich eine bedeutsame Wandlung in Richtung auf seine evangelische Vertiefung und Erweiterung durchgemacht. Das gilt es vor allem zu erkennen, wenn man den Übergang vom Alten zum Neuen finden will. Die evangelische Kirche ist trotz aller Erschütterungen ihres Körpers nicht tot. Sie lebt allerdings nicht mehr in erster Linie [1018] wie einst in dem Bewußtsein der restlos durchgeführten Lehreinheit, sondern in dem durch das Evangelium, durch Christus und seinen Geist tatsächlich erzeugten Lebensgemeinschaft. Die Kirche hat sich immer mehr aus einer primären Lehrgemeinschaft zu einer primären Lebensgemeinschaft fortgebildet. Das zeigt ein Blick auf die Arbeit, die sie im 19. Jahrhundert getan hat. Das Leben der evangelischen Kirche ist schon durch den Pietismus im 17.–18., vor allem aber durch die Aufgaben des 19. Jahrhunderts auf eine höhere Stufe gehoben. Könnten die Alten wiederkehren, so würden sie staunen über die Lebensbereicherung und -vertiefung, die sich vollzogen hat. Der erste Schritt dazu war schon die Union. Wie Schleiermacher in der Theologie den Lebenscharakter der Religion gegenüber ihrem Lehrcharakter geltend gemacht hat, so hat sich auch praktisch im Leben der Kirche der Schwerpunkt immer mehr aus der Theorie in die Praxis verschoben, und diese Verschiebung bedeutet Fortschritt. Die evangelische Kirche hat, aufgewühlt von Lehrstreitigkeiten, immer mehr ihr eigentliches Wesen in der Aktivität, der Energie gefunden, die das Evangelium in der Erfüllung praktischer Aufgaben entfaltet. Die tatsächlich kirchenbildende Kraft des Protestantismus in unserer Zeit beruht nicht in erster Linie in einem zu einer bestimmten Zeit ausgebildeten klassischen Lehrtypus, sondern in einem ursprünglichen und charaktervollen evangelischen Lebenstypus, der sich in der Geschichte machtvoll durchsetzt.

Bekenntnisgemeinschaft in tieferem Sinne.[Bearbeiten]

Damit soll ganz gewiß nicht einem ideen- und bekenntnislosen undogmatischen „praktischen Christentum“ das Wort geredet werden. Die entscheidende Frage ist nur die, was in den Bekenntnissen und am Bekenntnis der Reformation das tiefste tragende Fundament unserer Kirche bildet. Dieses verlassen, würde allerdings heißen, die Kirche preisgeben. Dieses tiefste, bleibende Fundament liegt aber nicht in der Lehrtheorie, in der es sich der damaligen Zeit allerdings darstellte, sondern in der ursprünglichen, allein durch Christus gewonnenen, im Neuen Testament gefundenen Heilserfahrung. Sie bildet den Kern des Bekenntnisses und damit die bleibende Lebensgrundlage der evangelischen Kirche. Sie allein ist auch, wie gerade die „positive“ Theologie des 19. Jahrhunderts bewiesen hat, die Voraussetzung, die Quelle aller religiös-christlichen Erkenntnis. Ja, Theologie und Praxis der Kirche haben beide dieses eine mit der größten Klarheit ergeben, daß der letzte tragende Grund evangelischer Kirchengemeinschaft in einem aller Theorie vorausliegenden Lebensprinzip besteht. Dieses ist es, welches alle wahren evangelischen Christen mit demselben Geiste beseelt und ihnen die gemeinsame Lebensrichtung gibt. Dadurch erst, daß sie alle in diesem gemeinsamen Grunderleben stehen, und nicht schon durch die Anerkennung einer Lehre schließen sie sich zu einer Bekenntnisgemeinschaft im Geist und in der Wahrheit zusammen. Wo das zur Erkenntnis kommt, greift eine ganz andere Innerlichkeit und Tiefe Platz, als die altprotestantische Kirchenauffassung jemals zum Ausdruck gebracht hat.

Bleibender Bekenntnischarakter.[Bearbeiten]

Hier wird es deutlich, in welchem Sinne unsere evangelische Kirche immer Bekenntniskirche [1019] bleiben muß und kann. Insofern nämlich, als sie sich als Ganzes und in ihren einzelnen Gliedern und Dienern stets von neuem zu jenem Lebensprinzip der Reformation, zu ihrer ursprünglichen Heilserfahrung in Jesus Christus und damit zu der Kraft bekennt, die auch ihr Leben hervorbringt und trägt. Diesen und keinen anderen Sinn hat das „bekennen“ und „Bekenntnis“ sowohl im Urchristentum als auch in der Reformation gehabt, aber in der Epigonenzeit ist er verloren. Zu diesem ursprünglichen Sinn des Bekenntnisses sollen wir zurückkehren.

Neuer Sinn der Bekenntnisverpflichtung.[Bearbeiten]

Damit ist auch der künftigen Bekenntnisverpflichtung der Weg gewiesen. Über den Sinn solcher Verpflichtung wird gegenwärtig heiß gestritten. Klar ist zweierlei, einmal, daß keine Kirche ohne Bekenntnis und Bekenntnisverpflichtung bestehen kann. Sodann, daß eine Verpflichtung im alten Sinn, d. h. eine Verpflichtung auf den gesamten Lehrinhalt eines Corpus doctrinae heutzutage unmöglich ist. Ein ehrlicher Ausweg aus diesem Dilemma ist nur möglich, wenn die Verpflichtung das Bekenntnis zu dem reformatorischen Grunderlebnis bedeutet, mit dessen nicht irrtumsloser Deutung sich die einzelnen Glaubensartikel beschäftigen. Hinter dieser tieferen Auffassung der Bekenntnisverpflichtung bleiben solche Verpflichtungsformeln zurück, welche anstatt des vollen Tenors der reformatorischen Heilserfahrung einzelne, noch dazu willkürlich ausgewählte „Glaubensartikel“ enthalten.

Schranke in der Verpflichtung.[Bearbeiten]

Ein solches Bekenntnis zu den Lebensprinzipien der Reformation, wie es in der evangelischen Kirche zum wenigsten jedem Amtsträger muß zugemutet werden können, begründet auch ein bestimmtes Maß von gemeinsamer Erkenntnis, welches den Radikalismus und Monismus von selber ausschließt. Es enthält, wiewohl nicht in erster Linie lehrhafter Art, doch eine deutliche Begrenzung der Lehrfreiheit, die nicht überschritten werden darf. Andererseits aber läßt sie den dogmatischen Spielraum, den der einzelne auf reformatorischem Boden beanspruchen kann. Der Radikalismus wird sich eher mit einer Formel, die den Lehrgehalt, als einer solchen, die den Lebensgehalt der Reformation zum Ausdruck zu bringen sucht, abfinden. Jene kann er leichter umdeuten als diese. Ein unfehlbares Mittel aber, andersgläubige Bewerber mit Sicherheit von den kirchlichen Ämtern fernzuhalten, hat nicht einmal die strengste Form der Konfessionskirche gefunden. Es kann also auch der modernen Kirche billigerweise nicht zugemutet werden.

Spielraum in der Verpflichtung.[Bearbeiten]

Allerdings wird es nicht die Aufgabe der modernen Kirche sein können, dem theologischen und kirchlichen Liberalismus das Heimatsrecht zu wehren. Eine doppelte Erkenntnis bricht sich in dieser Beziehung immer mehr auch in positiven Kreisen Bahn. Einmal, daß „positiv“ und „liberal“ keineswegs gleichbedeutend ist mit „gläubig“ und „ungläubig“. Sodann, daß die evangelische Kirche dem Liberalismus außerordentlich viel zu danken hat. Er ist der Träger eines für den Protestantismus völlig unentbehrlich [1020] kritischen und fortschrittlichen Elements und damit ein fortdauerndes Prophylaktikum gegen die Stagnation. Er ist es auch, der um seiner größeren Weltoffenheit und Aufgeschlossenheit dem Kulturleben gegenüber in der Lage ist, der immer drohenden Entfremdung zwischen Kirche und natürlichem Geistesleben vorzubeugen. Soll aber der religiöse Liberalismus seine Aufgabe an der Kirche und in der Kirche erhalten, so bedarf er eines großen Maßes von Bewegungsfreiheit. Und das eine muß allerdings mit vollem Ernst von ihm gefordert werden: daß er die Kirche bejaht, sich in ihrem Dienst fühlt und an ihrem Leben teilnimmt. Ein unkirchlicher Liberalismus wird sich auch ganz von selber aus dem kirchlichen Leben ausschalten.

Überwindung des toten Punktes.[Bearbeiten]

Der Gegensatz zwischen „positiv“ und „liberal“ ist der tote Punkt in der gegenwärtigen Kirche. So unentbehrlich er als Nuancierungs- und Differenzierungselement für das Leben der Kirche ist, so notwendig muß er in seiner gegenwärtigen Form überwunden werden. Es sind deren heute aber nicht wenige, deren Parole: Jenseits von positiv und liberal lautet. Dahin müssen wir kommen, daß dieser Gegensatz für die eigentliche kirchliche Praxis seine Bedeutung verliert. Dazu bedarf es freilich für den Liberalismus einer energischen religiösen Selbstbesinnung, für den Konservativismus aber endlich einmal einer rückhaltlosen Anerkennung der durch die Reformation gewährleisteten christlichen Freiheit. Die Bereitschaft zu solcher sittlichen Einkehr wird erfreulicherweise immer größer. Wie der moderne Staat, so bedarf auch die evangelische Kirche zu ihrem Gedeihen sowohl des beharrlichen wie des fortschrittlichen Moments.

Diese Richtlinien ergeben sich aus der Vertiefung, die der evangelische Kirchenbegriff erlebt hat. Aber seine Wandlung erstreckt sich auch in die Breite.

Erweiterung des Kirchenbegriffes.[Bearbeiten]

Zu den großen Aufgaben, welche die evangelische Kirche im 19. Jahrhundert in Angriff genommen hat, hat sie ein Leben gewonnen, welches nicht nur über dasjenige der Einzelgemeinden, sondern auch der einzelnen Landeskirchen hinausragt und nicht nur die territorial, sondern sogar die konfessionell geschiedenen Kirchenkörper in großen Arbeitsgemeinschaften zu gemeinsamer Lebensäußerung und Tätigkeit vereinigt hat. Die großen Organisationen der Inneren und Äußeren Mission, der Gustav-Adolf-Vereine usw., deren enorme Entwickelung in dem letzten Menschenalter bereits geschildert ist, haben von innen heraus die landeskirchlichen und konfessionellen Schranken innerhalb des Protestantismus durchbrochen und uns eine tatsächlich in gemeinsamer Arbeit eins gewordene Gesamtkirche zum Bewußtsein und zur Anerkennung gebracht. So ist die Entwicklung gegangen, daß immer mehr gesamtkirchliche Aufgaben des Protestantismus in den Gesichtskreis der evangelischen Kirche getreten sind, eben solche, die kein einzelner Kirchenkörper für sich erfüllen konnte. So hat sich eine auf gemeinsame Arbeit gegründete evangelische Kirchensolidarität herausgebildet, welche je länger je mehr nach einer zusammenfassenden äußeren Darstellung drängt. Immer neue Aufgaben kommen hinzu, neuerdings die soziale und apologetische. Die Isolierung der einzelnen Kirchenkörper wird immer unmöglicher.

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Arbeit an Zusammenfassung des Protestantismus.[Bearbeiten]

Andererseits ist seit der Einführung der Union, unter der Führung der Hohenzollern, besonders aber unter der Regierung unsres Kaisers unermüdlich an einer stärkeren Zusammenfassung der deutschen evangelischen Landeskirchen gearbeitet worden. Trotzdem bleibt das bisher Erreichte noch weit hinter dem zur Notwendigkeit Gewordenen zurück. Wer ein offenes Auge für die Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts hat, kann ja nicht verkennen, daß, während das kirchliche Leben innerhalb der Einzelgemeinden und Einzelkirchen überall vom Niedergang bedroht war, das Arbeitsleben der äußerlich unsichtbaren evangelischen Gesamtkirche einen wichtigen Aufschwung nahm. Ja, man muß sagen, daß es ohne die Rückwirkung dieses erweiterten Lebens geradezu hoffnungslos in unseren Gemeinden und Landeskirchen aussehen würde. Das Gesamtleben, das sich in der evangelischen Kirche entwickelte, hat das Landeskirchentum vor der gänzlichen Stagnation und Auflösung bewahrt. Die Innere und Äußere Mission, der Gustav-Adolf-Verein und Evangelische Bund, die Apologetik und Evangelisation haben immer wieder das innerkirchliche Leben vor der Lethargie bewahrt. In diesen großen Arbeitsgemeinschaften hat geradezu die Schwerkraft des evangelisch-kirchlichen Lebens im 19. Jahrhundert beruht. Das ist in dem letzten Menschenalter noch viel stärker hervorgetreten. Die Tatsachen haben den Einigungsbestrebungen der Hohenzollern und insbesondere unsres Kaisers recht gegeben. Die landeskirchliche Entwicklung weist in diese Richtung, daß die Einzelgemeinden und -kirchen zu ihrem Gedeihen notwendig des Rückhalts und der Stärkung und Anregung bedürfen, welche ihnen aus der Zusammenfassung zu einem großen Ganzen erwächst.

Neues Verhältnis von Staat und Kirche.[Bearbeiten]

Daß dieser Zusammenschluß auf freier Konföderation der Kirchenkörper beruhen und den internen Charakter derselben unberührt lassen muß, darüber wird kein Streit sein können. Das Beispiel der Reichsverfassung zeigt auch für die kirchliche Einigung die unübersteigliche Grenze. Uniformierung kann nicht das Ziel sein. Dank solcher Erweiterung des evangelischen Kirchenwesens würde ganz von selbst ein neues freies Verhältnis von Kirche und Staat angebahnt. Das zeigt sich schon jetzt z. B. dort, wo der Staat sich zur Durchführung des Fürsorgegesetzes der Anstalten der Inneren Mission bedient. Unser Staatsleben steht trotz seiner offiziellen Ablösung von der Kirche und seinem formell paritätischen Charakter doch viel zu sehr unter dem Einfluß christlich-ethischer Gedanken, als daß er an den umfassenden Aufgaben, an welchen unsere kirchliche Arbeitsgemeinschaften arbeiten, völlig uninteressiert bleiben könnte. Es kann dem Staat nicht entgehen, in welchem Maße z. B. die Innere Mission seinen sozial-ethischen Bestrebungen, die Äußere Mission der Arbeit an den Kolonien, der Gustav-Adolf-Verein der Pflege des ausländischen Deutschtums usw. dient. Dagegen kann er unmöglich auf die Dauer gleichgültig bleiben. Die Folge würde eine immer mehr sich entwickelnde Solidarität staatlicher und kirchlicher Arbeit sein. Auf diesem Wege würde an die Stelle der immer wiederholten Versuche der Kirche, äußeren Einfluß auf den Staat zu gewinnen, [1022] ein stetiges Wachstum innerer Befruchtung des Staatslebens seitens der Kirche treten. Umgekehrt würde die Kirche in diesem erweiterten Sinne durch den Staat für ihre Arbeit und Aufgaben Förderung und Anregung empfangen. Endlich würde das erreicht, was ja doch zuletzt ein hohes Ziel aller kirchlichen Arbeit sein muß: innerliche Durchdringung des Staatslebens mit dem Geiste des Christentums, Volkschristianisierung im besten und tiefsten Sinne des Wortes. In diesem Sinne hat die Kirche allerdings die Aufgabe, im „Staate aufzugehen“. Denkbar wäre ein so innerliche ethisches Verhältnis beider, daß die Lösung der äußerlichen Verbindung nur noch eine Formalität bedeuten würde.

Das Ziel.[Bearbeiten]

Vertiefung und Erweiterung des evangelischen Kirchengedankens und Kirchentums – das ist die Richtung, in der unsere Aufgaben liegen. Nur so kann die kirchliche Krisis überwunden und das kirchliche Leben neu begründet werden. Eine große Anzahl von Einzelaufgaben liegen hier, die nicht besprochen werden können.

Die Kirche ist bereits in das so bezeichnete Entwickelungsstadium eingetreten. Vielleicht schon energischer und weiter, als wir augenblicklich noch unter dem Einfluß der Krisis sehen können.

Noch kein Hohenzoller ist vor so schwierige kirchliche Aufgaben als evangelischer Oberbischof gestellt worden als Wilhelm II. Unter seine Regierung fällt der Höhepunkt der Krisis und zugleich der Beginn eines kirchlichen Weiterbildungsprozesses von höchster Bedeutung. Mit vollem Bewußtsein der Lage der Dinge waltet der Monarch seines hohen Amtes. Mit vorsichtiger, aber fester Hand lenkt er das Steuer dem klar erkannten Ziele zu. Möchte es ihm beschieden sein, seinem evangelischen Volke die Kirche der Reformation in neuer gefestigter Gestalt wiederzugeben. Wir schließen mit den Worten, mit denen ein bedeutender Kenner der kirchlichen Situation, der heimgegangene Bürgermeister Burchard, seine ungehaltene, für die Begrüßung Seiner Majestät des Kaisers gelegentlich der Einweihung der großen St. Michaeliskirche in Hamburg bestimmte Rede in dem hinterlassenen Manuskript geschlossen hat:

„Es wäre zu begrüßen, wenn der auf politischem Gebiete längst als segensreich erkannte deutsche Einheitsgedanke in wohlerwogener Begrenzung auch für weite Gebiete des evangelisch-kirchlichen Lebens in unserem Vaterlande fruchtbar werden möchte.“