E. Marlitt (Gartenlaube 1887)

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Titel: E. Marlitt
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aus: Die Gartenlaube, Heft 29, S. 472–476
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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E. Marlitt.

Wer an einem Freitag im März des Jahres 1866 die Königsstraße in Leipzig herunterging, den fesselte ein seltenes Straßenbild. Dort an der Ecke, wo sich das stattliche Haus der „Gartenlaube“ seit nunmehr zwei Jahren erhob, standen an Gitter gelehnt, saßen auf den Treppenstufen „Leute aus dem Volk“ und lasen eifrig die neueste, soeben erschienene Nummer des illustrirten Blattes, welches Ernst Keil mit so warmer Ueberzeugungstreue und so seltenem Geschick redigirte. Kein Wunder! konnte man denken. Es gährte damals überall in Deutschland; Kriegswolken umhingen den Himmel, und die politischen Tagesneuigkeiten wurden von Allen mit Ungeduld erwartet. Und doch war dieses Bild grundverschieden von ähnlichen Scenen, welche sich vor den Ausgabeschaltern der Tagespresse abspielen. Hier fahndete kein Neugieriger nach den neuesten Depeschen, kein Stellenloser suchte die Annoncen der Arbeitsangebote; hier lasen die Leute mit fieberhafter Spannung – die letzten Fortsetzungen eines Romans! „Goldelse“ war der Titel desselben und E. Marlitt der Name der Schriftstellerin, welche durch eine kleine Erzählung schon früher bekannt wurde, jetzt aber den ersten großen Erfolg feierte.

Oft noch in den nächsten Jahren konnte der Vorübergehende dieses Straßenbild betrachten, welches den unbefangenen Beurtheiler mehr als zehnfache Auflagen eines Werkes über die Bedeutung der Verfasserin belehrte: Die Erfolge der Marlitt in einem Volksblatte, wie die „Gartenlaube“, waren eben darum so überraschend und nachhaltig, weil sie den volksthümlichen Ton zu treffen wußte, weil ihre Schöpfungen, während sie sich auf den Salontischen der gebildeten Frauen einbürgerten, doch schlicht genug waren, um auch von dem einfachsten Manne verstanden zu werden, dabei fesselnd und spannend, von poetischen Schilderungen durchwoben, von inniger Herzenswärme durchdrungen – und von idealer Weltanschauung getragen. Diese außerordentlichen Erfolge konnten nicht verfehlen, eine besonders scharfe und nicht immer gerechte Kritik herauszufordern. Die strengste Kritik aber, wenn sie gerecht bleiben will, wird den gelungeneren Werken von E. Marlitt die obigen Eigenschaften nicht absprechen können. Man nannte sie die beliebteste Erzählerin der Frauenwelt; und es ist wahr, daß sie mehr von Frauen als von Männern gelesen wurde; aber welcher Romanschriftsteller der Gegenwart theilt nicht dasselbe Los mit E. Marlitt?

Dieser Standpunkt ist von der öffentlichen Kritik nicht genügend hervorgehoben worden, und heute, wo das Leben und Wirken von E. Marlitt abgeschlossen vor uns liegt, halten wir es

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E. Marlitt.
Nach einer Photographie von Chr. Beitz in Arnstadt
auf Holz gezeichnet von R. Huthsteiner.

[474] für unsere Pflicht, ihn ganz besonders zu betonen. Nur von ihm aus läßt sich das treue langjährige Zusammenwirken der Marlitt mit der „Gartenlaube“ richtig beurtheilen. Mag Vielen der Titel eines „Volksblattes“ nicht hoch genug erscheinen; wir sind stolz auf ihn und dankbar einem Jeden, welcher uns hilfreiche Hand bietet, diesen Titel wirklich zu verdienen.

Dankbar sind auch der Marlitt Millionen unserer Leser und Leserinnen für die Stunden der edlen, das Herz erwärmenden und die Seele erfreuenden Unterhaltung, die sie ihnen seit mehr als zwanzig Jahren bereitet, und sie werden gewiß mit warmer Theilnahme die Lebensschicksale derjenigen verfolgen, die jahraus jahrein als trauter, herzlich willkommener Gast in ihrem Hause erschienen war.




Das Schicksal war offenbar in freundlichster Stimmung, als es Eugenie Marlitt ins Leben rief; denn sie wurde mit fürstlichen Ehren empfangen. An jenem 6. December 1825 feierte das Regentenhaus Schwarzburg-Sondershausen das jährlich freudig begrüßte Geburtsfest des damals regierenden Fürsten, Großvaters des jetzt regierenden, und die Festfanfaren schmetterten vom Rathhausbalkon hinüber zu dem Hause Nr. 7 am Markte, wo in demselben Augenblick Frau John ihr jüngstes Töchterchen der Welt gab.

Diese Welt weiß nunmehr, daß das Kind sich solcher Ehre allezeit würdig gehalten hat. Stammte es doch aus einer Familie, in welcher Kunstbegabung zu den persönlichen Erbschaften gehörte. Der Vater, Ernst John, von Haus aus Kaufmann, widmete sich mit Vorliebe der Malerei. Kunstbegabt war auch sein Sohn Hermann; davon zeugt schon das schöne Gipsrelief, dessen Holzschnittreproduktion unsere heutige Nummer schmückt (vergl. S. 476), und welches uns die jugendlichen Züge der Marlitt zeigt. Sie war in der That eine reizende Erscheinung, die kleine Eugenie mit dem schwarzumlockten Gesichtchen und den Schelmengrübchen in den Wangen. Höhere Beachtung erregte jedoch ihr geistiges Aufblühen. Im achten Jahre hatte sie die erste Klasse der Mädchenschule erreicht. Sie war der Stolz des alten Herrn Rektor Wagner, seine beste Schülerin, deren deutsche Aufsätze ihn eben so erfreuten, wie die formvollendeten Gedichte, mit welchen sie damals besondere Vorkommnisse, wie z. B den Tod ihres Kanarienvogels, auszeichnete. Noch einflußreicher, als Rektor Wagner, wurde Kantor Stade auf das Schicksal des jungen Mädchens. Er konnte seiner Entzückung über die wundervolle Stimme Eugeniens keinen besseren Ausdruck verleihen, als daß er ihr Gelegenheit gab, schon vom achten Jahre an in Koncerten und bei anderen Musikfestlichkeiten öffentlich zu singen. Auch der Charakter des Kindes zeigte in frühester Zeit besondere schärfer ausgeprägte Eigenschaften, und zu diesen ist vor Allem die Begierde nach dem Aufsuchen und Ergründen von Geheimnißvollem und Unheimlichem zu rechnen. Da gab es bei Arnstadt einen damals wüstliegenden Garten – die „Wuchelei“ genannt; alle Kinder gingen scheu daran vorüber, Eugenie bahnte sich einen Eingang durch die Hecke und weilte am liebsten bis in die Dämmerung in der verrufenen Einsamkeit; eben so suchte sie um solche Zeit oft ganz allein den Friedhof auf, als kämpfte sie besonders gern gegen das Gruseln der Furcht. Und wo ein Geheimniß winkte, das mußte erforscht werden, wie jenes runde Fensterloch an dem sogenannten steinernen Hause in der Kohlgasse. Dort, auf dem großen Hausplatz ihrer damaligen Elternwohnung, war in einer Ecke ein Bretterverschlag angebracht, dessen Zweck Niemand kannte. Eugenie entdeckte ein rundes Loch in der Mauer, und nun gab’s kein Halten mehr, Vater John mußte so viel Bretter von dem Verschlag abreißen, daß sein Töchterlein durch die Oeffnung in den dunkeln Raum hinabgelassen werden konnte. Dort fand sie ein Beil, einen Strick und ein Häufchen Papiere. Es war ein werthloser Fund; aber sie hatte ihre Forschung durchgesetzt. Finden wir nicht dichterische Ausschmückungen solcher Situationen in ihren Werken wieder?

Eugenie war Nahe daran, aus den kurzen Kleidern in die langen hineinzuwachsen, als Vater John es nicht länger ertragen konnte, das Talent seiner Tochter der schulgerechten Ausbildung entzogen zu sehen. Es war 1841, wo, wie damals fast jedes Jahr, der fürstliche Hof von Sondershausen einige Sommermonate im Schlosse zu Arnstadt zubrachte. Auch das Theaterpersonal folgte dem Hof. Diese Gelegenheit benutzte Vater John, um der jugendfreudigen und kunstverständigen Frau Fürstin Mathilde sein Kind zu empfehlen. Noch an demselben Tage erschien im Aufträge der Fürstin der Bassist Krieg von der fürstlichen Oper bei Johns, um Eugeniens Stimme zu prüfen. Das einzige Instrument im Hause war ein Spinett, dessen dünne Tönchen Krieg zum Nachsingen anschlug, – aber schier erstaunt fuhr er zurück, als aus dem zierlichen Körper Eugeniens eine Tonfülle hervorquoll, die in allen Höhen und Tiefen ihre Glockenreinheit bewahrte. Krieg’s Bericht und das persönliche Erscheinen des Mädchens vor der Fürstin machten diesen Tag zu einem Tag der Freude für das ganze John’sche Haus. Eugenie kam zunächst auf die höhere Mädchenschule von Sondershausen; hier gab sie sich neben Klavier- und Gesangunterricht auch geschichtlichen und Sprachstudien mit stürmischem und erfolgreichem Eifer hin. Vollendet hat sie ihre Kunststudien in Wien, wo sie in der Fr. von Huber’schen Familie freundliche Aufnahme gefunden hatte.

Wenn die rastlosen Anstrengungen Eugeniens und die Bemühungen ihrer Lehrer das Ziel erreicht hätten, welches offenbar dem Geiste der Sängerin vorschwebte, so würde es ein Genuß sein, nach den sorgsam geführten und erhaltenen Tagebüchern derselben den schweren Weg zu ihren Triumphen zu schildern. Das Schicksal hatte es anders verhängt. Es stellte sich ein Gehörleiden ein, das zwar nicht, wie vielfach behauptet wurde, in Taubheit ausartete, aber doch störend genug wirkte, um der Künstlerin jede fernere Bühnenleistung unmöglich zu machen. Sie war in ihrer kurzen Strebezeit in Sondershausen, Leipzig, Wien, Graz und Lemberg aufgetreten; sie kämpfte rastlos gegen ihren ärgsten Feind, das Lampenfieber, und sie wäre sicher seiner Herr geworden – ohne den tief niederschmetternden Schlag.

Als der Kunsttempel sich für die Sängerin geschlossen hatte, rief die edle Fürstin Mathilde ihren niedergebeugten Schützling in ihre Nähe: Eugenie wurde Vorleserin und als solche auch Reisebegleiterin der Fürstin. Ihr scharfes Auge, das schon während ihrer Kunstreisen ein schönes Stück Welt und Menschheit gesehen, fand nun erst recht Gelegenheit, Menschenkenntnis und Lebenserfahrung zu sammeln. Sie begleitete die Fürstin ins Hohenlohesche, nach Oehringen und Friedrichsruhe, nach München, in die oberbayerischen Berge, zum Schliersee etc., und Alles, was sie an Eindrücken sammelte, half ihr, die innere Verbitterung niederzukämpfen, – aber nicht ganz. Das Herz bedurfte einer Ableitung für das, wovon es voll war, und da kam ihr die lyrische Dichtkunst zu Hilfe. In den Jahren 1854 bis 1856 legte sie in einem starken Goldschnittband, der die Inschrift „Herbarium“ trug, Vieles von dem nieder, was ihr Herz bedrängte. Aus dieser Zeit stammt auch das folgende Gedicht:

Beim Wiederfinden meiner Gedichte aus der Kinderzeit.

Ich fand ein altes Buch als Ruhestatt,
Drin haben meine Lieder lang gelegen;
Es quoll aus dem vergilbten, alten Blatt
Mir wahrer Maienblüthenhauch entgegen.
Mein krankes Herz, vom steten Ringen matt,
Durchbebte da ein längstvergess’nes Regen.
Es taucht’ empor mein einstig Hoffen, Träumen
Aus der Erinn’rung dunkelgrünen Räumen.

Die Geister wallten durch die Dämmernacht
Von längst dahingeschied’nen Lebensplänen.
O junges Herz, in deiner Blüthenpracht,
Du nahmst für echtes Gold dies falsche Wähnen!
Es wandelt stets des Schicksals finstre Macht
Heimtückisch jeden Wunsch zu bittern Thränen.
Die Jugendträume, lieblich und erhaben, –
Ich hab’ sie alle still und leis begraben.

So ist, was kühn das Herz gewollt, zerschellt,
Der Hoffnung Grün umhüllt mit Trauerflören;
Es glimmen unter jener Trümmerwelt
Nur Wünsche noch, die nicht der Welt gehören,
Nicht jener Macht, die grausam sich gefällt
Im ewigen Vernichten und Zerstören.
Ruh’ aus, empörtes Herz, in dem Gedanken,
Daß sich der Hoffnung Zweig’ ins Jenseits ranken.

Trotz dieser Seelenkämpfe bildet der Aufenthalt Eugeniens am Hofe der Fürstin die schönste Zeit ihres Lebens. Der Glanz dieser farbenprächtigen Erinnerungen verschönte noch die letzten Tage ihres Lebens, und sie erzählte gern von ihrer hohen Gönnerin, mit welcher sie noch im Briefwechsel stand, als sie den Hof längst verlassen und in Arnstadt eine neue Wirkungsstätte gesunden hatte.

Hier im Kreise ihrer Familie, im Hause ihres bereits verheiratheten Bruders Alfred John, wo sie die liebevollste Aufnahme [475] fand, erwachte in ihr der dichterische Beruf. Was in den Herzen der Eltern knospte, was in den andern Kindern keimte, die Wunderblume der Kunst, sie sollte jetzt in der jüngsten Tochter sich zur vollsten Blüthe entfalten.

Schon während ihres Aufenthalts mit der Fürstin in Friedrichsruhe war Eugenie John mit Schuldirektor Kern in Ulm in Briefwechsel getreten, und dieser alte Herr

Marlitt’s Lieblingsplatz.

war es, der sie zuerst auf den Werth ihres schriftstellerischen Talents aufmerksam machte, und nicht vergeblich, denn von da an scheint sie sich im Stillen für die neue Lebensbahn vorbereitet zu haben. Aber erst fast zehn Jahre später, im Jahre 1865, wagte sie sich wieder an die Oeffentlichkeit. Ihr Bruder Alfred übersandte im Auftrag von E. Marlitt an die Redaktion der „Gartenlaube“ eine Dorfgeschichte „Schulmeisters Marie“ und „Die zwölf Apostel“. Verzagt, durchaus nicht überzeugt von dem Werth ihres Talentes, gab sie die längst fertigen Manuskripte dazu her. Und als der Bruder das Packetchen verpackt hatte und ihr es auf dem Weg zur Post noch einmal zum Fenster herauf zeigte, nickte droben der dunkle Lockenkopf und rief: „Ach Gott, meine armen Kinder! – Wie wird es euch ergehen!“

Wir wissen jetzt, daß diese schriftstellerische Laufbahn mit Glück begann. Ernst Keil erkannte sofort den Werth dieser Erzeugnisse, nahm „Die zwölf Apostel“ an und wies „Schulmeisters Marie“ mit der Entschuldigung zurück, daß die durch die Nachahmer Auerbach’s herabgebrachten „Dorfgeschichten“ jetzt durch die „Gartenlaube“ nicht wieder gepflegt werden dürften. – Dieser Erfolg gab Muth zu neuem Schaffen, und nun entstand eine von Marlitt’s lieblichsten Schöpfungen, die „Goldelse“.

Wie groß der Erfolg dieses Romans war, das haben wir bereits im Eingang dieses Artikels geschildert. Der Name E. Marlitt wurde mit einem

Marlittsheim.

Schlage zu einem der volksthümlichsten, und sein Ruf wurde überall hingetragen, wohin die „Gartenlaube“ reichte, die schon damals ihren Leserkreis nach Hunderttausenden zählte.

Freudig ging nun die Dichterin an neues Schaffen und schrieb ihr zweites Meisterwerk „Das Geheimniß der alten Mamsell“. Sie stand in jener Zeit auf dem Gipfel ihres Glücks. Sie erfreute sich noch der blühendsten Gesundheit. Weiß man doch aus jenen Tagen nicht genugsam ihren leichten und eleganten Gang zu rühmen; ja, in Wien hat man lange nicht vergessen, daß Fräulein John eine Tänzerin von unnachahmlicher Grazie war.

Die innere Befriedigung, welche aus der Anerkennung dichterischen Schaffens entspringt, wurde auch durch äußere Erfolge gehoben. E. Marlitt trug sich mit dem Gedanken, auf einer Anhöhe Arnstadts, auf der sogenannten „hohen Bleiche“ sich ein eigenes Heim zu gründen; es sollte ein lauschiges Plätzchen werden, dieses neue „Marlittsheim“; Bruder Alfred, der Oberlehrer an der Realschule zu Arnstadt, würde schon den Bau leiten und für schattige Baumanlagen und blühende Rosengänge sorgen!

Aber in derselben Zeit begann Marlitt’s körperliches Leiden, die Gicht, welche die arme Dulderin nie mehr verlassen hat. Und in das thurmgeschmückte Haus, das zum ersten Male so neugierig in die grüne Berglandschaft Thüringens hinausschaute, zog eine an den Fahrstuhl gebannte Frau ein. Sie konnte nicht mehr fröhlich zwischen den aufblühenden Rosenbäumchen und duftenden Blumenbeeten schreiten; zu dem Lieblingsplatz unter der Kastanie, welche von Jahr zu Jahr breitästiger und blühender wurde, mußte sie an sonnigen Tagen im Rollstuhl gefahren werden. Aber nur äußerlich war die Kraft der Dichterin gebrochen; heiter war ihr Geist geblieben; das Feuer jugendlicher Herzenswärme glühte nach wie vor in ihrer Brust; die Wunderblume der Romantik blühte in ihrem Herzen; ungeschmälert war die Zauberkraft ihrer Phantasie.

Und sie vergaß oft ihre Leiden unter der treuherzigen Obhut ihrer Lieben, die mit ihr das Marlittsheim bezogen; sie fühlte sich glücklich, daß sie fremden Händen die Pflege ihres schwachen Körpers nicht anzuvertrauen brauchte, und sie schuf neue Werke, welche draußen in der weiten Welt Millionen ungeduldig erwarteten, welche, kaum daß sie in der „Gartenlaube“ erschienen waren, schon in fremde Sprachen übersetzt wurden. Ueber die Grenzen des deutschen Sprachgebiets hinaus war inzwischen ihr Ruf gedrungen; nun erzählte sie in allen Kultursprachen ihrer lauschenden Zuhörerschaft in Süd und Nord, in West und Ost jenseit der Marken des Reiches, jenseit des großen Oceans.

Aber je bekannter ihr Name wurde, um so mehr fand sie das Bedürfniß, sich von der Welt zurückzuziehen. Lange war das Geheimniß ihres Namens der Welt verhüllt geblieben; jetzt, wo man endlich erfahren hatte, daß es eine deutsche Frau war, welche so viele Herzen bannte, ließ sie neugierige Blicke in ihr stilles Heim nicht schauen. Geheimnißvoll wurde nun ihr Dulden und Schaffen.

Heute stehen die Räume offen, welche einst so Viele nicht betreten durften; durch das Thor, vor welchem so oft Neugierige und Verehrerinnen abgewiesen wurden, hat man den mit Rosen geschmückten Sarg hinausgetragen. Betreten wir jetzt das Haus, schildern wir das Marlittsheim nach den Angaben ihrer nächsten Vertrauten.




In den unteren Räumen des Hauses ist Marlitt’s Arbeitszimmer gelegen; eines der drei Fenster, gen Norden, läßt die alten Linden der vorüberführenden Allee und manch neugierig spähendes Besucherauge hereinlugen. Die Bäume hätten die Schreibende an ihrem Arbeitstisch sehen können, aber die Menschen nicht, denn just unter diesem Fenster steht ein Blumentisch, dessen große Blattpflanzen jeden Einblick unmöglich machen. In seiner Nähe befindet sich die trauliche Sofa-Ecke, das Asyl der Lese-Abende, wo um den fort und fort tickenden Regulator Bilder und Blumen gruppirt sind. Zur Rechten sieht man ein bescheidenes Bücherregal und nicht weit von demselben steht das [476] „Prachtstück“ von Marlittsheim, ein uralter Schreibtisch mit Aufsatz und Kommode, gar kunstvoll ausgelegt, von Meisterhand gearbeitet und hell polirt; die Messingbeschläge blitzen geheimnißvoll: sie schmücken ja einen Reliquienschrein; in seinen Fächern und Kästen und im glasthürverschlossenen Mittelfach liegen sie alle, die vergilbten, verblichnen, verwelkten und doch so beredten Erinnerungszeichen vergangener Tage; auch jenes schlichte, braune Buch, das „Herbarium“, hatte darin seinen Platz. Bilder hängen zu des Schrankes Seiten, auch ein kleines von Freundeshand schlicht gemaltes Mädchenstübchen – Marlitt’s Wohn- und Studirzimmerchen in Wien. Die Mittelthür vom Flur und die an der südlichen Wand, vom Salon herüber, verhüllen braune Portièren; die Ecke zwischen beiden füllt der große, weiße Porcellanofen und neben diesem steht ein brauner „Großvaterstuhl“, in welchem Marlitt’s greiser Vater zu sitzen pflegte, wenn er manchmal während des Tages die fleißig schaffende Tochter zu „stören“ kam.

In Wirklichkeit störte er nie; sie saß arbeitend auf ihrem braungepolsterten Fahrstuhl vor dem Schreibtisch; am zweiten Fenster nach Osten, der gemüthlichen Ofenbank gegenüber, steht dieser Tisch. Er erscheint ein Bischen derb für Damendienst; seine lederüberzogene Platte trägt das große hübsch ausgelegte Schreibzeug – ein Geschenk der Fürstin – und alle nöthigen Schreibutensilien; daneben liegen Hof- und andere Kalender, Uhr und Thermometer, das Fernglas, welches ihre geliebten, bewaldeten Berge näher rückt; zu jeder Jahreszeit aber schmückt ihn eine Fülle von Blumen und Blümchen, welche Bruderhand für die Schwester gezogen, oder welche Nichten aus Wald und Feld, manchmal auch für schwer erübrigte Sparpfennige herbeigetragen. Zur Linken das große Buch mit gelbem Hängeschloß ist der Manuskriptenkasten, zu welchem der Schlüssel an seidener Schnur nie von Marlitt’s Halse kam.

Eugenie John.
Nach dem Gipsrelief ihres Bruders Hermann John
aus dem Jahre 1849.

Manchmal, mitten im Schreiben, fächelte und nickte sie nach dem Vater oder sonst einem ihr lieben Gesicht hinüber oder sie blickte zur Linken: dort zwischen den beiden Fenstern hängt über einer Marmorkonsole der „Verräther“, ein großer Spiegel, der alles draußen Vorüberhuschende, -gehende und -fahrende getreu vor ihre Augen hinmalte. Rechts, von dem epheuumrankten Gestelle sowie von der braun und weiß tapezierten Wand herab grüßten sie die Bilder ihrer Lieben – Vater und Mutter in Pastell, von Ersterem gefertigt, Bruder, Schwester, die längst verstorben; dort hängen auch zwei kleine Gemälde aus Elfenbein, von der Künstlerhand des Vaters dereinst gemalt. Unter ihnen erblicken wir einen zweiten hellpolirten Schreibtisch ohne Aufsatz; er ist der treueste Freund früherer Tage, scheint aber seine einstige Bestimmung vergessen zu haben; denn willig beut er seine Fläche mancherlei Kästen und Vasen und Bildergestellen mit Ansichten aus dem bayerischen Gebirge, wo die Dichterin so oft und gern mit der Fürstin geweilt, und vor Allem der wohlgetroffenen Photographie Ernst Keil’s.

Eigenartig war Marlitt’s Schaffen. Des Morgens im Bett schrieb sie auf einzelne Blätter mit Bleistift und am Nachmittage wurde das Geschriebene verbessert sogleich ins Reine übertragen. Das geschah in ihrem Arbeitszimmer am Schreibtisch. So fest und stilfertig waren diese Reinschriften, daß fast nie eine Korrektur vorkam.

Aber wie sicher verwahrte die Dichterin ihr entstehendes Werk vor jedem fremden Auge! Der Bruder und die Schwägerin, die doch Beide sonst in engstem, herzinnigem Verkehr, in regem Gedankentausch mit ihr lebten, wußten nie mehr als den Titel des neuen Werkes, oft diesen nicht.

Als einmal ein von der Dichterin beschriebenes Blatt ihren Händen entglitt und zu Füßen ihrer Schwägerin niederfiel, hob diese es auf und warf unwillkürlich einen flüchtigen Blick darauf. Sofort zerriß Marlitt das Blatt: so sehr störte es sie, wenn ein Wort ihrer Arbeit verrathen worden war. Sie ging sehr vorsichtig zu Werke; alle beschriebenen Blätter wanderten in den erwähnten Manuskriptenkasten. War aber das Manuskript vollendet, dann kamen für die treuen, geduldig Ausharrenden wahrhafte Feierstunden von inniger, unbeschreiblicher Schönheit: die Lese-Abende!

Punkt halb acht Uhr rollt der Fahrstuhl in das Arbeitszimmer herein – Marlitt hält das Buch mit dem Manuskript auf dem Schoße. Das Schloß wird geöffnet und der Titel klingt von ihren Lippen! Nach so langer Zeit der Spannung endlich die Enthüllung! Getragen von der Poesie ihres eigenen Schaffens, ihr klangvolles, wunderbar biegsames Organ jeder Wendung anschmiegend, reißt die Vorleserin die Herzen mit sich fort, hinauf, hinab, durch Schmerz und Freude. Sie liest prachtvoll; wie ausdrucksvoll ist diese Aussprache, wie tief dieses Verständniß und Gefühl! An der spannendsten Stelle schließt sie mit übermüthigem Lachen, ihr kleines Publikum auf „morgen Abend“ vertröstend.

Diese an Freuden und Ehren so reiche Dichterlaufbahn wurde vor einigen Jahren durch einen schrecklichen Zwischenfall unterbrochen. In der Zeit, als Marlitt an ihrem letzten Roman „Die Frau mit den Karfunkelsteinen“ schrieb, weilte sie einmal, wie öfter; in dem Thurmzimmer ihrer Villa. Als sie dann in ihrem neuen Tragstuhl heruntergetragen wurde, kam sie zu Fall und stürzte zu Boden. Schwer krank mußte sie lange Zeit ihren Beruf ganz unterbrechen. Von diesem Fall hat sie sich nie wieder erholt. Die Vollendung dieses Romanes war ein Kraftstück geistigen Sieges über den Schmerz. Trotzdem füllte schon wieder Blatt um Blatt die geheime Mappe, als sie im Oktober vorigen Jahres an einer Rippenfellentzündung erkrankte, zu der sich später ein Magenleiden gesellte. Dasselbe wurde zwar durch Massage momentan gelindert, wiederholte sich aber öfter. So währten die Leidenstage fort, bis zuletzt bei der schweren Erkrankung Bruder und Schwägerin kaum von ihrem Schmerzenslager wichen. Der Name des geliebten Bruders „Alfred!“ war ihr letztes Wort.

Zeugnisse der tiefen Trauer, die ihr Tod überall erweckt, nicht nur in den höheren Kreisen, sondern auch beim Volk, sind die vielen Sendungen von Sarg- und Grabschmuck und von Briefen und Gedichten aus allen Kreisen. – Marlitt’s Wirken war volksthümlich, haben wir in der Einleitung gesagt, und in der That, die meisten Beileidsbriefe von unbekannten Lesern, welche sowohl der trauernde Bruder wie auch die Redaktion der „Gartenlaube“ erhalten hatten, entstammen einfachen Bürgerhäusern und schlichten Arbeiterhänden. Dort hat sie ja den meisten Sonnenschein verbreitet, und dies ist ihr herrlichstes Verdienst.

Aber auch aus fernen Ländern kommen Worte der Trauer und des Beileids, und an den Gestaden Neapels singt Woldemar Kaden der Marlitt nach:

„So lange deutsche Lenze blüh’n,
Wird Dein Geschaffnes blühen;
So lange junge Herzen glüh’n,
Und segnend übers Grab hinaus
Gehst Du noch spät von Haus zu Haus!“

Noch einmal wird die Feder Marlitt’s die Spalten der „Gartenlaube“ schmücken; denn wir können allen unseren Lesern und Leserinnen die erfreuliche Nachricht geben, daß die Dahingegangene ihren letzten Roman „Das Eulenhaus“ zwar nicht vollendet, aber doch so weit gefördert hat, daß derselbe in ihrem Sinne von einer dazu berufenen Kraft vollendet werden kann. Wir sind bemüht, dieser uns von der Verstorbenen überkommenen Verpflichtung in pietätvoller Weise gerecht zu werden, und können unseren Lesern schon heute mit Sicherheit versprechen, daß das hinterlassene Werk E. Marlitt’s spätestens zu Anfang des nächsten Jahres erscheinen wird.



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Marlitt’s Arbeitszimmer.