Ein Billet zum Berliner Opernhause

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Textdaten
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Autor: Max Ring
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Titel: Ein Billet zum Berliner Opernhause
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aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 820–823
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Flüchtige Federzeichnungen aus Deutschlands Großstädten. Nr. 1
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[820]
Flüchtige Federzeichnungen aus Deutschlands Großstädten.
1. Ein Billet zum Berliner Opernhause.


Wie einfach das klingt, wenn die Berlinerin eines Tages sagt: „Lieber Mann, Du könntest uns wohl einmal Billete zum Opernhause besorgen. Nächstens wird die Afrikanerin gegeben und ich möchte gar zu gern die Lucca sehen und Wachtel hören.“ – Natürlich ist er damit einverstanden und beeilt sich die Wünsche der bescheidenen Gattin zu erfüllen, um ihr und sich selbst Vergnügen zu machen. Aber die Sache bietet größere Schwierigkeiten, als man denkt, und man kann mitunter leichter in den Himmel, als in das Berliner Opernhaus kommen.

Was thut aber nicht ein guter Mann für seine geliebte Frau!

[821]

Vor der Casse des Berliner Opernhauses.
Nach der Natur aufgenommen von H. Lüders.

[822] Acht Tage vor der nächsten Aufführung der Afrikanerin setzt er sich an den Schreibtisch und richtet in den höflichsten Ausdrücken sein ergebenstes Gesuch an eine hohe königlich preußische General-Intendanz, mit der Bitte, ihm gefälligst für sein schweres Geld zwei Parquetplätze reserviren zu lassen. Um ganz sicher zu gehen, scheut er nicht den weiten Weg und legt den Brief eigenhändig in den dazu bestimmten Kasten, in der Hoffnung eines günstigen Bescheides. Allein schon der nächste Morgen stimmt diese schönen Aussichten bedeutend herunter. Der gute Mann sitzt bei seinem Kaffee und liest das Hauptblatt seiner „Vossischen“, während seine bessere Hälfte in der Beilage die Ankündigungen der Verlobten, Verheiratheten und Gestorbenen, sowie die verschiedenen Geschäftsannoncen mit besonderem Interesse studirt. Plötzlich läßt sie das eben gelesene Blatt mit einem schmerzlichen Seufzer sinken, der ihm einen gelinden Schreck einjagt. Schon glaubt er, daß ein naher Verwandter oder eine theuere Jugendfreundin ihr entrissen, als sie mit einem wehmüthigen Blick auf die betreffende Stelle zeigt, welche folgermaßen lautet: „Bei der großen Menge der eingegangenen Meldungen für die nächste Vorstellung der Afrikanerin kann nur der kleinste Theil derselben berücksichtigt werden etc.“

Noch ist nicht alle Hoffnung verloren, obgleich der gute Mann aus Erfahrung weiß, daß er zu der bekannten Familie „Pechvogel“ gehört, die stets in der Lotterie eine Niete zieht. Er läßt sich jedoch den Weg nicht verdrießen und begiebt sich zur angegebenen Stunde auf das Bureau, wo ihn der Beamte mit bedauerndem Achselzucken auf die nächste Ausführung der Afrikanerin vertröstet. Zu diesem Behufe erhebt er sich schon, bevor der Morgen graut, von seinem Lager, um der Erste bei der Eröffnung der Casse zu sein, die gegen neun Uhr früh erfolgt. Es hat noch nicht acht Uhr geschlagen, als er vor dem Opernplatz steht, den Rockkragen über die Ohren in die Höhe gezogen, da es ein feuchter, naßkalter Tag ist und er an Rheumatismus leidet. Die Aussicht aber auf die erwünschten Billete läßt ihn die Unbill der Witterung und die leise bohrenden Zahnschmerzen vergessen. Freilich sinkt das Thermometer seiner Hoffnungen um so tiefer, je näher er seinem Ziele kommt. Schon von Weitem bemerkt er eine dunkle Menschenmasse, die seit mehreren Stunden die vorläufig noch verschlossenen Pforten förmlich belagert. Kopf an Kopf drängen, stoßen, drücken, treten sich die Leute auf die Füße, wobei es nicht ohne verschiedene Rippenstöße, schmerzlich berührte Hühneraugen und unangenehme Reibungen abgeht.

Eingeklemmt in dem schmalen, kaum vier Fuß breiten Gange, der durch eine eiserne Barriere begrenzt wird, gleicht die Gesellschaft einem Haufen von Sträflingen, welche, der Freiheit beraubt, von einigen Constablern bewacht werden. Wer einmal in das Gedränge hineingerathen ist, der kann nicht mehr zurück und sieht sich gefangen. So ergeht es auch dem guten Manne, welcher sich wider Willen fortgerissen sieht von dem wilden Strome, rechts von einem stämmigen Dienstmann, links von einem groben patzigen Lakaien bedrückt, während eine Dame sich auf seinen Rücken stützt. Jeder Versuch, sich aus dieser traurigen Lage zu befreien, erweist sich fruchtlos, ja selbst gefährlich, wie ihn die spitzen Redensarten und die noch spitzeren Ellenbogen seiner Nachbarn nur zu empfindlich belehren. Nach langem, unendlich langem Warten wird endlich die Casse von Innen geöffnet, wobei die eingekeilte Menge einen Stoß erhält und in ein bedenkliches Schwanken geräth. Ein eiserner Schlagbaum hebt sich und gestattet den Vordersten den Eintritt zur Casse, um ebenso schnell wieder niederzufallen, da nie mehr als höchstens zehn Personen auf einmal hereingelassen werden. Die Abfertigung dauert eine Ewigkeit und kann selbst die Langmuth eines Hiob erschöpfen. Die gewiß verzeihliche Ungeduld unseres Freundes, der eine entstandene Lücke benutzt, um mit durchzuschlüpfen, zieht ihm eine nachdrückliche Warnung von Seiten des wachthabenden Constablers zu, mit der Drohung, ihn an die Luft zu setzen, oder ihm gar eine freie Wohnung in der Stadtvoigtei zu verschaffen. Stunde auf Stunde vergeht so in dieser entsetzlichen Langeweile und peinlichen Erwartung, während die Aussicht immer trostloser wird, da nach und nach von den ausgehängten Tafeln die verschiedenen Plätze verschwinden. Parquet und Logen sind bereits vergriffen, nur noch Tribüne und zweiter Rang ist in geringer Anzahl vorhanden. Ehe jedoch die Reihe an ihn kommt, ist Alles, rein Alles verkauft und es bleibt ihm nichts übrig, als mit leeren Händen zu der Gemahlin zurückzukehren, wenn er nicht einem Billethändler das Zweifache und Dreifache des gewöhnlichen Preises zahlen will.

Nicht ohne schweren Kampf entschließt er sich endlich zu dem unvermeidlichen Opfer, nachdem er den ganzen Vormittag verloren, sein neuer Hut in dem Gedränge ihm angetrieben worden ist und sein Paletot einige erhebliche Risse aufzuweisen hat. In der Nähe des Opernplatzes findet er mehrere jener würdigen Speculanten, welche mit dem Handel der Theaterbillete ein einträgliches Geschäft treiben. Seitdem Berlin Weltstadt geworden ist, haben sich eine Menge problematischer Existenzen entwickelt, unter denen der Billethändler ohne polizeiliche Erlaubniß eine hervorragende Stellung einnimmt. Meist sind es verkommene Subjecte, welche an Arbeitsscheu leiden und aus Widerwillen gegen jede anstrengende Beschäftigung diesen keineswegs ganz ungefährlichen Erwerbszweig ergreifen, dessen Betrieb sie nur zu oft mit der Polizei in unangenehme Berührung bringt und zuweilen auf die Anklagebank führt.

Das überaus lucrative Geschäft fordert außer einem kleinen Anlagecapital eine große Portion von Schlauheit und edler Dreistigkeit, an denen es einem Berliner Kinde selten fehlt. Die Hauptsache ist die Kunst, sich zu jeder Zeit die gewünschte Waare zu verschaffen, was keineswegs so leicht ist, da zwischen der königlichen Intendanz und den privilegirten Billethändlern ein erklärter Krieg besteht, indem die Theaterbeamten angewiesen sind, Letzteren im Interesse des Publicums entweder gar keine, oder nur eine beschränkte Zahl von Billeten zu überlassen. Trotzdem wissen die Billethändler das gegen sie erlassene Verbot durch ihre List zu umgehen und illusorisch zu machen. Zu diesem Behufe erscheinen sie mit proteusähnlicher Verwandlungsfähigkeit unter den verschiedensten Gestalten und Verkleidungen an der Casse, bald als falscher Dandy oder Student, bald als nachgemachter Dienstmann und Livreebedienter. Gelingt es ihnen damit nicht, weil sie bereits zu gut gekannt und zu schlecht angeschrieben sind, so miethen sie unverdächtige Dienstmänner, unschuldige Frauen und Kinder, Portiers der großen Hotels und Hausdiener geachteter Firmen, denen natürlich ohne Verdacht die verlangten Billete verabfolgt werden. Selbst kleinere Kaufleute und sogenannte Rentiers überlassen ihnen leicht die Benutzung ihres Namens gegen eine entsprechende Provision. Immer bleibt noch der Nutzen so bedeutend, daß die Billethändler das Risico nicht scheuen und sich täglich der Gefahr aussetzen, in die Hände der Polizei zu fallen und wegen unbefugten Gewerbebetriebs bestraft zu werden.

Endlich glaubt unser Freund am Ziele seiner Wünsche zu stehen, da er von einem solchen Billethändler gegen eine bedeutende Provision zwei Billete erstanden hat. In demselben Augenblicke indeß, wo er bereits seine Hand ausstreckt, um den theuer erkauften Schatz in Empfang zu nehmen, legt der Arm des Constablers Beschlag auf die verbotene Waare, die trotz aller Bitten und Beschwörungen confiscirt wird. Außerdem blüht ihm noch das angenehme Vergnügen, als Zeuge gegen den ertappten Billethändler notirt zu werden, um später vor Gericht zu erscheinen. Es ist mithin keineswegs so leicht, sich ein Billet zum Openhause zu verschaffen, trotzdem man sich die Mühe nicht verdrießen lassen darf, da in diesem Augenblick die Berliner Oper unstreitig die besten künstlerischen Kräfte der Welt vereint.

In erster Linie glänzen die Damen Lucca und Frau Harriers-Wippern, Fräulein von Edelsberg, Grün, Frau Blume, die Herren Niemann, Wachtel, Betz und Weworsky etc. Während die Lucca durch ihren genialen Gesang, durch ihre bezaubernde Anmuth, durch ihren dramatischen Vortrag, durch die Gluth und das Feuer der Empfindung die Hörer mit sich unwiderstehlich fortreißt, fesselt Frau Harriers-Wippern durch ihre classisch gebildete Stimme, ihre lyrische Zartheit und entzückende Weiblichkeit. Die Eine die Repräsentantin südlicher Leidenschaft, des italienischen und französischen Gesanges, die gewagtesten Coloraturen und Schwindel erregenden Triller wie ein Füllhorn ausschüttend, selbst in ihren Verirrungen genial und in ihren Fehlern originell; die Andere voll tiefer Empfindung, die Verkörperung des deutschen classischen Gesanges, lyrisch seelenvoll, stets die Kenner erfreuend, den gebildeten Geschmack nie verletzend, aber vielleicht darum jener Verve und dramatischen Gewalt entbehrend. Beide aber ergänzen sich gegenseitig und sind Jede in ihrem Genre vollkommen und unersetzlich.

Da ist ferner Niemann, der geborene Heldentenor, den die Natur zum „Lohengrin“ und „Tannhäuser“, zum Darsteller dieser [823] echt deutschen Gestalten der vaterländischen Sage geschaffen hat; groß und stattlich in seiner äußeren Erscheinung, die hohe Stirn von blonden Locken umwallt, das treue Abbild eines alten Minnesängers oder edlen Recken, für welchen alle Frauen schwärmen, wenn er aus voller Brust seine herrliche Stimme ertönen läßt und in strahlender Rüstung auf dem von Schwänen gezogenen Kahn als Lohengrin erscheint. Soll doch der König oder vielmehr die Königin von Hannover von allen annectirten Schätzen den Verlust dieses Sängers mit am meisten beklagen. Freilich ist ihm nicht an der Wiege gesungen worden, daß er einst selbst so trefflich singen werde. Ursprünglich zum Maschinenbauer bestimmt, am Schlosserambos und zwischen pfeifenden Locomotiven aufgewachsen, ward er durch sein Talent und die Liebe zur Kunst der Bühne zugeführt. Mit ihm wetteifert Wachtel, der unvergleichliche „Postillon“, dessen früheres Leben vielfach an den Helden derjenigen Oper erinnert, welche seinen Ruf zuerst begründet hat. Wachtel, der früher, wie Fama behauptet, ebenfalls Rosselenker war, ist keineswegs schlecht gefahren, als er vom Bock auf die Bühne sprang und nicht nur durch seinen berühmten Peitschenknall, sondern durch das hohe C das Publicum elektrisirte. Gegenwärtig hat er durch Fleiß die Lücken seiner musikalischen Bildung längst ausgefüllt und seine herrlichen Naturanlagen zur künstlerischen Vollendung erhoben.

Auch der ausgezeichnete Baryton, Herr Betz, hatte anfänglich mit großen Hindernissen zu kämpfen; seine wunderbar kräftige Stimme entbehrte noch der Schule und sein Spiel zeigte besonders eine gewisse Ungelenkigkeit. Aber auch er hat durch rastloses Studium diese anfänglichen Mängel beseitigt, so daß er gegenwärtig nicht nur zu den vorzüglichsten Sängern, sondern auch zu den besten Darstellern der Oper zählt.

Selbst die in zweiter Reihe stehenden Kräfte der Berliner Oper dürften an jeder andern Bühne einen ersten Rang behaupten und bilden im Verein mit den Genannten ein Ensemble, wie es kaum in einer andern Stadt, weder in London, noch in Paris, gefunden wird. Rechnet man noch dazu das wahrhaft classische Orchester, wo jedes Instrument von einem Künstler gespielt wird, unter der Leitung eines Dorn und Taubert, die glänzende Ausstattung, die Pracht der Costume und Decorationen, schließlich das Ballet mit seinen männlichen und weiblichen Koryphäen, so wird man es begreiflich finden, daß man für ein Billet zum Opernhaus weder Geld und Zeit, noch Mühe und Beschwerden scheut, besonders wenn eine geliebte Frau darnach so heißes Verlangen trägt, wie dies gewöhnlich der Fall ist.
Max Ring.