Ein Leipziger Wirth als Volksprediger

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Autor: Friedrich Hofmann
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Titel: Ein Leipziger Wirth als Volksprediger
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aus: Die Gartenlaube, Heft 5, S. 68–72
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[68]
Ein Leipziger Wirth als Volksprediger.
Deutsches Kneipenbild.


Wer zu Gast nach Leipzig kommt und im „Leipziger Tageblatt“ oder in der „Mitteldeutschen Volkszeitung“ unter den Vergnügungs-Ankündigungen auch eine liest, vielleicht des Inhalts:

„Hôtel de Saxe. Vortrag: 1) Heer- und Wehrpredigt. 2) Gesänge mit Waldhorn-Quartett-Begleitung. 3) Neueste Nachrichten. – Anfang ½8 Uhr. Entrée 2½ Ngr. Ludwig Würkert.“

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Ludwig Würkert vor seiner Gemeinde.

der gehe nicht gleichgültig über diese bescheidene Einladung hinweg, schließe nicht von den 2½ Ngr. auf einen so geringen Anforderungen entsprechenden Genuß, sondern folge dem Wink. Ich will ihm Führer sein.

Wir kommen durch den Garten an den Eingang in eine Veranda, erhalten hier für unsere 2½ Ngr. statt Einlaßkarte ein auf ein Octavblättchen gedrucktes Gedicht, oder mehrere Gedichtchen, die zugleich die Texte der angekündigten „Gesänge“ sind. Die Veranda bildet eine Vorhalle des Saales, den wir nun betreten.

Es ist ein langer, aber offenbar zu schmaler Raum, um zu Tanzfesten zu dienen; seine Ornamentik, für Beleuchtung berechnet, [70] ist bei den abendlichen Gasflammen von Wirkung; es überkommt Einen leicht eine feierliche Stimmung zwischen den Säulenpaaren an beiden Längsseiten, und die beiden Schmalseiten mit ihren hohen, säulenfreien Spiegelwänden täuschen durch ihre gegenseitige Vervielfältigung des Saalbildes in’s Unendliche den Neuling für Augenblicke über die eigentliche Größe des Raumes. Das fühlt Jeder, daß für ein gewöhnliches Restaurationsleben mit Kartetischen und Alltagsgeschwätz diese ernste Halle zu gut ist, auch wenn die Büsten der großen deutschen Männer, Luther’s und Gellert’s, Guttenberg’s und A. Humboldt’s, Moses Mendelssohn’s und Lessing’s, Schiller’s und Goethe’s, welche zwischen je einem Säulenpaar aufgestellt sind, für Manchen immer noch nicht deutlich genug von der bessern Bestimmung derselben zeugen sollten. Dem Veranda-Eingang gegenüber steigt im Saal ein Treppenpaar zu einer dritten Abtheilung der Wirthschaftsräume, dem sog Tunnel, empor. Den Aufgang rechts zu diesem „Tunnel“ versperrt ein Podium, auf welchem nichts als ein einfaches Tischchen zu sehen ist.

Das ist der Raum, und nun zu seinem Inhalt. Wenn nicht die Meßzeit dem Publicum, welches der obigen Einladung zu diesen Vortrags-Abenden im Hotel de Saxe mit fast stammgastlicher Regelmäßigkeit folgt, durch den Fremdenstrom eine unbestimmte Färbung giebt, stellt sie sich in einer sehr bestimmten dar: es ist der in seinen Ansprüchen bescheidene, aber geistig gern und freudig empfangende und strebende Mittelstand, der hier eine treue und dankbare Zuhörerschaft bildet. Da ist der fleißige Handwerker und der niedere Beamte. Sie haben den Tag an der Arbeit zugebracht, zum Zeitungslesen bleibt ihnen keine Zeit, aber wissen wollen sie, wie es in der Welt und insbesondre im Vaterlande steht. Da nehmen sie am Abend die Gattin am Arm, vielleicht auch die großen Kinder dazu, und gehen „zu Würkert“. Der junge, strebsame Geschäftsmann, der Commis aus den verschiedensten Geschäften stellt sich ein, wenn ihn nach besserer Unterhaltung verlangt, als „die Restauration“ im gewöhnlichen Styl sie bietet. Es sind auch bescheidene junge Arbeiter aus Fabriken und sonstigen großen Geschäften, die, vielleicht mit der Zukünftigen zur Seite, ebenfalls da Platz nehmen, aber das Herz haben sie gewiß auf dem rechten Fleck, sonst würden sie zu irgend einem der vielen Tanzvergnügen und nicht „zu Würkert“ gehen. Man sieht, für die Kreise der vornehmen, kalten Kritik ist die Gesellschaft, Gott Lob, zu bürgerlich!

Was giebt es denn nun so gar Absonderliches bei diesem „Würkert“? Zunächst, lieber Freund, Speise und Trank wie in jedem Wirthshaus, und Du siehst, daß all die Gäste nach ihren Mitteln und Bedürfnissen tapfer zugreifen. Ist aber das Leibliche befriedigt und steht das Töpfchen „Coburger“ oder „Lager“ gemüthlich vor den Leutchen, dann kommt der Augenblick, wo trotz der nun erst recht gelösten Zungen plötzlich tiefe Stille in Saal und Veranda eintritt. Auf dem Podium ist der Wirth, der Besitzer dieser stattlichen Kneipe, erschienen, und er ist’s, der mit mächtig durchdringender Stimme durch seinen Anruf: „Geehrte Anwesende!“ die bunteste Unterhaltung in lauschendes Schweigen verwandelt.

Ludwig Würkert legt seinen Vorträgen meist einen dichterischen Ausspruch zu Grunde, oder er giebt den Grundgedanken selbst in dem gedruckten Gedichte, welches wir am Eingang erhalten. Heute beginnt er mit dem Körner’schen Verse:

„Was zieht ihr die Stirne finster und kraus?
Was starrt ihr wild in die Nacht hinaus,
     Ihr freien, männlichen Seelen?
Jetzt heult der Sturm, jetzt braust das Meer,
Jetzt zittert das Erdreich um uns her, –
     Wir woll’n uns die Noth nicht verhehlen!

und nennt sofort als den Gegenstand der neuen deutschen Sorge und als die Ursache der drohenden Noth: Schleswig-Holstein und den deutschen Zwiespalt.

Er stellt seinen Zuhörern vor Allem ein klares Bild über den gegenwärtigen Stand dieser deutschen Herzens- und Schmerzenssache vor Augen; er erzählt von dem Befreiungsjubel in Holstein und wie niederbeugend, wie drückend derselbe auf uns in Deutschland wirken müsse, die wir die Lahmheit im Handeln gerade von Seiten des Volks täglich vor Augen sähen. Trotzdem erblicke er die uns drohende Gefahr nicht in einem Kriege mit dem Auslande, und wäre es halb Europa, sondern in dem Frieden, der abermals mit Deutschlands Schmach bezahlt werde, und zwar mit Beihülfe der sogen. „deutschen“ Großmächte, die angeblich aus „europäischen“ Rücksichten zu solch „höherer“ Politik gezwungen seien.

Die Noth könne Menschen und Staaten auf zweierlei Wege führen, auf den der Schande oder auf den der Ehre.

Mit ebensoviel Menschen- als Geschichtskenntniß und politischem Blick greift unser docirender Wirth in die schicksalreichen Nachtseiten des Lebens, um in warnenden Beispielen den Weg der Noth zur Schande Einzelner zu zeigen; dann führt er uns durch die deutsche Fürsten- und Volksgeschichte zu Anfang dieses Jahrhunderts, um den Schandweg zum Rheinbund allen seinen Zuhörern recht deutlich sichtbar zu machen. „Und ist,“ fährt er fort, „wenn Oesterreich und Preußen ihre dermalige Einmüthigkeit noch weiter pflegen, um sich vor allem sogen. „nationalen“ Treiben für immer Ruhe zu verschaffen, – ist dann etwa der Weg zu einem neuen Rheinbund so weit?“ – Darum müsse, selbst einem drohenden Bürgerkrieg zum Trotz, das Volk den Weg der Ehre festhalten, weil er der Weg des Rechtes sei. Wiederum gelte und geschehe hier Einzelnen wie Nationen. „Für die Völker aber sei das segensreichste Wirken der Noth, daß sie zum Zusammenfassen der vorher oft so zersplitterten Kräfte antreibe, und so möchten denn die Mittel- und Kleinstaaten Deutschlands nur fest und treu zusammenstehen und die Fürsten es zum ersten Male seit fünfzig Jahren wieder fühlen, wie mit dem Vertrauen die Macht wachse, wenn man sein treues Volk zu gemeinsamer That bereit hinter sich wisse. Sie sollten fest zusammenstehen, und die Bismarcke und Rechberge der ganzen Welt würden den Deutschen ihr Schleswig-Holstein nicht entreißen und die Nation werde siegen und sollten Millionen Teufel ihr entgegentreten!

Die Versammlung war längst im ganzen Herzen warm geworden und brach hier in lauten Beifallsjubel aus. Der in wahrer Begeisterung für seinen Gegenstand längst zum Predigerton der Rede emporgehobene patriotische Wirth (– mit dem Pathos dieses Predigertons, unseren Lesern später ganz erklärlich, sind, nebenbei gesagt, viele sonst ganz treue Verehrer des Redners nicht immer einverstanden –) beachtet dies jedoch nicht, sondern fährt mit gesteigertem Eifer fort, die Leiden der armen Schleswiger zu schildern. Jeder Schrei des Schmerzes, der Verzweiflung, jeder Fluch über die Nichtswürdigkeit, welche aus kalter Berechnung des Eigennutzes und der Bosheit eines Volkes Herz mit Füßen trete, das Alles werde mit der Kraft des Gebets im Volke wirken und müsse so wirken, wenn Deutschland nicht schmachvoll zu Grunde gehen solle.

„Wir wollen uns die Noth nicht verhehlen!“ ruft er zum Schluß des Vortrags den Gästen zu. „Gerade deshalb muß gegen die Folgen solcher Noth jeder Verständige und Brave sich schon jetzt rüsten, im Haus, in der Gemeinde, im Staat! So thuen auch Sie das Ihre! Aber nicht dadurch, daß Sie für sich allein vorsorgen, Sie, die Sie heute hier anwesend waren! Leider sind Einsicht und Erkenntniß der Zeit und der Pflichten, die sie uns auferlegt, noch so wenig verbreitet, daß wir mit Trauer behaupten können, es gehen in Deutschland noch Millionen nur ihrem Erwerbszweig nach und ahnen nicht, daß der ganze Baum ihrer Existenz in Gefahr steht! Verbreiten Sie Einsicht und Erkenntniß, gehen Sie zum Nachbar links und rechts und theilen ihm mit, wovon Sie heute sich überzeugt haben. Und dann öffnen Sie, wie das Herz, auch die Truhe, den Geldbeutel für den Gotteskasten des Vaterlandes! Sein Triumph wird auch der Ihre, seine Ehre die Ihre sein, und Ihre Kinder werden’s Ihnen einst segnen!“

Damit schloß der Redner, und lauter, dankbarer Beifall von allen Anwesenden belohnte ihn.

Erregt ist sichtlich die ganze Zuhörerschaft. Es sind zündende Gedanken unter sie geworfen, und je nach Begabung und Mundwerk beginnt die Discussion darüber an den einzelnen Tischen. Inzwischen versäumt ein patriotischer Colporteur nicht, die günstige Stimmung für sich zu benutzen: er bietet Karten von Dänemark und den Herzogthümern, Flugblätter, Zeitungen etc. feil, und die Bürgersfrau, die sonst den Groschen zehn Mal umwendet, der für etwas Gedrucktes ausgegeben werden soll, redet jetzt selbst dem Ehegatten zum Ankauf von diesem und jenem, das durch die eben gehörte Rede besonderes Interesse gewonnen hat, zu. Man schlage gerade einen solchen Erfolg dieser Vorträge nicht zu gering an.

Die hohe Gestalt des Wirthes erscheint wieder auf dem Podium. Er schlägt vor, eines der Lieder zu singen, welche wir gedruckt in Händen haben. Ein Waldhornquartett bläst die Melodie erst vor und begleitet dann den Gesang. Aber wer singt denn? Ein Sängerverein? Nein, die ganze Gesellschaft [71] singt, und auch das erfreut des Menschen Herz. Frauen und Männer, Alles singt mit. Dann declamirt wohl Herr Würkert auch ein Gedicht mit Musikbegleitung, und was er für seine Gäste wählt, ist gut, muß veredelnd wirken; zur bloßen Unterhaltung bietet er nichts.

Abermals betritt Ludwig Würkert seinen einfachen Rednerplatz, diesmal mit verschiedenen Zeitungen in der Hand. Aus diesen liest er theils vor, theils erzählt er das Wichtigste aus der Tagesgeschichte. Auch dies geschieht wieder mit der aufmerksamsten Rücksicht für das Fassungsvermögen von Gästen von so außerordentlich verschiedenem Bildungsgrade. Wir bewundern sein Geschick in der Bewältigung solcher Schwierigkeiten, die um so größer sind, als er auch jetzt nicht die Aufgabe eines ruhigen Erzählers löst, sondern auch jetzt ist es ihm Herzensbedürfniß und Mannespflicht, seine Gäste zu erwärmen, zu ermahnen, zur That zu stärken. Mit einem Kraftwort, an welchem Jedes noch Etwas mit nach Hause zu nehmen hat, schließt er gewöhnlich gegen 10 Uhr, der Zeit, wo der Bürger und Arbeiter selbst den Abend zu schließen gewohnt ist.

Das war einer der Vortragabende im Hotel de Taxe, und so haben sie seit 1861 mit immer steigender Theilnahme der Einheimischen und Auswärtigen stattgefunden. Unsere Leser dürfen sich jedoch durch den heutigen Abend nicht zu der Ansicht verführen lassen, als ob hier blos Politik getrieben würde. Das bringt jetzt nur die Zeit so mit sich. Würkert sucht in weniger erregter Zeit seine Stoffe auf den reichen Feldern der Geschichte, der Literatur, der Arbeit und des Verkehrs, des Familienlebens und besonders der rein menschlichen Bestrebungen. Die Abende „bei Würkert“, welche er z. B. dem ehrenden Gedächtniß unserer großen deutschen Männer widmete, gehören offenbar zu den lohnendsten. Er beging keinen Geburts- oder Todestag eines wirklichen Großen, ohne seinen Gästen ein klares Bild von dem Leben und Wirken desselben zu geben. Und wie sehr seine Gäste gerade dafür ihm Dank wußten, das bethätigten sie, indem sie den Saal mit jenen acht Büsten schmückten, die oben genannt sind.

Wer ist nun dieser Ludwig Würkert, der als Bierwirth vor uns steht und wie ein Gelehrter und Redner von Fach zu uns spricht?

Ludwig Würkert mit seiner Kneipe und ihrer doppelten Bestimmung ist eine so seltsame, so außerordentliche Erscheinung, wie sie wohl nur einmal in Deutschland, ja vielleicht in Europa dasteht. Denn dieser Bierwirth ist wirklich nicht blos Wirth, er ist zugleich ein ebenso fleißiger, als tüchtiger Schriftsteller, er ist ausgezeichnet als lyrischer Dichter und im Fache der Novelle, in welchem er sogar einen ersten Preis errang; noch mehr, Ludwig Würkert war einer der gefeiertsten Kanzelredner Sachsens, er gehörte zur höheren Geistlichkeit des Königreichs; und noch mehr, er ist auch Züchtling gewesen, und zwar erster Classe, und hat am Spinnrad gesessen. Und jetzt ist er Wirth und dazu, nicht blos im Kreise der Schriftsteller und des Geschäfts, sondern als Mensch und Mann von Jedem hochgehalten, der ihn kennt.

Diese Andeutungen müssen den Wunsch rege machen, daß L. Würkert seine Erlebnisse in einer ausführlichen Selbstbiographie niederlege; bis dies geschehen, mögen den Leser die folgenden Mittheilungen an jenem Wunsche um so fester halten lassen.

Ludwig Würkert ist ein Krempelfabrikantensohn aus Leisnig in Sachsen, wo er am 16. Decbr. 1800 zur Welt kam. Nachdem er, der als Student zu Leipzig schon als Sprecher der Burschenschaft geglänzt hatte, 19 Jahre lang Diaconus in Mittweida gewesen war, kam er im Jahre 1843 als Oberpfarrer nach Zschopau. Während dieser langen Zeit bis zum Sturmjahr 1848 erfüllte sein Leben sein geistlicher Beruf, eine außerordentliche Schriftstellerthätigkeit (neben wohl 30 Bänden wissenschaftlicher und geistlicher Bücher füllen seine Novellen, unter dem Autornamen Ludwig Rein veröffentlicht, allein 8 Bände) und ein durch die Pflege der Kunst verschöntes, reizendes Familienleben. Auch den Mann verließ der frohe, freie Sinn des Studenten nie ganz, Burschenschafter im Geist blieb er immer. Beides trennte er auch von seiner geistlichen Amtsauffassung nicht; und dies sowohl, wie seine glänzende, von dichterischer Kraft gehobene Beredsamkeit, sowie die vielen Beweise seiner Herzensgüte, seiner redlichen Theilnahme an dem Geschick seiner Mitmenschen, erwarben ihm die Anhänglichkeit seiner großen Gemeinde in einem seltenen Grade.

Daß auf einen solchen Mann, als die Bewegung von 1848 über Sachsen kam, das Auge nicht blos seiner Gemeinde, sondern des ganzen Gebirgs gerichtet war, ist eben so natürlich, als daß in Würkert der alte Burschenschafter über den Priester Herr wurde. Er war der Hauptredner auf allen Volksversammlungen. Sein Name galt Tausenden als ein Zeugniß für die Sache, die man damals verfocht. Und wie Würkert die kirchliche Feierlichkeit der öffentlichen Huldigung für den Reichsverweser geleitet, so hielt er sich auch später für verpflichtet, dem Kampfe für die Reichsverfassung dieselbe geistliche Thätigkeit zu weihen. Dadurch gerieth er in schweren Conflict mit der eigenen Regierung. Denn als es im Mai 1849 zu den blutigen Tagen in Dresden kam, entwickelte er eine verhängnißvolle Thätigkeit für bewaffneten Zuzug zum Kampfplatz, die Sturmglocken dröhnten weit und breit, und auch jetzt den Geistlichen vom Bürger nicht trennend, ermuthigte er die Schaaren durch seine begeisternden Reden und segnete sie und ihre Fahnen öffentlich für den Kampf.

Die Regierung siegte, die Aufständischen flohen, Zschopau ward von den Preußen besetzt, Würkert ward gewarnt und zur Flucht gemahnt, glaubte jedoch nicht an die Gefährlichkeit seiner Stellung, und so stand er an einem Sonntag, den 13. Mai 1849, auf der Kanzel, als gegen das Ende seiner Predigt die Blicke aller auf den oberen Emporen Sitzenden sich nach den Fenstern wandten. Reiter- und Infanteriezüge kamen den Berg herunter. Unruhe und Angst ergriff die ganze Gemeinde. Würkert vollendete seine Predigt. Als er aber die Kanzel verließ und in die Sakristei trat, empfing ihn ein königlicher Commissär mit dem Verhaftsbefehl. Die Kirche war von den Truppen umstellt. Der Gefangene bestieg, nachdem er im Pfarrhause das Nöthigste geordnet, den Wagen, und von einer starken Reiterschaar umringt, setzte sich der Zug auf dem Wege nach der hohen Augustusburg in Bewegung – und weinend und wehklagend folgte dem Zug das ganze Volk, viele Hunderte die drei Stunden Wegs, bis das Thor der festen Burg sich hinter dem Gefangenen schloß.

Wir erzählen das Niemandem zu Leide, denn über jene Tage ist längst eine ernste Zeit gegangen, die nach allen Seiten hin versöhnend gewaltet hat; im Gegentheil, wir wissen ja Alle, daß das sächsische Volk in neuerer Zeit in einer hochwichtigen Angelegenheit des Vaterlandes mit Enthusiasmus und treuer Anhänglichkeit hinter seiner Regierung steht; wir führten das Obige nur an als eine Thatsache, die von der Theilnahme zeugt, die der Mann sich in seinem Wirkungskreise erworben hatte und die sich auch während seiner anderthalbjährigen Untersuchungshaft in der rührendsten Weise bethätigte. Ein Bürger von Schellenberg verpfändete sein ganzes Vermögen, seinen Kirchenstuhl nicht ausgenommen, um dem Gefangenen die Erlaubniß zu verschaffen, bisweilen in den Parkanlagen bei der Burg die Wohlthat des Athmens in der freien Natur genießen zu dürfen; seine Familie und seine Gemeinde unterließen keine Gelegenheit, für ihn zu bitten, und als selbst Harleß, der strengkirchliche Dresdner Hofprediger, sich seiner annahm und Alles aufbot, um eine solche Kraft der Kanzel zu erhalten, machten sich die vier ältesten Männer des Kirchspiels auf den Weg, eisgraue, von mehr als achtzig Jahren gebeugte Greise, um „mit dem einen Fuß bereits im Grabe“ für ihren Oberpfarrer zu zeugen, weil es ihr Gewissen ihnen gebiete. Und wirklich war König Friedrich August von so viel Theilnahme für den Mann ergriffen und geneigt, die Untersuchung niederzuschlagen; durch den Umstand jedoch, daß Würkert beim Beginn der Untersuchung eine Erklärung zu den Acten gegeben hatte, welche durch ihre Schroffheit die Justiz ebenso zu aller Strenge der Gesetzeshandhabung herausforderte, wie sie die Fürsprache von der geistlichen Seite abschwächte, sah sich der König genöthigt, obwohl, wie Harleß erzählte, mit Thränen in den Augen, dem Gesetz seinen Lauf zu lassen.

Würkert wurde zu 8 Jahren Zuchthaus ersten Grades verurtheilt, nach Waldheim gebracht und in das Züchtlingsgewand gekleidet. Nach vier Jahren, von denen er fast drei im Krankenzimmer zubrachte, und in welche Zeit auch sein fünfundzwanzigjähriges Amtsjubiläum und sein fünfundzwanzigjähriges Ehejubiläum fiel, erlöste ihn die Begnadigung.

Wer das innere Leben und Leiden eines solchen Züchtlings kennen lernen will, der lese in der Zeitschrift, die L. Würkert im Jahre 1856 herausgab, in der „Feldkirche“, seinen Gedichtcyklus „Der Gefangene und sein Ring“ – d. i. sein Trauring, den man ihm auf sein inständiges Bitten als einziges Kleinod der Erinnerung [72] an sein glückliches Leben zurückgab und im Zuchthaus zu tragen erlaubte. Er wirkt um so erschütternder, wenn man erfährt, daß all die dort so hoch verherrlichte eheliche Liebe und Treue das Glück dieser Ehe ihm nicht wahren konnte. Der Unstern hatte seinen häuslichen Frieden zerstört; die Ehe ward getrennt.

Arm, ohne Amt, ohne Familie, begann der Mann den neuen Kampf mit dem Leben. Rastlose Arbeit, die sich nun ganz auf das schriftstellerische Feld warf, konnte allein ihn sich und der Welt retten. Nachdem er durch bewunderungswürdigen Fleiß sich wieder ein kleines Vermögen erworben, faßte er den kühnen Entschluß, für seine alten Tage durch Uebernahme einer Wirthschaft in Leipzig zu sorgen. Die „Restauration“ des Hotel de Saxe erschien ihm als die geeignetste für ihn, und er ward ihr Besitzer. Auch einen zweiten Ehebund schloß er, und er beglückt ihn.

Daß Ludwig Würkert kein gewöhnlicher Wirth werden konnte, wußte er wohl selbst, und er hatte gewiß längst im Geiste sich in den schönen Saal eine neue Volkskanzel gebaut, ehe er an die Ausführung des gewagten Schrittes ging. Seine Freunde, namentlich E. A. Roßmäßler, Brehm u. A. erleichterten ihm denselben, indem ersterer in einem Aufsatz im Leipziger Tageblatt „Was werden die Leute dazu sagen?“ das kühne Unternehmen einleitete und die ersten Vorträge hielt, bis Würkert selbstständig und allein seinen Volkshörsaal zu dem ausbilden konnte, was er jetzt ist: ein Unicum in Deutschland: eine deutsche Kneipe für Volksbildung, Volksveredelung, Volksermuthigung.

Wenn bei den großen deutschen Nationalfesten des Jahres 1863 in Leipzig von den Tausenden der Gäste und Festgenossen mit anerkennender Bewunderung die Bemerkung laut wurde, daß Leipzig eine der seltenen Städte der Welt sei, die von sich rühmen könne: „Hier giebt es keinen Pöbel!“ –; wenn die Lern- und Strebelust in den Arbeiterschaaren auch in dieser Beziehung die Stadt vor vielen auszeichnet; – und wenn mehr, wie irgendwo, hier ein aus klarem Verständniß der großen Fragen der Zeit und der gerechten Forderungen des Vaterlandes herausgewachsener Patriotismus im Bürger- und Arbeiterstand sich kundgiebt und zu Thaten und Opfern bereit macht: – so darf man ohne Scheu es aussprechen: Würkert’s Vorträge haben zu diesem Vorzug Leipzigs, der auch ein Stolz Deutschlands ist, ein redliches Theil beigetragen.

Fr. Hofmann.