Ein Quartier des Elends und der Arbeit

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Titel: Ein Quartier des Elends und der Arbeit
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aus: Die Gartenlaube, Heft 2, S. 13–18
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1853
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[13]

Ein Quartier des Elends und der Arbeit.

Mann des Ostens, der du einmal herüber gekommen bist aus den freundlichen Städten längs der deutschen Flüsse, an die nebligen Ufer der Themse, der du Englands Institute, seine Verkehrsthätigkeit und Industrie bewundert hast – hat dich nie dein Weg nach Spitalfields, dem Quartiere der Londoner Seidenweber geführt? Vielleicht hast du davon schon gehört, daß es auf irgend einer Seite dieser Hauptstadt, gegen Osten hin gelegen, einen verworrenen Knäul schmutziger, häßlicher Straßen gibt, die sich wie schwarze Laufgräben kreuzen, wo kränklich fahle, ungeschorene, beschäftigungslose Weber herumschleichen, oder brütend auf den Thürschwellen kauern, oder an Steinpfosten lehnen, oder auch gelegentlich zu einem sogenannten Meeting zusammenkommen, um eine Petition an die Königin aufzusetzen, daß sie die Landesfabrikate vom Untergang, und Tausende ihrer Unterthanen vom Hungertode rette? daß dann zuweilen ein Hofball oder eine Abendgesellschaft in Folge dieser Petition veranstaltet wird, wo alle großen Damen des Hofes in Seidenstoffen von Spitalfields gekleidet erscheinen? daß dann die armen Weber, süßer Hoffnungen voll, ein, zwei Tage lang lustig zechen, um nach Verlauf derselben wieder verzweiflungsvoll durch ihre schwarzen Straßen zu schlendern, oder brütend auf den Thürschwellen zu kauern, oder an den Steinpfosten zu lehnen, um zu verkümmern? Hast du nie davon gehört? Bist du nie in jene Gegend gedrungen? Nun wohl, dann wollen wir den Gang mit einander wagen, wenn dich’s nach dieser wenig einladenden Einleitung noch gelüstet.

Kaum haben wir von dem allerbelebtesten Theile Bishopgates’s nach den östlich gelegenen Seitenstraßen eingelenkt, so befinden wir uns in einem öden, wagenleeren Revier, vor dem grünen Kirchhof zu St. Maria, dem einzigen Ueberbleibsel des großen Klostergrundes, der jetzt mit Häusern überbaut ist. Letztere sind in historischer Beziehung nicht ohne Interesse. Seit der Zurücknahme des Edicts von Nantes im Jahre 1685 sind dies die Hauptwohnsitze der französischen Hugenotten, welche die Treulosigkeit Ludwig XIV. aus ihrer Heimath vertrieb, und die Hauptwerkstätten der durch diese Flüchtlinge herübergebrachten Seidenmanufactur. Wo früher der Weihkessel geschwungen wurde, haust jetzt das Weberschiffchen. Trotzdem hat die Klosterstätte mitsammt ihrer unmittelbaren Umgebung, ihren düstern, religiösen, asketischen Anstrich nicht verloren.

Sehn Sie dort das Haus an der Ecke? Wir wollen in diesem unsern ersten Besuch abstatten. Auf dem Platze, wo es steht, hat vor zweihundert Jahren die Kanzel gestanden, und von derselben herab predigten die Mönche an jedem Ostermontage und Dienstage in Gegenwart des Lord Majors vor dem versammelten Volke und den Kindern des Kirchspiels.

Wir treten in eine dunkle Hausflur. Ueber eine schlechterleuchtete Treppe, durch eine wurmstichige Thüre gelangen wir in ein Gemach, das weder licht noch groß und noch viel weniger behaglich ist. Seltsame Erkerfenster, alterthümlich aussehende Holzschnitzereien, massive Steinkamine; an den Wänden hochhinaufreichende Schränke, mit zierlichen Thüren, massiven Schiebern und tiefen Schiebladen; Schreibtische hinter hölzernen Schranken; verwickelte Kreuzgänge mitten durch Stöße von papierumwickelten Waaren, die in allen Farben des Regenbogens aus den Ecken der Verpackungen herausschauen. Dabei eine Todtenstille wie in einer Kirche um Mitternacht, oder wie in einem Spielhause bei Tagesanbruch. Denn in dem großen Gemache ist, mit Ausnahme eines wohlgekleideten müßigstehenden Mannes, eines Trägers, der gleichfalls unbeschäftigt auf einem kleinen Waarenballen zwischen zwei größeren sitzt, und einer Katze die dicht vor dem Kohlenfeuer in stille Anschauung ihrer Vorderpfoten versunken ist, kein lebendes Wesen. –

Die Thüre ist lautlos hinter uns in’s Schloß gefallen. Noch immer dieselbe Stille wie in einer Quäkerversammlung oder in einem höheren Regierungsbureau, bis endlich [14] der Mann am Schreibtische die Augen aufschlägt, sich durch das Labyrinth von Ballen, Schreibtischen und Bureauschranken durchwindet, und uns auf unseren schüchternen Gruß, dem eine Entschuldigung wegen unserer ungelegenen Störung nachhinkt, erwiedert, wir hätten uns nicht geirrt, es sei dies ganz richtig das Seidenwaarenlager, welches wir zu sehen gewünscht; ein Waarenlager, von dem uns früher ein glaubwürdiger Kaufmann versichert hatte, daß in demselben durch’s Jahr nicht weniger denn um 100,000 L. Strlg. Geschäfte gemacht werden.

Lassen Sie uns offen gestehen, daß wir beim Anblick dieser geschäftslosen Stille gegen die Angaben unseres befreundeten Kaufmannes Mißtrauen zu fühlen anfangen. Aber wir sollen bald in die Lage kommen, ihm Abbitte zu thun.

Die wurmstichige Thüre, durch die wir hereingekommen waren, öffnet sich wieder, und in die Stube tritt bedächtigen Schrittes ein Mann mit sorgfältig gebürstetem Hut, tadellosen Vatermördern und elegantem Frack, grüßt, frägt den Herrn des Schreibtisches wie es ihm gehe, zieht dabei langsam einen Handschuh aus, spricht über’s schöne Wetter, Alles als ob er blos dieser wichtigen Sachen wegen gekommen wäre, und deutet zuletzt, so nebenbei in Parenthese, so wie mit einer Art von Postscriptum, auf einen Stoß von Seidenstoffen, und frägt einfach:

„Die Nummer, Sir?“

„Zwei und Sieben,“ antwortet der Verkäufer. „Wie viel Stück soll ich bei Seite legen?“

„Fünfzig. Apropos, haben Sie gehört, daß unser Mr. Smith von uns fortgeht? Sonderbarer Mensch. Nun, guten Morgen, Mr. Bradelle.“ Ein Hutlüften für uns, und hinaus ist er zur Thür.

„Das ist einer unserer stärksten Kunden,“ bemerkt Mr. Bradelle.

„Ein Kunde? Nennen Sie das einen Kunden?“

„Ja wohl, Sie waren ja eben gegenwärtig, wie er fünfzig Stück Seidenzeug von gut assortirten Couleurs aussuchte.“

„Nun wahrhaftig, vom Aussuchen haben wir nichts gemerkt. Und was sagten Sie ihm mit Ihrem räthselhaften Zwei und Sieben?“

„Das war der Preis. Zwei Schilling und sieben Pence das Yard. Jedes Stück hält deren vier und achtzig.“

„So hat denn Ihr Kunde in dieser Schnelligkeit – lassen Sie uns sehen – beinahe um sechstausend Gulden Waare gekauft? Ohne Feilschen, ohne die Qualität zu untersuchen, ohne Ihren Artikel herunterzumachen. Herr, wie kömmt das?“

„Unser Geschäft“, erläutert Mr. Bradelle, „ist nach einem Prinzipe organisirt, das uns gestattet, mit möglichst wenigen Worten und in möglichst kurzer Zeit unsere Geschäfte abzumachen. Der Herr, der eben hier war, ist der Seideneinkäufer für Treacy u. Comp. Die Seideneinkäufe dieser großen Firma sind diesem Herrn so ganz und so unbeschränkt anvertraut, als wäre das Geschäft sein eigenes. Andere Individuen besorgen auf gleiche Weise den Einkauf von Wolle, Baumwolle, Cottonen u. dgl. Am Ende eines jeden halben Jahres legen sie ihrer Firma Rechnung ab, und wird durch die Bilanz nachgewiesen, daß das Zweiggeschäft, in dem der Eine oder Andere verwendet wird, nicht florirt hat, so wird die Stellung desselben gefährdet. Die Prinzipale wissen es ganz genau, und können es schwarz auf weiß nachweisen, ob die Schuld an der Geschäftsconstellation oder am Verkauf, oder endlich am verfehlten Einkauf gelegen war. Hat im entgegengesetzten Falle der Einkäufer den Geschmack des Publicums getroffen, war er geschickt genug, die gangbarsten Muster auszuwählen, und hat er überhaupt preiswürdig eingekauft, indem er z. B. die Geldverlegenheiten eines Fabrikanten oder eine französische Reise zu benützen verstand, (denn er darf die heimische und auswärtige Politik keinen Augenblick außer Augen lassen), und zeigt es sich auf die eine oder andere Weise, daß er bei der halbjährigen Abrechnung seinem Hause einen guten Profit eingebracht hat, dann ist für ihn die Chance vorhanden, daß sein Gehalt erhöht wird. Trifft sich das zwei-, dreimal, dann bekömmt er überdies noch Prozente vom Gewinn.“

„Alles recht, aber der Mann hat ja Ihre Waare, wie die Katz’ im Sack gekauft. Er hat sie ja nicht eines Blickes gewürdigt.“

„Das ist eben das Resultat langer Praxis und Erfahrung. Das ist die Kunst, seine Kunst zu verbergen. Der Mann, den Sie hier gesehen haben, der – glauben Sie mir – braucht meine Artikel nicht erst anzusehen. Der kennt meine Farben bis in die letzte Nuance und die Qualität meines Fabrikates bis in die Einschlagfäden hinein.“

„Aber der Preis, lieber Herr! Wir dürfen doch wohl vermuthen, daß Ihr Kunde von hier aus noch andere Magazine von Spitalfields besucht. Während wir hier reden, hat er seine Firma vielleicht schon in eine neue Schuld von ein paar tausend Pfund hineingerannt?“

„Sehr wahrscheinlich!“

„Nun wohl. Nehmen wir den Fall an, Ihr Nachbar offerirte ihm dieselbe Gattung von Seidenstoffen, in gleich guter Farbe und Qualität wie die Ihrigen, um einen niedrigeren Preis, könnte er da nicht – da Sie doch nichts Schriftliches in Händen haben – die eben gemachte Bestellung absagen?“

„Zu spät,“ antwortete Herr Bradelle, und nimmt dabei eine Lamartine’sche Stellung an, die den Franzosenabkömmling durchblicken läßt – „zu spät! Der Verkauf ist abgeschlossen, und kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Der Abschluß ist so sicher, als ob er auf Pergament geschrieben und durch ein Dutzend Zeugen bekräftigt wäre. Des Einkäufers Existenz und die meinige beruhen auf der gewissenhaften Einhaltung unserer Verbindlichkeiten. Heute Nachmittag schicke ich ihm seine Ballen, und ich sehe die Kassenanweisung so deutlich vor mir wie den Zinstag.“

Sieht man diese Art der Geschäftsführung, die ungeheuren Capitalien, welche umgesetzt werden, die reichen Lager von Atlassen, Taffeten, Brokatstoffen, Damast und anderen Seidenzeugen, und hört man dagegen den oft genug ertönenden, herzdurchbohrenden Schrei der Armuth, der sich, wie ein Nothschuß an den Meeresklippen, an den Steinpalästen des Westendes bricht, wenn er aus dem Quartier der Noth überhaupt in das Quartier der Eleganz je hinüberreicht, dann weiß man wahrlich kaum, wie man diese beiden Gegensätze in Gedanken neben einander ordnen soll. Lassen Sie darüber unseren nüchternen Freund Bradelle sprechen. Er scheint die Sache zu verstehen, und äußert sich darüber folgendermaßen:

[15] "Obwohl der größte Theil der Meister in diesem Viertel ihr Hauptquartier aufgeschlagen hat und die Weber desselben beschäftigt, haben daneben doch beinahe alle ihre Factoreien in den Provinzen, hauptsächlich in Lancashire. Die Weber von Spitalfields können in der Herstellung von Sammt und glatten Seidenstoffen unmöglich gegen die billigeren Arbeitslöhne und die potenzirte Kraft der Maschinen ankämpfen. Sie krümmen sich unter dem Drucke einer unverhältnißmäßig großen Uebermacht. Wollen Sie ein paar Schritte um die Ecke machen? Dort können Sie mit eigenen Augen eine Familie in diesem hoffnungslosen Kampfe begriffen sehen."

"Und ist keine Hülfe möglich?" fragen wir, indem wir zusammen die Treppe hinabsteigen.

"O ja," lautet die Antwort. "Auf dem Lande, z. B. in Suffolk, wo wir eine Fabrik für Handweber errichtet haben, gibt es bessere und billigere Nahrung, für die Lungen sowohl wie für den Magen."

"Sie meinen wohl, die bessere Luft würde das viele Trinken ersparen?"

"Allerdings. Denken Sie sich den ganzen Tag über in eine dumpfe Stube eingeschlossen, wie da Ihr Körper nach vierzehnstündiger Einathmung einer schlechten, ungesunden, mit Miasmen aller Art geschwängerten Atmosphäre zusammenknicken würde - daneben die harte Arbeit selbst; und bedenken Sie auch, was für Selbstverläugnung dazu gehören müßte, sich vom Genusse eines stimulirenden Getränkes - eines Glases schlechten Wacholderbranntweins allenfalls - zu enthalten. Andrerseits aber hat man die Erfahrung gemacht, daß die frische Luft, die um den Webestuhl auf dem Lande weht, allein genügt, den Arbeiter zu kräftigen, und ihm den Branntwein zu ersetzen."

"Die Londoner Luft soll, wie man sagt, dem Fabriksarbeiter an und für sich schädlich sein. Ist das wahr?"

"Du lieber Gott", erwiedert Herr Bradelle, und bleibt, sich auf seinen Stock stützend, eine Minute stehen, "die beiden schweren Nebeltage im December Anno fünfzig waren für unsere Firma ein reiner Verlust von hundert Pfund Sterling. Der schwarze Gott sei bei uns, der doch in der ganzen Welt weiter nicht so schwarz als in London zu finden ist, fraß sich in die weißen Atlasse hinein, und trotz aller Vorsicht unserer Arbeiter sahen sie am nächsten Tage grau wie Trauerstoffe aus. Zwölf Stunden später, und sie waren ärger als grau: schmutzig, fuchsig, unverkäuflich. Man konnte sie nicht einmal mehr anständig färben. Zufällig hatte ich eine Bestellung abzuliefern; da schickte ich nach unserm Etablissement in Suffolk, um die Lücke auszufüllen, und sieh' da, meine weißen Atlasse an demselben Tage wie die in London gearbeitet, kamen herein weiß wie gefallener Schnee." – –

Mr. Bradelle's einfache, schlichte Erzählungsweise gibt Stoff genug zum Nachdenken, nicht allein über das Schicksal der arbeitenden Classen in London, sondern in allen Fabrikstädten überhaupt. Wenn man bedenkt - und wir wollen unsere Reflexionen nicht über Spitalfields hinausschweifen lassen, - wenn man bedenkt, wie viel der Arbeiter und dessen Erzeugnisse durch die unpassende Lage seiner Arbeitsstube zu leiden haben, muß es geradezu unbegreiflich scheinen, daß die Weber selbst nicht alles Mögliche aufbieten, aus dieser beeinträchtigenden, schädlichen Atmosphäre hinauszukommen, zumal da ihre Arbeitgeber sie dabei gerne unterstützen würden.

Vierzehn bis siebzehntausend Webestühle stecken in den eilf- oder zwölftausend Häusern von Spitalfields, obwohl in diesem Augenblicke kaum mehr denn neun- bis zehntausend davon im Gange sind. Durchschnittlich stehen siebzehn solcher Häuser auf einem (engl.) Acker Landes, während die Durchschnittszahl im übrigen London ungefähr fünf und ein Fünftheil per Acker beträgt. Somit hat Spitalfields die bei weitem gedrängteste Bevölkerung. Innerhalb seiner beschränkten Grenzlinie leben nicht weniger als 85,000 Menschen eingepfercht.

"Aber," sagt Freund Bradelle, "unsere Weberfamilien sind so sehr in einander verschlungen, so sehr durch Verschwägerung, Freundschaften, Vorurtheile und Schulden an dieses Quartier gekettet, daß sie, trotz aller Vorschläge ihrer Arbeitgeber, ihnen Wohnungen auf dem Lande zu verschaffen, es bis auf den heutigen Tag vorgezogen haben, in diesem elenden Stadtwinkel ihre wahrhaft unglückliche Existenz fortzuführen. Spitalfields war die Nekropolis Londons zu Zeiten der Römer. Die officiellen Todtenlisten weisen nach, daß es die habgierigste Grabstätte des modernen Londons ist. In diesem Quartier ist die Sterblichkeit größer als in irgend einem Kirchspiel unserer Hauptstadt." – –

Und wie fremdartig die Straßen aussehn! Diese hohen schornsteinähnlichen Häuser, mit den vielen Fenstern in den obern Stockwerken, - sehn sie nicht wie die Häuser einer fremden Stadt aus, mit Ausnahme des Rußes, der ihnen sehr verschwenderisch zugetheilt ist? Beinahe könnte man glauben, die flüchtigen Hugenotten hätten ihre Wohngebäude und Straßen mit sich über's Meer genommen, und sie hier wieder aufgebaut. Und diese Menge kleiner Kramläden! Wozu denn diese alle offen sein mögen? Es ist ja nichts zu verkaufen darinnen! Ein paar kleine Bündel Holz zum Feueranmachen um einen halben Penny, ein Kinderdrache um einen halben Penny; ein Lederball um den vierten Theil eines Penny, das heißt hier ein Laden. Eßwaaren tragen ihren Werth in sich selber, die braucht man nicht erst auszustellen. Mögen die Brotlaibe noch so schwammig sein, noch so schmutzig übereinander in des Bäckers Laden hängen, am Ende ist's doch Brot, und das ist die Hauptsache. Ochsenleber, Talglichter und Kalbsköpfe, gräulich marmorirte Würste und sandige schwarze Kuchen sind auch ohne Verzierung sehr lockende Artikel, nach denen die Mäuler von Spitalfields lüstern sein würden, und wären sie auch noch viel häßlicher und unschmackhafter als sie sind. -

"Aber sieh' da, auch in diesem Quartier des Elends ein Stück Literatur! kauft denn der Arme diese alten, erbärmlich colorirten Blätter und schmutzigen Holzschnitte, die dort am Ladenfenster angeklebt sind? Setzt er sich nach vierstündiger Arbeit an’s Kohlenfeuer hin, um diese abscheulichen Machwerke durchzulesen, um sein sorgenverzehrtes Herz mit diesem Abhub französischer und englischer Literatur aufzufrischen?"

"Ich kann's Ihnen wahrhaftig nicht sagen," erwidert Mr. Bradelle, "wir wissen sehr wenig von ihrem häuslichen Treiben. Sie leben unter sich abgeschlossen, und sind unser Einem gegenüber sehr argwöhnisch. Einmal [16] haben wir's versucht, Handwerker-Institute zu gründen, aber sie wollten niemals recht gedeihen."

"Ist denn keine Schule im Kirchspiel?"

"Ja wohl, wir stehen eben davor."

Das ist ein altes Gemäuer, eingepfercht zwischen andern Mauern, düster, unheimlich, raumbeengt. Zur ebenen Erde eine Art Kleinkinderbewahranstalt, wo die Kleinen sich gähnend die schmutzigen Nasen reiben, oder in den schlechtgepflegten Haaren kratzen. Elementarschüler - daß Gott erbarm’ - im ersten Stockwerk. Und darüber unter’m Dach eine breite, lange, niedrige, lichte Stube, das ist die höchste Classe, die sogenannte ragged school (die Lumpenschule).

"Verhüt’ es der Himmel," seufzt Herr Bradelle, "daß alle diese Jungen Weber, und all’ diese kleinen Mädchen ihre Weiber werden. Wir vermehren uns nicht allzusehr - fährt er nach einer Pause fort - der Eine wird Soldat, der Andere Matros, und Mancher wandert aus. Und die Eltern dieser Kinder! Wollen Sie ein Stück Elend sehen? Treten Sie mit mir in diesen Thorweg ein."

Eine enge Wendeltreppe hinauf, wie man sie in Lyon und in den ältesten Stadttheilen von Edinburg sieht - ein Strick als Geländer - statt der Teppiche Schmutz - Gestank statt der Luft - eine wacklige Thüre - kein Schloß - eine graue nackte Stube - vier Webstühle - vier Menschen, von denen drei emsig arbeiten - wir sind am Ziele.

Ein blasser hohläugiger Mann, der in Hemd und Unterhosen arbeitet, läßt seinen Webstuhl bei unserem Eintritt stille stehen. Er ist der Herr der Stube, ein Irländer von Geburt.

"Guten Morgen, Meister!"

"Guten Morgen, Gentlemen!" und fährt mit einem löchrigen, abgeschossenen Cattuntuch über sein unrasirtes Kinn und den mächtig hervorspringenden Kehlkopfsknorpel.

"Wir wandern eben durch Spitalfields. Wollt Ihr uns erlauben, Eure Arbeit anzusehen?"

"O gewiß."

"Ihr habt da etwas Schönes eingespannt. Schwarzen Sammet, he?"

"Ja, Herr. Und jedesmal, wenn ich das Schiffchen werfe, schneid' ich hier den Draht ab und leg’ ihn dort wieder ein. So - - jetzt können Sie’s sehn." - Der Stuhl rauscht und knarrt, der Arbeiter sieht uns mit seinen hohlen Augen an.

"Das ist eine langsame Arbeit."

"Ja wohl langsam." - Wieder ein Blick auf uns, und dabei ein rauher, trockener Husten.

"Und auch eine schwere Arbeit?"

"Ja wohl schwer" - und wieder der schreckliche Hustenton. Nach einer Weile, als er bemerkt, daß uns seine Arbeit interessirt, hält er wieder inne, und die Hand auf die schmale Brust legend, sagt er mit forcirter lauter Stimme - denn er ist gewohnt, das Klappern seines Webstuhls zu überschreien -

"Das greift die Brust an, meine Herren, so seine vierzehn bis fünfzehn Stunden in Einem fort vorwärts gebeugt liegen."

"Arbeitet Ihr denn so lange?"

"Glücklich, wenn ich kann. Ein Tagwerk, wie das hier, ist seine drei Schilling werth."

"Also achtzehn Schilling die Woche?"

"Ja, wenn’s immer wär’! Aber’s ist nicht immer. Eine Woche in die andere gerechnet, kommen auf jede wohl zehn Schilling bis zehn Schilling und sechs Pence."

"Ist das Mr. Bradelle’s Stuhl?"

"Ja Herr, und der andere auch, der dort feiert."

"Und der zweite, an dem Ihr Kamerad arbeitet?"

"Gehört einer andern Partei. Der junge Mensch zahlt mir einen Schilling wöchentlich, daß ich ihn bei mir arbeiten lasse, und der Schilling kömmt bei der Hausmiethe zu gut. Ist nicht wohlfeil meine Herren. Eine halbe Krone (21/2 Schill.). Aber dafür ist die Stube auch groß --"

"Und am andern Stuhl? Ist das Ihre Frau?"

"Ja, das ist mein Weib. Sie arbeitet in ordinäreren Sorten, für Hauben und dergleichen."

Und wieder klappert und schnarrt der Webstuhl. Und wieder liegt der hagere Mann über den Holzcylinder gebeugt.

Am Fenster neben ihm hängt ein alter Vogelbauer mit einem Zeisig darin. Der schreit und zwitschert, wenn der Webstuhl in Bewegung gesetzt wird, und schweigt, wenn Letzterer stille steht. Wahrscheinlich ist der Webstuhl seinen Ohren ein musikalisches Instrument. Das Fenster selbst, schlecht verschlossen und nothdürftig mit Papier verklebt, gewährt eine weite Aussicht über die Dächer der Nachbarschaft, über Ziegel, Giebel, Erker, Rinnen und ein Labyrinth von thönernen Schornstein-Aufsatzröhren. Mühsam winden sich die Strahlen der blassen Londoner Lügensonne durch alle diese Hindernisse, die ihr im Wege stehen, in Rauch und Nebeldunst bis zum schmalen Fenster hin. Ein vereinzeltes Strahlenbüschel hat eben den Weg in die Stube gefunden; es gleitet über das fahle Angesicht des Webers, um es noch fahler zu machen, und wirft ein Lichtbild, das sich wie ein Lanzenschaft ansieht, auf den holprigen Bretterboden.

Unsre Athmungsorgane fangen allmälig an, die Wirkung der eingesperrten, dumpfen Luft zu spüren. Und doch sind wir kaum zehn Minuten in der Stube! Das mögen zum Theil auch die Bettstücke machen, die in einem Winkel über einander liegen. Daneben der Kamin, ein, zwei Stühle, ein Kohlenbehälter, ein Wasserkessel, ein lederner Krug. Wo sollten auch Bettstellen und andere Möbel stehn, selbst wenn sie der Weber besäße? Die Webstühle, als Nährväter der Familie, nehmen jeden Fuß breit Raum für sich in Anspruch, und haben ihn auch. Wie böse Zauberer, die Gold und Schätze liefern, müssen sie durch alle möglichen Aufmerksamkeiten beschwichtigt werden; und müssen die Kinder - dieser unförmliche, wasserköpfige Säugling z. B. den sein älterer Bruder im Arm hält - sich von ihnen in die Ecke drängen lassen, mögen sie im Gang sein oder nicht. Nur des Nachts gestatten die stillstehenden Ungeheuer, daß die Kinder zwischen ihrem hölzernen Untergestelle ruhen. Die klappernden Töne der Webstühle begrüßen sie, wenn sie aus dem Mutterleibe kommen, und sind oft ihr Grabgeläute.

"Haben Sie noch andere Kinder außer diesen beiden?" fragen wir die Frau, die emsig fortgearbeitet hat.

[17] „Ich hatte ihrer acht. Sechs sind noch am Leben, Herr.“

„Da haben wir vielleicht ein paar von ihnen gesehen, drüben in der – –“

„In der Lumpenschule, ja wohl! ’S sind vier von den unsrigen drüben.“ Und dabei sieht uns das arme Weib stolz an, mit einem entschiedenen Mutterstolze; des Namens der Schule schämt sie sich nicht im Mindesten; sie arbeitet ja, arbeitet um’s tägliche Brot für ihre Kinder; ist keine Bettlerin; um Alles in der Welt nicht; braucht sich daher nicht zu schämen. – Jetzt läßt sie ihren Stuhl ein wenig ruhen. Der junge Arbeiter und der Hausherr thun dasselbe.

„Webers Kinder sind bei’m Webstuhl geboren, meine Herren“ – hebt der Alte aus dem Stegreif an, und aus seinem tiefliegenden Auge fliegt ein freundlicher Strahl, und über die schmale Unterlippe fliegt ein zärtliches Lächeln, als er auf die beiden Kinder blickt, die sich bis hart an seinen Stuhl herangeschleppt hatten – „so ein Webers Kind ist mit dem Klappern aufgewachsen, kennt nichts weiter auf der Welt, wird groß und stark, und wenn’s Gottes Wille ist, wird’s auch da krank und stirbt da.“ Und wie der Alte sein Sprüchlein gesagt, fängt er wieder zu weben an, und die Andern fallen im Chorus ein.

„Die Arbeit dieser Leute, Mr. Bradelle – sie können uns in dem Lärm doch nicht hören, wenn wir leise sprechen?“

„O nein.“

„Erfordert wohl nur wenig Geschicklichkeit?“

„Sehr wenig. Macht’s gerade so, wie’s sein Großvater gemacht hat. Ist auch gar nicht zu bewegen, die kleinste Aenderung - das Fliegschiffchen zum Beispiel - einzuführen, um das Zusammendrücken der Brust, worüber er so eben geklagt hat, zu vermeiden. Gegen den alten Brauch vermögen wir mit dem besten Willen nichts. Das arbeitet sein Lebelang auf der Stube, in einer eingeengten Atmosphäre statt in einem luftigen, gesunden Fabrikslocale. Man schiebt die Schuld so leicht auf uns Fabriksherren. Aber versuch’ da eine Aenderung wer kann. Ich kann’s nicht. Wenn ich – –“

Herr Bradelle schweigt. Er muß schweigen, denn plötzlich zittert das Haus vom Erdgeschoß bis zum Dach. Ein Donnerwetter fährt über unsere Köpfe hin. Ist’s ein Erdbeben, ein Gewitter? Oder hat sich ein Vulkan im Herzen Londons aufgethan? Wie das schwankt und zittert!

„’S ist blos die Eisenbahn, Sir,“ ruft uns der junge Arbeiter zu, der unsern Schreck bemerkt hat.

Knapp am Hause vorbei ist nämlich ein Bogen jener Bahn gespannt, die nach Blackwall und um den nördlichen Stadtrayon führt; über dem Dach hinweg läuft der Telegraphendraht; die Locomotiven mit ihren gewichtigen Trains laufen vor den Fenstern vorbei und erschüttern die Häuser der Armen bis in ihre Grundmauern. Halb London rauscht im Laufe des Jahres vor ihrem Elend vorbei. Die Schätze Indiens aus den Westindia-Docks fliegen vor ihren Augen vorüber in den Alles verschlingenden Abgrund, den man London nennt. Der arme Weber steht am Stuhl; hier ist er geboren, hier lebt, hier stirbt er. –

Das Sonnenlichtbild am Boden ist mittlerweile verschwunden. Die Sonne selbst ist untergegangen, es wird rasch finster, und wir verlassen die Arbeiterstube, wo Jedes jetzt sein kleines Lämpchen auf einem Drahthaken am Webstuhl aufhängt, um die nächtliche Arbeit zu beleuchten. Die Schatten der Stühle zeichnen sich scharf an den Wänden ab. Der Zeisig im Käfig ist stille geworden, steckt den Kopf zwischen seine beiden Flügel, und schickt sich zur Ruhe an. Der wasserköpfige Säugling liegt auf dem Schooße seines Bruders und dieser kauert am Kamin und glotzt gedankenlos in die ersterbende Glut. Der Kohlenbehälter ist leer. Es scheint, als ob’s mit dem Feuer heut’ zu Ende ist.

Wir stehn mit unserm Begleiter wieder auf der Straße. Die eben mitangesehene Leidensscene war wohl geeignet uns schweigsam zu machen. Mr. Bradelle ist der Erste, der das Schweigen bricht.

„Die Schwankungen im Seidengeschäft“ – bemerkt er in seiner gewohnten ruhigen Redeweise – „und im naturgerechten Zusammenhange mit denselben die Lage der Weber in Spitalfields erscheinen gar plötzlich und ohne daß man sie vorhersehen kann, denn sie hängen von einer Masse unberechenbarer Ursachen ab. Nehmen wir zum Beispiel die letzten vier, fünf Jahre – –“

„Aber gleicht sich die Sache nicht in einer Reihe von Jahren aus? Waren diese Schwankungen bedeutend?“

„Bis zum Extreme, wie Sie gleich hören sollen. Im Jahre 1846 waren die Preise der rohen Seide sehr niedrig. Die Fabrikanten kauften zusammen so viel sie konnten, und ließen aufarbeiten was sie aufgebracht hatten. Da war keine Hand unbeschäftigt, da feierte kein einziger Stuhl. Die aufgehäuften Vorräthe waren enorm; die Seide stieg. Das war im Jahr 1847, und nun trat eine Stockung ein.“

„Entschuldigen Sie, Mr. Bradelle, daß wir Sie unterbrechen. War’s nicht zu jener Zeit, als der große Nothschrei von Spitalfields sich durch’s ganze Land hörbar machte, und Meetings zur Abhilfe der Noth veranstaltet wurden?“

„Ja wohl. Durch einen Streit der großen Detailhandlungen mit den Seidenfabrikanten und en gros Verkäufern war damals die Stockung noch verlängert worden. Sie werden sich erinnern, es handelte sich um’s Ellenmaß (die short measure question, die nicht blos England, sondern das ganze südliche Europa berührte). Die Detailhändler wollten, daß unser Yard[1] sieben und dreißig Zoll halten solle, und das ganze Herbstgeschäft war durch diesen Streit verhunzt. Dem war kein Ende bis zum Ausbruch der Pariser Februar-Revolution. Jetzt rannten unsere Großhändler und Detailkaufleute aus dem Westend schaarenweise, mit ungeheuern Fonds versehen, nach Paris und Lyon hinüber. Der Schrecken war den französischen Kaufleuten in alle Glieder gefahren. Sie verkauften um jeden Preis. Es galt eben nur, ein Angebot zu machen. Dadurch öffneten sich für uns Engländer zwei verschiedene Wege. Die Groß- und Detailhändler hatten freilich eine schwere Last gearbeiteter Seidenwaaren herübergebracht, aber wir Fabrikanten waren auch nicht müßig, und kauften in Frankreich die rohe [18] Seide auf, fünfzehn und zwanzig Procent wohlfeiler als ich mich mein Lebelang gekauft zu haben besinnen kann. Was halten Sie, meine Herren, vom feinsten französischen Organsine (gezwirnte Seide), das Pfund zu einer Guinee?“ –

„Solche Preise“ – fährt unser gelehrter Cicerone[WS 1] fort – „setzen uns in den Stand, auf Vorrath arbeiten zu lassen, und als im Jahre 1849 die französischen Lager erschöpft waren, da kamen die unsrigen an die Reihe. Da hatten wir freies Spiel. Und in der That konnte das ganze Jahr hindurch kein Fabrikant des Continents mit dem englischen in Concurrenz treten.“

„Haben sich denn die französischen nicht erholt gehabt?“

„Den Teufel haben sie sich erholt“ – und Mr. Bradelle geräth allmälig in einen industriell-schwärmerisch exaltirten Zustand – „freilich haben sie sich erholt, aber es hat ihnen wenig geholfen, diese Erholung von der Revolution. Wir hatten ja beinahe ihren ganzen Vorrath an Rohseide in Händen, und als die Erholung anfing, hatten sie kein Material zu verarbeiten, und kamen factisch zu uns herüber – die revolutionairen Schlucker! – und mußten ihre eigene Rohseide von uns zu zwanzig und fünfzig Procent theurer zurückkaufen. Von dieser Zeit an ist unsere Waare gestiegen, die Arbeit hat sich vermehrt, so daß während des größten Theils des Jahres fünfzig die meisten Weber von Spitalfields reichlich zu thun hatten.“

„Da muß also, nach dem logischen Kreislauf wieder eine Ueberfüllung von Fabrikaten eingetreten sein?“

„Allerdings. Das und die höheren Rohseidenpreise drückten auf’s Geschäft, so daß ich allein nahe an hundert Stühle feiern lassen mußte. Das geht nun einmal nicht anders. Darauf muß der Fabrikant gefaßt sein.“ – –


  1. Englisches Fuß-Maß.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Person, die andere durch eine ihnen unbekannte Umgebung führt und sie erklärt (Quelle: Wiktionary)