Ein Vorläufer des Dynamitkönigs

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Autor: Walther Kabel
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Titel: Ein Vorläufer des Dynamitkönigs
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aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1914, Sechster Band, Seite 215–219
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart, Berlin, Leipzig
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[215] Ein Vorläufer des Dynamitkönigs. – Als Entdecker der modernen Sprengmittel, besonders des Dynamits, wird stets Alfred Nobel genannt, jener schwedische Chemiker, der mit den von ihm zusammengestellten Vernichtungsstoffen ein Vermögen von fünfunddreißig Millionen Mark erwarb, dessen Zinsen er jedoch in hochherziger Weise zum größten Teil laut Testament für die sogenannten „Nobelpreise“ bestimmte. Nach den neuesten Forschungen des englischen Professors Shellerhouse scheint es jedoch, als ob bereits vor Nobel ein anderer, und zwar ein französischer Chemiker, die Zusammensetzung und Wirkung des obengenannten furchtbaren Explosivstoffes gekannt [216] haben muß. Über die näheren Schicksale dieses Mannes hat Professor Shellerhouse folgendes ermittelt und vor kurzem in einer Londoner Fachzeitschrift veröffentlicht.

Im Jahre 1851 wurde der in einer staatlichen Pulverfabrik in Paris beschäftigte, vierzigjährige Chemiker Bernhard Saltome wegen politischer Umtriebe zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, entfloh jedoch nach England, wo er in dem Londoner chemischen Laboratorium der Firma Barmey & Co. eine Anstellung fand. Direktor des Laboratoriums war damals der später als Erfinder vieler pharmazeutischer Präparate berühmt gewordene Dr. Mattison. Diesem vertraute Saltome nach einiger Zeit an, daß er sich seit längerem mit der Vervollkommnung eines von ihm erfundenen Sprengstoffes beschäftige, der dem Pulver an Explosivkraft unendlich überlegen sei. Dr. Mattison, der wohl fürchten mochte, daß Saltome in dem Laboratorium irgendwelche nicht ganz ungefährliche Versuche anstellen könnte, verbot seinem Untergebenen jede private Beschäftigung innerhalb der Fabrikräume aufs strengste, zeigte aber sonst für Saltomes Experimente ein lebhaftes Interesse und wußte ihm auch von einigen Großindustriellen eine regelmäßige Geldunterstützung zu verschaffen, so daß der Franzose in der Lage war, sich in dem Orte Greenford westlich von London ein eigenes kleines Laboratorium auf offenem Felde, ziemlich entfernt von allen menschlichen Behausungen, anzulegen, wo er sich dann in seiner freien Zeit ständig aufhielt und an seiner Erfindung weiterarbeitete.

Woraus Saltome den neuen Sprengstoff herstellen wollte, verriet er niemand. Nur daß er viel mit dem 1847 von Sobrero entdeckten, überaus gefährlichen Nitroglyzerin arbeitete, erfuhr Dr. Mattison zufällig, was ihm Gelegenheit gab, den Franzosen nochmals zur größten Vorsicht zu ermahnen. Wie recht er mit diesen seinen Warnungen gehabt hatte, zeigte sich bereits kurze Zeit darauf. Im Mai 1852 wurde London von überaus schweren Gewittern heimgesucht, und am 23. Mai schlug dann während der Nacht ein Blitz in Saltomes kleines Laboratorium ein, steckte das Häuschen in Brand, so daß der Franzose, der dort gerade wieder übernachtete, kaum Zeit [217] fand, in dürftiger Kleidung ins Freie zu flüchten. Als er etwa zweihundert Meter weit gekommen war – er wußte nur zu gut, daß jeden Augenblick eine Explosion erfolgen mußte, da in dem Laboratorium bedeutende Mengen seines neuen Sprengmittels lagerten – erfolgte eine furchtbare Detonation. Saltome wurde eine Strecke weit fortgeschleudert, flog gegen einen Baum und blieb bewußtlos liegen. Die ganze Ortschaft Greenford geriet in Aufregung. Alle Leute verließen ihre zum Teil zerstörten Häuser, da man allgemein annahm, daß es sich um ein plötzliches Erdbeben handelte. Erst am Morgen vermochte man den ganzen Umfang der Verheerungen, die die Explosion angerichtet hatte, zu übersehen. Das Laboratorium war vollkommen von der Erde fortgefegt. Die Stelle, wo es gestanden hatte, kennzeichnete nur noch ein mehrere Meter tiefes Loch im Boden. Alle dem Laboratorium zunächstliegenden Baulichkeiten waren schwer beschädigt, und in ganz Greenford gab es auch nicht eine einzige unversehrte Fensterscheibe. Erst nach Stunden fand man den noch immer bewußtlosen Franzosen auf, dem mehrere Rippen eingedrückt waren.

Zwei Monate lang lag Saltome in einem Londoner Krankenhaus schwer darnieder. Inzwischen hatten die Hausbesitzer Greenfords gegen ihn Klage auf Schadenersatz angestrengt. Da er nichts besaß, konnte er die berechtigten Forderungen der Kläger nicht befriedigen. Außerdem griff auch noch der Strafrichter ein und erhob gegen ihn Anklage wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Nur der Vermittlung seiner Gönner hatte Saltome es zu verdanken, daß er nicht ins Gefängnis wandern mußte.

Ein halbes Jahr darauf finden wir den Franzosen im Besitze eines neuen Laboratoriums, das er sich auf der winzigen, ganz unbewohnten Insel Mellertin im Kanal errichtet hatte, und zwar wieder mit Hilfe derselben Londoner Großkaufleute, die ihn schon früher mit Geld unterstütz hatten und gerade durch die furchtbaren, von dem Explosivstoff angerichteten Verheerungen zu der Überzeugung gelangt waren, daß Saltomes Sprengstoff, wenn er erst genügend verbessert wäre, eine große Zukunft haben müsse. Auf Mellertin hauste der Franzose ein [218] ganzes Jahr allein, fortwährend und unermüdlich mit den lebensgefährlichen Stoffen experimentierend. Nur bisweilen empfing er den Besuch Dr. Mattisons, der ihm seine Freundschaft bewahrt harte. Saltome lebte in der anspruchslosesten Weise. Alles Geld, das man ihm spendete, ging für seine Chemikalien und die nötigen Apparate drauf. Am 5. Januar 1854 hat Dr. Mattison den Franzosen dann zum letzten Male gesehen. Saltome war zu ihm nach London gekommen und hatte ihm freudestrahlend mitgeteilt, daß er jetzt am Ziel sei. Er habe einen festen Sprengstoff hergestellt, der das wegen seiner allzu leichten Explosionsfähigkeit für die Praxis unverwendbare Nitroglyzerin noch bedeutend in der Wirkung übertreffe, sich dabei aber nur unter bestimmten Bedingungen entzünden, vollständig gefahrlos handhaben und transportieren lasse. Weiter erklärte der Franzose, daß seinen neuen Sprengstoff nunmehr einer wissenschaftlichen Kommission zur Begutachtung vorlegen und dann im großen fabrizieren lassen wolle. Er machte auch einige Andeutungen über die Bestandteile des Sprengmittels, ohne Dr. Mattison jedoch völlig in die Einzelheiten einzuweihen.

Vier Tage später hörten Fischer, die abends in der Nähe von Mellertin an der englischen Küste ihre Netze auswarfen, einen lauten Knall. Am nächsten Morgen war von einer menschlichen Behausung auf der kleinen Insel keine Spur mehr zu entdecken. Saltome war mitsamt seinem Laboratorium in die Luft geflogen. Von seinem Leichnam wurde auch nicht der kleinste Fetzen gefunden.

Professor Shellerhouse sagt am Schluß seines Artikels: „Für mich unterliegt es keinem Zweifel, daß Saltome bereits im Jahre 1854 das Geheimnis der Herstellung des später Dynamit genannten Sprengmittels durch Mischung von Nitroglyzerin mit einem dieses völlig aufsaugenden und gebunden haltenden Stoff entdeckt hat und somit der Vorläufer Alfred Nobels gewesen ist, der zwölf Jahre später auf dieselbe Weise das erste Dynamit bereitete. Denn aus den nachgelassenen Aufzeichnungen Dr. Mattisons läßt sich unschwer entnehmen, daß die Andeutungen, die der Franzose diesem gegenüber [219] hinsichtlich des neuen Explosivstoffes machte, einzig und allein auf eine in seiner Zusammensetzung dem heutigen Dynamit ähnliche Mischung hinzielen sollten. Saltomes Name und sein tragisches Geschick sind schnell vergessen worden. Die Welt weiß nichts mehr von diesem Manne, der vielleicht einst ebenso von Reichtümern und Ehren geträumt haben mag wie jeder einer besonderen Idee nachjagende Erfinder, und dessen endliches Los es war, den eigenen Körper durch seine Erfindung in Atome zu zerstäuben.“

W. K.