Ein alter Liebling der deutschen Jugend

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Autor: Friedrich Hofmann
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Titel: Ein alter Liebling der deutschen Jugend
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aus: Die Gartenlaube, Heft 15, S. 229, 230–234
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Johann Karl August Musäus
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[229]

Musäus sammelt Märchen.
Originalzeichnung von C. E. Döpler.

[230]
Ein alter Liebling der deutschen Jugend.


Unter den Männern, welche das Weimar der Herzogin Amalie und ihres Sohnes Karl August zum strahlendsten Glanzpunkt deutschen Geisteslebens erhoben, wird jetzt selten auch Derjenige mitgenannt, dessen Andenken wir mit diesen Zeilen und dem sie schmückenden Bilde erneuen wollen. Neben dem Viergestirn „Goethe, Schiller, Herder, Wieland“ erblaßten alle anderen Weimarischen Lichter am Literaturhimmel, wenn sie auch der öffentlichen Beachtung deshalb nicht entgingen. Dennoch war es dem Einen beschieden, eine nicht geringe Zeit lang den Herzen der gesammten deutschen Jugend – ja wir dürfen dazu die jugendfrisch gebliebenen Herzen jedes Alters rechnen – näher zu stehen, wenigstens im Hause ihr viel intimerer Liebling zu sein, als jene vier öffentlich Alleingefeierten, und dies Alles war ihm gelungen durch einen einzigen glücklichen Griff in die Schätze unseres Volksthums. Wir meinen Musäus und seine Volksmärchen der Deutschen.

Schon zwanzig Jahre vor dem ersten Erscheinen der Volksmärchen war Musäus als erzählender und humoristisch-satirischer Schriftsteller aufgetreten, aber alle diese Schriften, wie verdienstlich sie an sich waren und als wie geistvoll und formgewandt ihr Verfasser sich durch sie erwies, sind dennoch mit seinem Namen bis heute über der Fluth der Vergessenheit erhalten worden nur durch seine Volksmärchen und durch die aus ihnen am reinsten sprechende Originalität und Liebenswürdigkeit seines Charakters.

Diese Volksmärchen heißen nicht blos „Volksmärchen der Deutschen“, sondern sie sind ein so deutsches Buch, wie nur je eines von einem Deutschen geschrieben worden. Wollen wir alle guten und schlimmen Eigenschaften unsers Volkscharakters kennen lernen, wir finden sie darin, alle übertragen auf die lebensvollsten, dem Leben selbst abgelauschsten Gestalten, und jede Gestalt bleibt sich treu in ihrem Wesen durch alle Wandelungen ihres Schicksals und ihrer Erscheinung bis zum Ende. Und diesem Gesetze strengster Correctheit in der Griffelführung sind nicht nur die Menschen dieser Märchen unterworfen, auch die spukenden Geister, die gespenstischen Geschöpfe uralter Volksphantasie müssen sich ihm beugen, sie müssen, trotz der kühnsten Extravaganzen und muthwilligsten Launen, die der Dichter ihnen gestattet, sich menschlich behandeln lassen, menschliche Seiten herauskehren, um unserer Theilnahme auch für ihr Schicksal werth zu sein. Wir durchleben in und mit jedem dieser Märchen, kein einziges ausgenommen, Stunden seligsten Selbstvergessens, wandern mit dem Geiste glücklicher Kinder durch die zaubervolle Wunderwelt und ahnen kaum, mit welcher wahren Kunst sie aufgebaut und ausgeschmückt ist.

Es ist aber noch ein anderer Zauber mit im Spiele, wenn wir zu unseren lieben Volksmärchen immer wieder zurückgelockt und dann so schwer von ihnen losgelassen werden: das ist der Zauber der Sprache, an der noch manche Generation sich bilden kann, ehe die Zeit über eine solche Frische, Kraft und Schönheit Herr wird; und endlich sind diese Märchen nicht Spielsachen für kleine und große Kinder, sondern Spiegelbilder des menschlichen Lebens, aus denen die lieben Menschen sich selbst und das, was ihnen zum Wohl und zum Uebel gereicht, so klar erkennen, wenn sie wollten, wie vom väterlichsten Lehrer und Führer auf dem Wege durch’s Leben.

So sind unsers Musäus’ Volksmärchen. Und wenn man nun über seine Persönlichkeit erfährt: „daß er sich in Aller Herzen stahl und man in Weimar nur den Professor Musäus zu nennen brauchte, wenn man ein freundliches Gesicht sehen wollte,“ so wird man sich gern in seine nächste Nähe bis in sein Haus und seine Familie führen lassen.

Folgen uns denn die Leser zu einem Besuch bei dem alten Liebling der deutschen Jugend. Ein Student hat ihn von Jena aus gemacht, wo er in der Mitte der achtziger Jahre in demselben Hause am Markte (der Hofapotheke, die später durch den originellen Wilhelmi in so eigenthümliche Beziehungen zu Weimar und seinen Größen gekommen ist) wohnte, wo dreißig Jahre früher Musäus gewohnt haben soll. Letzteres versicherte ihn eine alte Magd, die noch aus jener Zeit im Hause diente und große Stücke auf „ihren berühmten Professor“ hielt, der sie noch immer begrüße und beschenke, so oft er nach Jena komme. Einen Gruß von dieser alten Magd benutzte nun der Student zur Einführung bei Musäus. Ich gestehe mit freudigem Gefühl, daß dieser Bruder Studio mein Großvater war. Die Schilderung des Besuchs fasse ich aus meiner Knabenerinnerung zusammen, aus alten Tagebuchblättern und Briefen des Großvaters an seine Eltern, lasse aber auch später von mir in Jena und Weimar Erfahrenes dabei nicht unbeachtet und sage zugleich Moritz Müller, dem Verfasser eines trefflichen „Lebens- und Schriftsteller-Charakterbildes des Musäus“ Dank, der mir das vom Großvater in die junge Seele gelegte Dichterbild, wie noch kein Anderer, herrlich wieder aufgefrischt hat.

Der Großvater erzählt also:

„Ich paßte den Herrn Professor auf dem Weg nach seinem Garten ab, richtete die Grüße der alten Magd aus und sagte ihm, daß sie mich zu ihm sende, worauf er zu mir sprach: ‚Kommen Sie und sagen Sie mir vor Allem, wer Sie sind, was Sie studiren, wo Sie wohnen und was Sie wünschen, falls ich Ihnen dienen kann.‘ Während ich, neben ihm dahinschreitend, das Meinige vorbrachte, betrachtete ich meinen berühmten Nachbar recht genau und fand, daß die Alte mir ihn wahr geschildert hatte. Der Rock des Herrn Professors war freilich verschabt und grau, die Krause schief unterm Hals und das Haupt übel frisirt, aber was zwischen der schlechten Locke und Krause hervorsah, das war ein Mannesantlitz, unter dessen Brauen bei aller Liebe, Freundlichkeit und Güte ein Geist hervorleuchtete, der mich Studentlein den Respect nicht vergessen ließ, trotzdem der beredte Mund weder mit lateinischer noch griechischer Gelehrsamkeit um sich warf. Ich sehe es im Geist noch heute, dieses große, freie, Vertrauen predigende Auge, den sehr hübsch geformten Mund, die hohe Denkerstirn, die kühn heraustretende Nase und die Jugendfrische, die über dem ganzen Antlitz wie im Ton der Stimme herrschte. Und wie imponirte mir durch die Bestimmtheit und Schärfe seiner Fragen, die sich mit seiner Freundlichkeit gar wohl vertrug, der tüchtige Pädagog und der Mann von ungewöhnlichem Wissen und Denken! Als wir einige Schritte auf schattenlosem Wege gegangen waren, spannte Musäus seinen Regenschirm zum Schutz gegen die stechende Sonne über uns Beide aus. Er gestattete es, daß ich ihm die Last abnahm, denselben [231] zu tragen, ich fühlte einen Stolz darüber, den Schirm über ein solches Haupt zu halten, und trotzdem wir ein wunderlich aussehend Paar vorstellen mochten und allerlei Leute uns begegneten, so sah ich doch keine spöttische Miene; sondern alle zogen ehrerbietig oder freundlich den Hut vor dem Mann mit dem grauen alten Rock unter dem Regenschirm.

‚Also ein Theologe!‘ sagte er, nachdem ich geendet und die üblichen Entschuldigungen ausgesprochen. ‚Das freut mich. Ich bin’s von der Universität her auch. Die theologische Laufbahn stand wie ein heller Weg zum Himmel vor mir, und eine gar würdige Hand, die meines Oheims Weißenborn (erst Superintendent in Allstädt, dann Generalsuperintendent in Eisenach), führte mich auf demselben. Eisenach ist in ganz Deutschland die schönste Geisteswiege für den protestantischen Theologen: Luther läuft als Currentschüler mit uns in den Gassen herum und thront als unsterblicher Reformator auf der Höhe der Wartburg, und gehen wir zu einem Throne hinaus, zu welchem wir wollen, überall predigt die herrliche Natur die Ehre Gottes. Meine besten Predigten sind mir in und um Eisenach gelungen.‘

‚Aber warum sind der Herr Professor nicht bei der Theologie geblieben?‘ fragte ich.

‚Daran ist das Tanzen schuld,‘ erwiderte er lächelnd. ‚Sie staunen? Die Sache ist hier längst bekannt. Ich habe mich als Candidat einmal zu einem Tänzchen verführen lassen, und deshalb nahmen mich die Bauern von Farnrode nicht zum Pfarrer an. Um mich nicht mehr solchen Zurückweisungen auszusetzen, habe ich es vorgezogen, Schulmeister[1] zu werden, und darf doch nun mit Ehrlichkeit fröhlich sein, wie ich’s allezeit gern gewesen bin.‘

Wir standen vor seinem Gärtchen und er hieß mich mit eintreten. Sobald er die Thür hinter sich hatte, knöpfte er seine Weste auf. Dann zeigte er mir sein Gartenhäuschen mit der reizenden Aussicht auf das Thal und die Stadt oder das Städtchen, was Weimar damals noch war. ‚Und dort drüben sehen Sie die Fenster meiner Wohnung,‘ sagte er, mit einem Stock mir die Richtung anzeigend.

‚Der Herr Professor schreiben wohl an zwei Werken zugleich?‘ fragte ich, als ich auf seinem Arbeitstische zwei Schriftstücke sich gegenüberliegen und vor jedem einen Stuhl hingestellt sah.

‚Nein, mein Bester. Hier arbeitet, häufig mit mir zugleich, mein Neveu, ein sehr genialer junger Mann. Es ist gar schön, an einem solchen Kopf gleichsam die Gedanken über die Stirn laufen zu sehen. Er wird noch Aufsehen in der Welt machen; er heißt Kotzebue.‘

Musäus führte mich dann zu seinem Tempelchen unweit des Gartenhäuschens. Es war mit einigen Statuen ausgeschmückt und davor ein freier Platz, der sich durch einen Tisch und einige Stühle als Gesellschaftsplätzchen anzeigte. Auch von hier war der Blick von der Höhe in das belebte Thal sehr reizend.

‚Hier muß sich’s herrlich dichten!‘ meinte ich. Aber er: ‚Mit Nichten! Hier ist gut sein zum Einsammeln von Gedanken und Gefühlen, aber diese trägt man dann ins Gartenhäuschen an den geschützten Schreibtisch, denn der Honig wird im Stock gemacht.‘

‚Und was für Honig!‘ fuhr ich heraus, um dem berühmten Mann auch etwas Schönes über seine Werke zu sagen. Er aber sah mich da mit einem Blicke an, als ob er andeuten wollte: ‚Ei, ei, nun bläst der gar in die Complimententrompeten!‘ Ich fühlte das Rothwerden im Gesicht und da fiel mir gerade das Urtheil der alten Magd über die Volksmärchen ein, so daß ich hell auflachen mußte.[WS 1] Ich hatte nämlich, ehe ich den Besuch bei Musäus wagte, vorher seine bis dahin gedruckten Bücher gelesen. Von dem Volksmärchen waren erst ein paar Bändchen da, die mich damals schon in der Seele erquickten, und daraus las ich auch der Alten einmal vor. Ihre Begeisterung für ihren berühmten Professor hatte sie natürlich nie aus dessen Schriften gesogen, sondern die persönliche Liebenswürdigkeit des Jünglings hatte sie erzeugt und der spätere Ruf des Mannes groß gezogen. Als ich ihr nun aus den Märchen vorlas, gerieth sie geradezu in Entrüstung, glaubte nicht an diese Bücher und blieb dabei: so dummes Zeug könne ihr berühmter Professor gar nicht machen. – Das erzählte ich nun Musäus. Seine Freude darüber war außerordentlich. Er flog vor Lachen zwischen den Blumenbeeten hin und her, daß die Stachelbeeren an den Stauden wackelten. Dann plötzlich zum Ernst übergehend, sprach er fast mit Rührung von der geistigen Armuth des Volkes, das seine schönsten Schätze nicht kenne, und erklärte mir ausführlich Plan und Zweck, die ihn bei der Abfassung seiner Märchen leiteten. Darüber war es Mittag geworden, und ich mußte ihn nach seiner Wohnung begleiten.

Die Frau Professorin erwartete uns an der Treppe, ihre Augen lachten, wie die ihres Mannes, und standen ihrem liebevollen Antlitz gar gut. Sie war mit sonntäglicher Haustracht angethan, Alles reinlich und nett. Musäus stellte mich als einen Abgesandten seiner alten Magd in Jena vor, was mir eine sehr herzliche Aufnahme eintrug. Auch Karl und Gustav, die beiden Söhnchen, von denen das letztere, ein gar feines bleiches Kindchen, bald nachher gestorben sein soll, gaben mir ein Händchen.

Die Wohnstube, in die man mich führte, war sehr einfach ausgestattet, wie bei allen Bürgerlichen damaliger Zeit, aber Alles sah blank aus. Jetzigen Luxus, wie ein Canapee und Fenstervorhänge, habe ich, wenigstens in dieser Stube, nicht gesehen. Am Tisch saßen wir schon wie alte Bekannte beisammen. Während die Frau Professorin ihrem Gemahl die Serviette umband, konnte sie die hausmütterliche Bemerkung nicht unterdrücken: ‚Aber, lieber Musäus, nun bist Du heute an einem Festtag wieder mit der alten Leibwäsche und dem alten Rock fortgegangen; ja, Du hast Dich so eilig fortgemacht –‘

‚Freilich,‘ unterbrach Musäus sie mit triumphirendem Lachen, ‚sonst hättest Du mich herausgeputzt, daß ich mich vor jedem Rosenstock und jedem grünen Sitzplätzchen hätte scheuen müssen.‘

‚Aber hast Du denn an der Coburger Erfahrung noch nicht genug? Man hat Dich gewißlich zu keinem Thore hineingelassen, weil Deine Toilette recht gräulich verwahrlost gewesen …‘

‚Was, in Coburg?‘ fragte ich erstaunt.

‚Jawohl,‘ erwiderte Musäus, ‚aber das hatte mit meinem Exterieur gar nichts zu schaffen. Ich will’s Ihnen kurz erzählen. Ich spazierte über den Thüringerwald und fuhr dann mit der Post nach Coburg, um dort mit einem Freund zusammenzutreffen. Am andern Morgen will ich mir die nächste Umgebung der Stadt besehen. Ich wandele zum ersten besten Thore hinaus und frage die Schildwache nach dem Weg, um bei einem andern Thore wieder hereinzukommen. An diesem andern Thore verweigert man mir aber den Einlaß, weil ich zum Spazierengehen keinen Paß mitgenommen. Ich muß zu dem Thore zurückkehren, zu dem ich herausgegangen bin. Dort ist währenddeß die Schildwache abgelöst und der neue Mann läßt mich ohne Paß auch hier nicht wieder ein. Ich erhalte schließlich die Weisung, mich an das Thor zu begeben, zu dem ich gestern Abend hereingefahren sei. Das war ungefähr das entgegengesetzte Ende der Stadt, und ich hatte nun Gelegenheit, viel freie Natur zu genießen, wenn ich nicht fast ärgerlich geworden wäre. Aber selbst an diesem dritten Thore wollte Niemand mich hereinfahren gesehen haben, ich stand wie für immer herausgesperrt da, bis nach etwa einer Stunde ein Soldat dort auf die Wache kam, der meine richtige Hineinfuhr bezeugte. Und so ging mir denn endlich dieses Thor auf.‘

Das Abenteuer erregte natürlich allgemeine Heiterkeit. ‚Ja, ja,‘ bemerkte die Frau Professorin, ‚Se. Excellenz der Herr Geheimerath von Goethe haben sich halbtodt darüber gelacht.‘[2]

‚Hätt’ es gar nicht nöthig gehabt,‘ scherzte Musäus, ‚das könnte dem Fremden hier ebenso geschehen. Muß doch Jedermann, der durch ein Thor zu Wagen ein- oder auspassirt, auch wenn es ein geborenes Weimarer Kind ist, dem Thorschreiber Namen und Stand angeben, damit es dem Herzog gemeldet werden kann. Sogar der Herr Minister steigen deshalb gewöhnlich mit Frau von Stein vor dem Thore aus und ein, damit nicht alle diese Spazierfahrten zur höchsten Kenntniß kommen.‘

‚Aber sonst,‘ bemerkte ich, ‚soll doch der Hof mit den Herren Gelehrten sehr gut stehen, besonders seitdem Herr von Goethe das fürstliche Privattheater eingerichtet.‘

‚Man hat schon vor Goethe’s Ankunft bei Hof Komödie [232] gespielt,‘ erwiderte Musäus, ‚durch Goethe ist natürlich das Alles erst in höheren Flor gekommen, wie ich ganz genau weiß, denn ich spiele sehr häufig selbst mit.‘

‚Jawohl, und man giebt ihm immer solche Rollen, die dem Charakter seines alten grauen Rockes entsprechen –‘ fügte die Frau Professorin hinzu, erntete dafür aber einen so komischen strafenden Blick des Gemahls, daß sie ihm begütigend die Wangen streichelte und, wie um aus der Schußlinie seiner Antwort zu kommen, den Knaben einen Stuhl zum Fenster rückte, wo sie, nach der Mahlzeit, sich an der Ausschau erlustirten. – Musäus hatte währenddeß die Gläser frisch gefüllt und stieß mit mir an auf sein liebes Jena. Damit erwachten viele schöne Erinnerungen an seine Studentenjahre, die er so ergötzlich erzählte, daß ich in dieser Stunde meiner eigenen Jugend froher ward, als ich’s meine ganze Zeit in Jena gewesen. Und wie freute sich die Frau Professorin über jede Lust, die ihr lieber Mann genossen! Das gefiel mir besonders wohl. Da erschallte plötzlich mitten in unserer Unterhaltung Karl’s Stimmchen zum Fenster hinaus: ‚Rippler, Rippler, rau, rau, rau!‘

‚Oho, mein alter Tambour, mein Märchenerzähler geht vorüber,‘ rief Musäus. ‚Und Du, Karlchen, verspottest ihn auch, wie die bösen Jungen auf der Gasse? Ei, ei! Geschwind trage ihm einen Groschen hinunter! Dem Mann bin ich viel Dank schuldig, er hat mir manchen guten Stoff für meine Volksmärchen geliefert, nicht wahr, liebe Frau?‘

‚Ja, Herr, das muß wahr sein. Freilich hat er mir manchmal die Stube arg verpestet mit seinem schlechten Tabak, aber seitdem mein Musäus seine Volksmärchen schreibt, ist’s um Vieles besser mit uns geworden. Winke mir nur nicht ab, jetzt bin ich daran. Ja, lieber Herr, Sie glauben nicht, wie mein Musäus und ich uns einschränken und abplagen mußten in unserer ersten Zeit. Wie manche liebe Nacht arbeitete mein armer Mann an Gelegenheitsgedichten herum und gab Unterrichtsstunden, so viel nur der Tag Zeit dazu ließ, um dem Haushalt aufzuhelfen, und ich arbeitete fast nicht weniger, um von Kostgängern einen kleinen Gewinn zu ziehen und damit der Schmalhans nicht allein Küchenmeister bei uns würde. Fast alle seine Reisen nach Jena und Gotha und selbst noch weiter hat damals mein Musäus zu Fuße machen müssen, weil ihm das Fahren zu theuer war; und von Gotha hat er sogar dem Karlchen ein Steckenpferd mit heimgetragen den langen Weg bis Weimar. Und Kleider und Leibwäsche wollten auch besorgt sein, besonders wegen der Hoffestlichkeiten. Wie manchmal kamen wir von dem Glanz und der Herrlichkeit des fürstlichen Privattheaters von Tieffurt oder Ettersburg, und fanden daheim die liebe Noth, wenn es auf das Monatsende losging oder alle Gröschlein für den Hauszins gespart werden mußten. Laß mich nur gar ausplaudern, lieber Musäus, die Wahrheit macht uns keine Schande. Ja, seitdem mein Mann die Volksmärchen zu schreiben angefangen, ist auch das äußere Glück bei uns eingekehrt. Anfangs verstand ich’s freilich nicht und war manchmal ärgerlich, wenn er oft Kinder von der Straße und alte Weiber mit nach Hause brachte, die ihm Märchen erzählen mußten, und er bezahlte jedes Märchen mit einem Dreier.[3] Wie aber das erste Bändchen gedruckt war, ging mir erst ein Licht über die Sache auf. Denken Sie nur, drüben im Gärtchen auf dem Tisch lagen schon einmal achtundsechszig harte Thaler Honorar auf einmal von dem Herrn Commissionsrath Ettinger in Gotha, und ein andermal siebenzehn und ein halber Louisd’or vom schönsten Gold, und wieder einmal kommt der Herr Commissionsrath da zur Thür herein und sagt: ‚Frau Professorin, bringen Sie mir einen Topf aus der Küche, er braucht nicht ganz klein zu sein.‘ Ich wundere mich zwar über den Einfall, stelle ihm aber doch ungefähr ein Zweimaßtöpflein auf den Tisch. Er aber zieht nun aus allen Taschen so viel silberne Münzen hervor, daß der Topf beinahe voll geworden wäre. Und das Alles hatte mein braver Musäus mit seinem Fleiß verdient! Sie glauben nicht, wie das eine Frau glücklich macht!‘

Und dabei reichte sie ihrem Gatten die Hand hin. Aus Musäus’ Augen schimmerte es wie emporquellende Rührung. ‚Jetzt ist’s die schönste Zeit, daß Du gehst,‘ dachte ich da, erhob mich rasch, ließ mich auch durch kein Bitten rühren, auch nicht durch die Einladung für den Nachmittag in den Garten binden, und ging als ein Mensch, der um eine schöne Erinnerung für sein ganzes Leben reicher geworden, nach Jena wieder hinüber.

Wenige Jahre später las ich die Nachricht vom allzufrühen Tod des herrlichen Mannes. Als ich später sein Bild bekam, hatte ich zwei stille Festtage im Jahre mehr. Jeden 29. März, dem Tage, wo er 1735 in Jena geboren war, erhält das Bild seinen grünen Kranz, und jeden 28. October, wo er 1787 in Weimar starb, seinen schwarzen Flor. Wenn ich einmal sterbe, so vermache ich Dir, Fritz, das Bild, dazu aber auch die Verpflichtung, es, wie ich, zur stillen Familienfeier eines der edelsten Familienmenschen mit Kranz und Flor zu schmücken.“

Das ist des Großvaters Erzählung. Er ist nun auch schon lange todt, aber sein Vermächtniß wird noch heute in Ehren gehalten.

Friedrich Hofmann.

  1. Musäus wurde 1763 herzoglicher Pagenhofmeister und 1769 Professor am Gymnasium in Weimar.
  2. Goethe behagte dieses Abenteuer so, daß er es vom Hofmaler Kraus bildlich darstellen ließ und unter dem Gemälde einige Verse anbrachte. Er verehrte es später der Frau Musäus, die ihren Mann am 12. Mai 1786, wie er selbst gesteht, „auf das Angenehmste“ damit überraschte. Er selbst hat sein Coburger Erlebniß unter dem Titel „Die lästigen Polizeianstalten für Spaziergänger“ beschrieben und Kotzebue es in „Musäus’ nachgelassene Schriften“ mit abdrucken lassen.
  3. Eine solche Scene stellt unsere Illustration vor.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: muße