Ein verlorener Posten

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Textdaten
Autor: Rudolf Lavant
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Titel: Ein verlorener Posten
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aus: „Die Neue Welt“ Nr. 14 – Nr. 43, S. 157–507
Herausgeber: Leipziger Volkszeitung
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1902
Verlag: Goldhausen
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
erschien erstmalig in „Die Neue Welt“ Nr. 14 – Nr. 43, S. 157–507, 1878
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Ein verlorener Posten.


Roman
von
Rudolf Lavant.
Nachdruck verboten.
Gratisbeilage der Leipziger Volkszeitung.


Leipzig 1902
Leipziger Buchdruckerei Aktiengesellschaft.

Ueber dem von waldigen Höhen umschlossenen und aus der Enge des Thalkessels mit einigen verstreuten Häuschen an ihnen emporkletternden kleinen schlesischen Fabrikstädtchen M. brütete die eigentümliche Schwüle eines Aprilabends. Aus wolkenverhangenem Himmel fiel ab und zu ein Tropfen und über den Bergen zuckte es zuweilen hastig auf von fernem Wetterleuchten. An solchen Abenden fühlt sich der eine vom warmen Atem des kommenden Frühlings angehaucht und hofft, am nächsten Morgen das erste Veilchen zu finden — der andere wieder fühlt sich bedrückt und fast beängstigt von der feuchtwarmen Treibhausluft und es ist ihm, als entspreche dem Drängen und Treiben in der Natur, dem Steigen der Säfte und dem Schwellen der Knospen ein unklares, stürmisches Gären in seiner Seele. Wie die Natur nicht auf jeden wirkt, so wirkt sie auch nicht auf alle gleich — schon die kleine Gesellschaft, in die ich meine Leser führen will, wird dies bestätigen.

Wir sind in der Dämmerung durch die Gassen geschlendert und haben wohl ab und zu den jungen Mädchen ausweichen müssen, die Arm in Arm und gassenbreit (das wollte freilich in M. nicht allzuviel sagen) singend daher kamen; von der eintönigen Fassade und den nüchtern-langweiligen Fensterreihen der mechanischen Weberei des Kommerzienrats Reischach wenden sich unsere Augen unwillkürlich dem gegenüberliegenden Wohnhause zu, der steinernen Verkörperung einer Baumeistergrille, die nur ein ungebildeter Glückspilz mit den Anforderungen des guten Geschmacks in Einklang zu bringen und deren Kosten nur die Kasse eines so reichen Mannes, wie es der Herr Kommerzienrat war, gleichgültig finden konnte. In das Haus selber, das uns durch seine wunderliche, fast schrullenhafte, und jedenfalls verzwickte Bauart ein ironisches Lächeln abnötigt, dürfen wir freilich nicht treten; man schreitet über diese teppichbelegte eiserne Wendeltreppe, die in der Vorhalle ein Gitter absperrt, nur empor, nachdem man durch den Portier gemeldet ist. Aber kraft meines Vorrechtes als Dichter sehe ich durch dicke Mauern und schwere, seidene Portièren und belausche auch ungesehen die drei Damen, die in dem Zimmer des Fräulein Emmy ihr Dämmer- und Plauderstündchen halten.

Fräulein Emmy, des Kommerzienrats verzogener und verwöhnter Liebling, war eigentlich schlichtweg Emma getauft, da Herr Reischach zur Zeit ihrer Geburt noch nicht reich, also auch noch nicht Kommerzienrat und Ritter des roten Adlerordens war — aber später, in der Pension, hatte sie den aparten Namen ihrer Mitschülerinnen gegenüber sich des ihren fast wie eines körperlichen Gebrechens geschämt und ihren Eltern kindisch erbitterte Vorwürfe gemacht und manche Thräne darüber vergossen, daß die „himmlische“ Marlitt zu jener Zeit noch nicht Mode gewesen — ihre Mama hätte dann doch gewiß so viel Takt gehabt, sie Felicitas oder Else oder Gisela zu nennen. Endlich hatte sie auf den Rat einer klugen Freundin durch Aenderung des a in y dem abscheulichen, plebejischen Namen etwas Schliff gegeben und ihn leidlich zugestutzt und Papa — nun, er konnte zwar beim besten Willen nicht einsehen, wodurch die eine Form von der anderen etwas voraus habe, aber das waren Dinge, auf die er sich viel weniger verstand als auf ägyptische und indische Baumwolle und auf die schnurrenden Spindeln ferner Fabrik, und sein Töchterchen war, als er sich in seiner Ahnungslosigkeit und Unbefangenheit erlaubte, die. Aenderung eigentlich überflüssig zu finden, so verstimmt geworden und hatte so spitze Accente in ihre Stimme gelegt und so nachhaltig geschmollt, daß er sich beeilte und beeiferte, die Modifikation des „allerdings sehr altväterischen“ Namens sehr hübsch und sehr notwendig zu finden und die kleine Erzürnte schmeichelnd zu fragen, ob sie nicht eine neue „Robe“ brauche. Die Mutter war zu jener Zeit leider schon tot; die brave Frau hatte sich nie so recht in den vornehmen Ton gefunden und ihrer stärkeren Hälfte, als ihm „die Gnade des Landesherrn“ den tönenden Titel verlieh, in ihrer naiven Treuherzigkeit vorgestellt, daß sie „dazu“ doch eigentlich nicht „gebildet“ genug seien; auch als Frau Kommerzienrätin fühlte sie sich, so oft sie bemerkte, daß eine Magd nicht schul- und kunstgerecht scheuerte, von der fast unwiderstehlichen Lust angewandelt, der Ungeschickten oder Bequemen Lappen und Bürste abzunehmen und selber hinzuknien, um ihr zu zeigen, wie es eigentlich zu machen sei, und nur der Gedanke an ihre schwere, raschelnde Seidenrobe und an des Herrn Gemahls Außersichgeraten über solche „Rückfälle“ hielt sie im letzten Moment noch zurück; sie hätte schwerlich geduldet, daß das Töchterlein ihren ehrlichen Christennamen abänderte, wie sie denn aller „Ueberhebung“ fast ängstlich feind war und innerlich gegen das äußere „Feinthun“ murrte und sich manches liebe Mal heimlich in die alten bescheidenen, gutbürgerlichen Verhältnisse zurücksehnte, die ihr noch erlaubt hatten, eine wirkliche Hausfrau zu sein und in denen sie nie von Langeweile geplagt gewesen war, ja wie sie bei allem ehrlichen Respekt vor ihres Mannes Scharfblick und seinem praktischen Sinn zuweilen nicht umhin konnte, es innerlich sehr komisch zu finden, wenn er sich abquälte, ein reines Hochdeutsch zu sprechen und Phrasen zu drechseln und den glatten, saloppen Weltton anzunehmen, den er an Leuten, die lange nicht so reich waren als er, bewunderte und um den er sie beneidete. Die gute Frau hätte wohl auch den Kopf geschüttelt, wenn man sie in das Boudoir ihrer „Kleinen“ geführt hätte, das unser Herr Kommerzienrat für den Inbegriff aller Eleganz und Vornehmheit hielt und nach seinen Begriffen halten mußte — die Einrichtung dieses kleinen einfenstrigen Gemachs hatte ja ein ganz ansehnliches Stück Geld gekostet. Er wußte freilich nicht, daß die Töchter seines Bankiers in Breslau, die seine Emmy einmal besucht hatten, über dieses Boudoir verstohlen die Näschen rümpften; sie fanden, Tapete, Vorhänge und Meublement seien sehr kostbar, stimmten aber in der Farbe nicht harmonisch zusammen, man habe auch nach und nach viel zu viel in das kleine Zimmer hineingepfropft, nach Laune und Zufall, statt dasselbe nach einem bestimmten Plan mit geschmackvoller Enthaltsamkeit und einfacher Eleganz auszustatten, und neben Gegenständen, die einen wirklichen Kunstwert besäßen, fänden sich andere, die vielleicht teurer gewesen seien und dem Kommerzienrat dadurch imponiert hätten, die aber eine wirklich vornehme junge Dame nur belächeln, über die sie nur die Achseln zucken könne.

Es kann uns wohl nicht zugemutet werden, ein Urteil darüber abzugeben, inwieweit diese Kritik eine berechtigte war; wir verstehen ja von solchen Dingen auch nicht allzuviel und werden uns wohl in der Hauptsache auf die beiden Damen aus der Provinzialhauptstadt verlassen dürfen: ich sage ausdrücklich „in der Hauptsache“ — es giebt nicht viele Frauen, die nicht ein wenig boshaft, ein wenig ironisch und ein wenig malitiös würden, wenn von der Einrichtung oder der Toilette einer anderen, und sei es selbst eine sehr „liebe“ Freundin, die Rede ist, und diese erfahrungsmäßig feststehende Thatsache macht es notwendig, in Gedanken die etwas zu strengen Aeußerungen um eine Kleinigkeit zu mildern und abzuschwächen.

Was wir selber an dem Zimmerchen der jungen Dame auszusetzen haben, ist, daß sich dem Duft der vielfarbigen Hyacinthenkerzen und der milchweißen Maiblumenglöckchen, die den Blumentisch schmücken, der Duft eines starken modischen Parfüms beimischt — in einer für schwache Nerven jedenfalls höchst empfindlichen Weise.

Fräulein Emmy merkt davon freilich nichts; sie hat von der Mutter eine gesunde, kernfeste Natur geerbt, sich aber allerdings darüber, daß sie so gar nicht weiß, was Nerven sind und über ihre frischen Farben, die ihr fast bäuerisch erscheinen wollen, schon Vorwürfe gemacht und ihre Pensionatsfreundinnen um ihre nervöse Disposition und ihre matte Farbe ernstlich beneidet; es ist jedenfalls wesentlich „feiner“ und einer Kommerzienratstochter würdiger, von den Nerven tyrannisiert zu werden und sich einer schmachtenden, interessanten Blässe rühmen zu können. Ihre Nerven widerstehen dem betäubenden Duft, von dem ihr Zimmerchen erfüllt ist, die Dame jedoch, welche sich nachlässig in die andere Ecke der blausamtenen Causeuse gegossen hat (Fräulein Emmy hat auch das noch nicht „weg“ und giebt sich viele Mühe, es zu erlernen), muß sich schon eher dem Idealzustande nähern, denn als die dritte, welche, von den schweren Vorhängen fast verdeckt, am Fenster sitzt, dieses öffnet, sagt sie lebhaft:

„Recht so, Martha — es ist unerträglich schwül und Emmy sollte entweder ihre Hyacinthen wegbringen lassen oder ihr Parfüm nicht wie Weihwasser verspritzen. Zu starke Gerüche sind auch nicht bon ton, Kind.“

Die Schweigsame am Fenster erwidert nichts und sieht hinaus in den Garten, aus dem das Plätschern des wieder in Stand gesetzten Springbrunnens durch die Stille dringt; der Garten verläuft sich allmählich in Gebüschpartien, nimmt nach und nach vollständigen Parkcharakter an und geht zuletzt am Fuße des Höhenzuges in den Wald über, der diesen bedeckt, nur durch einen hohen Wildzaun von den königlichen und städtischen Forsten geschieden.

Fräulein Emmy hat inzwischen, obgleich etwas betreten, ihr orientalisches Parfüm, das sie „rasend“ liebt, in Schutz genommen, wird jedoch erst lebhaft, als die Dame, die sie „Kind“ genannt hat, das Gespräch auf den nächsten Kasinoball in W., der benachbarten Kreisstadt, bringt. Im Tone unverkennbaren Interesses erkundigt sie sich:

„Wir sind auch eingeladen, aber ob ich hingehe, steht noch nicht fest; meine besten Tänzer sind augenblicklich nicht da und Du weißt wohl auch nicht, ob sie bis dahin zurückkehren werden; es wäre unverzeihlich — aber auf diese Herren ist nicht immer voller Verlaß und man muß sich doch immer wieder versöhnen lassen, sonst werden die Bälle ja ganz fad.“

„Also Premierlieutenant von Ehrenfels, Lieutenant von Brandt, Lieutenant von Werner, Rittmeister von Heldrich? — ich nenne sie nach der Anciennität, d. h. nach der ihrer Gunst bei Dir.“

Die Frage hat eine leicht ironische Färbung.

Fräulein Emmy ist viel zu naiv, arglos und eifrig, um diese Nüance nicht zu überhören. Sie meint:

„Das ist aber noch keine Antwort; ich wollte doch wissen, ob Du etwas über die Rückkehr der Herren gehört hättest.“

„Ja, nach dem, was man mir sagte, hast Du wenig Aussicht, die Namen der Herren in angemessener Abwechslung hinter die einzelnen Tänze zu schreiben und Dich an lichtblaue Attilas mit silberner Verschnürung zu schmiegen — Du wirst wohl einmal mit dem bürgerlichen schwarzen Frack vorlieb nehmen müssen, womit ich nicht gesagt haben will, daß ich denselben für übermäßig geschmackvoll halte.“

„Ach, das ist es ja nicht allein; Du wirst doch zugeben, daß die Unterhaltung mit einem Offizier bei weitem interessanter ist, als die fast aller Herren vom Civil?“

„Womit Du jedenfalls andeuten willst, man brauche nur klingende Sporen an den Hacken zu tragen und einen klirrenden Säbel übers Pflaster zu schleifen, um der Inbegriff ritterlicher Galanterie und männlicher Schönheit zu sein? Nun, Du wirft mit der Zeit auch auf andere Gedanken kommen, hoffentlich ohne schmerzliche Erfahrungen und lediglich durch das Wachsen Deiner Einsicht.“

Fräulein Emmy ist sichtlich überrascht.

„Das klingt ja förmlich pathetisch und es möchte einem ganz angst und bange werden. Aber was in aller Welt hast Du denn plötzlich gegen die armen Offiziere? Du hast doch früher nie solche Ansichten geäußert, sondern (und hier machte sie einen schüchternen Versuch, etwas wie Ironie in ihre weiche, helle Stimme zu legen) die Herren so sichtlich begünstigt, daß Deine Verlobung bald mit dem, bald mit jenem von ihnen wiederholt mit aller Bestimmtheit vorausgesagt wurde.“

„Wie die Ereignisse bewiesen haben, stets mit Unrecht; Du hättest gerade nicht nötig gehabt, Wert auf diese leichtsinnig ausgestreuten Gerüchte zu legen, von denen Du doch weißt, wie sie entstehen. Es braucht noch gar keine Kaffeegesellschaft gehalten zu werden, es brauchen nur zwei junge Damen in einem Dämmerstündchen die blonden oder braunen Köpfchen zusammenzustecken, wie wir es jetzt thun, und es ist eine neue Verlobung so gut wie proklamiert und wandert als Thatsache von Mund zu Mund, natürlich unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit.“

„Nun ja, ich will es gerne glauben und Du brauchst nicht gleich böse zu werden, aber ich muß noch einmal fragen: Was haben Dir die Offiziere gethan?“

„Ich denke, Kind, wir lassen das; es würde nichts dabei herauskommen. Jedes junge Mädchen aus guter Familie hat eine Periode, in der die Herren mit den blanken Knöpfen, den buntgeränderten Teller-Mützen und der näselnden, affektiert-nachlässigen Sprechweise ihr als Ziel aller Wünsche vorschweben, besonders aber die von der Kavallerie, und zwar je nach dem individuellen Geschmack Husaren, Dragoner, Ulanen oder Kürassiere. Dieser Geschmacksverirrung entrinnen sie so wenig wie zehn Jahre früher den Kinderkrankheiten, doch bleibt sie gleich diesen meist ohne Folgen und man erinnert sich ihrer mit einem Achselzucken. Ich habe diese Periode, wie ich ohne weiteres zugebe, ebenfalls durchzumachen gehabt, aber jetzt, meine liebe Emmy, suche ich Männlichkeit, adeligen Sinn, wahren Mut und Zartgefühl überall anders eher als bei den Offizieren und habe für die recht schablonenhaften und recht durchsichtigen Künste der Herren nur noch ein leichtes Achselzucken und ein spöttisches Lächeln. Ich wünsche um Deinetwillen, daß Du zu der gleichen Ueberzeugung gelangst und daß Du die Erkenntnis weder zu spät erwirbst, noch um einen höheren Preis als ich.“

Die Angeredete, die erst ein wenig ungeduldig hatte werden wollen, hat sich dem Eindruck des ruhigen Ernstes, mit dem jenes Bekenntnis abgelegt ward, um so weniger zu entziehen vermocht, als sie gewohnt war, sich der um fast zehn Jahre älteren mütterlichen Freundin, der jungen Witwe eines pensionierten Dragonerobersten, die in der Kreisstadt im Hause eines Schwagers, eines höheren Beamten, lebte und ein häufiger und immer gern gesehener Gast im Reischachschen Hause war — oft auf Wochen —, ihres Scharfsinns, ihrer Welterfahrenheit und ihrer vielseitigen Bildung halber ohne langes Ueberlegen gläubig unterzuordnen und ihre Ueberlegenheit als unbestreitbar anzusehen. Sie ist nachdenklich geworden und hat den blonden Lockenkopf in die Hand gestützt; über das sorglose, heitere, rosige Kindergesicht (eins von denen, für die es, weil ihnen die geistige Beseelung und der individuelle Ausdruck fehlen, die unverwüstlich sind, immer gefährlich ist, wenn das verwüstete und verblühte Gesicht der Mutter sich neben ihnen zum Vergleich präsentiert und infolge der unverkennbaren Ähnlichkeit mit Notwendigkeit den Gedanken weckt, daß dieses blühende Kind in dreißig Jahren in jedem Zug der Mutter gleichen werde, wie diese in jungen Jahren der Tochter geglichen haben muß) lagert sich ein leichter Schatten und mit einem kleinen, etwas komisch wirkenden Seufzer sagt sie endlich:

„Da möchte man am Ende sagen, Martha habe das bessere Teil erwählt — auf sie paßt Deine Theorie nicht einmal, denn ihr kann nicht nachgesagt werden, daß sie sich je für Offiziere interessiert hätte; wenigstens habe ich nie etwas darüber gehört.“

„Sehr richtig bemerkt, kleine Neunmalweise. Martha hat sich nie ein Zeichen von Interesse abgewinnen lassen und am allerwenigsten von zweierlei Tuch, aber meine Theorie bekommt dadurch noch kein Loch, Emmy. denn auf die philosophischen Naturen paßt keine von den Theorien, die man aus dem Leben und Treiben der Weltkinder abgeleitet hat.“

Emmy kann sich eines herzlichen Lachens nicht erwehren; ein Philosoph ist in ihren Augen ein sehr grämlicher, vergilbter alter Herr mit langem, grauem Haar und tausend Falten und Fältchen im Gesicht, der entsetzlich schnupft und infolgedessen blaue gedruckte Taschentücher trägt; die großen runden Brillengläser geben ihm etwas Eulenhaftes und er geht stets gesenkten Hauptes und trägt die Arme mit dem Stock auf dem Rücken. So hatte der Rektor eines Breslauer Gymnasiums ausgesehen, der für die Pensionatsfräulein, an deren traditionellem Gänsemarsch er zuweilen achtlos vorüberschoß, ein Gegenstand der Furcht und doch auch des heimlichen Gekichers war und von dem die Sage ging, er sei ein großer Kenner aller philosophischen Systeme und habe noch auf dem Totenbette von seinem eigenen Systeme gefaselt, das nun leider Unvollendet bleiben müsse. Und nun sollte ihre sanfte, stille, geduldige Martha mit dem tiefdunkeln großen Augenpaar und dem reichen schwarzen Haar, das freilich an den Schläfen bereits die ersten feinen silbernen Fäden zeigte, eine Philosophin sein! Wie drollig das war und was für wunderliche Einfälle Leontine doch zuweilen hatte! Mit ihrer ganzen Lebhaftigkeit ruft Emmy der noch immer anscheinend teilnahmlos am Fenster Sitzenden zu:

„Aber, Martha, so sage doch nur auch einmal ein Wort! Leontine behauptet, Du wärst eine Philosophin und Du mußt mir helfen, sie zum Widerruf einer so schnöden Behauptung zu nötigen, die doch unmöglich begründet sein kann. Es wäre doch zu schrecklich, wenn eines schönen Tages statt des Gefangenen von Chillon und des Child Harold u. s. w. die Kritik des reinen Verstandes, oder wie das gelehrte Buch hieß, auf Deinem Nähtisch läge (ich glaube gar, das giebt es gar nicht mit Goldschnitt), wenn Du anfingst, aus einer großen Horndose zu schnupfen und blaue Taschentücher zu tragen. Man könnte Dir ja dann kaum noch einen Kuß geben, und wollte man es selber thun — am Ende litte es gar Deine Würde nicht und mit meiner Hoffnung, daß sich doch noch einmal ein recht guter und gescheiter Mann fände, von dem Du sagen könntest, er wäre der Rechte, wäre es erst recht aus; es ist doch gewiß sehr unphilosophisch, sich zu verheiraten, noch dazu in der Kirche. Die abscheulichen Philosophen sind ja alle wahre Heiden!“

Frau Leontine v. Larisch hatte nicht umhin gekonnt, in das Gelächter des übermütigen, höchlich amüsierten blonden Kindes einzustimmen, und die Dämmerung im Zimmer erlaubte gerade noch, auch auf dem Gesicht von Martha Hoyer ein leises, wohlwollendes, wenn auch ein wenig zerstreutes Lächeln zu entdecken. Mit den scherzenden Worten: „Es ist doch wohl besser, ich sorge für Licht, sonst mißbraucht Ihr das Vorrecht der Dämmerstunde gar zu lange!“ verließ sie ihren Platz und das kleine Gemach, und Leontine ließ einen nachdenklichen Blick auf der schlanken, biegsamen Gestalt ruhen, die sich so geräuschlos und mit so viel unbewußter, natürlicher Anmut zu bewegen verstand. Dann wendete sie sich an Emmy:

„Es scheint, ich muß Dir heute lauter Vorlesungen halten. Ich hatte keineswegs gesagt, daß Martha eine Philosophin sei, sondern nur von einer „philosophischen Natur“ gesprochen, was Du besser verstehen wirst, wenn ich hinzufüge „und auch eine poetische“ — im Grunde besteht zwischen beidem eine innige Wechselwirkung. Darüber war nichts zu lachen, sollte ich meinen. Hätte ich behaupten wollen, Martha sei eine Philosophin und Dichterin, so wäre das ein unpassender Scherz gewesen — sie hat wohl nie etwas geschrieben, als die Posten ihres Ausgabebuchs, einen Waschzettel und — Briefe, aber das rechne ich ihr zum besonderen Verdienst an, denn ihre Briefe sind so hübsch, so fein und energisch im Ausdruck, so eigenartig und doch einfach und wahr im Besprechen der alltäglichsten Vorkommnisse, daß jede andere längst auf die nicht mehr ungewöhnliche Idee gekommen wäre, „psychologische“ Novellen á la Marlitt zu schreiben, in denen das Weib das sittliche Korrektiv des Mannes ist, und die Redakteure der belletristischen Blätter mit ihnen zu bombardieren. Ich bin überzeugt, sie hat auch nicht einen Vers verbrochen, wessen ich mich willig schuldig bekenne und worin selbst Du vermutlich kein ganz reines Gewissen hast, wenn es sich auch nur um ein ausgelassenes Spottgedicht handeln wird. Aber ich würde es Martha auch sehr verargen, wollte sie sich aufs Reimen legen, um sich in der Sonntagsnummer des Kreisblattes unter einem romantischen (natürlich adeligen) Pseudonym gedruckt zu sehen — sie hat den Beruf, einen wirklichen Poeten zu Hunderten von Strophen zu begeistern, nicht den, selber mangelhafte Verse zu machen.“

Fräulein Emmy machte eine Gebärde humoristischer Abwehr.

„Nun hör aber auf — es ist gerade genug. Wenn ich heute Nacht nur eine halbe Stunde ruhig zu schlafen vermag — Deine Schuld ist es nicht. Erst soll mir mein hübsches, buntes Offizierskartenhaus zerblasen werden („soll — werden“ betonte sie) und nun wird auch noch prophezeit, daß sich ein junger Dichter mit bald träumerisch verschleierten, bald scherzhaft blitzenden Augen und wallenden Locken in unsere gute Martha verliebt und sie zu seiner Muse macht. Und ich hatte mir immer gedacht, sie werde mir einmal einen schon etwas ältlichen, aber wohlkonservierten Herrn in Amt und Würden als ihren zukünftigen Eheherrn präsentieren! Du weißt doch, daß sie vor ein paar Wochen ihren dreiunddreißigsten Geburtstag feierte — was sie allerdings gar nicht zu betrüben schien, während mir bei dem bloßen Gedanken, ich könnte ebenso alt werden, ohne Frau zu sein, die Thränen in die Augen traten, so daß ich unwillkürlich zu schluchzen begann, als ich ihr meinen Gratulationskuß gab; sie hat zum Glück nicht erraten, was mich so aufregte, denn sie hätte mich gewiß in der sanften Weise gescholten, vor der ich mehr Furcht habe, als vor irgend etwas auf der Welt.“

„Um die dreiunddreißig sei Du nur ganz unbesorgt, und mit dem ältlichen wohlkonservierten Herrn bist Du aller Wahrscheinlichkeit nach auf einem Holzwege, obschon ich mir den Dichter, dessen Liebe sie verdient, wesentlich anders denke, als Du. Ich sage Dir, in dieser stillen Gestalt, die so sparsam mit den Worten ist und die dem sofort zu denken giebt, der ein einziges Mal sah, wie sie die Augen voll aufschlug, die sonst immer von den langen Wimpern verschleiert sind, der ein einziges Mal den Ausdruck gespannter Aufmerksamkeit und voller Teilnahme in diesen dunklen Augen gewahrte — ich sage Dir, in dieser stummen Gestalt schlummert mehr Leidenschaft und Poesie, als wir je besessen haben, und sie ist im stande, eine von den berauschenden Liebesleidenschaften zu entzünden und zu erwidern, unbekümmert um die Folgen, die wir so hinreißend und rührend finden, wenn ein Dichter sie uns schildert, die aber in Wirklichkeit so selten sind und vor denen wir auch in kleinmütiger Verzagtheit zurückschrecken würden, wenn sie je im Leben an uns heranträten. Das weiß sie wohl selber noch nicht, aber sie wird es erfahren und es wäre schade, wenn sie es nicht erführe, denn ein Leben ohne Liebe ist für sie härter als für uns und —“

Sie unterbrach sich. Die in so warmer Weise Geschilderte trat mit dem Armleuchter ins Zimmer und entzündete die beiden Kerzen.

Fräulein Emmy, die recht nachdenklich geworden war und in der sich (zum erstenmal) der Zweifel regte, ob sie von ihrer mütterlichen Freundin nicht am Ende mystifiziert werde, lenkte das Gespräch auf seinen Ausgangspunkt zurück, indem sie sagte:

„Du hältst die Ritterlichkeit ebenfalls für die Grundbedingung eines ernsten Interesses für einen Mann, erkennst aber den Offizieren nur eine imitierte zu; darf ich vielleicht fragen, ob Dir die echte hier oder in W. jemals aufgestoßen ist? Ich wäre sehr neugierig, diesen Sterblichen ebenfalls kennen zu lernen und würde dann versuchen, den Frack erträglich zu finden.“

„Willst Du immer weiter schweifen? sieh, das Gute liegt so nahe,“ rezitierte Frau Leontine spöttelnd. „Ich weiß in der That nicht, wo Du Deine Augen hast, denn mir ist die neue Erscheinung sofort aufgefallen. Deine Dorette machte mir gestern früh gerade das Haar, als vom Platze herauf die Signalhörner der Feuerwehr schallten, und ich trat einen Augenblick ans Fenster, um den kleinen Zug vorüberdefilieren zu lassen; sie kamen wohl von einer Frühübung, schoben die Fabrikspritze, die sie mit benutzt haben mochten, in den Schuppen und ihr Hauptmann hielt mit heller, sonorer Stimme eine kurze Ansprache an sie, worauf sie im Laufschritt davonrasselten. Dorette ist wirklich ein höchst scharfsinniges Geschöpf — es war, als hätte sie meine Gedanken erraten, denn sie fragte, wenn auch ein wenig schüchtern und sondierend, ob die Feuerwehr sich nicht einen recht stattlichen und feinen Hauptmann zugelegt hätte, und als ich lächelnd fragte, ob sie sich infolgedessen nicht recht auf den Ball beim Stiftungsfest der Feuerwehr freue, wurde sie ein wenig rot und erwiderte: „Wo denken Sie hin, gnädige Frau? An einen so feinen Herrn kann doch ein Kammermädchen nicht denken, und er würde schwerlich mit mir tanzen.“ Ich ließ sie weiter plaudern und erfuhr so in aller Bequemlichkeit, daß der schlanke, junge Mann mit den breiten Schultern und dem langen, blonden Schnurrbart sei sechs Wochen als Comptoirchef in Deines Vaters Diensten steht, daß er aus England gekommen ist und daß ihn die Feuerwehr, in die er als einfacher Spritzenmann eingetreten war, sehr bald auf Vorschlag ihres bisherigen Führers zum Hauptmann wählte, als sie sah, daß er alle Zweige des Dienstes aus dem Fundament verstand. Dorette erzählte mir auch, daß seine Leute, der Mehrzahl nach Weber, buchstäblich für ihn durchs Feuer gingen und daß er mit einem Blick mehr ausrichte, als der frühere Hauptmann mit all seinen Unteroffizierskernflüchen und allem Schimpfen und Wettern. Nur das kleine Häufchen junger Kaufleute, die der Feuerwehr angehören, soll nicht ganz mit ihm zufrieden sein; sie haben immer eine etwas exklusive Stellung eingenommen und sich abseits von ihren Kameraden zu halten gesucht und versprachen sich von der Erwählung eines Standesgenossen zum Führer natürlich eine Begünstigung ihrer Prätensionen, dieser hat aber, sobald er den Sachverhalt durchschaute, die Sondergelüste der geschniegelten Herrchen nicht bloß entschieden zurückgewiesen, sondern sie auch mit seinem, gutmütigem Humor lächerlich gemacht und rund heraus erklärt, daß er in seinem Corps nur Feuerwehrleute kenne und zwischen diesen keinen Unterschied mache, als den des Eifers, der Anstelligkeit, des Mutes und der Straffheit. Und was weißt Du nun über diesen Ritter im Stahlhelm und Roßhaarbusch, Emmy?“.

Fräulein Emmy war sichtlich enttäuscht und es klang ziemlich gedehnt und gleichgültig, als sie erwiderte:

„Ach, das ist also der Herr (Hammer, meine ich, heißt er), an dem Papa eine so gute Acquisition gemacht haben will und der im Comptoir eine Menge Verbesserungen und Vereinfachungen eingeführt hat, zum großen Verdruß des alten Weinlich, der bisher so eine Art Comptoirchef war und jetzt kalt gestellt ist. Papa hat früher seine Garne von den großen deutschen Zwischenhändlern bezogen, seit er jedoch die mechanische Weberei gebaut hat, findet er es profitabler, seine Bezüge direkt aus England zu machen und um gleich mit der Spinnerei in Verbindung zu treten, hat er den Herrn Hammer engagiert, der mehrere Jahre in Manchester eingestellt war und die Verhältnisse dort und alle Bezugsquellen sehr genau kennt. Papa kann ja nicht englisch, der alte Weinlich hat nur die gewöhnliche Comptoirroutine und versteht es meisterlich, Papa um den Bart zu gehen, — sonst ist er das Gegenteil eines Genies und die jungen Leute bringen aus den Handelsschulen neben argem Dünkel nur ein paar Brocken mit, mit denen sie nichts rechtes anzufangen wissen und die hinten und vorn nicht zureichen. Sonst weiß ich nichts über den Herrn, der das seltene Glück hat, von Dir protegiert zu werden, wir können ja aber nachher Papa anbohren — wenn von seinem Engländer die Rede ist, kommt er ordentlich in Feuer und wird sofort mitteilsam.“

Da mischte sie sich zum erstenmal Modesta ins Gespräch und sagte: „Ich bin zufällig auch im stande, einen kleinen Beitrag zur Charakteristik des Herrn Hammer zu liefern, da Leontine ein frisches Interesse für ihn an den Tag legt. Er hat ein gutes Herz, er ist wohlthätig und er ist es, was mehr sagen will, in aller Stille. Ich war dieser Tage einmal bei der Frau Berthold, die ja viele Jahre bei uns gedient hat, weil ich hörte, daß sie krank sei. Die Leute haben viele Kinder und einen alten, ganz hinfälligen Vater zu ernähren, und da der Mann sich kürzlich in der Fabrik die Hand erheblich gequetscht und statt des Wochenlohnes nur das knappe Krankengeld bezieht, so waren sie recht kümmerlich daran. Während ich mir das von Frau Berthold erzählen ließ, kam der eine Bube, ein hübscher, sonnenverbrannter Flachskopf mit großen, offenen, graublauen Augen, ganz echauffiert angetrabt und rief ins Zimmer: „Mutter, Mutter — ich habe ein Stück goldenes Geld!“ Und vorsichtig öffnete er über dem Bett der Mutter die kleine, braune krampfhaft geschlossene Faust und ein Zehnmarkstück fiel auf die Zudecke. Der Kleine war in der Fabrik gewesen, um sich bei dem alten, gutmütigen Portier zu erkundigen, ob er nicht einmal wieder einen Arm voll Holz bekommen könne; „der Herr, der bei der Feuerwehr den roten Busch auf dem Helm trägt,“ war dazu gekommen, hatte ihn freundlich gefragt, wer er sei und dann mit dem Portier gesprochen. Als er nachher schon wieder nahe an der Stadt war, war ihm der Herr entgegengekommen, hatte ihm das Geld gegeben und ihm gesagt, er solle es ja nicht verlieren und seinen Eltern einfach sagen, ein fremder Herr hätte es ihm geschenkt. Darauf hat der Kleine dreist erwidert: „O, ich kenne Sie — Sie haben Sonntags einen blanken Helm mit einem feuerroten Busch auf!“ Der Herr hatte gelacht und war davon gegangen.“

Fräulein Emmy war ein wenig gerührt und sehr erstaunt über die lange „Rede“, sie fragte neugierig: „Du kennst ihn also nur par renommée?“

Martha lächelte, aber es war, als werde ihre sonstige Sicherheit durch einen Hauch von unerklärlicher Befangenheit getrübt, als sie erwiderte: „Nein, ich habe sogar schon mit ihm gesprochen und kann versichern, daß er durch Takt und Gewandtheit jedem Salon Ehre machen würde.“ Sie machte eine kleine Pause, als zaudre sie, ob sie weiter erzählen müsse, ja, als bereue sie sogar, so viel gesagt zu haben, aber während Emmy in gespanntester Neugier rief: „Aber weiter, weiter!“ und Frau v. Larisch sich ganz unmerklich und flüchtig auf die Unterlippe biß, wie man es wohl thut, wenn man etwas recht Unerwartetes und nicht bloß Willkommenes erfährt, kam der Bedrängten der galonnierte Diener zu Hilfe, dessen Phantasieuniform alle Welt sehr abenteuerlich fand, nur der Herr Kommerzienrat nicht, und meldete gravitätisch: „Der Herr Kommerzienrat erwarten die Damen zum Thee.“

Wir sind nun wohl genügend über die drei einander so wenig ähnlichen Frauengestalten orientiert, deren weiche Hände in das Geschick unseres Helden einzugreifen bestimmt sind, und es dürfte nachgerade an der Zeit sein, daß wir uns nach diesem umsehen. Was man von Frauen über einen Mann in Erfahrung bringen kann, ist in der Regel nur wenig und hat mit seiner Charaktereigentümlichkeit nicht viel zu schaffen; sie halten sich an Aeußerliches, und so fein und rasch sie in dieser Hinsicht beobachten, so schwach ist ihr Vermögen, in die Individualität des Beurteilten einzudringen und Schlüsse aus den bedeutsamen kleinen Zügen zu ziehen, durch welche dieselbe sich verrät. Männliche Beobachter operieren entgegengesetzt; sie haben weder eine Gewißheit über die Farbe der Augen ihres Studienkopfes erlangt, noch vermögen sie zu konstatieren, daß an einem Handschuh das Schlußknöpfchen fehlte und daß ein Knopf am Rock ein wenig abgeschabt war, aber dafür pflegen sie über die hervorstechendsten Charakterzüge, über die größere oder geringere Originalität und selbst über das Gemütsleben des Objekts ihrer Beobachtung in der Hauptsache im klaren zu sein. Abgesehen nun davon, daß die drei Damen, deren Geplauder wir belauschten, gar nicht in der Lage gewesen sind, zu zeigen, ob sie einen Mann nicht nach zufälligen und untergeordneten Aeußerlichkeiten beurteilen und daß der am wenigsten Gesprächigen, die also aller Wahrscheinlichkeit die beste Beobachterin ist, die Gelegenheit, sich zu äußern, abgeschnitten wurde, bleibt uns schon nichts übrig, als unseren Helden selber unter die Lupe zu nehmen und in sein häusliches Stillleben einen prüfenden Blick zu werfen. Unser Interesse ist ja zur Genüge geweckt worden.

Ungefähr zu der Zeit, als wir uns in das Haus des Kommerzienrats einschlichen, war Wolfgang Hammer, von seinem großen, klugen Neufundländer begleitet, von einer vielstündigen, ziellosen Streife durch den Wald und über die Berge heimgekommen. Er begrüßte seine alte Wirtin, eine ehrsame Klempnerswitwe, die strickend in der Hausflur saß, mit einem freundlichen Zuruf, stieg hinauf in sein Zimmer im ersten Stock, steckte den großen Strauß gelber Primeln, den er mitgebracht hatte, ins Wasser, öffnete die Fenster und sah in tiefen Gedanken hinaus nach den Bergen, die sich rasch in Dunkelheit hüllten. Am wolkenüberzogenen Himmel ließ nur da und dort ein matter Stern sich erkennen, und die Müdigkeit nach dem angreifenden Marsch und des Abends trübe, drückende Schwüle mochten wohl eine unbestimmte Niedergeschlagenheit in ihm erzeugt haben, denn als die gute Frau Meiling mit Licht und dem frugalen Abendbrot kam, gab er auf die Fragen der plauderlustigen Alten so knappe und kühle Antworten, daß sie bald einsah, er sei weder aufgelegt, sich mit ihr zu unterhalten, noch sie (mit dem ernsthaftesten Gesicht von der Welt) ein wenig zu necken und zu schrauben. Sie wußte bereits, daß es unter solchen Verhältnissen das Geratenste war, ihn allein zu lassen; es war ein „eigener“ Herr, dieser ihr Mietsmann, und gar nicht wie andere junge Leute, wie sie ihren Nachbarinnen schon wiederholt mit einem leisen Wiegen des Kopfes und doch auch mit einem etwas stolzen Lächeln versichert hatte, aber so gut und freundlich, daß man gar nicht anders konnte, als sich in ihn zu schicken und ihm alles an den Augen abzusehen. Er hatte eine Art, den Leuten selbst ihnen Widriges erträglich zu machen, die unwiderstehlich war, eine sanfte, fast bittende, ein wenig humoristische und doch zugleich ganz bestimmte Art, die Frau Meiling in ihrem Leben noch nicht aufgestoßen war. Daß sie ihm über nichts grollen konnte, hatte sie gleich am Tage seines Einzuges bei ihr erfahren. Als er auf der Suche nach einer ihm zusagenden Wohnung eines Abends in ihr Haus getreten war und sie gefragt hatte, ob im oberen Stock und zwar auf der Rückseite, von wo man die Berge stets vor Augen habe, nicht ein Zimmer zu haben sei, vielleicht auch ein kleines Schlafgemach, aber beileibe kein Alkoven — er brauche Luft und Licht auch im Schlafe —, hatte sie zwar zugeben müssen, daß sie recht wohl zwei Zimmerchen abgeben könne, aber sie mochte sich, da sie keine Magd hatte und kinderlos war und von den Zinsen des in vieljähriger Ehe Erübrigten bequem leben konnte, auf ihre alten Tage keine solche Last mehr machen, und hatte also nach Aeußerung vielfacher Bedenken und Skrupel und nach langem Ueberlegen und Zaudern schließlich doch abgelehnt. Aber es war ihr sauer geworden; der hübsche, stattliche junge Mann mit dem offenen Gesicht, den guten Augen und der einschmeichelnden Stimme, der ihr versicherte, daß er fast gar keine Bedienung beanspruche und daß sie ihn nicht viel merken werde, war ihr die ganze Nacht im Kopfe herumgegangen, das tief in der weiblichen Natur begründete Verlangen, jemanden zu haben, für den man sorgen und dem man das Dasein unmerklich und geräuschlos behaglicher machen kann, erwachte aus jahrelangem Schlummer und ein zufriedenes, verjüngendes Lächeln glitt über das alte Gesicht, als sie sich vorstellte, wie hübsch und behaglich der feine, junge Herr es bei ihr haben solle. Am nächsten Morgen in aller Frühe schickte sie nach dem Gasthof, in dem Wolfgang sich inzwischen einquartiert hatte, und ließ ihn bitten, nochmals zu ihr zu kommen, und sie wunderte sich selbst darüber, wie rasch und leicht sie über alles einig wurden. Gleich am nächsten Tage wollte er von seiner zukünftigen Wohnung Besitz ergreifen, und als sie ihm erschrocken vorstellte, daß doch erst alles in Stand gesetzt werden müsse, klopfte er sie lächelnd auf die Schulter und sagte; „Lassen Sie uns das zusammen besorgen; wir werden so rascher fertig und Sie würden mir kaum alles zu Dank machen — ich hab so meine Eigenheiten, das sagte ich Ihnen schon, und Sie wissen gar nicht, was für Raritäten ich mitbringe.“

Die gute Alte hatte zum Schein zugesagt, aber mit dem festen Vorsatz, dennoch alles herzurichten; brachte sie nicht einen unauslöschlichen Makel auf ihre Hausfrauenehre, wenn ihr Mieter nicht alles vorbereitet fand? So erließ sie denn ein kleines Aufgebot an den Heerbann ihrer weiblichen Verwandtschaft, und eine halbe Stunde, ehe Wolfgang hatte kommen wollen, war die letzte gehäkelte Decke glattgestrichen und das letzte Bild an der Wand zurechtgerückt und die letzte Fliegenspur am Spiegel wegpoliert.

Aber wie bald verwandelte sich der Ausdruck gutmütigen Triumphes, von dem ihr Gesicht strahlte, in den des Gekränktseins und der Empfindlichkeit! Als Wolfgang kam, sagte er im Tone freundlichen Vorwurfs und wahren Bedauerns: „Und nun haben Sie sich doch Mühe gemacht und zwar vergebliche Mühe, denn so kann ich das Zimmer beim besten Willen nicht brauchen. Nicht einmal das Bett kann bleiben, wie es ist — ich ersticke in einer solchen Federgruft, und außer der Matratze müssen Sie alles fortschaffen — eine Decke bringe ich selber mit und an anderes Lager bin ich nicht gewöhnt. Wollen Sie mich einmal eine Stunde allein schalten und walten lassen und dann urteilen?“ Frau Meiling brummte zwar: „Na, das wird eine hübsche Wirtschaft werden!“ aber sie mußte doch lächeln, mit so viel Herzlichkeit hatte er ihr beide Hände hingehalten und dazu gesagt: „Und nun sind Sie mir nicht böse — nicht wahr? Ich hatte es Ihnen doch gesagt, und es war ja auch alles ganz hübsch und behaglich, nur nicht für einen so eigensinnigen Sonderling, als ich es bin.“ Sie ging hinüber zur Nachbarin, um ihm das Feld ganz zu räumen, aber innerlich gestand sie sich, es lohne sich wohl der Mühe, noch einmal jung zu werden; war er so liebenswürdig und herzlich und gut gegen eine alte Frau, bei der kein Zahn mehr fest saß, wie mußte er dann erst einem jungen Mädchen gegenüber sein, das er versöhnen und gewinnen wollte?

Als sie nach zwei Stunden wiederkam und ihr Mieter sie mit einer launigen Reverenz in seine „Gemächer“ führte, mußte sie zugeben, daß er ein kleiner Hexenmeister sei. Er hatte kein Stück Möbel am alten Platze gelassen, und es war auch unbestreitbar, daß in keiner gut bürgerlichen Haushaltung eine solche Anordnung herrschte, aber hübsch und flott sah es doch aus, das mußte man ihm lassen. Alle Bilder hatte er von der Wand genommen und durch andere ersetzt, die allerdings viel schöner waren und, was ihr zur besonderen Genugthuung gereichte — die badenden Mädchen und ähnliches, das für Junggesellenwohnungen charakteristisch ist, fehlten ganz, und die Alte dachte im stillen: „Ja, ja, er ist eben nicht wie die anderen, und wie er sich's eingerichtet hat, so soll's auch bleiben, so lange ich es ihm in Ordnung halten kann.“ Sie betrachtete aufmerksam die Bilder; da war die See im Mondlicht und dort schäumende Wellen, sturmgejagte Fischerboote, schaumüberspritzte Düne; dann ein Wildbach im Hochgebirge, der strudelnd dahinschießt, durch und über die Felstrümmer in seinem Bett und auf dessen beschäumte Flut düstere Tannen ihre grünen Schatten werfen; weiter, eine einsame Schänke auf öder Pußta und ein Forsthaus im deutschen Buchenwald; ein Aquarell gab die Erstürmung des Kapellenberges bei Trautenau durch die Oesterreicher wieder. Und dort hing ein österreichischer Jägerhut, in dessen schwarzgrün schillerndem Federbusch kaum eine Feder ungeknickt war und durch den eine preußische Kugel ihren Weg genommen hatte, und an der Wand bildeten ein verbogenes Bajonett, ein dicht überm Heft abgebrochener Reitersäbel, ein Karabiner und ein von Pallaschhieben zerhämmerter preußischer Dragonerhelm mit anderen Waffenstücken eine Trophäe. In einer Ecke des Zimmers lehnte eine prächtig Sheffielder Büchse, über dem Bett hing ein Revolver, vor dessen Berührung Frau Meiling ausdrücklich gewarnt ward — eine überflüssige Ermahnung, denn sie hatte wider alles Schießgewehr eine tiefe Abneigung, und daß ihr sanfter Mietsmann ihr so gefährliche Dinge in ihr ruhiges Haus brachte, war ihr eigentlich gar nicht lieb. Um so besser gefielen ihr die zahlreichen exotischen Schmetterlinge, die in hübschen polierten Kästen hinter Glas ihre farbenprunkenden Flügel breiteten, und die ausgestopften Vögel auf dem Schrank, die an Pracht der Farbe und Seltsamkeit der Zeichnung mit den Faltern, Seglern und Schwärmern wetteiferten. Und wie viele Bücher waren zum Vorschein gekommen und füllten, sorgsam geordnet, die Abteilungen des Bücherschranks! Frau Meiling hat später einmal ein wenig in diesen Büchern gestöbert, aber es dauerte recht lange, bis sie endlich einmal ein deutsches Buch fand, und auch diese deutschen Bücher klappte sie sehr rasch wieder zu; Historisches, Kulturgeschichtliches, Volkswirtschaftliches neben Lessing und Goethe und einigen modernen Poeten, vor allem Herwegh und Freiligrath — das war nichts zum Vorlesen an den Winterabenden, und da alles andere englisch, französisch oder italienisch war, so bekam sie einen tiefen Respekt vor der Gelehrsamkeit des jungen Mannes, der nun ihrem mütterlichen Schutze anbefohlen war und den zu bemuttern ihr ein Herzensbedürfnis war, seit sie wußte, daß seine Mutter kurz nach seiner Geburt, sein Vater wenige Jahre später gestorben sei, daß ihn ein strenger und mürrischer Vormund erzogen und ihn sich selber überlassen habe, sobald er im stande war, für sich zu sorgen, und daß er ohne Geschwister oder nähere Verwandte so recht mutterseelenallein auf der Welt stehe. Sie sagte sich freilich, für einen so schmucken, jungen Mann fänden sich zehn für eine, die bereit seien, ihn aus der Vereinsamung zu erlösen, und er brauchte sich nur nach den Mädchen umzusehen, aber seltsamerweise schien es, als sei er auch in dieser Beziehung ganz anders, als seine Altersgenossen; sie wußte genau, daß manches hübsche Bürgermädchen, deren Eltern „auch etwas in die Milch zu brocken hatten“, ihrem schlanken Mieter zu Gefallen ging und eine Besorgung gerade in die Zeit verlegte, zu der er nachdenklich aus dem Comptoir nach Hause schlenderte, oder geradezu einen Umweg machte, um ihm zu begegnen, und es war unter den Nachbarinnen darüber schon mancherlei Geflüster und Gemunkel gewesen und die Spottlust hatte reiche Nahrung gefunden; er aber schien von alledem nichts zu bemerken oder bemerkte wirklich nichts, und wenn er abends gegessen hatte, rief er seinen mächtigen, klugen Hund und wanderte mit ihm hinaus in die Berge und in den Wald und nach seiner Rückkehr brannte die Lampe in seinem Zimmer regelmäßig bis lange nach Mitternacht. Hatte er vielleicht drüben in dem nebeligen England eine Braut? Frau Meiling wagte danach nicht zu fragen, denn er hatte ihr einmal bei Gelegenheit erklärt, er möge mit Menschen, die andere neugierig nach ihren persönlichen Verhältnissen ausfragten, nichts zu schaffen haben und sie könnten sicher sein, daß er ihnen zur Strafe in aller Unbefangenheit die tollsten Geschichten aufbinde, wenn er gerade in der rechten Stimmung sei. Sie hatte aber überlegt, daß sich unter den Porträts, welche die eine Wand seines Zimmers schmückten, auch nicht ein einziges weibliches Gesicht befand, das nur einigermaßen in den Verdacht geraten konnte, das einer Geliebten ihres Mietsmannes zu sein; zudem würde dieses Bild doch einen Ehrenplatz erhalten haben und vor den anderen so oder so ausgezeichnet worden sein. Oder ließen ihn die hübschesten Mädchen nur deshalb so gleichgültig, weil er höher hinaus wollte? Sie hätte es ihm gar nicht einmal verübeln können, denn sie fing nachgerade an, den jungen Mann in erklärter Parteilichkeit und mit fast mütterlicher Bewunderung mit anderem Maße zu messen, als andere gewöhnliche Menschenkinder.

Wolfgang war mit seinem Abendbrot bald fertig, obwohl er nach Art geistig sehr regsamer Menschen während des Essens zugleich eine Zeitung studierte, indessen haben wir Zeit, ihn während dieser Doppelbeschäftigung uns genauer anzusehen. Hat er auf den ersten Blick einen entschieden martialischen Eindruck gemacht, so stellt sich bald heraus, daß wir uns dabei durch einen Zug von Stolz und den dem ganzen Gesicht ausgeprägten Ernst irreleiten ließen; es ist im Grunde nichts Soldatisches an ihm, als der sorgfältig gepflegte, seidenweiche blonde Schnurrbart, dessen letzte Spitzen fast die Schulterblätter berühren. Die großen blauen Augen erhalten einen ihnen nicht natürlichen Ausdruck von Strenge nur durch den forschenden, prüfenden Blick, der ihnen eigen ist und jeder Seele ihr Geheimnis abfragen zu wollen scheint; im Grunde sind sie sanft, und enthusiastische ältere Mädchen würden sie sogar unbestreitbar träumerisch finden. Zu diesem fast weiblichen Zug stimmen auch das weiche Kinn, die feingeschnittene Oberlippe, die über die Unterlippe auffallend dominiert, die kleine, weiße Hand mit den schlanken Fingern, die voraussichtlich in einem nicht allzu niedlichen Damenhandschuh Platz hat und selbst der ganze Bau, der von Haus aus zart angelegt und nur durch körperliche Uebungen und konsequente Abhärtung gegen Wind und Wetter gekräftigt und gestählt worden ist. Das Gesicht, dessen Regelmäßigkeit durch die hohe, reine Stirn den Charakter des Edlen erhält, ist von jener energischen Blässe, die teils auf eine sehr weiße Haut, teils auf eine rastlose geistige Thätigkeit und ein vielbewegtes Gemütsleben schließen läßt und keineswegs den Eindruck des Krankhaften macht, ja sich bei den Damen, als „besonders interessant“ einer nicht geringen Beliebtheit erfreut und sich besonders gut ausnimmt, wenn eine leichte, flüchtige Röte über sie hingehaucht ist.

Breitet sich nun vollends über dieses blasse Gesicht ein Schleier von Müdigkeit und Schwermut, die ja für die Frauen auch noch den starken Reiz des Geheimnisvollen haben, so kann es unwiderstehlich sein und es ist eigentlich schade, daß Frau v. Larisch ihren Günstling nicht sehen kann, wie er die Reste seines Mahls zur Seite schiebt, sich lässig eine Cigarre anbrennt und den blauen Ringen nachdenklich nachblickt, als studiere er die Gesetze ihres Entstehens und Zerfließens. Plötzlich steht er, wie von einem neuen Gedanken beherrscht, rasch auf, setzt sich an den Schreibtisch und legt die Cigarre weg. Die Feder fließt über den weißen Oktavbogen und es scheint für ihn weder ein Sichbesinnen noch ein Sichverbessern zu geben. Wollen wir ihm über die Schultern sehen? Er schreibt das kleinste und zierlichste Händchen, das je aus einer Damenfeder kam, aber wie flüchtig die Schrift auch ist, wie sie auch alle Abkürzungen sich dienstbar macht und sogar, wo ihr Dasein nicht zur Verhütung eines Mißverständnisses nötig ist, alle die Strichelchen, Häkchen und Pünktchen ausläßt, die uns Deutschen so viel Zeit kosten, - sie hat doch einen männlichen Charakter. Sie ist so regelmäßig, so klar und scharf, daß sie das Lob einer großen Leserlichkeit verdient und wir nicht die mindeste Mühe haben, folgenden Brief Zeile für Zeile entstehen zu sehen:

Alte, gute, treue Haut!

Du hast in Deinem Leben viel Beredsamkeit daran verschwendet, in mir den Glauben zu erwecken, daß ich die Gabe besitze, neue Menschen und neue Verhältnisse sofort richtig zu beurteilen. Ich habe Dir zugeben müssen, - daß ich in der That kaum je in die Lage kam, das Urteil, das sich aus meine ersten Eindrücke stützte, späterhin modifizieren zu müssen, aber dennoch blieb mein Mißtrauen wider erste Eindrücke unauslöschlich, und ich konnte mich nie von der Furcht emancipieren, durch vorschnelles Urteilen mich einer Leichtfertigkeit schuldig zu machen und nicht minder einer Ungerechtigkeit. Nenne es immerhin Pedanterie in meinen Adern fließt deutsches Gelehrtenblut und es wäre doch seltsam, wenn mir davon her nicht eine Dosis dieser urdeutschen Eigenschaft anklebte. So habe ich denn mit einem Urteil über meine neuen Verhältnisse auf dem Boden der Heimat bis heute gezögert, obwohl ich Dir gestehen muß, daß ich diesen Brief nach den ersten drei Tagen nur unerheblich anders geschrieben haben würde; was Du meine „weibliche Sensitivität“ zu nennen beliebst, hätte sich also wieder bewährt. Der Pedant in mir konstatiert freilich, daß dieser Brief zwar kein Stimmungsbrief ist, daß ich aber etwas erschöpft bin und an einem melancholischen Abend schreibe, zwei Dinge, die bei mir zu allen Zeiten jede Empfindung und jeden Gedanken färbten, Du wirst also gut thun, anzunehmen, daß meine Epistel um eine Nüance heller ausfiele, wenn die äußeren Umstände weniger mit meiner krittlichen Grundrichtung in Einklang stünden.

Alles in allem bleibt mir schon nichts weiter übrig, als Dir zu sagen: „Charlie, mein Junge, ich glaube, ich habe mich eines argen Rechenfehlers schuldig gemacht und bin in eine Falle gegangen.“

Der Rechenfehler besteht darin, daß ich die Stellung in Deutschland annahm, weil ich ein tiefes Bedürfnis empfand, mich zu isolieren und Ruhe zu haben, und daß ich die Möglichkeit der Isolierung und die Ruhe in Deutschland zu finden hoffte. Du hast allerdings den Kopf geschüttelt und gesagt: „Das sind Luftschlösser. Du freilich kämst niemandem zu nahe und zögst Dich wie eine Schnecke in ihr Haus zurück; Du vergräbst Dich in Deine Bücher und bist am zufriedensten, wenn Wochenschriften und Monatshefte Deine einzigen Besucher sind; Du liegst tagelang im Walde und stöberst allerlei Kraut und allerlei kriechendes und fliegendes Getier auf, von dessen Vorhandensein andere Menschenkinder keine blasse Ahnung haben, und kannst Du vollends einen Garten haben, so sind Dir rote Bohnenblüten und Tigerlilien die liebsten Gesellschafter — aber meinst Du denn wirklich, die Menschen werden Dich in Ruhe lassen? Sie würden nichts ausrichten, wenn sie Dir etwas böten, aber sie werden Rat und Hilfe von Dir verlangen, und Du hast noch nicht gelernt, etwas abzuschlagen und wirst Dich bald in ein Netz von Gefälligkeiten verstrickt sehen, das Dich auf Schritt und Tritt hemmt, vorausgesetzt noch, daß Du damit wegkommst und daß es Dir nicht etwa schlimmer geht.“ Ich lachte, machte Dir ein Kompliment über den Scharfsinn, mit dem Du Deinen Freund Wolfgang beurteilst, ging aber doch. Und nun sitze ich hier und habe das unabweisliche Vorgefühl, daß ich mich über kurz oder lang in Kämpfe verwickelt sehe, über deren Natur ich noch vollständig im unklaren bin, in denen ich aber, bei meiner Unfähigkeit, Hammer zu sein (ich bin ersichtlich heute schlecht disponiert, denn die Wort- und Namenwitze sind die längst bis aufs letzte magere Hälmchen abgeweidete Domäne der Juden), sicherlich Amboß sein werde — und das ist eben keine erbauliche Aussicht.

Du bist ein Pessimist in Bezug auf alle Welt, nur in Bezug auf mich nicht; Du wirst Dir also wahrscheinlich aus den Aeußerungen von Mißbehagen, die ich Dir zu Gehör gebe, früher als ich die mutmaßliche Natur der Verwicklungen konstruieren, die das Ende vom Lied sein werden und in denen für mich nichts zu holen ist, wenn ich auch den Einklang mit mir selber nicht verlieren und den „Schild der Ehre“ fleckenlos davon tragen werde. Du nickst und sagst lächelnd: „Das weiß ich, mein Junge!“?

Es ließe sich ganz gut hier leben, wenn nicht auch hier so viele Karikaturen der edlen Gestalt „Mensch“ herumliefen, noch dazu mit den ungeheuerlichsten Prätensionen und ohne ein Fünkchen Bewußtsein von ihrer Fragwürdigkeit. Lächelst Du und meinst: „Gott sei Dank, nun wird er sogleich humoristisch-satirisch werden und dem und jenem einen Denkzettel anhängen?“ Du wirst wohl recht behalten, aber Du siehst, ich kenne Dich auch.

Wollte ich bloß meiner Neigung folgen, so finge ich das Ding am umgekehrten Ende an, aber es gilt das Dekorum zu wahren und die gesellschaftliche Rangordnung wenigstens einigermaßen zu respektieren und da muß wohl zuerst mein „Brotherr“ aufmarschieren. Du bist nie im Lande der Maßkrüge, der Philosophen und der „sinnigen“ Jungfrauen gewesen und weißt daher auch nicht, wie viele absonderliche Originale die Klasse der „Kommerzienräte“ umfaßt, aber selbst in dieser bunten Gesellschaft darf mein Herr Chef Anspruch auf ein Ehrenplätzchen und auf besondere Beachtung erheben. Unwissend in einem verblüffenden Grade (trotz hoher geschäftlicher Geriebenheit) und auf stetem Kriegsfuße mit der Orthographie und Stilistik, entfaltet er doch das ganze Selbstbewußtsein eines Mannes, der als einfacher Weber und ohne einen Thaler Vermögen begonnen hat, während des amerikanischen Sklavenhalterkriegs durch glückliche Spekulationen aus einem mäßig wohlhabenden zu einem reichen Manne ward und nun die Schwäche hat, eine gesellschaftliche Stellung einnehmen zu wollen, für deren Wahrung ihm alle Bildungsvorbedingungen fehlen. Seine vorzügliche Küche, sein noch vorzüglicherer Keller und seine importierten Cigarren sichern ihm nur die äußere Achtung eines ganzen Schwarms von Leuten, die hinter seinem Rücken auf seine Kosten lachen, nachdem sie sich an seiner Tafel gütlich gethan haben. Ich will damit keineswegs sagen, daß sie an wirklicher Bildung über ihm stünden, aber sie haben wenigstens den glänzenden Lack gewisser alter Traditionen des guten Tons über ihre innere Roheit gestrichen und dieser Lack fehlt dem Parvenu naturgemäß, und seine Versuche, sich mit diesen unverstandenen und leider auch ungeschriebenen Gesetzen abzufinden, fallen unsäglich komisch aus. Zum vollen Bewußtsein des Abstandes zwischen dem einstigen Weber und dem jetzigen Kommerzienrat scheint er erst gelangt zu sein, seitdem einer der alljährlichen Wolkenbrüche von roten Adlerorden auch in sein leeres Knopfloch ein Tröpfchen verspritzt hat, und ich würde mich keinen Augenblick wundern, erzählte man mir, daß sogar das Knopfloch seines Schlafrocks mit dem geliebten Bändchen geschmückt sei. Wäre ich ein Possendichter — ich machte eine Hauptfigur aus ihm und hätte die Lacher auf meiner Seite. Kann es etwas drolligeres geben, als die Thatsache, daß er drauf und dran war, die vieljährige Verbindung mit seinem Breslauer Bankier abzubrechen, weil dieser sich der Todsünde schuldig gemacht hatte, auf der Adresse eines Privatbriefes an ihn das „Ritter“ etc. wegzulassen? Wenn ich Dir nun noch sage, daß er im stande wäre, im vollen Ernst zum Plagiator an einem seiner Mit-Titelträger zu werden, der sich in vertrautem Kreise dahin vernehmen ließ: „Was wollen Sie? Man wird alle Tage älter, alle Tage klüger, alle Tage reicher und darum auch alle Tage stolzer!“ so hast Du den Mann so scharf umrissen vor Dir, als blähe er Dir sich selbstgefällig in einem Schattenriß Konewkas entgegen und Du kannst Dir selber ergänzen, daß es für ihn ein Dogma ist, seinen Reichtum ausschließlich seiner Klugheit zu verdanken, und daß jeder, der es nicht so weit gebracht hat, in seinen Augen ein verlotterter Mensch oder ein von der Mutter Natur zum Stiefelwichser bestimmtes Individuum ist und an einem heillosen Mangel an Intelligenz krankt. Wär's nicht so unergründlich lächerlich, man könnte sich darüber erbosen.

Die Herren im Comptoir sind, wie üblich, der Abhub der Gymnasien und Realschulen, Menschen ohne Wissen und ohne Streben; ihre geistige Armseligkeit verursacht ihnen keinerlei Skrupel und sie plätschern ganz lustig in dem stagnierenden Pfuhl ihres öden Daseins herum und suchen sich nach Kräften zu „amüsieren“. Man hat sofort Versuche gemacht, mich für einen Skatklub, für eine Kegelgesellschaft, für ein beständiges Ballkomitee, ja sogar für ein kleines Liebhabertheater anzuwerben; die guten Leute sahen etwas verblüfft aus, als ich ihnen sagte, daß ich principiell keine Karte anrühre, daß ich lieber mit der Pistole nach der Scheibe, als mit Holzkugeln nach hölzernen Kegeln ziele, daß ich nur in meinen vier Pfählen ab und zu einmal ein Lied anstimme daß ich nie getanzt habe und nie tanzen werde, und daß mir das Leben Komödie genug ist. Sonst sind sie ja harmlos — bis auf einen. Der Herr Kommerzienrat hat da eine Art Faktotum — einen Kriecher und Schleicher, wie er im Buche steht. Im Laufe der Jahre hatte er sich in eine Stellung emporgeschmeichelt, wie sie ihm anderwärts, wo man ihn nur nach seinen Kenntnissen und Leistungen taxieren würde nicht nach seinen Bedienteneigenschaften, nie wieder zu Teil würde; nun klammert er sich krampfhaft an seinen Posten und sucht sich das persönliche Wohlgefallen des Herrn Reischach um jeden Preis zu erhalten. Den unter ihm Stehenden ab und zu ein Bein zu stellen, ist sein eifriges Bestreben, und es ist nicht einer im Comptoir, der ihn nicht verachtete, haßte und lächerlich machte; es wär für alle ein Fest gewesen, zu hören, daß der alte Weinlich einen Vorgesetzten erhalten würde, und erlaubte es ihnen die Klugheit — W. kann ja eines schönen Tages wieder oben auf kommen! - sie brächen in offene Rebellion gegen ihn aus. Der Alte ist mir mit viel zu süßer Freundlichkeit entgegengekommen, als daß ich mir nicht hätte sagen müssen: „Eitel Falschheit, alter Fuchs; innerlich bist du Gift und Galle!“ Ich würde mich aber nicht viel um den Alten kümmern, wenn ich nicht bereits wüßte, daß er es ist, der den Kommerzienrat im Widerstand gegen jede Lohnerhöhung und in der steten Geneigtheit zu Lohnreduktionen aus Leibeskräften bestärkt und die Weber, wo es nur angeht, verleumdet und verdächtigt; seinem Einflüsterungen ist es zuzuschreiben, wenn der Kommerzienrat überzeugt ist, jede Lohnerhöhung diene nur dazu, daß am Sonnabend abend noch etwas mehr in den Branntweinschänken und auf dem Tanzboden verjubelt werde, und daß man das Geld in einen Brunnen werfe, wenn man „das Volk“ nicht so knapp als möglich halte. Und ich habe doch bereits genug gesehen, um zu wissen, daß die Leute unglaublich arm und doch brav und treu und fabelhaft genügsam sind und daß die Löhne auf einem Niveau stehen, das sich absolut nicht mehr erniedrigen läßt. Darüber werde ich wohl mit dem Alten früher oder später zusammenrennen; es wird mir nicht willkommen sein, aber ich bin es schon den wackeren Leuten schuldig, die mich zu ihrem Hauptmann bei der freiwilligen Feuerwehr gemacht haben und mir die rührendsten Beweise von Anhänglichkeit und Vertrauen geben, für sie einzutreten, wenn sie von einem glatten Schleicher wahrheitswidrig verunglimpft werden. Du sagst: „Aha, da hat er ja schon ein Amt!?“ Dazu bin ich allerdings sehr ohne mein Zuthun gekommen. Es besteht hier die Bestimmung, daß alle jungen Leute bis zum 35. Jahre in der Bürgerfeuerwehr, einer Art von Landsturm für den Fall größerer Brände, zu dienen haben, dafern sie nicht nachweisen, daß sie der freiwilligen Feuerwehr angehören, die daneben besteht und auf der die Hauptlast ruht, oder dafern sich der Arzt nicht zur Ausstellung eines Untauglichkeitsattestes herbeiläßt. Man deutete mir an, daß einer der Herren Äerzte in diesem Punkte sehr „kulant“ sei, und als ich erwiderte, daß ich die krummen Wege nicht liebe und als alter Feuerwehrmann, der noch aus der einst berühmten Leipziger Schule stammt, in die freiwillige Feuerwehr eintreten würde, lächelte man und meinte, das würde ich mir schon anders überlegen, wenn ich die Leute erst gesehen hätte. Die freiwillige Feuerwehr rekrutiere sich fast ausschließlich aus den untersten Schichten der Bevölkerung, und die paar jungen Commis, die mitthäten, stellten sich nur der Uniform zuliebe in Reih und Glied neben Weber und Handwerksgesellen. Du weißt, wie ich über diesen Punkt denke — ich meldete mich sofort und habe es nicht bereut. Der Hauptmann, ein braver Schlossermeister, hatte bei den Steigerübungen bald erkannt, daß ich von der Sache mehr verstand als er, und schon vor der Generalversammlung, die nicht lange danach stattfand, hatte er seine Leute Mann für Mann überzeugt, daß es nur recht und in der Ordnung sei, wenn ich an seiner Stelle gewählt würde; was war auch gegen sein Argument einzuwenden, daß ich alles besäße, was er habe bieten können — Treue und guten Willen, aber auch noch etwas mehr: gründliche Sachkenntnis und Jugend? Er trat in die Steigerabteilung zurück und dient jetzt mit altem Eifer unter mir, und nach dem ersten Exercitium unter meiner Leitung kam er zu mir und sagte: „Sagen Sie nicht selber, daß alles einen ganz anderen Zug und Schick hat?“ Und dabei glänzte sein rotbraunes, verwettertes Gesicht vor Befriedigung.

Weiter schrieb unser junger Freund in dieser Nacht nicht. Er stützte plötzlich den Kopf in die Hand und versank in ein Nachdenken, dessen Resultat der vorläufige Verzicht aufs Weiterschreiben war. Fühlte er sich müde oder konnte er nur mit dem, was er zu erzählen hatte, nicht so ohne weiteres ins reine kommen?

Bis zum nächsten Abend war er sich indessen klar geworden, in welchem Geiste der Brief weitergeführt werden mußte. Der sich ergebende Schluß lautete folgendermaßen:

„Sonstige Bekanntschaften gemacht?“ fragst Du. Leider ja. Ich habe die ersten Tage im Gasthof essen müssen, und wenn ich auch entschlossen war, mir die Leute, mit denen ich an der Tafel zusammenkam, zehn Schritte vom Leibe zu halten, so hatte ich dabei ohne die desparate Hartnäckigkeit gerechnet, mit der gesellschaftsbedürftige Menschen, die in kleinen, toten Städten leben müssen, jeden einigermaßen gebildeten Menschen attakieren, der ihnen aufstößt, und ohne die Liebenswürdigkeiten, mit denen sie ihn überschütten. Sei noch so ablehnend und lakonisch, sie machen Dich mürbe und es ist rührend, wie sie Dir alles an den Augen abzusehen suchen. So ist es mir denn mit zwei Chemikern gegangen, die in den beiden unweit der Stadt gelegenen Zuckerfabriken arbeiten, seltsamerweise auch beide Alfred heißen und dem „ewig Weiblichen“ zeitlebens unterthan sein werden. Im übrigen sind sie die reinen Antipoden; der eine Alfred ist lang und schlank und ziemlich blaß, trägt eine sehr scharfe Brille, vor die er oft auch noch den Klemmer hält, ist stets säuberlich rasiert und in seinem ganzen Wesen ruhelos, unstet, beinahe zerfahren; er hat in Prima eine Anzahl Sonette verbrochen und erwärmt dieselben, und namentlich die überaus originelle Wendung:

„Wie eine Rose trittst Du mir entgegen“

so oft, daß man in Zweifel gerät, ob er wirklich nur bestrebt ist, sich selbst zu ironisieren oder ob ihm die Thatsache, daß er Sonette zu schmieden versteht, nicht doch vielleicht überaus mitteilungswert erscheint und geeignet, ihn in eine interessante Beleuchtung zu rücken. Er hat, ohne Humor zu besitzen, eine höchst drollige Art, kindliche, schmollende, zimperliche Accente anzuschlagen und Scharfsinn genug, einen Wortwitz zu Tode zu hetzen. Da er ein Mensch von vielseitiger Bildung und im Grunde eine wackere Natur ist, so verzeiht man ihm seine erstaunliche Vergeßlichkeit und seine Unzuverlässigkeit, die so konsequent ist, daß sie zuletzt nur noch komisch wirkt. Hat man sich für 8 Uhr abends mit ihm versprochen, so kommt er im günstigsten Falle um 9 Uhr angaloppiert, wie eine von Leoparden verfolgte Giraffe, wirft sich erschöpft und schnaufend in einen Stuhl und hat die allertriftigste Entschuldigung in petto. Darf man seinen Versicherungen Glauben schenken, so beträgt die Zahl der von ihm bisher überstandenen Liebschaften dreiundzwanzig, wobei kleine Plänkeleien selbstverständlich nicht mitgerechnet sind, und er gefällt sich darin, die Sache so darzustellen, als sei es sein Fluch und eine große Unbequemlichkeit für ihn, allüberall die armen Mädchen magnetisch an sich zu ziehen; er giebt sich gar keine Mühe um sie, er ärgert sich über seine Schwäche, sich nicht zu kühler, artiger Ablehnung aufraffen zu können, aber wenn sie ihm entgegenkommen, dann erwacht in seinem weichen Herzen das Mitleid und „halb zog sie ihn, halb sank er hin“ und ein Kuß bildet das Finale. Diese eigentümliche Spielart der Gattung „Don Juan“ (ich vergaß ganz zu sagen, daß er ein recht hübscher Bursche ist, der dem Geschmack der Frauen, wie sie durchschnittlich sind, ganz gut entspricht) ist nämlich von sehr moralischen Grundsätzen geleitet und geht nicht auf den Ruin der Opfer seiner überwältigenden Liebenswürdigkeit aus — er ist damit zufrieden, ihnen einen Tribut in Form eines Kusses aufzuerlegen und über den leichten Grad von Immoralität, der auch hierin liegt, weiß er sich durch die Erwägung hinwegzusetzen, daß dem Glück gegenüber, von dem hübschen, schlanken Sonettendichter Paul geliebt worden zu sein, ein so kleines Opfer gar nicht in die Wagschale fallen dürfe, und daß im äußersten Falle jede einzelne eine ansehnliche Zahl von Leidensgefährtinnen habe, mit denen sie sich trösten könne.

Im übrigen singt er recht hübsch, interessiert sich lebhaft für die schöne Litteratur und hat in ästhetischen Dingen ein gesundes Urteil; ich plaudere ganz gern mit ihm, und wenn er jeder Dame, die das zweifelhafte Glück genoß, seine Aufmerksamkeit zu fesseln, ein überschwängliches Beiwort verleiht, wenn er die eine eine Juno, die zweite eine Diana, die dritte eine Madonna, die vierte eine reine Elfe sein läßt, so lacht man ihn eben herzhaft aus. Er hat die Schwäche, jedem recht zu geben — nur in zwei Punkten hat er seine eigene, unbeugsame Meinung. Als (selbstverständlich materialistischer) Naturforscher hat er einen wahren Haß wider alles, was Religion heißt und speciell gegen das Christentum, und wenn jemand Richard Wagner für einen Musiker hält, so kann er wild und bitter werden.

Der andere Alfred ist eines Kommerzienrats Sohn, Doktor durch die kostspielige Gnade der Universität Jena und obendrein Reserveoffizier, welcher letztere Umstand ihn jedoch nicht hindert, den viel verheißenden Bauch fast demonstrativ vor sich her zu schieben und sehr gewaltsam mit den Armen zu schlenkern. Er ist ein reines Kind, d. h. gutmütig, lenksam und launenhaft. Wie schon das Vorhandensein eines Bauches andeutet, ist er ein eingefleischter Gourmand, hat die Geheimnisse der edlen Kochkunst mit Liebe und Fleiß ergründet und fühlt sich sichtlich gehoben, wenn er als Koch funktionieren kann; seiner Hochachtung für den langen Alfred thut nur der einzige Umstand Abbruch, daß dieser zwischen Schöpfenbraten und Truthahn keinen Unterschied zu machen vermag und einem Hummer in vollständiger Ratlosigkeit gegenübersitzt. Der Brave pflegt sich, wenn wir uns in philosophische oder litterarische Gespräche vertiefen, ganz heimlich fortzustehlen oder sich auf dem Sofa auszustrecken, und sehr bald dokumentiert er den Grad seiner Anteilnahme an unseren tiefsinnigen Untersuchungen durch ein herzhaftes Schnarchen. Es existiert keine einigermaßen „niedliche“ Kellnerin oder Verkäuferin im Städtchen, die nicht unter seiner Protektion stünde und die er nicht mit dem vergnügtesten Lächeln, mit zarten Aufmerksamkeiten und duftigen Blumenspenden beglückte. Ein wahres Theater führen die beiden gemeinsam mit ihrer „kleinen Anna“ auf, einem jungen Mädchen, das sie bei einer alten Verwandten, bei der beide wohnten, in dem halb lächerlichen, halb bemitleidenswerten Uebergangsstadium zwischen Kind und Jungfrau kennen lernten, das von der grilligen Alten schlecht behandelt ward, dessen sie sich während einer längeren Erkrankung mit all ihrer Gutmütigkeit annahmen und das ihnen nun eine große Anhänglichkeit und Dankbarkeit widmet, die eine verzweifelte Aehnlichkeit mit einer Liebesneigung hat; ich weiß nicht so recht, ob es eine Milderung oder eine Erschwerung ist, daß die Kleine im Banne einer Doppelneigung zu stehen scheint. Ob sie dem langen oder dem kurzen Alfred den Vorzug giebt, ist schlechterdings nicht zu erkennen. Das Verhältnis ist unleugbar ein ungesundes und gewagtes, da keiner von den beiden eingestandenermaßen daran denkt, die Kleine zu heiraten, und im Interesse aller läge ein rascher, scharfer, wenn auch schmerzhafter Schnitt, der diese Verbindung löst; hätte ich mir nicht so fest vorgenommen, mich nicht in anderer Angelegenheiten zu mischen, so könnte ich wohl aus purer Menschenfreundlichkeit in die Versuchung geraten, das arme junge Ding einmal in milder Weise ins Gebet zu nehmen und ihr über die ganze verwickelte und unklare Affaire reinen Wein einzuschenken; sie würde wohl zur Besinnung kommen, wenn ihr die Gefahren dieses „geschwisterlichen“ Verhältnisses überzeugend nachgewiesen würden.

Viel näher liegt es mir freilich, mich mit mir selber zu beschäftigen und mit der dermaligen Verfassung des unruhigen Muskels, den wir übereingekommen sind, „Herz“ zu nennen. Die Einleitung klingt gewiß nicht poetisch und romantisch, aber wer kann dafür, daß wir Kinder des neunzehnten Jahrhunderts so unbarmherzig genau darüber orientiert sind, daß das Herz ein einfaches Pumpwerk ist, das uns das Blut durch die Adern treibt, daß es nicht Sitz und Urheber unserer Liebesneigungen ist, sondern lediglich von ihnen beeinflußt wird? Ich kann mir ungefähr vorstellen, wie Du überrascht aufhorchst; in den Jahren unseres Beisammenlebens bist Du von mir gerade nicht mit Leidenschaften und Abenteuern inkommodiert worden und hast meine Unempfindlichkeit Frauen gegenüber so manches liebe Mal kopfschüttelnd eine Anomalie genannt. Nun, es hat auch diesmal keine Gefahr. Dem langen Alfred, für den ja solche Kindereien kaum erwähnenswert sind, würde ich natürlich von dem kleinen Abenteuer gar nichts erzählen, ganz abgesehen davon, daß ich in diesem Punkte sowohl instinktiv als aus Princip unerbittlich verschwiegen bin, am meisten dann, wenn mich etwas tief und nachhaltig berührt. Hörst Du also nichts wieder über die Dame, von der ich Dir zum Schluß noch erzählen werde, so nimm immerhin an, daß sich beunruhigende Symptome gezeigt haben und daß ich tiefer und tiefer in den duftigen Irrgarten geraten bin — ich spreche so ruhig über diese bedenkliche Alternative, weil sie mir sehr, sehr unwahrscheinlich vorkommt, aus Gründen, die auch Dir vollständig einleuchten werden. Und nun vernimm meine Beichte und lache mich dann aus, wenn Du magst und — kannst.

Du bist so oft — in Scherz und Ernst — wider meine Gewohnheit, einsam umherzustreifen, zu Felde gezogen, daß es Dich nicht wundern wird, wenn ich Dir berichte, ich sei dieser Gewohnheit auch hier treu geblieben. Ich habe auf waldiger Höhe bereits so manchen Punkt entdeckt, der im Sommer ganz reizend sein muß und bin nur neugierig, welchen von ihnen ich mir schließlich zum Lieblingsplätzchen erwähle. Als ich vor einigen Tagen, eben erst aus dem Walde getreten, in der Dämmerung den Hang hinabstieg, der zu Thal führt, gewahrte ich in dem tiefeingeschnittenen Hohlwege, der diesen Hang auf halber Hohe kreuzt, eine Viehherde und auf der ziemlich steilen Böschung dieses Hohlwegs eine Dame, die sich, von einem lichtgrauen Stier bedrängt, dorthin geflüchtet haben mußte. Die Sache war kaum ernst zu nehmen, am wenigsten faßte sie der kleine schmutzige, zerlumpte Treiber so auf, den die Angst der Dame, die sich mit der linken Hand an Brombeerranken festhielt, aber durch das dichte Gestrüpp verhindert war, sich einen Weg auf die Höhe zu bahnen, königlich zu amüsieren schien; er lachte im ganzen Gesicht und zeigte die großen, weißen Zähne. Ich war rasch bei der Dame — siehst Du, etwas Ritterlichkeit steckt doch noch in Deinem Freund! — trat das Gestrüpp notdürftig nieder, öffnete ihr so einen schmalen Pfad auf die Höhe, wobei freilich die Volants (heißen die Dinger so?) ihres Kleides nicht zum besten wegkamen, reichte ihr die Hand und zog sie mit einiger Anstrengung hinauf. Der kleine Hirt ließ sich durch ein paar barsche, drohende Worte einschüchtern, trieb seinen unternehmenden grauen Stier mit einigen Peitschenhieben weg und bald war die leichte Staubwolke, die sie aufwirbelten, unseren Blicken entschwunden. Die Dame (ich sah eigentlich jetzt erst, daß sie noch nicht alt war; Du wirst nicht bezweifeln, daß ich zu Gunsten des steinältesten Mütterchens gleich eifrig interveniert hätte) befand sich infolge der überstandenen verzeihlichen Angst in sichtlicher Aufregung, und es währte einige Augenblicke, bis sie mir für meinen Beistand danken konnte. Sie that es in einiger Verlegenheit, aber doch mit einem Lächeln, und versicherte, daß sie sonst durchaus nicht furchtsam sei, nur vor Rindern habe sie eine heillose Angst und gehe ihnen so weit als möglich aus dem Wege. Von einem Spaziergang auf den Berg zurückkehrend, habe sie, bereits in dem ziemlich langen Hohlweg, zu spät bemerkt, daß die Herde hinter ihr sei und durch die Beschleunigung ihrer Schritte, die wohl in Flucht ausgeartet sein mögen, habe sie vielleicht erst die Verfolgung durch den Leitstier auf sich gezogen. Ich konnte ihr wahrheitsgemäß versichern, daß mir die Hörnerträger in Form eines guten Beefsteaks ebenfalls lieber seien, als in ihrem Naturzustande und erzählte ihr, daß wir, obgleich Feuerwehrleute, erst kürzlich, als wir bei der Einfahrt durch ein überwölbtes Gehöftthor von den in Wut und Angst vor den Flammen flüchtenden Ochsen und Kühen überrascht wurden, unsere Spritze stehen ließen, und uns klüglich so flach als möglich an die Wand drückten, bis die wilde Jagd vorüber war. Während dieser Erzählung hatte ich bemerkt, daß der linke Handschuh meiner bereits wieder ziemlich gefaßten Geretteten arg zerscheuert und von Dornen zerrissen, ja sogar etwas blutig war. Die Hand schmerzte etwas, wie sie mir nun gestand; sie gestattete mir ohne Ziererei, den Handschuh vorsichtig abzuziehen und ich steckte ihn mechanisch in eine Seitentasche meines Ueberrocks; an einem nahen Quell tauchte sie ihr Taschentuch ein und wickelte es um die Hand, die nur ein paar Hautabschürfungen zeigte, so das; ich mein kleines Etui mit englischem Pflaster vergebens hervorgezogen hatte. Mir waren darüber in den Wald gelangt und standen sehr bald vor einer Parkpforte; sie besaß den Schlüssel zu derselben, gab mir unbefangen und mit einem nochmaligen Dankwort für meinen „Beistand in der Not" die Hand, die Pforte fiel hinter ihr ins Schloß und im nächsten Augenblick war sie unter den Bäumen verschwunden. – Ich bin ziemlich nachdenklich nach Hause gegangen; war es mir, als ich an der Seite der Dame dahinschritt, doch gerade gewesen, als seien wir genaue Bekannte und gute Freunde von altersher. Es ist schon viel, wenn sich nichts Individuelles zwischen Mensch und Mensch drängt, noch viel wertvoller und seltener aber ist es zweifelsohne, wenn bei einer neuen Bekanntschaft der Geschlechtsunterschied sich nicht störend geltend macht; hier war es so, und ich hatte von unserer kurzen und naturgemäß nicht hervorragenden und keineswegs „geistreichen" Unterhaltung nur den Eindruck empfangen, als hätte ich wieder einmal einen Menschen entdeckt und eine der meinen nahe verwandte Natur. Und doch war der ganze Vorfall so sehr angethan, mich daran zu erinnern, daß ich eine Dame vor mir hatte! Eine Personalbeschreibung wirst Du mir erlassen: sie müßte erstens sehr dürftig ausfallen, und dann war die Dame keinesfalls jünger als ich, eher älter, und der lange Alfred hätte schon einer ungewöhnlichen Anstrengung seiner lebhaften Phantasie bedurft, um in ihr eine Juno zu entdecken. Was mich für sie gewann, waren ihre großen, dunklen, sanften Augen und ihre weiche, tiefe Stimme, der Eindruck von Reife, Klarheit, Klugheit und Milde, den ihr ganzes Wesen machte, und die Abwesenheit jeder Spur von alltäglicher weiblicher Koketterie; ich wünschte, ich hätte mir aus innerer Ueberzeugung sagen können, sie sei eine Art Wolfgang, nur ins Weibliche übersetzt.

Wie ich über alte Mädchen denke, weißt Du, und es ist ein wahres Glück, daß ich von Dir keinen Verrat dieser ungewöhnlichen Liebhaberei zu fürchten habe; würde die Thatsache ruchbar, so bekäme ich alle „unverstandenen" alten Jungfern der vereinigten Königreiche von Großbritannien und Irland und den ganzen Vorrat des deutschen Reichs an dieser Sorte über den Hals, d. h. nur die ungenießbaren, denn die liebenswürdigen sind nicht so zudringlich, aber jener ist manches wohlgezählte Tausend und eine reicht hin, den Phlegmatischsten und Gutmütigsten um das letzte Restchen von Geduld zu bringen. Ich schwärme ja auch nicht für die erbitterten, affektierten alten Jungfern, die sich um jeden Preis noch an den Mann bringen möchten, sondern für jene gealterten Mädchen, deren liebliche Jugendblüte dahin ist, die man halb ironisch, halb mitleidig als „passée" charakterisiert und die doch so achtungswert sind und für mich allezeit etwas Rührendes haben. So unliebenswürdig, d. h. so unweiblich ist doch selten eine, daß sich ihr wenigstens nicht einmal im Leben Gelegenheit geboten hatte, den Titel Frau zu erwerben; wenn sie nun zu tief und innerlich war, als daß sich schon an der Thatsache, daß ein Herr der Schöpfung geruhe, sie liebenswert zu finden, ihre Neigung zu ihm hätte entzünden können; wenn sie zu viel Stolz und Charakter hatte, sich mit Leib und Seele einem Manne zu überliefern, für den sie nichts von jener süßen, seligen Leidenschaft zu empfinden vermochte, die nicht bloß in der Poesie existiert, — erhält sie dadurch nicht vollbegründeten Anspruch auf die Achtung jedes zartfühlenden Mannes? Es ist wohl keine leere Einbildung von mir, daß ein solches ältere Mädchen, das etwas erfahren und über die Welt, das Leben und sich selber nachgedacht hat, auch ganz anders, viel tiefer, hingebender, ernster und aufrichtiger lieben müsse, als eins von den rosigen Kindern, in deren Köpfchen die Welt sich ganz absonderlich spiegelt und die für einen ernsthaften Mann nicht mehr sein können, als ein amüsantes Spielzeug.

Es ist dies einer von den Punkten, über die ich förmlich beredsam werden kann, aber Du möchtest über den Eifer, mit dem ich diese Lieblings-„Marotte“ verfechte, gähnen, und es ist noch dazu sehr unwahrscheinlich, daß der vorliegende Fall mir Gelegenheit geben wird, meine Theorie in die Praxis zu übersetzen. Wohl ließ sich alles ganz romantisch an, und ich werde ein wenig rot bei dem Gedanken an die kleine Scene, die ich bei meinem Nachhausekommen aufführte. In der Seitentasche meines Ueberrocks fand ich nämlich den rehbraunen, zerscheuerten Handschuh, den ich mechanisch eingesteckt hatte; es war freilich nur vergessen worden, ihn zurückzufordern, wie ich vergessen hatte, ihn zurückzugeben, aber ich war doch wohl halb und halb berechtigt, ihn als Andenken zu behalten, und ich habe ihn lange ganz ernsthaft betrachtet und dann, über die eigene Thorheit lachend, den Versuch gemacht, ihn anzuziehen: es gelang sogar ganz prächtig, nur schließen ließ er sich nicht. Ich habe ihn dann vorsichtig wieder abgestreift und das letzte Fach meines Sekretärs herausgezogen, in dem allerlei Andenken an meine tolle 66er Zeit ziemlich wirr und wild durcheinander liegen; das verblichene, verkrauste Eichenreis, das ich am Morgen des Gefechts bei Trautenau mir als Feldzeichen brach, die Kugel, die ich am Abend in den Falten meines Mantels fand, die goldene Tapferkeitsmedaille, die mir dieser Tag, das Offiziers-Verdienstkreuz, das mir der von Königgrätz einbrachte (wenn der Herr Kommerzienrat wüßte, wie sorglos und nichtachtend ich mit diesen „Ehrenzeichen“ umgehe!), schob ich zur Seite und suchte mir den einst weiß gewesenen, blutbefleckten Handschuh heraus, durch den mich ein Ziethenhusar in die Linke hieb, um im nächsten Moment vom Pallasch eines Windischgrätz-Dragoners einen klaffenden Hieb in die Schulter des Schwertarms zu erhalten. Ich legte die beiden Handschuhe nebeneinander, fand an ihrer Vergleichung ein höchst absonderliches Vergnügen und packte sie dann zusammen in das Dekret über die Verleihung der Tapferkeitsmedaille, die mich damals so kindisch glücklich machte, — und da werden sie nun wohl lange — und hoffentlich in Frieden! — liegen, der weiße und der rehbraune. Denn siehst Du, die Geschichte ist, obgleich sie erst begonnen hat, so gut wie aus, d. h. sie stößt auf innere Hindernisse. Wäre die Dame eine Erzieherin oder Gesellschafterin und nur annähernd so arm wie ich, so würde ich mit dem Finger, den mir das Schicksal geboten hatte, nicht zufrieden gewesen sein, sondern versucht haben, mich der ganzen Hand zu bemächtigen. So aber ist sie die einzige Tochter des früheren Associés meines Herrn Kommerzienrats, ihr Vermögen, das recht bedeutend sein soll, steckt mit in der Fabrik und sie lebt seit dem Tode ihres Vaters im Reischachschen Hause. Das habe ich ohne Spionage auf dem allergeradesten Wege erfahren.

Am zweiten Tage nach jenem etwas „ländlichen“ Abenteuer fuhr die Dame in des Kommerzienrats Equipage an meiner Wohnung vorüber, und meine alte Wirtin, die natürlich hatte sehen müssen, wer vorüberkutschierte, fragte: „Sieht Fräulein Hoyer nicht noch recht gut aus?“ Sie schlug die Hände über dem Kopfe zusammen, als ich ihr erwiderte, daß ich mich noch nicht um die Damen des Kommerzienrat bekümmert hätte, und daß sie mir gänzlich unbekannt seien; diese Lücke in meinem Wissen mußte unverzüglich ausgefüllt werden, und hätte ich den Strom ihrer Mitteilungslust nicht gedämmt, so würde ich wohl auch über die verschiedenen Partien, die Fräulein Martha gehabt, aber sämtlich zum Staunen der ganzen Stadt und zur sprachlosen Bestürzung der erfahrensten Matronen ausgeschlagen hat, die minutiösesten Details erfahren haben. Aber es kam mir ja nun auf diese nichts mehr an, denn, die Mitteilungen, die ich bereits erhalten, hatten merkwürdig ernüchternd und erkältend auf mich gewirkt. Ich werde nie zugeben, daß die Ungleichheit des Vermögens ernstlich in Frage kommen dürfe, wo zwei Menschen einander unentbehrlich geworden sind, und ich würde einem geliebten weiblichen Wesen nie die Schmach anthun, zu glauben, sie werde je im stande sein, aus dem mir zugebrachten Vermögen besondere Rechte herleiten oder mir gar die Thatsache vorwerfen zu wollen; ich würde sie, sorglos sogar, heiraten, nicht weil, sondern obgleich sie reich ist.

In diesem besonderen Fälle erhält aber die Sache sofort einen bedenklichen Beigeschmack, und die Gefahr, in ein häßliches Licht zu kommen, liegt so nahe, daß ich fühle, wie mir die heiße Röte der Scham und der Entrüstung in die Wangen steigt. Ich mag in keinerlei nähere Beziehungen zu diesem Kommerzienrat treten, mein innerstes Gefühl lehnt sich dagegen auf, mich an der rücksichtslosen Ausbeutung der armen Menschen zu beteiligen, die die Not zwingt, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, und keine Lockung der Welt wird mich je vergessen machen, daß mein Platz nicht unter den Bedrückern, sondern an der Seite der Bedrückten ist. Es lohnt sich nicht, viel Worte darüber zu machen; Du fühlst mir nach, daß ich mit Notwendigkeit in eine schiefe, haltlose, an natürliche Stellung käme, und wer sich in eine solche um eines Frauenlächelns willen begiebt, wird mir nie verständlich sein.

Ich werde meine Abendspaziergänge künftighin nach anderen Punkten richten und die Parkpforte meiden, und dann ist alles, wie es sein soll. — Da hast lange auf einen Brief zu warten gehabt, nun kommt er aber auch in wohl ungeahnten Proportionen, und ich habe Dir so viel Gelegenheit zu kritischen Randglossen gegeben, daß Du nicht umhin können wirst, mir eine Strafrede im Stile derer zu halten, die ich stets mit rührender Geduld angehört und mit unbeugsamer Konsequenz nicht beachtet habe, ein Umstand, der Dir nur immer noch lieber machen zu wollen schien Deinen unverbesserlichen Wolfgang.

So glatt, als unser junger Freund gewähnt, sollte die Sache aber doch nicht ablaufen. Noch war keine Woche seit dem Abend verstrichen, an dem die Damen im Boudoir plauderten und Wolfgang an seinen einzigen Freund in England schrieb, als ihm die Nutzlosigkeit seines Ausweichens in unerwarteter Weise nachgewiesen ward. Er hatte seinem Chef eine Anzahl Briefe zur Unterschrift in dessen Privatcomptoir gebracht, als dieser mit einer gewissen steifen und von ihm für würdevoll gehaltenen Förmlichkeit die Aufforderung an ihn richtete, an einem der nächsten Abende eine Tasse Thee bei ihm einzunehmen. Je schwerer ihm die Notwendigkeit einer solchen Einladung, die ihm von Frau v. Larisch vorgestellt worden war, eingeleuchtet und je mehr Ueberwindung es ihn gekostet hatte, aus Artigkeit gegen diese eine private Berührung zu vermitteln, die er für durchaus unstatthaft hielt, desto mehr pikierte ihn die ruhige Gelassenheit, mit der Wolfgang diese Gunst aufnahm. Statt in freudige Verwirrung zu geraten, erwiderte jener mit einer artigen Verbeugung, daß er für den kommenden Abend verhindert sei, jedoch nicht verfehlen werde, den Damen am nächsten Abend seine Aufwartung zu machen, und schien sehr wenig von der gönnerhaften Herablassung seines Chefs gerührt zu sein. Herr Reischach hielt es für angezeigt, dem jungen Manne zur richtigen Würdigung der Bevorzugung zu verhelfen, die ihm durch die Einladung widerfuhr, und er fügte also hinzu, daß die jungen Leute in seinem Comptoir aus notwendigen gesellschaftlichen Rücksichten bisher nie in seine Familie eingeführt worden seien, daß er aber gemeint habe, zu Gunsten seiner eine Ausnahme machen zu müssen. Wolfgang erwiderte mit leichter Ironie, daß er zu viel Welterfahrung besitze, um in der freundlichen und von ihm nicht erwarteten Einladung mehr als die Beobachtung einer Förmlichkeit zu sehen, und daß er die Zeit der Damen sicher nicht ungebührlich in Anspruch nehmen werde, und der Kommerzienrat, den diese Antwort etwas außer Fassung brachte besann sich nicht früher auf eine den Umständen angemessene Replik, als bis Wolfgang an seinen Platz zurückgekehrt war. Der Kommerzienrat war in diesem Augenblick sehr unzufrieden mit sich selber und noch unzufriedener mit Frau v. Larisch, ja auch mit Emmy und Martha, denn die junge Witwe, die ihn so ziemlich zu allem zu bringen verstand, hatte ihn absichtlich im Zweifel darüber gelassen, ob sie nur für sich selber sprach oder die Wortführerin für das weibliche Kleeblatt machte.

Auch unser Freund Wolfgang befand sich durchaus nicht in rosiger Stimmung; er mied neue Bekanntschaften planmäßig, suchte sich nach Kräften aller gesellschaftlichen Verpflichtungen zu erwehren und sah sich nun genötigt, eine der ihm am meisten verhaßten, rein konventionellen Visiten zu machen! Zudem war seine ganze Natur so sehr auf Klarheit und inneren Einklang gerichtet, daß alles Verworrene, Unklare, Widerspruchsvolle und Zwiespältige ihn peinigte — und in ihm herrschte Zwiespalt. Er konnte sich nicht verhehlen, daß auf dem Grunde seiner Unruhe und seines Unmuts eine geheime, scheue Freude darüber lag, daß er die Dame wiedersehen sollte, die er unter so eigentümlichen Verhältnissen kennen gelernt hatte; wäre er minder darin geübt gewesen, den Schleichwegen des eigenen Herzens nachzugehen und seine tausend kleinen Listen sich zu enthüllen, so würde es dieser Freude wohl gelungen sein, sich ihm zu verbergen, ihm seinen eigentlichen Gemütszustand zu verschleiern und ihn über denselben zu täuschen. Genug, Wolfgang war nicht so ruhig, wie sonst, als er sich beim Kommerzienrat melden ließ; dieser war über die „romanhafte“ Idee der jungen Witwe womöglich noch verdrießlicher, als vorher, denn Wolfgangs Besuch fiel unglücklicherweise auch noch mit einem solchen des Landrats v. Wertowsky und seiner adelsstolzen Gemahlin zusammen, und es war wohl zweifellos, daß die letztere sich in ihrer spitzen, beißenden Weise über die Leute mokieren würde, die man bei ihm zu treffen Gefahr liefe. Für Wolfgang und Martha dagegen war die Anwesenheit dieses Besuchs eine willkommene; sie half ihnen über die Klippe hinweg, die darin lag, daß sie einander vorgestellt werden sollten und sich doch schon kannten, und daß beide nicht wußten, ob sie jene Begegnung erwähnen oder ganz mit Stillschweigen übergehen sollten. Nun vollzog sich die Vorstellung in flüchtigster und formellster Weise, und es gehörte Frau v. Larischs scharfes Auge und ihr weiblicher Scharfblick dazu, zu erkennen, daß die beiden sich ihrer älteren Bekanntschaft voll bewußt waren und sich zu sagen schienen: „Lernen wir uns auch zum Schein jetzt erst kennen, so wird doch innerlich dieser Abend nur eine Fortsetzung unserer ersten Begegnung sein.“ Im nächsten Augenblick sah sich Wolfgang vom Landrat in Anspruch genommen, für den er eine willkommene Erlösung von banalem Frauengeplauder und von des Kommerzienrats eben nicht sehr geistreicher Unterhaltung war. Der Landrat, einer von jenen, preußischen Beamten, deren Gesichter eine so große Familienähnlichkeit haben, war ein unterrichteter Mann und der junge Fremde und sein freies, offenes, unbefangenes Wesen sprachen ihn an. Dennoch war er zu sehr Preuße und ehemaliger Offizier, um nicht das Gespräch mit der Frage einzuleiten, ob Wolfgang gedient habe. Dieser erwiderte einfach, daß er allerdings gedient oder besser einen Feldzug mitgemacht habe, aber nicht unter den schwarz-weißen, sondern unter den schwarz-gelben Fahnen, und der Landrat, der keinen Anflug von österreichischem Dialekt bei ihm entdecken konnte, versetzte ihn, neugierig geworden, in die Notwendigkeit, zu erzählen. Wolfgang war ein geborener Sachse, aber durch seine Mutter, eine Süddeutsche, früh in gemütliche Beziehungen zu Oesterreich gebracht worden, die sich nach und nach unter dem Einfluß historischer Studien zum Großdeutschtum ausbildeten. Er stand in dem zu raschen Entschlüssen und zu opferwilliger Hingabe an eine Idee geneigtesten Alter, als sich im Jahre 1866 für den Sehenden die Wolken des Kriegsgewitters zusammenzuballen begannen, und wendete sich im Frühjahr nach Wien, um sich unter der Hand darauf vorzubereiten, im Moment der Kriegserklärung sein zweiundzwanzigjähriges junges Leben zur Verfügung zu stellen. Ein Offizier, dessen Bekanntschaft er bald gemacht, drillte ihn, focht und schoß mit ihm, und als ein Aufruf des Kaisers junge Leute aus den gebildeten Ständen aufforderte, als Kadetten auf Kriegsdauer in die Armee einzutreten, war er einer der ersten, die dem Rufe Folge leisteten. Der General v. Gablenz, ein geborener Sachse, bei dem er sich gemeldet hatte, teilte seinen jungen Landsmann dem 16. Jägerbataillon zu, das seinem Corps angehörte, und Wolfgang hielt sich bei Trautenau so tapfer und entwickelte so viel ruhige, heitere Kaltblütigkeit, daß er nach der Schlacht auf Vorschlag des Bataillons zum Offizier befördert ward. Bei Königgrätz leicht verwundet, sah er sich in der Erwartung, der Krieg werde Jahre währen, nur zu bald getäuscht, nahm unmittelbar nach dem Friedensschlusse seine Entlassung und ging, unzufrieden mit der Neugestaltung in Deutschland, nach England, halb und halb entschlossen, sich später dort für Ostindien engagieren zu lassen. Statt diesen von Groll und Mißmut erzeugten Gedanken auszuführen, hatte er sich in England festhalten lassen, ja, es war sogar zuletzt wie eine Art von Heimweh über ihn gekommen, und als sich ihm Gelegenheit bot, nach Deutschland zurückzukehren, hatten die heimischen Wälder und das Rauschen ihrer Wipfel obgesiegt über die See und über die Donner der Brandung, die ihn so oft in Schlummer gewiegt. Wie lange ihn freilich die See freigab aus ihrem Bann, das ließ sich nicht sagen.

Er hatte mit einer gewissen Lebhaftigkeit erzählt, aber einfach und schmucklos und ohne jeden Anflug von Renommisterei; auch die raffinierteste von allen Formen der Koketterie, die einer studierten Bescheidenheit, lag ihm fern, und der Eindruck, den dieser Bericht hervorbrachte, war ein so günstiger, daß der Kommerzienrat anfing, zu glauben, es sei vielleicht kein Unglück gewesen, daß diese beiden Besuche sehr wider seinen Wunsch durch eine Laune des Zufalls zusammenfielen. Der Landrat konnte trotz seiner tiefen Abneigung wider alles, was Freiwilligkeit hieß, und trotz seiner ehrlichen, altpreußischen Verachtung für Freiwillige im Kriege nicht umhin, sich für den jungen, streitbaren Preußenfeind zu interessieren, und seine stolze Frau war sogar so gnädig, einige Fragen an Wolfgang zu richten und machte während der Heimfahrt, wenn auch sehr nachlässig und beiläufig, eine Bemerkung über das angenehme Organ des jungen Mannes und über den merkwürdig einschmeichelnden Tonfall, mit dem er spreche. Die Beobachtungen des Landrats, der Wolfgang in ein lebhaftes Gespräch verwickelt hatte, unter beinahe auffälliger Beiseitelassung des Kommerzienrats, hatten sich natürlich nicht auf solche Nebensachen erstreckt; er hatte über mancherlei englische Verhältnisse Auskunft eingezogen und Wolfgang auf allen Gebieten bieten, die er berührte, wohlorientiert gefunden; unser Freund vermochte genaue, gründliche, ja erschöpfende Mitteilungen zu machen, und der Landrat konnte sich nebenbei überzeugen, daß der junge Mann auch auf den Gebieten zu Hause war, von denen er nichts verstand und die ihm fern lagen. Freilich hatte Wolfgang auch daraus kein Hehl gemacht, daß die preußische Strammheit durchaus nicht überall sein Ideal sei, der Landrat hatte auf die ziemlich zuversichtliche Frage, ob ihn der große Sieg von 70 nicht mit den allerdings schmerzlichen Verwickelungen von 66 ausgesöhnt hätte, eine mehr als reservierte Antwort erhalten, und auch zu den Bewunderern des Kulturkampfes schien Wolfgang keineswegs zu gehören; er vermied es freilich mit artiger Gewandtheit, sich auf eine Diskussion über diese Punkte einzulassen, so daß der Landrat sich in die Notwendigkeit versetzt sah, seinem patriotischen Eifer und seinen heftigen Sympathien und Antipathien Zügel anzulegen. Als der Landrat und seine Frau sich empfahlen und ersterer sich von Wolfgang mit einem herzhaften soldatischen Händedruck verabschiedete, empfand Herr Reischach eine große Erleichterung — es war ja augenscheinlich, daß die Anwesenheit seines „jungen Mannes“ ihm in den Augen des Landrats nicht geschadet hatte. Er geleitete seinen Besuch bis an die Thür und war, als er zurückkam, sehr geneigt, Wolfgang eine Abbitte zu thun: der Landrat hatte ihn auf die Achsel geklopft und sehr freundlich gesagt: „Sie haben da einen anscheinend recht intelligenten, kenntnisreichen und brauchbaren jungen Mann, den ich hoffentlich einmal wieder bei Ihnen sehe; er hat etwas sehr englische, radikale und subjektive Ansichten, aber dergleichen pflegt sich mit der Zeit zu legen und einer reiferen Anschauung Platz zu machen, namentlich wenn die Leute etwas Ehrgeiz haben und Carrière zu machen suchen. Ich weiß nicht, was Sie mit dem Herrn Hammer Vorhaben, aber ich sollte fast meinen, es lohne sich der Mühe, ihn hier auf irgend eine Art zu fesseln und ihn in die Kreise einzuführen, die ihm vielleicht bisher fremd geblieben sind; für einen so klugen Mann, wie der Herr Kommerzienrat es sind, wird es nicht schwierig sein, Mittel und Wege zu finden und dabei so vorsichtig zu Werke zu gehen, daß der junge Mann nicht etwa stutzig und kopfscheu wird; es ist alles daran gelegen, ihn auf eine feine und unverdächtige Art unmerklich aus seiner zu nichts Gutem führenden Isolierung herauszulocken; das weitere giebt sich dann von selbst, da der junge Mann kein Schwärmer und Fanatiker zu sein scheint — Kaufleute pflegen praktischen Sinn und praktischen Blick zu haben.“ Der Kommerzienrat fühlte sich durch das seinem Scharfsinn und seiner Gewandtheit von einem so einflußreichen Manne gespendete Lob nicht wenig geschmeichelt, und wenn ihm der Fall auch vorläufig noch etwas dunkel war, so hegte er doch keinen Zweifel darüber, daß ihm bei einigem Nachdenken ein helles Licht über des Landrats eigentliche Meinung aufgehen werde, und sehr befriedigt kehrte er in das Zimmer zurück, wo eben der Thee serviert worden war; der Landrat hatte so lange nicht bleiben können und die Einladung dankend ablehnen müssen. Inzwischen hatten die Damen, auf welche die Anwesenheit des Landrats lähmend gewirkt hatte, Wolfgang ihrerseits ins Gespräch gezogen, und Herr Reischach vernahm schon im Vorzimmer seiner Tochter helle, fröhliche Stimme; er trat rasch ein, denn er fürchtete, die kleine Ausgelassene könne sich einen Scherz auf Kosten des Landrats erlauben. Es wäre nicht das erste Mal gewesen; die kleine übermütige Ballschönheit hatte den Herrn Papa schon manches liebe Mal veranlaßt, sich ängstlich umzusehen, ob nicht etwa jemand anwesend sei, durch dessen boshafte oder leichtsinnige Indiskretion diese unverzeihlichen Keckheiten an die falsche (oder eigentlich richtige) Adresse gelangen könnten; er erschrak unfehlbar im nächsten Moment über sich selber, so oft er nicht umhin gekonnt hatte, sich von seines Lieblings satirischer Heiterkeit anstecken zu lassen, und empfand wirkliche Gewissensbisse, wenn der Gegenstand dieser Heiterkeit sein verehrter Gönner, der Herr Landrat v. Wertowsky war, durch dessen Verwendung er das so lange vergebens ersehnte farbige Bändchen im Knopfloch endlich erlangt hatte. Fräulein Emmy richtete ihre kleinen, zierlich gefiederten, ironischen Pfeile gegen jeden, der nicht durch Jugend und Erscheinung das günstige Vorurteil erweckte, ein flotter Walzertänzer zu sein, und es wäre kein Wunder gewesen, wenn sie den Landrat zur Zielscheibe ihrer Ausgelassenheit gemacht hätte — hatte er sie doch dadurch gereizt, daß er sie so lange verhinderte, den Protégé der Frau v. Larisch ein wenig zu sondieren und sie nebenbei durch die Unterhaltung, in die er denselben verwickelte, aufs äußerste langweilte. Sie hatte wiederholt nur mit Mühe ein Gähnen unterdrückt; konnte es auch etwas Trockeneres geben, als eine Debatte über die Aussichten des Getreidebaues in Mitteleuropa, über den konsequenten Raubbau, der das Verschwinden des rumänischen Getreides aus dem Weltmarkt verschuldet, über die Chancen den Spatenkultur in der Umgebung größerer Städte, über die unverzeihliche Vernachlässigung des Obstbaues u. s. w.? Frau v. Larisch durfte natürlich gleichfalls keiner besonderen Sympathien für derartige Gesprächsstoffe geziehen werden, aber die Sicherheit und Schlagfertigkeit des jungen Mannes, dessen äußere Erscheinung ihr so gut gefallen hatte, gereichte ihr zu einer Art von persönlicher Genugtuung, und da sie nur sehr bedingungsweise die Vorliebe der meisten Frauen für die Don Juans teilte, so empfand sie ein gewisses und ihr eigentlich recht rätselhaftes Vergnügen bei dem Gedanken, daß ein junger Mann, der sich um solche Dinge ernstlich kümmerte, unmöglich Zeit gehabt haben könne, sich mit dem Studium der Frauen zu beschäftigen. Sie hörte aufmerksam zu und auch Martha that dies, obgleich ein oberflächlicher Beobachter hätte glauben können, sie nehme keinerlei Anteil an dieser Unterhaltung — so ausschließlich schien sie mit der feinen Handarbeit beschäftigt, auf die sie sich tief niederbeugte. Sie wurde nicht müde, dieser Stimme zu lauschen, die so ernst und doch so gut und herzlich klang, und in den geheimsten Falten ihrer Seele hätte sie die melancholische Frage entdecken können: „Warum muß er noch so jung, warum so hübsch sein oder warum bin ich nicht mehr jung und hübscher, als ich es je gewesen?“ Von dem fast unausrottbaren Frauenvorurteil, daß man jung und schön sein müsse, um einem Manne zu gefallen, war auch sie nicht frei, wennschon sie zu der Meinung neigte, diese Eigenschaften seien nur deshalb nötig, weil man ohne sie nicht so viel Interesse zu erwecken vermöge, daß ein Mann es der Mühe wert halte, auch den seelischen Eigenschaften der gewinnendhen und gefälligen Erscheinung nachzuforschen. Sie legte sich jedoch über ihre Empfindungen keine Rechenschaft ab; sie war es so sehr gewöhnt, übersehen oder doch nur zum Gegenstand von Huldigungen gemacht zu werden, gegen die ihr feines Gefühl sich auflehnte und die ihr klarer Verstand und ihr gebildeter Geschmack komisch und lächerlich fanden. Sie hatte sich wohl in jungen Jahren in einsamen Dämmerstunden ein Bild von dem Manne gemacht, den sie rückhaltlos lieben könnte und sich dann immer gesagt, daß er nicht hübsch und elegant zu sein brauche — nur viel klüger als sie selber müßte er sein, so daß sie bewundernd zu ihm aufsehen konnte, so klug, daß er im stande war, ihr alle die Fragen zu beantworten, die sich ihr aufdrängten, und ein warmes Herz für die Natur mußte er haben. Ab und zu hatte wohl im Gewühl der Menschen ein Laut an ihr Ohr geschlagen, von dem sie in frohem Schreck wähnen konnte, daß er aus ihrer Traumwelt käme; aber im nächsten Moment war er verklungen und verweht, von einer Fülle kalter, fremder Laute erstickt — und wie sie auch verhaltenen Atems lauschte, der liebe Laut kam nicht wieder. Und sie wäre doch so glücklich gewesen, hätte sie einmal einen Mann gefunden, den sie lieben konnte, und die Frage, ob sie seine Gegenliebe zu wecken wußte, stand erst in zweiter und dritter Linie. Sie hatte sich endlich in Müdigkeit und Trauer davon zu überzeugen gesucht, daß sie einem Schemen nachjage, daß es keine Männer gebe, die ihrem Traumbild entsprächen und daß sie also wohl niemals lieben werde — sie wußte, daß es zwischen ihrem Herzen und der Wirklichkeit keine Möglichkeit eines Kompromisses gab und daß sie unfähig war, sich mit einem Surrogat zu begnügen oder gar eine Verstandesehe zu schließen. Und nun stand plötzlich das Urbild all ihrer scheuen, geheimen Träume verkörpert vor ihr, und selbst die äußeren Eigenschaften, die sie ihn, ohne Bedauern erlassen hätte, fehlten nicht. Ihr nächstes klares Gefühl war das tiefer Genugthuung.

So hatte sie also doch recht gehabt, so war es doch keine thörichte, sentimentale, romantische Mädchengrille gewesen, von der sie sich hatte beherrschen und leiten lassen, und ihr dunkles, aber unabweisbares Gefühl hatte ihr den rechten Weg gewiesen! Sie zuckte unwillkürlich zusammen bei dem Gedanken, wie trostlos ihr zu Mute sein würde, wenn sie jetzt nicht mehr frei wäre und wenn der Blick auf den ungeliebten Gatten an ihrer Seite ihr verböte, in verschwiegener Seele diesen jungen Mann mit den klaren Augen und der gewinnenden Stimme rückhaltlos und freudig zu bewundern. Das wenigstens konnte ihr ja niemand wehren, wenn ihr auch der Gedanke, ihm näher zu treten, so fern lag. So hatte sie oft darüber getrauert, daß sie weder eine Sprache, noch ein Musikinstrument erlernt statte; teils hatten die örtlichen Verhältnisse es nicht ausführbar erscheinen lassen, teils hatte ihr Vater sich ablehnend gegen allen Bildungsluxus verhalten, der bei der Erziehung junger Mädchen von eitlen Eltern getrieben werde — nie aber war die Trauer eine so bittere gewesen, als in dieser Stunde. Sie zagte davor, daß ihre Unwissenheit im Laufe der Unterhaltung zu Tage treten werde, und sie gab sich darüber, daß Emmy und Frau v. Larisch bemüht sein würden, dieses Gebrechen ihrer Bildung zu verschleiern, keinen Illusionen hin — sie wußte ungefähr, was in solchen Fällen eine Frau von der anderen zu erwarten hat.

In der That nahm die Unterhaltung sehr bald die von ihr erwartete und gefürchtete Wendung, aber es war der Kommerzienrat, der dieselbe herbeiführte.

Unwissende Eltern pflegen auf nichts so eingebildet zu sein, als auf die Kenntnisse ihrer Kinder, und wenn sie mit denselben Parade machen können, empfinden sie eine tiefe Befriedigung; der Kommerzienrat hatte eine sehr hohe Meinung von dem in der Pension erworbenen Englisch seines Töchterchens und beeilte sich, ihr seine mißfällige Verwunderung darüber auszusprechen, daß sie nicht die Gelegenheit benutze, mit Herrn Hammer englisch zu sprechen. Sie war von der Aufforderung nicht sonderlich erbaut, denn sie war sich sehr genau bewußt, daß es mit ihrem Englisch viel windiger aussah, als der Herr Papa ahnte, aber sie sagte sich, daß es nur darauf ankomme, so resolut als möglich darauf loszuschwatzen — vielleicht ließ sich Herr Hammer durch diese spielende Flüchtigkeit täuschen, und jedenfalls war er zu galant, den Vater aus seinem schönen Wahn zu reißen. In der That plauderte sie keck immerzu und würde ihren Zweck erreicht haben, wenn ihr das Verstehen der Antworten, die Wolfgang gab, nicht unübersteigliche Schwierigkeiten bereitet hätte — sie kam merklich ins Stocken, und der Kommerzienrat, dem nach und nach eine Ahnung von dem wirklichen Sachverhalt aufdämmerte, nahm Wolfgangs wohlwollende Erklärung, daß man längere Zeit in einem Lande gelebt haben müsse, ehe man dazu gelange, sich in einer Unterhaltung, die in der Sprache desselben geführt werde, zwanglos zu bewegen, ziemlich mißtrauisch auf. Es schwebte ihm die Frage auf den Lippen, wie es ihm denn möglich gewesen sei, in England fortzukommen, da er sein Englisch doch auch in Deutschland gelernt habe, aber er unterdrückte dieselbe; was gewann er, wenn er Herrn Hammer einer galanten Schönfärberei überführte? Statt einer unbequemen Vermutung eine sehr verdrießliche Gewißheit. Frau v. Larisch erbarmte sich ihrer jungen Freundin, indem sie bemerkte, sie habe aus der ganzen Unterhaltung nur das eine ersehen, daß diejenigen im Rechte sind, die behaupten, das Englische sei eigentlich gar keine Sprache, und eine Unterhaltung auf Englisch sei gleichbedeutend damit, daß zwei Menschen den Mund voll Wörter nehmen, dieselben eine gute Weile kauen und sie dann einander ins Gesicht sprudeln. Frau v. Larisch zog das Französische bei weitem vor, und sie befreite Emmy aus der Klemme, in der sich dieselbe befand, indem sie mit Wolfgang französisch zu plaudern begann; Emmy mischte sich zur größten Befriedigung des Kommerzienrats ab und zu mit einer gleichgültigen Bemerkung, einer banalen Phrase ins Gespräch, und man schien gar nicht daran zu denken, daß man Martha auf diese Weise ganz von der Unterhaltung ausschloß und es ihr überließ, ab und zu auf eine deutsche Bemerkung des Kommerzienrats zu antworten.

Hatte Wolfgang überhaupt etwas davon bemerkt, daß Martha zum Stillschweigen verurteilt war? Er ließ alle im Zweifel darüber, aber sobald Frau v. Larisch mit einer scherzenden Wendung die Muttersprache wieder in ihre Rechte eingesetzt hatte, wendete er sich an Martha, und es lag eine ganz leise, und nur für Frauenohren bemerkbare Nuance von Vertraulichkeit in seiner Stimme, als er sie fragte, ob das Gewächshaus die Maiblumen liefere, die auf dem Blumentisch dominierten, oder ob sie dieselben selber gezogen habe? Er konnte, wenn er Martha gesprächig machen wollte, keine glücklichere Frage thun; sie hatte die kleinen Zwiebeln ihrer erklärten Lieblingsblume im Herbst aus dem Walde mit heimgebracht und selber eingepflanzt, und sie war sehr erfreut, wenn auch gar nicht erstaunt, als Wolfgang ihr sagte, daß sie sich in dieser Liebhaberei begegneten; die zierliche, anmutige Form, die milchweiße Färbung und der eigentümliche leise Duft der Glöckchen, der so sehr an den Wald erinnere, machten ihm die kleine Blume vor allen lieb, und er freue sich auf die Zeit, in der sie in den Wäldern um die Stadt blühen werde. Damit war der Uebergangspunkt zu einem Geplauder über den Wald gefunden, und über diesen sprach er mit einer herzlichen Wärme, die seiner Versicherung, er bedaure immer noch, nicht Forstmann geworden zu sein, einen eigentümlichen, zwingenden Nachdruck verlieh. Fräulein Emmy konnte nun freilich nicht einsehen, daß der Wald so schön sei; ihr waren die großen schwarzen und roten nackten, fleischigen Schnecken zuwider, die ihre Schleimspur über die Wege ziehen, sie hatte einen unauslöschlichen Abscheu vor den übelriechenden grünen Baumwanzen, die man beim Suchen der Haselnüsse oft unversehens zerdrückt; sie fand es abscheulich, daß man den Angriffen der großen Waldameisen ausgesetzt ist, so oft man sich im Moose niedersetzt, und der Gedanke, einen heimtückischen Holzbock aufzulesen, konnte ihr das üppigste Heidelbeerkraut mit den schönsten Beeren für ewige Zeiten verleiden.

Wolfgang hörte sie lächelnd an und sagte dann:

„Ich bekenne mich ja gern dazu, daß meine Waldschwärmerei ihre angreifbaren Seiten hat, namentlich für Damen, die nicht mit Aufschlagstiefeln in den Wald gehen, aber da ich einmal so weit gegangen bin, will ich auch mit der allerärgsten Ketzerei nicht hinter dem Berge halten. Können Sie sich denken, daß ich für den musikalischen Genuß, im Walde zu liegen und stundenlang dem leisen Wehen und Flüstern und dem Rauschen zu lauschen, das oft nur wie ein unterdrückter Seufzer, wie eine scheue Klage durch die Stille geht, um dann wieder anzuschwellen zu feierlichem Brausen, daß ich für den Genuß, die tausend Modulationen dieser weltewigen, ehrwürdigen Musik in mich aufzunehmen, willig und freudig alle Opern der civilisierten Welt dahingebe und für einen Vogelruf aus Buchenkronen alle Triller und Läufer der gefeiertsten Sängerinnen unserer Hofbühnen?“

Fräulein Emmy war über diese Aeußerungen ganz verdutzt, Frau v. Larisch aber erwiderte:

„Nun, das klingt ja ganz hübsch, ist aber doch paradox bis zum Exceß, und Sie werden doch nicht leugnen wollen, daß auch die Musik einen schönen Eindruck auf Sie macht? Sie werden mich wenigstens nie überzeugen, daß Sie ein Musikverächter sind, wenn ich Ihnen auch vielleicht zutraue, daß Sie kein Klavier in Ihrem Hause dulden würden, wie ich dies von einem sonst für alles Schöne ganz empfänglichen Professor in Berlin als thatsächlich verbürgen kann.“

„Ich würde nicht aufrichtig sein, wenn ich leugnen wollte, daß ich auch für Ihre Musik empfänglich sei. Ich bin es im Gegenteil vielleicht in zu hohem Grade, möglicherweise deshalb, weil ich der Musik keine abgehärteten und abgenutzten Nerven entgegenbringe. Sie wühlt sehr leicht und sehr rasch meine Seele in allen ihren Tiefen auf, aber es wird mir nicht wohl dabei, weil die begriffsmäßige Klarheit fehlt, weil ich nur Schatten erhalte, wo ich Gestalten verlange, weil ein unbestimmter und doch intensiver Nervenkitzel an die Stelle meines normalen Denkens und Fühlens tritt und mich völlig zu unterjochen strebt. Man hat vielleicht ein Recht, von einer Musikseuche und speciell von einer Klavierpest zu sprechen, die für unsere Zeit charakteristisch sind, und ich bin sehr geneigt, einen innigen Zusammenhang zwischen ihnen und der geistigen Verflachung unserer Tage und der beharrlichen Abkehr von den strengen, festumrissenen, auch für den Genuß die Mitthätigkeit des Geistes fordernden Schöpfungen der Poesie aufzusuchen. Besonders eine Thatsache spricht gegen die Musik und läßt es als eine Verirrung des Zeitgeschmacks erscheinen, daß ihr eine so große Geltung eingeräumt wird, die Thatsache, daß man unter den professionellen Musikern eine solche Ueberzahl von strohtrockenen, poesielosen, nüchternen und über die Maßen einseitigen Menschen findet. Und wollen Sie leugnen, daß zwischen dem Opfer an kostbarer Zeit, das man zu bringen hat, ehe man dazu gelangt, einer lustigen Gesellschaft ein paar Tänze oder ein seichtes Musikstück vorklimpern zu können und zwischen dem thatsächlichen Wert dieser Leistung ein so schreiendes Mißverhältnis besteht, daß es mindestens angezeigt wäre, dem Eindringen des Klaviers in jede einigermaßen gut situierte Familie einen Riegel vorzuschieben und die Erlernung dieser doch eben gar nicht leichten Kunst auf diejenigen zu beschränken, die ein hervorstechendes Talent entwickeln?“

„Es ist etwas wahres und richtiges an alledem, aber sie übertreiben entsetzlich, und ich möchte Sie einmal auf ein paar Stunden in meiner Gewalt haben, um das so schonungslos angegriffene Klavier gründlich an Ihnen rächen zu können.“

„Es ist die Frage, ob ich Ihnen so lange Stand hielte, aber was würden sie erzielen, wenn ich Ihnen nicht entrinnen könnte? Sie würden alles in mir um und durcheinander werfen und eine greuliche Konfusion anrichten, ich würde melancholisch werden und hätte hinterher meine liebe Not, alles wieder zurecht zu rücken und in Ordnung zu bringen. Das passiert mir im Walde nicht, und auch die tausend Stimmen des wehenden Windes und der wogenden See, denen gegenüber mir die raffiniertesten Nachahmungsversuche Ihrer gefeiertsten Komponisten immer entschieden kindisch und ohnmächtig vorkommen, haben immer das ruhige Gleichgewicht meiner Seelenkräfte gestört. Ich werde es also wohl zeitlebens mit diesen Naturlauten und mit einer wohlklingenden menschlichen Stimme halten, die mit echtem Gefühl ein einfaches Volkslied singt und das — ich will es gern gestehen — thue auch ich zuweilen.“

„Der Herr Kommerzienrat hört gerade nicht her — das erlaubt mir, Ihnen zu sagen, daß Sie entweder in einer anderen Richtung Künstler sein müssen oder daß ich meinen Augen den Prozeß zu machen habe, da sie mir hartnäckig wiederholen, daß Ihr Gesicht ein echtes Künstlergesicht ist und daß Sie echte Künstleraugen haben. Sie zeichnen oder malen — habe ich es erraten?“

„Nein, obgleich ich mir diese Fertigkeit, wenn auch nur ganz für meinen Privatgebrauch, schon unzählige Male gewünscht habe, ebenso oft vielleicht, als ich meinen Bekannten, wenn sie sich ans Klavier setzten, erklärte: „Ihr hättet auch etwas Gescheiteres lernen können.“

„Nun, dann bleibt, da Sie doch schwerlich den Meißel führen werden, nur noch die eine Annahme, daß Sie ein Dichter sind und neben der Musik der Baumkronen auch noch die der Verse lieben und — üben. Und nun sagen Sie nicht wieder „Nein!“, sonst haben Sie mir ein Rätsel aufgegeben, dessen Lösung ich als unmöglich aufgeben müßte.“

Wolfgang zauderte einen Augenblick, dann erwiderte er rasch :

„Der Herr Kommerzienrat hört noch immer nicht her und Sie werden, hoffe ich, reinen Mund halten. Diesmal haben Sie richtig geraten, aber wenn Sie es nicht erraten hätten, würden Sie es wohl nie erfahren haben, denn auch meine poetische Anlage dient mir nur für den Privatgebrauch, und so wird es immer bleiben. Dabei ist keine Spur von Affektation, und das unbegreiflichste von allen unbegreiflichen Dingen ist für mich die Wut unserer kleinen Lyriker vorletzten und letzten Ranges, sich gedruckt zu sehen und wäre es auch nur im entlegensten Winkel der Sonntags-Unterhaltungsbeilage des heimatlichen Tageblättchens. Ich dränge meine Verse niemanden auf, ich verheimliche sie sogar und zwar nicht bloß deshalb, weil ich zufällig Kaufmann bin.“

„Ich gelobe feierlichst, keiner Seele auch nur ein Wort davon zu verraten,“ scherzte Frau v. Larisch, „und was Fräulein Hoyer anlangt, die, wie ich eben bemerke, sehr wider Willen Ohrenzeuge gewesen ist, so bürge ich für sie — sie war von je ein wahrer Ausbund von Verschwiegenheit, und bei ihr ist das große Geheimnis so sicher aufgehoben, daß Sie ruhig schlafen können.“

Wolfgang sah das Mädchen mit einem raschen Blicke an, vor dem sie das Auge nicht niederschlug, und sagte dann mit dem Tone, den er, wie es schien, nur für sie hatte:

„Nie war eine Versicherung überflüssiger. Ich will mich keines besonderen physiognomischen Scharfblicks rühmen, aber wenn ich vorhin aufgefordert worden wäre, sofort eine Charakteristik von Fräulein Hoyer zu liefern, so würde ich keinen Moment geschwankt haben, sie zu allernächst als verschwiegen zu bezeichnen.“

Das war gewiß kein ausschweifendes Kompliment, aber diese Worte machten das schweigsame Mädchen dennoch sehr glücklich, und es leuchtete flüchtig in ihren Augen auf, als sie ganz einfach und dennoch mit einem gewissen ruhigen Stolze erwiderte:

„Das Gegenteil ist so häßlich und unwürdig, daß ich die Verschwiegenheit als etwas sehr Selbstverständliches ansehe, über das niemand ein Wort verlieren sollte.“

„Sie haben ganz recht, aber haben im Grunde nicht alle unsere guten Eigenschaften nur dann einen Wert, wenn sie uns als selbstverständlich erscheinen?“

„Ich halte es für eine Ihrer besten Eigenschaften, ein Stück Poet zu sein,“ warf lächelnd Frau v. Larisch dazwischen, „und werde mich bemühen, es als „selbstverständlich“ anzusehen, daß Sie sehr schöne Verse machen. Es ist mir auch gar nicht merkwürdig; meine früheren Fragen sind Bürge dafür; irgendwo mußte der Künstler zum Vorschein kommen.“

„Was die Verse anlangt, so würde ich Ihnen doch raten, sich jedes Vorurteils zu enthalten; übrigens ist es noch nicht einmal selbstverständlich, daß jemand, der ein geborener Poet ist, auch wirkliche Verse macht. Es giebt große Dichter, die nie zwei Zeilen gereimt haben, und so mancher junge Lyriker, der sich eifrig bemüht, den Berg der Sonntags-nachmittags-Lyrik (mit Goldschnitt) noch um ein paar Zoll zu erhöhen, hat auch nicht einen Funken Poesie in der Seele. Alles kommt darauf an, ob jemand im stande ist, sein Leben poetisch zu gestalten und es ganz mit Poesie zu sättigen und zu durchtränken, und das haben sehr viele Dichter von anerkanntem Ruf nicht gekonnt — ihr ganzes Leben ist so langweilig und staubig wie eine Chaussee durch märkischen Kieferwald, auf der man unablässig bis an die Knöchel im Sande versinkt.“

Es wäre ihm sichtlich angenehm gewesen, dieses Thema weiter ausspinnen zu können, schon um der beiden großen, fast schwarzen Augen willen, die selbstvergessen und mit einem höchst beredten Ausdruck von Spannung, Zustimmung und freudiger Ueberraschung an seinen Lippen hingen, aber der Kommerzienrat, der inzwischen mit seinem Töchterchen geplaudert hatte, fuhr mit einer Frage sehr verschiedener Natur dazwischen, und das einmal abgerissene Gespräch ließ sich später nicht wieder anknüpfen, um so weniger, als sich jetzt auch Fräulein Emmy wieder in ihrer munteren, oberflächlichen Weise an demselben beteiligte und allerlei über England zu wissen begehrte. Das Gespräch spann sich so in Form eines an Sprüngen reichen Geplauders weiter, und ab und zu machte auch Martha mit ihrer ruhigen, weichen Stimme eine Bemerkung. Wolfgang nahm dieselben meist schweigend hin, aber es freute ihn, daß er sich stets in voller Uebereinstimmung mit ihr befand; was sie sagte, war klug und mild, und man fühlte, daß sie nichts Angelerntes wiedergab, sondern die Ergebnisse eigenen Nachdenkens aussprach, nicht ohne dabei anfänglich mit einer gewissen Zaghaftigkeit und Scheu zu kämpfen, die sich erst nach und nach verlor und einer bescheidenen Sicherheit Platz machte. Und einige Male hatte Wolfgang auch wieder die Freude, dem unbewußten Augenaufschlag und dem beinahe erwartungsvollen Blick zu begegnen, der diesem Mädchen eigen war und der von einer zugleich ungewöhnlichen und liebenswerten, zugleich rührenden und achtunggebietenden Natur zu erzählen schien. Die Zeit verging ihm merkwürdig rasch, und er empfand beinahe ein Bedauern, als er sich sagen mußte, es sei hohe Zeit geworden, sich zu empfehlen. Als er sich von Frau v. Larisch und Fräulein Emmy mit einer tadellosen Verbeugung verabschieden wollte, reichte ihm die erstere mit freimütigem Wohlwollen die Hand — er war ihr dankbar dafür, denn erhielt er dadurch nicht ein halbes Recht, seinerseits Martha die Hand zu reichen? Sie legte ohne Hast und ohne Staunen ihre kleine, kühle Hand mit den schlanken Fingern in die seine, als müsse es so sein; war sie denn nicht eine viel ältere Bekannte von ihm, als Frau v. Larisch, und hatte sie nicht ein viel begründeteres Anrecht auf diese Vertraulichkeit?

Wolfgang ging nicht direkt nach Hause. Er pflegte sich selber scherzend einen Nachtvogel zu nennen, für den mit dem Hereinbrechen der Nacht ein ganz anderes, erhöhtes Leben beginnt und der durch das Sonnenlicht geblendet, durch den Lärm des Tages geängstigt wird, während das Dunkel und die Stille sein eigentliches Element sind. Heute war es aber doch nicht bloß der Wunsch, die schöne, laue, sternenlose Frühlingsnacht und die fast atemlose Stille zu genießen, der ihn zu einem langen nächtlichen Spaziergang veranlaßte. Er war innerlich unruhig und sein gelassener, klarer Gleichmut litt darunter, daß er sich sagen mußte, seine Welt und die des Kommerzienrats seien durch eine hohe, stählerne Mauer unwiderruflich und unübersteiglich geschieden, während er doch unaufhörlich nur die beiden großen Augen sah, die so müde und traurig und doch auch wieder so ausdrucksvoll und strahlend sein konnten. Ihm war, als sei dieses alternden Mädchens Seele Dornröschens verzaubertes Schloß: alles darin schlief und nur die Turmspitzen und Zinnen überragten die Dornenhecke und mahnten an die schöne Welt hinter ihr, die des Weckers harrte. Sollte er vorübergehen und Dornröschen weiterschlummern lassen, er, der doch den Bann brechen konnte; sollte er selber um das märchenhafte Glück sich betrügen, weil — das arme Geschöpf reich war, weil sie im Hause seines Chefs lebte (oder vielleicht nur vegetierte, um schließlich an Mangel an Luft und Licht zu verwelken?), und weil man ihm unedle Motive unterschieben konnte, wenn er um die Neigung des Mädchens warb, das so erheblich älter war als er selber? Das schien ihm mit einemmal so feig, so unwürdig, so niedrig zu sein, ein Verbrechen an ihm selber, dem vielleicht nie wieder eine so tiefe, schöne und glücklose Natur entgegentrat, ein Verbrechen an ihr, der der Zufall wohl nicht zum zweitenmal eine Poetennatur zuführte, die sich magisch von ihr angezogen fühlen mußte. War es nicht seine Mannes- und Menschenpflicht, dieses ernste, nachdenkliche, einsame Mädchen mit den geheimnisvollen Augen zu ergründen und sie, wenn sie war, was er hoffte und ahnte, notfalls der ganzen Welt abzuringen und abzutrotzen? Sie kam ihm mit so schlichtem Vertrauen, mit so einfacher Herzlichkeit entgegen, als verlange sie eben nur, sein guter Freund, sein treuer Kamerad, sein einziger oder doch sein liebster Vertrauter zu werden, und als werde sie es ihm mit der schrankenlosesten Hingebung lohnen, wenn er sie aus ihrer beängstigenden, tödlichen Vereinsamung erlöste — und er sollte noch auf eine andere Stimme hören, als auf die seines Herzens? Aber freilich — war sie denn auch wirklich das, wofür er sie hielt? Er hatte nie zu den liebebedürftigen oder auch nur eitlen jungen Männern gehört, die keine vierundzwanzig Stunden ohne irgend ein kleines „Verhältnis“ zu existieren vermögen, und wenn er die Frauen auch nicht gerade mied, so hatte er sie doch noch weniger gesucht, aber dennoch hatte er schon mehreremal die mehr beschämende als betrübende und zuweilen sogar komisch wirkende Erfahrung zu machen gehabt, daß idealistisch gestimmte junge Männer nur allzu geneigt sind, sich allerlei in ein schönes Mädchen und in ein Lockenköpfchen mit weißer Stirn hineinzuträumen und hineinzudenken, das in Wirklichkeit nur in ihnen selber existiert und das die zart Verehrte nicht einmal verstehen würde, wenn man zu ihr davon spräche, oder doch sehr — weiblich auffassen würde. Dazu kam, daß er eine sehr hohe Meinung von dem angeborenen Schauspielertalent der Frauen hatte und dasselbe für einen Faktor hielt, den man stets mit in Rechnung stellen müsse, wenn man nicht Gefahr laufen wolle, sich gründlich zu verrechnen. Es lag dieser Ansicht keine Spur von Geringschätzigkeit und Feindseligkeit zu Grunde und er pflegte zu sagen, daß nichts selbstverständlicher, natürlicher und verzeihlicher sei, als jene Thatsache. Die Frauen würden von zartester Jugend auf zur Heimlichkeit, zum Verschweigen ihrer Gedanken, zum Verbergen ihrer Empfindungen planmäßig erzogen, und man suche ihnen die Ueberzeugung beizubringen, daß gar vieles, wofür ein junger Mann Lob verdiene, bei ihnen ein tadelnswerter und sich bitter rächender Verstoß sei. Es sei ihnen nicht erlaubt, wahr zu sein, und diese Erziehung zur Heuchelei sei um so gefährlicher, je leichter sich ohnedies schon bei den Schwachen als Waffe der Notwehr gegen den Starken die List ausbilde. Berücksichtige man, daß die Liebe der eigentliche Lebensberuf der Frau sei, daß sie ihre Bestimmung nur innerhalb der Ehe erfüllen könne, daß die Zeit, innerhalb deren die frische Jugendblüte ihr für diesen Kampf ums Dasein eine Chance gebe, nicht lange währe, daß der beschränkte Gesichtskreis der Frau ihren Blick für das Naheliegende naturgemäß wunderbar schärfe, so erkläre sich die Ueberlegenheit und der Scharfblick der Frau in allem, was mit der Liebe zusammenhänge, vollständig, und die Partie gegen eine Frau, der auch noch unsere Neigung für sie gegen uns zu Hilfe komme, sei von vornherein verloren; die Männer würden immer die wehrlose Beute der überlegenen Gewandtheit, List und Verschlagenheit sein, die vom harmlosesten Backfischchen wie von der reifsten Frau gegen sie ins Feld geführt werde, und es komme nur darauf an, zu verhüten, daß man nicht eine gar zu komische Rolle in dieser kleinen, ewig neuen niedlichen Posse spiele und sich wenigstens nicht von plumpen und abgebrauchten Listen fangen lasse. Damit war ihm denn die dringendste Veranlassung zur Vorsicht und zum Mißtrauen gegeben, gerade weil er von der idealsten Auffassung des Liebesbundes zwischen Mann und Weib geleitet ward, gerade weil er wußte, daß er eine Neigung sehr ernst nehmen und seinerseits jede Berechnung, jede List, jeden Kunstgriff verschmähen würde. Zwischen zwei Menschen, die sich die Hand reichen wollten, durfte kein Hintergedanke möglich sein, sonst war von vornherein rettungslos entweiht, was heilig sein sollte, und je öfter er mit einem halb spöttischen, halb melancholischen Lächeln sah, wie zwei Liebende einander mit mehr oder weniger Geschick die von der Sitte geforderte Komödie vorspielten, desto fester gelobte er sich, auf seiner Hut zu sein. War es doch schon dahin mit dem einsamen Träumer und Grübler gekommen, daß er für sich kaum noch an eine normal verlaufende Liebesneigung dachte; eine solche hätte ihm nach seiner Meinung keine Bürgschaft dafür geboten, daß heiße, unbezwingliche Liebe — und sie allein! — es war, die ihm den Besitz der Geliebten verschaffte, und er glaubte, echte, unzweifelhafte Liebe nur noch in Verhältnissen finden zu können, die jede selbstsüchtige Rücksicht ausschlossen und die nicht mit der Ehe befriedigend enden konnten. Sein Herz verlangte nach süßer Leidenschaft, nicht nach den lahmen, zahmen Empfindungen, die in einem gewöhnlichen Verlöbnis großgezogen zu werden pflegen, und solche Leidenschaft entzündet sich doch gewöhnlich erst am grausamen, unvernünftigen, höhnischen Widerstand zufälliger Verhältnisse; Hölderlins schöne Worte: „Des Herzens Welle schäumte nicht so schön empor und würde Geist, wenn nicht der alte stumme Fels, das Schicksal, ihr entgegenstände,“ waren auch in diesem Sinne sein Wahlspruch.

Von all diesen Gedanken und Zweifeln hin- und hergeworfen, kam er nach einem langen, angreifenden Nachtmarsch ermattet heim und dann saß er noch lange, den Kopf nachdenklich in die Hand gestützt, am Fenster, bis Proud, sein treuer Hund, sich neben ihn setzte und mit der heißen, rauhen Zunge die schlaff herabhängende Hand leckte, als flöße ihm der Gemütszustand seines Herrn Besorgnisse ein. Er streichelte das mächtige Tier über den breiten, glatten Kopf und sagte: „Du hast recht, es ist spät und ich sollte versuchen, den ganzen Spuk zu verschlafen — das ist ja schon so manchesmal geglückt und wird auch heute nicht fehlschlagen!“

Auch an den Damen des Kommerzienrats war der Abend nicht ganz spurlos vorübergegangen. — Fräulein Emmys kleine, rosige Ohren hatten auch ein paar Worte über dieses schnurrbärtigen Herrn Hammer Dichtertum aufgeschnappt, und wenn sie sich auch hütete, ein Wort darüber zu sagen, machte ihr diese Kenntnis doch Vergnügen, ja sie ertappte sich sogar auf dem Wunsche, an ihrem Geburtstage, der Ende Mai fiel, also gar nicht mehr so fern war, eine anonyme Probe seines Talents zu erhalten: Dichter hatten ja nach ihrer Meinung in dieser Beziehung ein Vorrecht; sie durften jeder schönen Dame derartige zarte Huldigungen darbringen und es war dies sogar so allgemeiner Brauch bei ihnen, daß sie ein Recht haben würde, diesem interessanten Herrn Hammer heimlich eine beklagenswerte Kurzsichtigkeit und einen strafbaren Mangel an schuldiger Bewunderung ihrer doch nicht zu bezweifelnden Schönheit vorzuwerfen, wenn sie kein Gedicht von ihm bekam. Er hatte ihr gefallen, wie andere schlanke, junge Männer auch, und sie gestand sich mit einem leichten Erröten, das ihr allerliebst stand, daß er in einer Husarenuniform und an der Spitze einer Schwadron sehr, aber auch sehr gut aussehen müsse; sie mußte doch einmal versuchen, ihn in seiner Feuerwehruniform zu sehen. Wenn auch der Helm, die von der Hüfte zur Schulter getragenen Leinen und das kurze Beil ein schlechter Ersatz für die Pelzmütze mit dem heraushängenden Sammetsack, die zierliche Verschnürung und den klirrenden Säbel waren. Noch durch die Verwirrung der Gedanken hindurch, die dem Einschlafen vorausgeht, besann sie sich wieder auf den Geburtstag und dachte sehr befriedigt: „Diesmal werden es also Originalverse sein — Papa hat doch einen guten Einfall gehabt, den Herrn Hammer zu engagieren.“ Man hatte ihr ja auch das vorige Mal anonyme Verse geschickt, aber einige davon waren so schlecht gewesen, daß sie sich eher beleidigt als geehrt fühlte, und die Freude über die anderen, die sie sehr hübsch, ja sogar rührend fand, hatte auch nicht lange gedauert — sie hatte nämlich die unliebsame Entdeckung machen müssen, daß sie aus einer „Blüten und Perlen“ betitelten Anthologie einfach abgeschrieben waren, und diese Wahrnehmung erfüllte sie mit einer bedenklichen Gleichgültigkeit gegen die zierlichen Verse, und sie ärgerte sich, gemeint zu haben, daß dieselben sie mit großer Treue schilderten und an keine andere Ballschönheit gerichtet werden könnten. Passierte ihr das diesmal wieder, so wollte sie aber auch allen den Herren, die überhaupt in Verdacht kommen konnten, mit sehr ironischer Betonung sagen, daß unter den abgeschriebenen Versen, mit denen man sie heimgesucht habe, auch ein sehr schönes Originalgedicht gewesen sei; die Herren sollten doch erfahren, daß Fräulein Emmy Reischach in der modernen Lyrik ebenso bewandert sei, als irgend eine andere wohlerzogene junge Dame, und sie sollten einsehen lernen, daß sie Anspruch auf Originalgedichte habe und daß man von anderer Seite diesen wohlberechtigten Anspruch auch anzuerkennen wisse.

Frau v. Larisch verfiel, als sie sich allein sah, in ein Nachdenken, das bei ihr nicht allzu häufig war und auch nicht allzu lange währte, dann trat sie langsam und mechanisch vor den Spiegel, und ein Lächeln, das etwas Befriedigtes und Beruhigtes hatte, trat auf ihre Lippen. Hätten sich die Gedanken der Einsamen zum Selbstgespräch formiert, so würde sie gesagt haben: „Mein Herr Hammer, Sie haben entweder keine Augen oder einen eigentümlichen Geschmack; so vollständig, als Sie es gethan haben, darf man mich Fräulein Martha gegenüber doch nicht ignorieren, und ich sollte Sie eigentlich dafür bestrafen, daß Sie mich lediglich als eine Respektsperson behandelt haben — hübsche Frauen können das am allerwenigsten vertragen, was Sie ohne Zweifel ganz genau wissen. Wir werden aber doch lieber Gnade für Recht ergehen lassen; ich mag mich nicht zwischen Sie und unsere gute Martha drängen und dann — man könnte bei der Geschichte den Kürzeren ziehen und aus dem anregenden Spiel könnte ein bitterer Ernst werden. Gerade weil Männer wie Sie für Frauen eines bestimmten Alters so gefährlich sind, geht ihnen eine kluge Frau möglichst weit aus dem Wege, wenn sie nicht etwa gewillt ist, „alles an alles“ zu setzen, wie Ihre stolze Phrase lautet. Und dazu habe ich nun eben keine Lust, auch Ihnen gegenüber nicht, mein Herr: man riskiert zu viel dabei. Der Gedanke, diesen eigensinnigen Trotzkopf demütig zu machen, ist freilich verlockend, und ich könnte auf diesen Triumph stolz sein, denn Sie haben Charakter, und während Sie auf der einen Seite ein ganzer Mann sind, haben Sie auf der anderen die Fähigkeit, sich in eine Frauenseele zu versetzen. Es würde sich also der Mühe lohnen, eine Thorheit ihretwegen zu begehen, aber — wir werden es doch lieber bleiben lassen. Haben Sie auch heute nur gespielt — man weiß, was in diesem sanguinisch- melancholischen Menschen mit den gefährlichen Augen steckt, und daß sie nicht ruhen und rasten, bis sie die Frauenseele, in die sie, halb bittend, halb gebieterisch sich eindrängen, völlig unterjocht haben.

Und Martha? Sie war, nachdem Wolfgang sich verabschiedet hatte, vielleicht noch schweigsamer als gewöhnlich geworden und hatte, als Frau v. Larisch und Emmy ihr günstiges Urteil über den jungen Mann abgaben, kein Wort dazu gesagt. Sie sehnte sich nach Alleinsein und atmete tief auf, als sie endlich in ihrem Zimmer allein war und alle Fesseln konventioneller Rücksichten von sich werfen konnte. Sie zog einen Stuhl ans Fenster und blickte, das Kinn mit der Hand stützend, hinaus in die Nacht und empor zu den Sternen, deren unruhiges Flimmern und Glitzern wieder aufhob, was der Ausblick zum Firmament Erhebendes, Beschwichtigendes und Tröstendes hatte. Sie hatte von jeher das eigentümliche Talent entwickelt, inmitten des banalsten Zeitungsgeschwätzes die Stellen aufzufinden, die einen schönen Gedanken enthielten und über die Tausende hinweglasen, und so war einst beim Ueberfliegen einer der gewöhnlichsten Modejournalnovellen ihr Blick an einer Strophe haften geblieben, die ihr jetzt wieder einfiel und die sie ganz leise und traurig sich selber vorsprach, wie eine Prophezeiung, wie ein Urteil beinahe.

Ihr Empfinden war so rein und ungemischt und so wunsch- und hoffnungslos, daß sie keinen Grund hatte, es sich nicht einzugestehen. Freilich, was ihr den jungen Mann, der fortan ihr Schicksal war, auf der einen Seite noch näher gebracht hatte, hatte ihn auf der anderen, wie sie meinte, nur noch weiter von ihr entfernt. Was sollte sie einem Dichter sein? Sie hätte, als Wolfgang sich zu seinem heimlichen Poetentum bekannte, mit dem Kopfe nicken mögen, wie man wohl thut, wenn man die Bestätigung für eine längst gehegte Vermutung erhält — sie hatte in ihm zuerst einen Menschen gefunden, von dem man unwillkürlich wähnt, er müsse alles können und wissen, so daß man förmlich erstaunt ist, wenn man eine Lücke entdeckt und gar nicht so recht an dieselbe glauben mag. Und wie hatte sie von Jugend auf die Liebe zur Poesie in sich gehegt und genährt! Sie hatte für die süßliche Manier der Elise Polko geschwärmt, sie hatte Rückerts „Liebesfrühling“ für die zarteste und duftigste Blüte germanischer Liebesinnigkeit gehalten und „Waldmeisters Brautfahrt“ von Otto Roquette hatte sie begeistert; sie hatte später diese Manier raffiniert und widerlich gefunden, Rückerts tändelnde Versklingelei hatte sie gelangweilt und das Roquettesche Büchlein hatte sie durch seine Banalitäten abgestoßen — sie hatte sich Heine, Meißner, Lenau zugewendet und alle die zierlich und teilweise prächtig gebundenen Bändchen, bei deren Auswahl man viel mehr auf die Arbeit des Buchbinders als auf die Leistung des Dichters gesehen hatte, in das unterste Fach ihres Bücherschranks verbannt. Niemand hatte sich bemüht, diese Wandlung ihres Geschmacks herbeizuführen, niemand hatte dieselbe auch nur befördert; sie war nicht erst durch den Tod der Eltern darauf angewiesen worden, ihren eigenen Weg zu gehen, denn von diesen Bedürfnissen und Genüssen ihres einzigen Kindes hatten die Guten bei ihrem einfach-praktischen und nüchtern-verstandesmäßigen Sinn kaum eine Ahnung gehabt und sie hätten ihr auch nicht zu raten gewußt, da ihnen für diese Welt des Gefühls und der Phantasie alles Verständnis abging. Martha war immer sehr einsam gewesen; sie hatte nie zu glänzen gesucht, um auf diese Weise ein Interesse für sich zu wecken, und wenn Menschen, die ihr hätten in ihren geistigen Nöten helfen können, ihren Weg gekreuzt hatten, so waren sie achtlos an der Stillen, Unscheinbaren vorübergegangen, die nicht jeder Annäherung auf halbem Wege entgegenkam, sondern erst prüfen, ergründen, sich vergewissern zu wollen schien und dadurch leicht den Eindruck ablehnender Kühle machte. Selbst zu den gewöhnlichen intimen Mädchenfreundschaften hatte es dieser Grundzug ihres Charakters nicht recht kommen lassen wollen; man hatte die allezeit Milde und Hilfsbereite überall gern, ja lieb, aber nur eine hatte ein Recht gehabt, sie ihre Vertraute zu nennen. Und auch das war ein einseitiges Verhältnis gewesen; Martha hatte die Bekenntnisse der älteren Freundin, die viel geliebt, viel geirrt und viel gelitten hatte und die bei ihrem heftigen, reizbaren Wesen zu pessimistischen Anschauungen kommen mußte, die sie mit Ironie und Sarkasmus aussprach, teilnahmsvoll, halb träumerisch, halb ungläubig angehört — sie hatte den Kopf geschüttelt und es nicht glauben mögen, daß die Welt wirklich so arm an Liebe und Treue sei, wie die Freundin behauptete. Die Lebensirrfahrten der Armen, durch deren Seele ein unheilbarer Bruch ging, hatten ein trübes Ende gefunden; sie hatte an der Seite eines Lehrers, eines einfachen Bauernsohns, das Glück zu finden gesucht, für das ihr feiner gebildete Männer keine Bürgschaft gegeben hatten und an dem Scheitern dieser letzten Illusion war sie zu Grunde gegangen. Martha hatte diese Weise weitgehendsten Vertrauens und eines fast leidenschaftlichen Offenbarungsdrangs nicht erwidert; was hätte sie auch der Freundin offenbaren sollen? Daß sie das Gefühl habe, sie werde mit ihrer Umgebung nie zufrieden sein und daß eine scheue, aber standhafte Ueberzeugung von dem Dasein menschlich-schönerer und beglückender Lebensformen in ihr lebe? Daß sich seit vielen Tagen — und am Schlusse „vergnügter“ Tage und nach dem glänzendsten und gelungensten „Zerstreuungen“ am meisten — vor dem Schlafengehen ein müdes: „Gott sei Dank, daß wieder ein Tag vergangen ist!“ halb unbewußt auf ihre Lippen drängte? Daß es ihr sei, als lebe sie unter einem bleifarbenen Himmel und in einer von Nebeldunst erfüllten Atmosphäre, ohne daß sie zu hoffen wage, es werde einst ein scharfer Luftzug das Nebelbrauen wegfegen und an einem tiefblauen reinen Himmel werde die Sonne siegend emporsteigen? — Nun war sie glücklich und doch so wehmütig gestimmt, daß sie hätte weinen mögen wie ein Kind, ohne recht zu wissen, warum? Sie fühlte nur, es werde eine große Wohlthat für sie sein, und doch wollte keine Thräne in die Augen kommen, die noch lange der Schlummer hartnäckig floh. Sie überdachte ihr ganzes vergangenes Leben — wie lag es so grau und tot und fröstelnd hinter ihr! Und was würde die Zukunft ihr bringen? Sie wußte es nicht und sie hoffte nichts — nur das eine fühlte sie tief, und schon in diesem Bewußtsein lag ein ungeahntes Glück so, wie es gewesen war, konnte es künftig nicht mehr sein. Sie fühlte festen Boden unter den Füßen und vielleicht wußten die Lippen, die so freundlich zu ihr geredet hatten, daß es ihr war, als wisse sie nun erst, was es heiße, einen Bruder zu haben, auch das erlösende und befreiende Wort für ihr verkümmerndes, freudloses, unter einem dumpfen Drucke schmachtendes Leben. Und kam es so, dann war ihr, hatte sie auch des Lebens schönste Jahre vertrauert, doch vielleicht eine versöhnende Nachblüte beschieden und sie konnte sagen, daß sie doch nicht umsonst gelebt.

Wenige Tage später sollten die Gedanken Wolfgangs, die trotz aller seiner Vorsätze mit einer befremdlichen Hartnäckigkeit immer wieder zu der schlanken Gestalt und den schönen, dunklen Augen Martha Hoyers zurückkehrten, in ziemlich gewaltsamer Weise von ihr abgelenkt werden.

Er hatte nachts lange gelesen und den Versuch, zum Schluß noch (aus rein kritischem und psychologischem Interesse natürlich) ein paar Kapitel in einem der Gouvernantenromane zu lesen, die in unseren Unterhaltungsblättern eine so bedenkenerregende Rolle spielen, mit dem Einschlafen bezahlt. Die Lampe war erloschen, das Heft war seiner Hand entglitten und lag auf dem Teppich zu Füßen des altväterischen, aber bequemen Sofas, selbst Proud hatte den Kopf zwischen die Vorderpranken genommen und nur das tiefe Atemholen der beiden so ungleichen Schläfer und das hastige, rastlose Ticken des goldenen Chronometers, der auf dem Tische lag und die gemessenen, leisen Pendelschläge des Regulators an der Wand unterbrachen die Stille im Gemach. Da fuhr Wolfgang, der mit dem Gesicht gegen das Fenster gelegen hatte, plötzlich erschrocken auf. Ein von seitwärts kommender Feuerschein blendete ihn momentan und er hörte deutlich das ängstliche, stoßweise Feuersignal des Nachtwächters und den Ruf: „Feuer! Feuer!“ Im Nu war er in die Stiefeln und in die Uniform gefahren, hatte den Helm aufgestülpt, Proud, der munter geworden war und unruhig mit dem Schweife schlug und seinen Herrn erwartungsvoll ansah, ein: „Dableiben, Proud!“ zugeherrscht, und nun stürmte er fort, unterwegs erst den Gürtel zusammenschnallend. Das Haus war verschlossen — aber er hatte den Schlüssel in der Brusttasche der Uniform und befand sich sogleich auf der Straße. Aus allen Fenstern der Vorderfront eines benachbarten einstöckigen Hauses schlug die rote Lohe, dichter Rauch wälzte sich aus der offenstehenden Hausthür, und einige Leute, die sich in allernotdürftigster Bekleidung aus dem Hause geflüchtet hatten und noch wie vor den Kopf geschlagen und vor Entsetzen halb sprachlos waren, sahen ihn wie geistesabwesend an, als er ihnen hastig zurief: „Ist noch jemand drinnen oder haben sich alle gerettet?“ Da schrie plötzlich ein altes Weib, das in sich zusammengesunken auf einem Bündel gesessen und das Gesicht mit den Händen bedeckt hatte, laut aus: „Wo ist meine Anna? Ist Anna nicht da?“ Und durch rasche Fragen ward ermittelt, daß ein junges Mädchen, eine Verwandte der Alten, noch im Hause sein müsse. Die alte Frau wußte selbst nicht recht, wie sie aus dem Hause gekommen war, nachdem sie den Flurnachbar mit der Faust an ihre Thüre schlagen und „Feuer!“ rufen gehört hatte, und die Familie dieses Hausgenossen, eines Tischlers, hatte zu viel mit der Rettung des eigenen bedrohten Lebens zu thun gehabt, als daß sie an das junge Mädchen hätten denken können, das in einem Alkoven schlief. Wolfgang ließ sich die Lage desselben angeben, tauchte sein Taschentuch in den Röhrtrog und rief einem älteren Manne von der Steigerabteilung, der in vollem Laufe atemlos auf ihn zukam, zu, daß er versuchen werde, auf der Treppe in die Wohnung zu gelangen und daß jener zusehen solle, ob er vielleicht auf der Rückseite des Hauses noch eine Leiter anlegen oder eine Steigerleiter einhängen könne — auch dort schien freilich die Flamme schon aus allen Fenstern zu schlagen, doch war dies in der Dunkelheit und bei dem unsicheren Flackerschein der Flammen nicht zweifellos zu erkennen und zu genauer Untersuchung war keine Zeit. Das Tuch vor den Mund nehmend, kroch Wolfgang, um weniger von dem erstickenden Qualm zu leiden, die bereits von den knisternden, prasselnden Flammen ergriffene Treppe empor und gelangte glücklich in die Wohnung der Alten und vor den Alkoven, der in der Mitte eines schmalen Ganges lag. Am einen Ende desselben hatte er ein in vollem Brande befindliches Zimmer, am andern ein auf den Garten gehendes Fenster, doch war man von diesem durch eine Menge über und über brennenden Holzwerks abgeschnitten — es blieb nur der Rückweg über die Treppe. Ein Blick hatte genügt, Wolfgang über die Ge-fährlichkeit der Situation aufzuklären, — er stürzte nach dem Alkoven und fand ihn verschlossen. Die leichte Thür gab jedoch schon den ersten energischen Hieben seines kurzen Beils nach und das aus dem süßen, festen Schlaf der Jugend so gewaltsam aufgeschreckte Mädchen war halb bewußtlos und leistete keinen Widerstand, als er es umfaßte, es wie eine Puppe auf den Arm nahm und mit ihr durch den erstickenden Rauch und das unheimliche Sausen und Zischen der Flammen der Treppe zustürzte. Sie war nicht mehr passierbar — eine gewaltige Lohe schlug ihm sengend entgegen. Ein Versuch, durch die Wohnung des Tischlers an ein Fenster zu gelangen, scheiterte; er konnte die schmerzenden Augen nur noch blinzelnd ein wenig öffnen und schon fühlte er, wie der beißende Rauch sich erstickend in seine Kehle drängte und ihn betäubte, ― er hatte dunkel den Gedanken: „Wir sind also beide verloren — könnten wir nur an ein Fenster kommen, ich spränge mit ihr hinunter — lieber den Hals brechen, als so elend ersticken!“ Das junge Mädchen hatte den Arm um seinen Nacken geschlungen, ihr Kopf lag auf seiner Schulter — sie schien nicht zu wissen, was mit ihr vorging und wo sie war. Ihr Retter fing bereits an, zu taumeln und vergebens nach Lust zu ringen — da fühlte er, mit der Hand rastlos an der Wand hintastend, eine Thür. Sie konnte nur eine nach einem Bodenraum führende Treppe absperren — konnte man dorthin gelangen, so war vielleicht noch eine Möglichkeit der Rettung, und jedenfalls war Zeit gewonnen und man gelangte in frische Luft. Das Beil that nochmals seinen Dienst — die Thür splitterte unter den kräftigen Hieben, — da war es Wolfgang, als höre er von drüben aus dem Gange den lauten, angstvollen Ruf: „Hauptmann! Hauptmann! Wo sind Sie?“ Wolfgang wankte an der eben in sich zusammenbrechenden und einen Funkenregen emporsprühenden Treppe vorüber nochmals in die Wohnung der Witwe und in den Gang, an dem der Alkoven lag, — er war ebenfalls von Rauch erfüllt, aber an dem Fenster am Ende des Gangs war die Glut verschwunden und im Fenster saß, das eine Bein nach innen, die beiden Hände zur Verstärkung des Schalls am Munde, mit rauchgeschwärztem Gesicht der Steiger Krone; als er seines Hauptmanns ansichtig ward, bog er sich zurück und rief ein kräftiges, herzliches: „Hurra!“ hinunter; lautes, stürmisches Rufen seiner Kameraden war die Antwort. Krone sprang von der Leiter, die er im Fenster eingehängt hatte (mit heraufgereichten Eimern und später mit dem Strahlrohr einer Spritze hatte er die lichterloh flackernden, trocknen Wannen und Fässer, die am Fenster aufgeschichtet waren und welche die in dem anstoßenden Zimmer tobende Glut ergriffen hatte, in verhältnismäßig kurzer Zeit abgelöscht, um sich eine Weg zu Wolfgang zu bahnen) in den Gang und wollte seinem Hauptmann das bewußtlose, totbleiche Mädchen abnehmen, — aber so fest hatten ihre Arme den Nacken ihres Retters umklammert, daß es ohne Anwendung, von Gewalt nicht möglich gewesen wäre, sie loszulösen, und in wenig Augenblicken hatte sich Wolfgang auch so weit erholt, daß er mit ihr die Leiter hinabsteigen konnte. Man drängte sich von allen Seiten neugierig und teilnehmend an ihn heran, aber er befreite sich sanft von den Armen des betäubten jungen Geschöpfs, warf ihr seinen Regenmantel über, mit dem seine brave Wirtin sich, vor Aufregung zitternd, herandrängte, ordnete kurz an, daß man sie in ein Haus trage und nach dem Arzt schicke, nahm den Rapport des Spritzenmeisters entgegen, der für ihn das Kommando geführt hatte und übernahm, als sei nichts geschehen, die Leitung der weiteren Löscharbeiten. Inzwischen war auch Krone, dem die Glut das Bart- und Kopfhaar arg versengt hatte, zurückgestiegen und hing die Leiter aus; als er ruhig in Reih und Glied treten wollte, drückte ihm Wolfgang warm die Hand und sagte leise zu dem vor Freude rot Werdenden: „Wir sprechen uns noch, Krone — ohne Sie waren wir beide verloren.“ Das alleinstehende Haus war nicht zu retten, und da es windstill war und keine weitere Gefahr durch Flugfeuer drohte, so konnte Wolfgang den abgelösten Mannschaften die Annahme der Erfrischungen, die man von allen Seiten herbeibrachte, gestatten; er selber schien keine derartigen Bedürfnisse zu kennen und stand so aufrecht und ruhig da, als befände er sich auf dem Uebungsplatze. Er hatte sich gerade in die Nähe des brennenden Hauses begeben, um die regelwidrige Legung eines Schlauches zu korrigieren, als der Diener des Kommerzienrats mit einem silbernen Präsentierteller auf ihn zutrat, seine Gamaschen ängstlich vor den Wasserlachen, verkohlten Balken und halbverbrannten Mobiliarstücken behütend, zwischen denen er sich durchwinden mußte. Wolfgang wollte ihn anfänglich mit einer ungeduldigen Handbewegung wegschicken, als der Mensch aber ausrichtete, daß der Herr Kommerzienrat und Fräulein Hoyer ihn bitten ließen, ein Glas Tokayer anzunehmen, besann er sich anders, goß sich ein Glas ein und, das Schuppensturmband in die Höhe schlagend und dann den Helm abnehmend und mit dem Aermel über die mit Schweißperlen bedeckte Stirn fahrend, wollte er das Glas mit dem dunklen süßen Wein eben an die Lippen setzen, als es, den Inhalt verschüttend, seiner Hand entsank und er lautlos nach rückwärts zusammenbrach. Die Umstehenden schrieen auf — was war ihm zugestoßen? Man sollte nicht lange darüber im Zweifel sein. Das Blut, das unter dem Haar hervorsickerte, und über die Stirn rieselte, führte zur Entdeckung einer tüchtigen Kopfwunde, und bald fand sich auch das messerscharfe Schieferstück, das bei dem unerwartet frühen Zusammenbruch eines kleinen Teils des Daches abgesplittert war und sich, heftig geschleudert, so weit verirrt hatte. Der Arzt, der gerade kam, um die Mitteilung zu bringen, daß das junge Mädchen völlig zum Bewußtsein gekommen sei und lediglich infolge des jähen Schrecks, der ausgestandenen Angst und des erstickenden Rauches vorübergehend Ohnmachtserscheinungen gezeigt habe, konstatierte, daß bei Wolfgang eine Verletzung der Kopfhaut vorliege, die an sich ungefährlich sei, aber infolge der vorhergegangenen Aufregung immerhin Bedenken rechtfertige und die sorgsamste Pflege erheische; eine Gehirnentzündung oder ein Nervenfieber seien mindestens möglich. So wurde denn Wolfgang von einigen Leuten seines Corps behutsam aufgehoben und nach seiner Wohnung getragen; seine Wirtin, die anfänglich ganz außer sich war, faßte sich rasch, als der Arzt, der den kleinen Transport begleitet hatte, ihr vorstellte, die Genesung des Verwundeten hänge von der strengen Befolgung seiner Befehle ab und er müsse sich auf dieselbe verlassen können, da er sonst gezwungen sei, Wolfgang nach dem Krankenhause bringen zu lassen. Sie konnte sich ein Beispiel an Proud nehmen. Das kluge Tier gab die lebhaftesten Zeichen von Unruhe, verhielt sich aber ganz still und verfolgte nur jede Bewegung der um seinen Herrn Beschäftigten mit den Augen, als suche es den Zweck dieser ungewohnten Thätigkeit zu erraten. Als sich dann der Arzt für befriedigt erklärte und Ruhe, vollständige Ruhe als das zunächst Erforderliche bezeichnete, sah Proud gerade so aus, als wolle er sagen: „Ich kann leider bei der schlimmen Sache weiter nichts thun, für die Ruhe aber verbürge ich mich.“ Und als alle das Zimmer verlassen hatten, sprang er geräuschlos auf den Stuhl am Kopfende des Bettes, legte einen Moment seinen mächtigen Kopf neben den seines Herrn auf das weiße Kissen und sah ihn mit seinen ehrlichen Augen besorgt und traurig an. Dann legte er sich vor die Schwelle der Thüre, als sei er entschlossen, diesen Posten nicht eher wieder zu verlassen, als bis sein Herr selber es ihm befehlen würde.

Von den vom Arzt für möglich gehaltenen Komplikationen des Falls trat keine ein und die Heilung verlief bei Wolfgangs gesunder und unverdorbener Natur normal. Auch die vorübergehenden Trübungen des Bewußtseins und der Erinnerung verloren sich und nur eine tiefe Müdigkeit und ein großes Schlafbedürfnis blieben zurück, zur größten Befriedigung des Arztes, der in ihnen die sicherste Gewähr für die rasche Wiederherstellung seines Patienten sah.

Am Tage nach jener ereignisreichen Nacht empfing Frau v. Larisch, die inzwischen nach W. zurückgekehrt war, von der kleinen Emmy nachfolgendes, durch eine sehr mangelhafte Interpunktion und einige orthographische Schnitzer auf die Höhe weiblicher Liebenswürdigkeit emporgehobenes Briefchen:

Meine teure Leontine!

Kaum hast Du den Rücken gekehrt, so passieren hier die romantischsten Dinge und Dein Protégé, dieser Herr Hammer mit seinem unendlichen Schnurrbart, fängt an, mir fürchterlich zu werden. Denke Dir, gestern nacht bricht nur ein paar Häuser von seiner Wohnung Feuer aus, und ich kann Dir versichern, es war ein so heilloser Skandal, daß ich mich vor dem schauerlichen Blasen und Tuten unter die Steppdecke verkrochen und mir die Ohren mit dem Kopfkissen verstopft haben würde, wäre es nicht andererseits so komisch, dem Laufen und Rennen der Feuerwehrleute zuzusehen, die in ihrem blinden Eifer und der Finsternis über alles wegstolpern, was ihnen in den Weg kommt. Du hättest mitlachen müssen, wenn Du gesehen hättest, wie von Zweien, denen ein Gartenzaun im Wege war, der eine wie ein Reh im vollen Lauf über denselben wegsetzte, während der andere darüber klettern wollte und damit zu seiner Verzweiflung nicht recht zu stande kam. Und ein paar Schritte davon stand die Gartenthür sperrangelweit offen! Es war alles bei uns munter und wir beobachteten vom Fenster aus das Umsichgreifen der Flammen — das Haus selber war uns verdeckt — d. H. Martha trat nur ab und zu einmal ans Fenster; die meiste Zeit ging sie, die Arme ineinander gesteckt, geräuschlos, aber in einer nervösen Unruhe, im Zimmer auf und ab und gab ganz verkehrte Antworten; sie hörte offenbar nicht, was man ihr sagte. Was hat das zu bedeuten, Leontine? Am Ende gar — doch ich werde mich hüten, Konjunkturen (oder Konjekturen — wie heißt es nun eigentlich?) anzustellen. Nach einiger Zeit kommt Dorette und meldet ganz aufgeregt, daß Herr Hauptmann Hammer noch in dem über und über brennenden Hause sei und ein junges Mädchen suche, das von ihrer Tante vermißt werde. Jetzt kann ich darüber lachen, aber im Moment habe ich mich beinahe vor Martha gefürchtet, die in einen Stuhl am Fenster sank und die Stirn auf das Fensterbrett legte und mir gar keine Antwort gab, als ich sie schüchtern anrief. Ich hatte wirklich nicht das Gefühl, als könne diesem verwegenen Herrn Hammer etwas zustoßen; Vater war schon bedenklicher, schnipste nachdenklich mit den Fingern und meinte: „Das wäre nun am Ende nicht nötig gewesen.“ Es mag wohl nicht gar so viele Minuten danach gewesen sein, aber die Zeit ist uns natürlich peinlich lang geworden, als Dorette wieder Rapport brachte — und diesmal stotterte sie und verschluckte sich vor Eifer, Rührung und Freude. Da hatte Dir also der tollkühne Mensch das Mädchen wirklich gefunden und sie auf seinem Arme die Leiter heruntergetragen — sie war ohnmächtig gewesen, ist aber dann wieder zu sich gekommen. Nun wußten wir auf einmal, warum kurz vorher von der Brandstelle herüber ein Hurrageschrei kam - selbst Martha war in die Höhe gefahren und hatte uns angesehen, als wollte sie fragen: „Was heißt das? In Sicherheit?“ Aber das dicke Ende kommt erst nach. Als Papa hörte, daß Herr Hammer seelenruhig das Kommando führe, meinte er, man solle ihm wohl ein Glas Wein anbieten, Portwein, Sherry oder so etwas, und Jean könne es hinübertragen. Ich habe Martha in meinem Leben noch nie eine so fabelhafte Geschwindigkeit entwickeln sehen, als in diesem Augenblick, und bei aller Eile hatte sie doch noch so viel Geistesgegenwart, zu überlegen, daß dem ehemaligen österreichischen Freiwilligen ein Glas Tokayer am willkommensten sein werde. War das nicht eine feine Aufmerksamkeit — so fein, daß sie der gröberen männlichen Seele wohl entgangen sein wird? Jean glotzte mich mit seinen dummen Fischaugen so albern als möglich an, als ich ihm voll Uebermut in Marthas Gegenwart auftrug, einen Gruß von Papa und ihr auszurichten — sie wurde ganz rot und gab sich Mühe, ärgerlich auszusehen, aber sie widersprach nicht und ist am Ende innerlich ganz zufrieden gewesen. Man muß, glaube ich, solchen ernsthaften, schwerfälligen Persönlichkeiten, die jedes Interesse für einen Herrn gleich tragisch nehmen, als ginge es ohne weiteres auf Tod und Leben, zu Hilfe kommen, — sie machen sonst so endlose Umwege, daß die Sache unsterblich langweilig wird. Und nun, meine Leontine, kommt der dramatische Knalleffekt. Denke Dir, als Jean, steif wie ein Pfahl natürlich, schnarrend seinen Auftrag ausgerichtet hat, haben der vielvermögende Herr Hauptmann die Gewogenheit, ein Glas Ungar anzunehmen; er setzt den Helm ab und wie er das Glas an die Lippen setzt, trifft ihn ein Ziegel oder ein Schiefer, der vom Dach geflogen kommt, an den Kopf und er wird mit einer heftig blutenden Kopfwunde bewußtlos fortgetragen. Daß ich über diese Wendung scherzen kann, sagt Dir schon, daß die Geschichte nicht schlimm geworden ist; momentan bin ich ja selber sehr erschrocken gewesen und der junge Mann (und noch mehr Martha) hat mir aufrichtig leid gethan. Martha ist weiß wie eine Kalkwand geworden und hat die Hand vor die Augen gelegt — ich bin überzeugt, sie glaubte, man wolle ihr nur nicht sagen, daß er tot sei. Ein paar Minuten blieb sie noch, dann sagte sie mit einer ganz erloschenen, tonlosen Stimme, sie sei sehr müde und wolle doch lieber wieder auf ihr Zimmer gehen. Ich habe, als uns später Dorette berichtete, daß zunächst keine Gefahr für den Helden des Tages sei, an ihrer Thür geklopft, bis sie endlich Antwort gab, und vielleicht haben mir sogar ein paar kleine Thränen in den Augen gestanden, als ich ihr hastig erzählte, was ich wußte. Sie sagte — denke Dir, die Undankbare! — kein Sterbenswörtchen, aber sie küßte mich, wie sie mich in meinem ganzen Leben noch nicht geküßt hatte, so ungefähr, als wenn ich — der Herr Hammer gewesen wäre. Ich fragte sie zur Strafe, ob sie nicht das junge Mädchen beneide, das das Vergnügen gehabt habe, sich von diesem ritterlichen Hauptmann retten zu lassen und ob sie sich nicht an ihre Stelle gewünscht hätte; da gab sie mir einen leichten Schlag auf den Mund und sagte: „Aber so sei doch kein Kind!“ Und dann schob sie mich förmlich zur Thür hinaus — sie mußte es sehr eilig haben, allein zu sein mit dem Paroxismus (ich hab keine Zeit, nachzusehen, ob ich das dumme Wort richtig geschrieben habe) ihrer Freude, und sagte mir noch auf der Schwelle: „Und wenn du mir einen rechten Gefallen thun willst, so mache keine Anspielungen, wie vorhin, mehr — sie thun mir weh, und du willst doch nicht, daß ich traurig werde?“ Du siehst, es ist schon schlimm, so weit ich etwas davon verstehe. — Papa hat sich diesen Morgen durch Jean beim Arzt erkundigen lassen — es geht wirklich alles so gut, als es den Umständen nach überhaupt möglich ist. Als Diakonissin bist Du hier also überflüssig, und das wird Dir um so lieber sein, als ich mich noch ganz gut Deines beißenden Spöttelns über die Damen erinnere, die sich im letzten großen Krieg zum Dienst in den Lazaretten drängten, um, wie Du behauptetest, den Aerzten fortwährend und überall im Wege zu sein — ich mag gar nicht wiederholen, auf welche Motive Du ihren aufopfernden Heroismus zurückführtest. Apropos, die beiden Fräulein Steiger, auf die Du es ganz besonders abgesehen hattest, haben sich mir gestern in geradezu unmöglichen Toiletten präsentiert — die Details mündlich. Du kommst doch, wenn auch nicht als barmherzige Schwester? Es ist so tot bei uns — mit Martha ist gar nicht zu reden. Wenn man eine Frage an sie richtet, bekommt man einen förmlich tragischen Blick zur Antwort, der auszudrücken scheint: „Wie kann man nur verlangen, daß ich mich um solche Dinge bekümmern soll, so lange Wolfgang Hammer verwundet zu Hause liegt?“ Ich habe auch eine Menge Toilettenfragen mit Dir zu besprechen und komme mir ohne Deinen Rat vor, wie ein Fisch auf dem Lande. — Das ist vielleicht der längste Brief, den Du je von mir bekommen hast. Ich hoffe, Du wirst diese Anstrengung zu würdigen wissen und recht bald durch Dein Kommen erfreuen

Deine Emmy.

P. S. Vergiß nicht, die Stickmuster, den Oleanderzweig, das Rezept zu den russischen Gurken, den Taillenschnitt, die Photographie der Rabe, die „Kalifornischen Erzählungen“, einen Flacon Reseda (aber von den Deinen, mit geschliffenem Glasstöpsel) und endlich — nun bin ich gleich fertig — die längst versprochenen Inseparables und zwei Goldfische und ein Silberfischchen mitzubringen — die meinigen haben Krieg untereinander gehabt und es sind einige totgebissen worden. Ich habe bitterlich darüber geweint.

Sobald die Heilung Wolfgangs so weit vorgeschritten war, daß der Arzt ihm gestatten konnte, Besuche zu empfangen, ließ er den Steiger Krone bitten, zu ihm zu kommen, und dieser fand sich denn auch sofort bei seinem kranken Hauptmann ein. Krone war bisher der einzige gewesen, der sich Wolfgang gegenüber etwas zurückhaltend gezeigt hatte, und wenn die Kameraden ihm in der Begeisterung für den jungen Führer zu weit zu gehen schienen, hatte er wohl auch einmal geknurrt: „Neue Besen kehren gut!“ oder: „Abwarten“ und hatte still und ernst seinen Dienst gethan; stellte man ihm vor, daß er Wolfgang durch seine Zweifel unrecht thue, so hatte er wohl erwidert, daß es sich noch sehr frage, ob ihn jemand so hoch halte, wie er, daß er ihn aber noch nicht nahe genug kenne und daß er nie vorschnell urteile. Man hatte die Achseln gezuckt und gesagt: „Also auch hierin der Sonderling, der an allem herummäkelt.“ Für einen Sonderling galt Krone bei all seiner Gutmütigkeit schon lange, ja seine nächsten Bekannten nannten ihn verbissen und verbittert, weil er sich schon seit dem schleswig-holsteinischen Kriege von 1804 fortwährend in Opposition zu der „öffentlichen Meinung“ befunden hatte. Er hing noch fest und unverbrüchlich an den Traditionen von 1848, die er in seiner Weise verstand; er legte auf alle Freiheitsfragen ein viel größeres Gewicht als auf das Nationale, und es hatte ihn mehr und mehr in die Vereinsamung hineingetrieben, daß keiner von seinen Bekannten seine Anschauungen teilen wollte und daß man sich, erbittert oder unmutig, von ihm abwendete. Besonders während des Krieges gegen Frankreich hatte man es in der Gluthitze des Paroxismus nicht an Anfeindungen des „Vaterlandslosen“, des „Franzosenfreundes“ fehlen lassen, und es waren ihm brutale Aeußerungen zu Ohren gekommen, die ihn aufs tiefste schmerzten. Es ging ihm die Fähigkeit ab, einem zungenfertigen Gegner die Stange zu halten und nach ein paar formlosen Sätzen, die er hervorgepoltert hatte, kam er gewöhnlich ins Stocken und auf seinen Wangen zeigten sich scharf umgrenzte rote Flecke — ein sicheres Zeichen, daß es in ihm kochte und gärte und daß er doch keinen schlagenden Ausdruck für seine Gedanken zu finden vermochte. Mit düsterem Blick, die Arme über der Brust verschränkt, biß er dann wohl die Zähne aufeinander, fraß seinen Groll stumm in sich hinein und gelobte sich, kein Wort mehr zu erwidern, aber wenn man dann, ihm zum Tort und Hohn, die Wacht am Rhein anstimmte, so mühte sich seine rohe, tonlose Stimme doch wieder ab, mit seinem geliebten Revolutionslied:

Allons, enfants de la patrie!
Le jour de gloire est arrivé!

durchzudringen, und wenn er schließlich, von der Menge niedergebrüllt, mit glühendem Gesicht zornig auf und davon ging, schallte ihm spöttisches Gelächter nach, ja, er hatte mehrfach heftige Auseinandersetzungen mit seinen besten Freunden gehabt und die meisten waren dem „Un¬verbesserlichen“ auf diese Weise entfremdet. Er litt unter diesen noch nachwirkenden Zerwürfnissen mehr als er hätte sagen können, denn er war ein entschiedener Gemütsmensch und hinter seinem galligen, verbissenen Trotz und Hohn barg sich eine große Weichheit der Empfindung, deren er sich schämte, deren Aeußerungen er aber oftmals vergebens zu unterdrücken strebte. So durfte ihn niemand an ein Töchterchen erinnern, das er besonders lieb gehabt hatte und das ihm in demselben Monat gestorben war, in dem es zum erstenmal hatte zur Schule gehen sollen, ohne daß es unter dem dichten Schnurrbart schmerzlich um die Mundwinkel zuckte, und der Gang nach dem kleinen, sorgfältig gepflegten Grabe war fast sein einziger Spaziergang; traf man ihn dort, so fuhr er gewiß mit dem Rücken der braunen Hand über die Augen, um die Thräne zu unterdrücken, die ihm beim Anbinden und Ausputzen, der Blumen unwillkürlich ins Auge getreten war. Hand in Hand mit dieser Weichheit ging eine verstohlene Begeisterungsfähigkeit, die selbst für den etwas Rührendes hatte, der sie komisch fand; er wußte jede Zeile der schwertscharfen, glockentönigen Lyrik auswendig, durch die Herwegh und Freiligrath den Bewegungsjahren die poetische Weihe gaben, und besonders Freiligrath war sein erklärter Liebling; bei ihm fand er dieselbe Anschauung, die alle seine Urteile färbte: „Es giebt nur zwei Parteien — die Reichen und die Armen; alle anderen Parteiunterschiede sind Spiegelfechterei und Schattenspiel an der Wand,“ und mit der er nur noch denen gegenüber herausrückte, die er halb und halb für seine Gesinnungsgenossen hielt; man hatte diese Formulierung seiner tief innersten Ueberzeugung so oft für eine kolossale Uebertreibung erklärt, daß er mit diesem Satze mehr als früher zurückhielt.

Er war Faktor in der kleinen Druckerei des Orts und dem Besitzer derselben längst unentbehrlich geworden, da er zugleich die Korrekturen las und eine hinreichende Schriftgewandtheit besaß, um auch stilistische Schnitzer verbessern zu können; ohne diese Unentbehrlichkeit hätte die stoische Tapferkeit, mit der er 1870/71 überall seine politischen Ansichten bekannte und nach Kräften verfocht, ihm leicht seine, wenigstens nicht schlechte, Stellung kosten können, denn es hatte nicht an begeisterten Patrioten gefehlt, die dem Besitzer der Druckerei in den Ohren lagen und ihn aufforderten, diesem Menschen, der sich an der „Ehre der Nation“ vergreife, kurzerhand den Laufpaß zu geben. Der gute Mann zuckte in aufrichtigster Verlegenheit die Achseln; er mochte um keinen Preis einen Zweifel an der Hochgradigkeit seiner Vaterlandsbegeisterung aufkommen lassen und wäre doch in eine peinliche Notlage geraten, wenn er dem Drängen nachgab. So lavierte er denn, so gut es gehen wollte, suchte Krone als einen harmlosen, eher bedauernswerten Sonderling zu entschuldigen und bat, wenn die Ungestümen sich gar nicht abweisen ließen, ihm wenigstens Zeit zu lassen, bis er einen anderen passenden Mann gefunden haben werde; er hoffte dabei im stillen, die Siedehitze werde auf eine mäßigere Temperatur herabsinken und Krones undeutsche Haltung während des Krieges, der doch nicht ewig dauern konnte, werde in Vergessenheit kommen. Er hatte richtig gerechnet, und so kam es denn, daß man den einst so vielfach Angefeindeten noch immer jeden Mittag und Abend in einer Art von nachlässigem Trott die Druckerei verlassen sehen konnte — einen breitkrämpigen Filzhut auf dem Kopfe, den einreihigen Rock bis an den Hals herauf zugeknöpft und die linke Hand in der Tasche des weiten, faltigen Beinkleids — und daß er nach wie vor in der Feuerwehr als eines der erfahrensten, kaltblütigsten und diensteifrigsten Mitglieder selbst von seinen Gegnern respektiert wurde. Er hatte eben, in hilfloser Verlegenheit bis an die Ohrläppchen errötend, linkische Versuche gemacht, den herzlichen Dank Wolfgangs abzulehnen, diesem das alleinige Verdienst bei der Rettung des jungen Mädchens zuzuschieben und seine Beteiligung als die allereinfachste, gefahr- und verdienstloseste Pflichterfüllung darzustellen, und als Wolfgang ihn versicherte, daß es die Heilung seiner Verwundung sehr begünstigen werde, wenn er Gelegenheit erhalte, seinem unerschrockenen Kameraden einen noch so kleinen Dienst zu erweisen, da zauderte er lange und wand und krümmte sich, bis er die Bitte hervorbrachte, ihm im August ein paar Okulierreiser von den jedenfalls sehr schönen Rosen zu überlassen, die Wolfgang in seinem neu angelegten Garten angepflanzt habe und deren Namen er gern erfahren möchte; er habe auf dem Grabe seines Töchterchens einige sehr schöne Wildlinge stehen, die er gern veredeln möchte, und es sei ihm doch nicht gleichgültig, welche Arten er dazu verwende.

Wolfgang sagte, von einer leichten Rührung angewandelt, bereitwillig zu, daß er sich selber wählen solle, was ihm am meisten gefiele, fand aber natürlich diese Bitte ungenügend und war nicht wenig erstaunt, als Krone nun, sich selber zwingend, das gerettete Mädchen zur Sprache brachte; Wolfgang horchte hoch auf, als er erfuhr, daß es die „kleine Anna“ der beiden Alfrede sei, die er einer dringenden Gefahr entrissen hatte. Krone wußte weiter, daß ein Mitglied der Feuerwehr, ein junger Schlossermeister, sich um die Neigung des Mädchens bewarb und daß sie ihm wohl auch gern die Hand reichen würde, wenn der, wenn auch noch so beschränkte und vorläufig völlig unschuldige Verkehr mit den beiden jungen Chemikern nicht wäre. Neben diesen feinen Herren könne der durch und durch brave, ehrliche Bewerber natürlich nicht aufkommen; das junge Blut gewöhne sich an Lebens- und Umgangsformen, die nicht für sie taugten, sie lerne Ansprüche machen, welche die Kreise, aus denen sie stamme und auf welche sie angewiesen sei, nie erfüllen würden und zu denen sie ihrem Bildungskreise nach nicht einmal berechtigt sei; sie werde naturgemäß unzufrieden mit ihrem Lose und ungerecht gegen ihre Umgebung, und das alles nur, damit die Herren ein amüsantes Spielzeug an ihr hätten; daran, sie zu heiraten, dächte doch keiner, sie mache sich darüber auch gar keine Illusionen und es sei ihnen schließlich nicht einmal zu verdenken; wohin sollte das aber schließlich führen?

Die beiden feinen Herren gingen eines Tages auf und davon, und ihr „Schwesterchen“, das sie so lange gehätschelt und verwöhnt hätten, bliebe zurück und hätte sich durch sentimentales Zuckerwerk den Magen so gründlich verdorben, daß er kein derbes, gesundes hausbackenes Brot mehr vertragen könne. Das sei noch der günstigste Fall, denn am Ende verliebe sie sich doch in einen von den beiden und dann sei das Unglück fertig; es würde sich also ein großes Verdienst um sie erwerben und möglicherweise ihr gefährdetes Lebensglück retten, wer ihr in freundlicher und überzeugender Weise nachwiese, daß das geschwisterliche Verhältnis zu den beiden jungen Herren ein ungesundes und unnatürliches sei und daß sie schließlich die Kosten zu bezahlen habe: mit einem beschädigten Herzen oder einem kranken Kopfe. Sie würde natürlich nicht auf jeden hören, wenn aber Wolfgang, zu dem sie sicher käme, die Gelegenheit benutze, ihr das verdrehte Köpfchen zurechtzurücken, so verspreche das noch am ehesten einen Erfolg, und wenn die Kleine in sich gehe und dem bisher so hochmütig verschmähten Bewerber auch seine guten Seiten abzugewinnen wisse, ihm solle es lieb sein, obgleich dieser es gerade nicht um ihn verdient und während des Kriegs sehr häßlich über ihn gesprochen und ihn fast fanatisch angefeindet habe.

Das war natürlich alles nicht so glatt und fließend, sondern gehackt und zerrissen herausgekommen, und Wolfgang hatte dem halb Eifrigen, halb Verlegenen und über die eigene Kühnheit mehr und mehr Erschreckenden häufig genug hilfreich beispringen und ihm das Wort, nach dem er sichtlich suchte, fragend anbieten müssen. Von einem ihm plötzlich kommenden Gedanken beherrscht, sagte er dann seine Vermittlung in dieser heiklen Angelegenheit freundlich zu, und Krone pflichtete ihm lebhaft bei, als er es für das nach seiner Meinung Zweckdienlichste erkläre, wenn das junge Mädchen von dem Orte entfernt werde, der ihr so häufig Gelegenheit bot, mit den beiden jungen Männern zusammenzukommen. Dann aber richtete sich der Verwundete, den verbundenen Kopf mit dem Arme stützend, in den Kissen empor und sagte lächelnd und herzlich:

„Aber das genügt mir alles noch nicht; wissen Sie denn wirklich nichts, was ich als einen Ihnen geleisteten Dienst anzusehen vermöchte? Wollen Sie mir diese Freude nicht machen?“

Das klang so herzlich und aufrichtig, daß Krone sich nicht länger halten konnte, sondern mit einer ziemlich gewaltsamen Anstrengung die Worte hervorstieß:

„Ja, ich wüßte wohl etwas — Sie könnten mir sogar eine große Freude machen, aber ich weiß nicht, ob ich gerade das von Ihnen verlangen darf.“

„Also doch! aber nur immer heraus damit — ich bin doch neugierig, ob der kreißende Berg nicht am Ende wieder ein Mäuschen zu Tage fördert.“

„Sie irren sich, aber Sie sollen wahrhaftig nicht an Ihr Versprechen gebunden sein und können immer noch zurücktreten, wenn Sie erst wissen, um was es sich handelt. Wir haben hier in unserem Neste seit vielen Jahren einen Bildungsverein — nach Schultze-Delitzschschem Muster —, es hatte sich aber keine Katze um denselben gekümmert, so daß er eigentlich so gut wie tot war, als der Kulturkampf losging. Wir haben ja hier eine ziemlich gleichmäßig aus Katholiken und Protestanten gemischte Bevölkerung und die armen, dummen Teufel gingen hüben wie drüben auf Kommando scharf ins Zeug und echauffierten sich, als ginge ihnen die Katzbalgerei zwischen Gendarm und Kaplan selber ans Leben; einem vernünftigen Menschen, der weder nach Himmel und Hölle fragt und dem die Krausenträger höchstens noch etwas mehr zuwider sind als die Herren im Chorhemd und Stola, konnte sich das Herz im Leibe dabei umdrehen. Die Schwarzen sind immer die Klügeren und Praktischen — sie machten in aller Stille mobil und in ihrem Gesellenverein war schon lange ganz munter gehetzt worden, ehe man endlich Wind davon bekam. Nun steckte alles, was reichstreu war und studiert hatte, die Köpfe zusammen, man besann sich auf den Bildungsverein und er kam plötzlich zu Ehren und sollte ein Kampfmittel wider die Römlinge werden. Man hält Vorträge und hat auch eine Bibliothek angelegt, d. H. man hat an allen Ecken und Enden bei den Buchhändlern herumgefochten und die Herren haben sich ihrer ehrwürdigsten Ladenhüter und ihrer hoffnungslosesten Krebse entledigt und dieser Schund soll nun den Bildungshunger des armen Volkes befriedigen. Ich war neugierig darauf, wie die Herren das Ding anpacken würden und bin auch eingetreten — daß sie den Verein, wenn er auch einen kleinen anständigen Anlauf nehmen sollte, in kurzer Zeit verhunzt haben würden, wußte ich vorweg, aber sie haben selbst mich überrascht, und ich möchte manchesmal an den Wänden in die Höhe laufen, wenn ich mit anhören muß, wie sie die Leute mit lauter unnützem Zeug füttern und doch nur eins im Auge haben: sie für den Kulturkampf zu dressieren. Wenn ich könnte, ich wäre schon zwanzigmal mit gleichen Beinen hineingesprungen, denn was den armen Menschen, die mit offenen Mäulern dasitzen, in der langweiligsten Schulmeistermanier als funkelnagelneue Weisheit vordociert wird, das hat sich unsereiner längst an den Stiefelsohlen abgelaufen und das meiste weiß man besser — aber das Unglück ist eben, daß ich nicht kann. Der Zorn, der mit beiden Fäusten dreinschlagen möchte, würgt mich förmlich ab, aber es ist, als hätte ich einen Pfropf im Halse, der nicht heraus will, und wenn ich ja einmal ein paar Worte sage, so kommen sie der Quere heraus, und so ein grüner Laffe, der eben erst aus dem Seminar gekommen ist und sich für ein Licht der Welt hält, in Wirklichkeit aber des lieben Herrgotts Reitpferd, d. H. ein Esel ist (siehe Einzug in Jerusalem), fährt mir über den Mund und hat schließlich die Lacher auf seiner Seite. Da habe ich kürzlich einmal, als sie wieder eine volle Stunde von der Befreiung des deutschen Geistes durch den groben Wittenberger Mönch geschwafelt hatten, ein kräftig Wörtlein von Darwin fallen lassen, der ein viel größerer Wohlthäter und Befreier der Menschheit sei und von dem man an allen Straßenecken predigen sollte. Was glauben Sie, was nun kam? Der Rektor unserer Stadtschule, ein ganz gewöhnlicher Klavierpauker, dessen wundeste Stelle sein leeres Knopfloch ist, kanzelt mich von obenherab ab, meint, ich würde wohl von Darwin auch nicht mehr wissen, als ich in einem Gartenlaube-Artikel gelesen hätte, ergeht sich in Ausfällen gegen „vorlaute Halbbildung“ und stellt für die nächste Zeit eine Beleuchtung der Irrtümer Darwins in Aussicht. Soll man da nicht aus der Haut fahren? Ist es denn nun zu viel verlangt, wenn ich Sie bitte, diesen Vortrag mit anzuhören und am Schlusse dem aufgeblasenen Schulmonarchen eins auf den vorlauten Schnabel zu geben, daß ihm Hören und Sehen vergeht? Sie können reden wie ein Buch und darauf, daß Sie von Darwin mehr verstehen, als dieser dummstolze Bakelschwinger, gehe ich jede Wette ein. Und sehen Sie, wenn es nun einmal ans Hinrichten geht, so können Sie ihn am Ende auch gleich einmal an seiner kitzlichsten Stelle fassen; er fängt vollständig an zu rappeln, wenn von des deutschen Reiches erlauchtem Kanzler die Rede ist, den er so ungefähr für das Gehirn des deutschen Volkes hält, und seine Schulreden triefen förmlich von Kaiser- und Kanzlerbewunderung und von Franzosen- und Pfaffenhaß. Ich weiß nicht und will gar nicht wissen, welche politische Ansicht Sie haben, aber das steht für mich fest, daß Ihnen dieser fanatische Schwindel doch zu toll wäre. Wenn Sie die Reden einmal lesen wollen, um den Mann kennen zu lernen, so stehen Sie Ihnen zu Diensten — unsere kleine Quetsche ist gewürdigt worden, diese erhabenen Offenbarungen eines delirierenden Schulmeistergehirns durch den Druck aller Welt zugänglich zu machen, und ich habe mit der genialen Orthographie des Herrn Rektors und seiner verwegenen Interpunktion meine liebe Not gehabt.“

Die gesunde Derbheit und der ehrliche Ingrimm, die diese Darlegung charakterisierten, hatten Wolfgang nicht nur belustigt, und er hielt Krone die Hand hin und sagte gut gelaunt:

„Ich bin kein Freund des Redenhaltens und Debattierens, aber im Notfall stelle ich schon meinen Mann, und Ihr Herr Rektor wird sich entschieden im Lichte stehen, wenn er wirklich die Unverfrorenheit hat, die „Irrtümer Darwins“ beleuchten zu wollen. Ich komme also, sobald Sie mich benachrichtigen, daß der Vortrag stattfindet, und ich verspreche Ihnen weiter, dem würdigen Pädagogen die Perücke ganz gehörig zu zerzausen, wenn er, wie vorauszusehen ist, fälscht und verdreht. Sind Sie zufrieden?“

Der brave Krone war feuerrot vor Freude geworden — er preßte Wolfgangs Hand mit so herzhaftem Druck, daß dieser sich gerade keine Wiederholung wünschte, und die blaugrauen Augen blitzten in fast wilder Befriedigung. Als nun Wolfgang vollends hinzufügte, daß ihm der, Bismarckkultus, der in Deutschland getrieben werde, als eine Thatsache erscheine, die sich der ernstlichen Beachtung der Irrenärzte empfehle und für deren Verständnis ihm thatsächlich die Organe abgingen, gelobte sich Krone im stillen, seinen jungen Hauptmann fernerhin gegen jedermann bis aufs äußerste zu vertreten — wer etwas gegen ihn hatte, bekam es mit ihm zu thun und er sollte einen harten Stand haben. Wer weiß, wie lange Krone noch am Bett Wolfgangs gesessen hätte, wäre Frau Meiling nicht (zum sechstenmal) ins Zimmer getreten und hätte Wolfgang einen Wink mit den Augen gegeben — bei Krone war mit solcher Zeichensprache, wie sie bereits erprobt hatte, nichts auszurichten, so daß sie sich an den Verwundeten selber wenden mußte. Dieser verstand sie auch sogleich und sagte lächelnd: „Nun aber machen Sie, daß Sie fortkommen, Krone, wenn Frau Meiling Sie nicht hinauswerfen soll; unsere lange Unterhaltung hat ihre höchste Mißbilligung, und ich glaube, wir sind nach ihrer Meinung auch um ein Erhebliches zu laut gewesen, und wenn Sie das Feld geräumt haben, wird sie mir in mütterlich-strafendem Tone eine Vorlesung über die Schädlichkeit jeder Aufregung halten und ich werde Mühe haben, daß zu Gunsten meines Retters eine Ausnahme gemacht werden mußte.“

In der That war Frau Meiling gar nicht damit einverstanden, daß der ihrer Obhut anvertraute Rekonvalescent eine so lange Audienz gab. Und als Krone gegangen war, schärfte sie Wolfgang beinahe ängstlich die Notwendigkeit ein, sich nunmehr unbedingte Ruhe zu gönnen und nicht etwa noch lesen zu wollen. Wolfgang war auch wirklich müde und verfiel in eine tiefen, träumelosen Schlaf, in dem ihm aber etwas recht sonderbares passieren sollte, ohne daß es ihm zum Bewußtsein gelangte.

Frau v. Larisch war, als sie den Brief ihrer kleinen Freundin Emmy gelesen hatte, keinen Augenblick im Zweifel darüber gewesen, daß sie dem Rufe Folge leisten müsse. Sie lächelte über das Beobachtungstalent, das die Kleine, die doch sonst nicht scharfsinnig genannt werden konnte, bezüglich des Gemütszustandes Marthas entwickelte, und je weniger sie die Richtigkeit dieser Wahrnehmungen bestreiten mochte, desto prickelnder war das Interesse, das sie an dem weiteren Verlaufe dieses kleinen Romans nahm. Warum sollte sie sich auch nicht gestehen, daß sie selber eine Art von Unruhe empfand und daß sie Verlangen trug, sich persönlich von dem Befinden des jungen Mannes zu überzeugen, dessen That sie in einem Augenblick ihrer Kühnheit wegen bewunderte, um sie im nächsten verwegen und tollkühn, oder doch unklug und unvorsichtig zu schelten? Es würde ihr doch nicht gleichgültig gewesen sein, durchaus nicht gleichgültig, wenn er sich eine schwere Verletzung zugezogen hätte oder gar ein unheilbares Siechtum, und sie hatte aus tiefster Brust erleichtert aufgeatmet, als sie sich sagen konnte, daß keine Veranlassung zu ernsthaften Besorgnissen vorliege. Natürlich hielt sie es für geboten, bei ihrer Ankunft Emmy nach allem anderen früher zu fragen, als nach dem Befinden Wolfgangs, und als Emmy, die dies in ihrer Naivetät unbegreiflich fand, das aufregende Vorkommnis ihrerseits ungeduldig zur Sprache brachte, nahm sie die Sache sehr leicht, suchte ihr eine komische Seite abzugewinnen und plauderte mit einer Sorglosigkeit, die für Emmy etwas Verblüffendes, für Martha etwas geradezu Verletzendes hatte, über den ganzen Vorfall. Es war ihr dabei nicht entgangen, daß Marthas Gesicht alle Spuren schlafloser und vielleicht sogar verweinter Nächte trug; die bläulichen Ringe unter den müden, fast erloschenen Augen und das kleine, feine Fältchen, das sich von den Mundwinkeln abwärts zog, entwickelten eine stumme Beredtsamkeit, die an ihr nicht verloren ging. Das arme Mädchen that ihr leid — sie konnte sich denken, wie ihr zu Mute war und wie sie in hilfloser Sorge sich verzehrte. Es war ein ganz leises, gutmütiges Spottlächeln, mit dem sie im Geiste zu Martha sagte: „Nicht wahr, ich bin recht herzlos, so herzlos, daß selbst du, die ewig Milde, mich nicht in Schutz nehmen magst? Regt es sich nicht in deiner Seele wie ein bitteres Gefühl über die Kälte und Fühllosigkeit der Weltkinder, zu denen du — „Gott sei Dank“ — nicht wahr? — nicht gehörst? Aber wenn du mich auch jetzt verurteilst — ich werde feurige Kohlen auf dein Haupt sammeln und in ein paar Stunden wirst du mir in überwallendem Empfinden dankbar und gerührt die Hand drücken, denn ich bin doch nur gekommen, um dir, die mich so völlig verkennt, in deiner stummen Herzensnot zu helfen.“ Als es völlig dunkel geworden war und Emmy sie auf einige Zeit verlassen hatte, forderte sie Martha im gleichgültigsten Tone auf, sie auf einer kurzen Abendpromenade zu begleiten — Jean könne ihnen ja zu größerer Sicherheit und zur Wahrung des Dekorums folgen, und Martha that ihr ahnungslos den Willen; dicht verhüllt, den Schleier vor dem Gesicht, waren die beiden Frauengestalten nur schwer kenntlich, als sie, von Jean in respektvoller Entfernung gefolgt, durch die Straßen schritten. Vor einem Hause an gelangt, das mehrere arme Weberfamilien bewohnten, gab Frau v. Larisch Jean die Weisung, ihre Rückkunft abzuwarten, da sie einen Krankenbesuch abzustatten hätten, und es hatte dies für den eben nicht durch hervorragenden Scharfsinn ausgezeichneten und alles Nachdenken instinktiv verabscheuenden Burschen durchaus nichts befremdliches, da Marthas Verkehren gerade in den armseligsten Hütten stadtkundig war; nur die Thatsache, daß es ihr gelungen war, auch die lustige „gnädige Frau“ für diese ihm unerklärliche „Passion“ zu interessieren, entlockte ihm, als die Damen im Hause verschwunden waren, ein unverständliches Gebrumm. Frau v. Larisch zog ihre sie betroffen ansehende Begleiterin, deren Arm sie vertraulich in den ihren gelegt hatte, durch die stockdunkle Hausflur und einen verödeten Hof und stieß dann eine niedrige Thür auf, durch welche sie auf eine dahinter gelegene Straße gelangten. Wenige Schritte und sie standen vor dem Hause der Frau Meiling, und Frau v. Larisch sah mit einem Gemisch von Rührung und Spott, wie eine tiefe Glut die Wangen Marthas überflutete und verriet, daß sie jetzt erst den Zweck des Ausgangs errate. Frau v. Larisch ließ ihr keine Zeit zur Ueberlegung und schien es nicht zu bemerken, daß Martha unwillkürlich einen Schritt zurücktrat und unwillkürlich die Hand um ihren Arm schloß, als wolle sie sie zurückhalten; sie war Frau genug, um zu wissen, daß gerade die Zartfühligsten oft zu dem gezwungen sein wollen, wonach sie am meisten sich sehnen, und sie würde sich eine Stümperin gescholten haben, wenn es dieser Schwäche gelungen wäre, sie von der Ausführung ihres Gedankens abzuhalten. Im nächsten Augenblick war ihnen überhaupt der Rückzug abgeschnitten; Wolfgangs alte, treue Pflegerin trat aus ihrem Zimmerchen im Erdgeschoß und Frau v. Larisch legte eine Nuance von Herablassung in die anmutige Sicherheit, mit der sie der alten Frau vorflunkerte, sie seien zufällig an ihrem Hause vorübergekommen und da seien sie auf den Einfall geraten, sich einmal persönlich nach dem Befinden ihres Mietsmannes zu erkundigen. Martha erschrack in tiefster Seele, als Leontine ihr Schuld gab, besonders der Beruhigung zu bedürfen, da sie sich komischerweise als die, wenn auch unabsichtliche und schuldlose Urheberin seiner Verwundung ansehe; sie hätte gern Protest eingelegt, aber sie brachte kein Wort über die Lippen und ihre Augen hingen an dem welken Munde der alten Frau, als diese mit der ganzen Redseligkeit ihres Geschlechts und ihres Alters die gewünschte Auskunft über den Verlauf der Verwundung gab und das gegenwärtige Befinden Wolfgangs als vollkommen beruhigend bezeichnete. Ob Frau Meiling erriet, daß auch diese gründliche Auskunft die tröstliche Wirkung des Augenscheins nicht aufzuwiegen vermochte? Sie sagte, plötzlich, nicht ohne eine leichte Verlegenheit und mit einem unmerklichen Stocken der Stimme:

„Wenn die Damen übrigens — er schläft ganz fest und wacht vor morgen früh nicht auf — ich würde Sie bitten, einen Augenblick mit heraufzukommen; ich weiß freilich nicht — aber vielleicht ist dann Fräulein Hoyer ganz beruhigt.“

Wieder schrak Martha zurück und wieder übernahm Frau v. Larisch die Führung und sagte, als sei alles ein kleines, scherzhaftes Abenteuer: „Also Sie garantieren dafür, daß er schläft und nicht aufwacht, und Sie werden zu schweigen wissen — auch gegen ihn?“ indem sie der voraufgehenden und sich in geflüsterten Beteuerungen erschöpfenden, höchlichst geschmeichelten alten Frau unbefangen folgte. Martha zauderte — aber konnte und durfte sie zurückbleiben? Sie sollte einen Blick in sein kleines Heim werfen, sie sollte ihn selber sehen, ohne daß er eine Ahnung davon hatte; welche Rücksicht war so stark, das; sie sich von ihr zurückhalten lassen durfte? Und Leontine allein gehen lassen? sie empfand etwas wie eine Regung von Eifersucht bei diesem Gedanken, und diese Regung entschied — sie folgte den Vorausgegangenen, aber sie wagte kaum den Fuß fest auf die Stufen zu setzen und schrak bei jedem Knarren der ausgetretenen Stufen, bei jedem Knirschen des groben, weißen Sandes unter ihren Stiefelchen leicht zusammen. Ihr war, als thue sie, wenn auch halb gezwungen, etwas, was sie nicht thun dürfe, etwas, wodurch sie die Achtung des jungen Mannes verscherze, wenn er davon erführe — und wie leicht war das möglich! Aber man ließ ihr keine Zeit, ihren Gedanken nachzuhängen — Frau Meiling kehrte eben aus dem Zimmer Wolfgangs zurück, die Thür offen lassend. Frau v. Larisch trat, ihr mit einem schwer zu deutenden Lächeln zunickend, voran und setzte den Fuß — allerdings auch nur nach einem leichten Zögern — über die Schwelle auf den jeden Schritt erstickenden, dichten Läuferteppich.

So weit wagte Martha sich nicht; sie lehnte den Kopf (einen Fuß auf der Schwelle, einen noch außerhalb derselben) an den Thürpfosten links, von wo aus sie das ganze dämmerhelle Zimmerchen überblicken konnte, und wagte kaum zu atmen. Der friedlich Schlummernde bot ihr in scharfer Silhouette sein Profil; er hatte den rechten Arm hinter den Kopf gelegt, der linke lag auf der weichen, bunten Decke. Wie blaß war er! der Verband um den verwundeten Kopf stach nicht von der Hautfärbung ab; wie gern hätte sie einmal wenigstens mit bebender Hand diesen Verband erneuert. Sie hatte die Hände der schlaff niederhängenden Arme ineinandergelegt und so sah sie unverwandt nach dem Lager des Verwundeten, während Frau v. Larisch, aus jeder verrinnenden Sekunde Ermutigung zu größerer Keckheit saugend, sich überall umsah, die Bilder betrachtete, einen Moment vor dem Bücherschrank stehen blieb und sich so genau orientieren zu wollen schien, wie man es an einem Orte zu thun pflegt, den man voraussichtlich nie wieder betreten wird und der doch Interesse für den Besucher hat. Sie hatte ein Buch in die Hand genommen, in dem sie geräuschlos blätterte; so übersah sie es, daß Frau Meiling leise das Zimmer verließ, von Proud gefolgt, der sich musterhaft ruhig verhalten und nur jede Bewegung der Damen achtsam und staunend und doch wieder so ruhig, als begreife er die Situation, mit den klugen Augen verfolgt hatte. Martha trat sofort ebenfalls zurück auf den Flur und zu der alten Frau, um ihr zu danken und sie, mehr mit den Augen als mit den Lippen zu bitten, unverbrüchliches Schweigen über diesen ungewöhnlichen Besuch zu beobachten. Proud sah sie an, als verstehe er sie, und wie beschwichtigend rieb er den großen, weichbehaarten Kopf leise an ihrer Hand und stieß sie zärtlich mit der kalten Schnauze und als sie, seltsam bewegt, ihre Hand über des Tieres Kopf gleiten ließ, sprang Proud auf einen Stuhl neben ihr und legte, zutraulich und gravitätisch zugleich, eine seiner mächtigen Pranken für einen Augenblick auf ihre Schulter, so daß Frau Meiling ganz erstaunt sagte: „Sie müssen es dem Tier geradezu angethan haben, Fräulein Hoyer — solche Zärtlichkeiten hat er sonst nur für seinen Herrn, und ich habe mir viel Mühe geben müssen, bis wir gute Freunde wurden.“ — In der Zwischenzeit hatte Leontine das Buch weggelegt und entdeckt, daß sie ganz allein im Zimmer war; ein prüfender Blick überzeugte sie, daß man, wenn man am Kopfende von Wolfgangs Lager stand, durch die halboffene Thür gedeckt war und vom Flur aus nicht gesehen werden konnte; sie trat geräuschlos dorthin, beugte sich über den Schlafenden nieder, strich mit den Fingerspitzen das leichtgekräuselte Endchen Stirnhaar zurück, das sich unter dem Verband vordrängte, und hauchte gedankenschnell einen Kuß auf seine Stirn, dann glitt sie, heimlich frohlockend und doch sehr geneigt, sich ernstliche Vorwürfe zu machen, aus dem Zimmer und als sie zu Martha sagte: „Ich glaube aber, es ist hohe Zeit, daß wir Frau Meiling unseren Dank abstatten!“, da klang das so unbefangen, als wäre ihr Herz, weit davon entfernt, rascher zu schlagen und als fühle sie nicht, wie ihre Wangen brannten. Man verabschiedete sich rasch, Leontine zog Marthas Arm wieder in den ihrigen und führte die völlig Verstummte den Weg zurück, den sie gekommen waren; sie fühlte das Bedürfnis, wenigstens eine Art von Gespräch in Gang zu bringen und warf die Bemerkung hin, daß dieses Junggesellenzimmer sie merkwürdig interessiert habe es sei nicht nach der Schablone eingerichtet gewesen, sondern habe etwas sehr Individuelles und Charakteristisches gehabt, das ganz gut zu der Eigentümlichkeit seines Bewohners stimme. Martha pflichtete ihr bei, aber in einem Tone, der deutlich verriet, daß sie am liebsten nicht geantwortet hätte; sie hatte in der That nicht auf Einzelheiten geachtet und noch weniger ans Kritisieren gedacht. Um so klarer und schärfer stand das Bild des dämmerhellen Gemachs vor ihrem geistigen Auge; dieses Bild hatte sich ihr unverlöschlich eingeprägt und sie wußte, sie würde es nie vergessen. — Es ging an jenem Abend, zum Staunen Emmys, merkwürdig ruhig am Theetisch des Kommerzienrats zu; sowohl Martha als Leontine hingen sichtlich ihren Gedanken nach und verfügten sich so zeitig als möglich zur Ruhe. Als sie einen Moment sich allein gesehen hatten, hatte Martha, wie aus einem schweren Traum erwachend, zu Leontine gesagt: „Ich habe Dir noch nicht einmal gedankt und doch bin ich Dir großen Dank schuldig — es war am besten so.“ Leontine hatte hierüber gelinde Zweifel, aber sie schwieg.

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Das kleine Abenteuer hatte äußerlich nur ein ganz bedeutungsloses, kaum erwähnenswertes Nachspiel. Eines Morgens fiel der Blick des Erwachenden auf einen reichen Strauß frisch erblühter Maiblümchen, den Frau Meiling in ihre schönste Vase gesteckt hatte. Er ließ sich die Vase auf das Tischchen neben seinem Bett stellen und als Frau Meiling das Zimmer verlassen hatte, drückte er das Gesicht tief in den zierlich geordneten Strauß, als gelte es, seinen Duft wie einen Gruß des frühlingsfrischen Waldes einzusaugen, den er wochenlang hatte entbehren müssen, aber er wagte nicht zu fragen, wer den Strauß gebracht oder geschickt habe, aus Furcht, die Antwort werde die Illusion zerstören, die ihm so wohl that. Als im Laufe des Tages seine Wirtin von freien Stücken davon anfing, daß der Strauß durch ein kleines, ärmlich gekleidetes Mädchen gebracht worden sei, zogen sich seine Brauen ungeduldig zusammen und er atmete auf, als er hörte, daß die Kleine nur gesagt habe, sie solle den Strauß abgeben — von wem er sei, wisse sie nicht und sie dürfe auch nicht sagen, wer ihn ihr gegeben habe. Diese geheimnisvolle Ungewißheit ließ die Hypothese, in die er sich verliebt hatte, am Leben und mit fast krankhafter Reizbarkeit klammerte er sich an den Gedanken, daß Martha Hoyer es sei, die in so zarter Weise ihre Teilnahme an seinem Ergehen zu erkennen gab. Dafür, daß der Strauß aus Damenhänden kam, konnte ihm wohl schon der Umstand bürgen, daß er mit dunkelgrüner Seide sehr sorgsam und accurat gebunden war, und als er Frau Meiling bat, die Stengel der Haft zu entlassen und sie lose in die Vase zu ordnen, da war es ihm vielleicht ebenso sehr darum zu thun, diesen seidenen Faden in seinen Besitz zu bringen, als darum, die Blumen etwas länger frisch zu erhalten.

Die Wiederherstellung des sorgsam Gepflegten ward durch keinen Zwischenfall unterbrochen, und als ihm der Arzt Mitte Mai eröffnete, daß er bei günstiger Witterung Ende der Woche den ersten kleineren, dann aber auch wieder einen größeren Spaziergang unternehmen und am Montag seine geschäftliche Thätigkeit wieder aufnehmen dürfe, ordnete er für den Sonntag die infolge seiner Verwundung verschobene Abhaltung der für das Frühjahr festgesetzten Geräteprobe der freiwilligen Feuerwehr an und lieferte so in aller Form und für jedermann den Beweis, daß er seinen Posten wieder eingenommen habe. Das kleine Schauspiel, dem der Bürgermeister und einige Mitglieder des Stadtverordnetenkollegiums in offizieller Eigenschaft beiwohnten, hatte dies Jahr eine ungewöhnliche Zuschauerzahl herbeigelockt; das Gerücht, daß der Hauptmann wieder kommandiere, hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet; alles wollte ihn sehen, und die Frauen und Mädchen, denen das Dabeisein besonders am Herzen gelegen hatte, kamen darin überein, daß er wieder ganz schmuck aussehe, nur noch etwas blaß und angegriffen.

Wolfgang selber war es peinlich, der Gegenstand geschärfter Aufmerksamkeit zu sein, und je mehr ihn jeder Blick an den letzten Brand und an seine Verwundung erinnerte, desto sorgfältiger vermied er es, durch ein direktes Wort oder auch nur eine Andeutung an denselben zu mahnen und er wich dem Bürgermeister, der an anerkennende Aeußerungen über den Zustand der Freiwilligenabteilung und ihrer Geräte sofort eine Unterhaltung über jene „heroische That“ knüpfen wollte, mit so vielem Geschick aus, daß jener zuletzt gezwungen war, Wolfgang ganz direkt zu erklären, daß er den von ihm eingereichten Bericht über das letzte Schadenfeuer mangelhaft finde: der Rettung des jungen Mädchens, die doch mit eigener Lebensgefahr erfolgt sei, sei so flüchtig und beiläufig gedacht, daß ein Uneingeweihter sie notwendig für ganz ungefährlich halten müsse. Er gebe ja zu, daß Wolfgang nicht gut für sich selber eine Auszeichnung habe beantragen können, und dieser Zug von Bescheidenheit und Takt mache ihm alle Ehre, aber Wolfgang habe sogar die Verpflichtung, wenigstens für den Steiger, der ihm behilflich gewesen sei, eine Auszeichnung zu beantragen, und wenn er daneben sein eigenes Verdienst nur wahrheitsgemäß hervorhebe, so werde amtlicherseits schon das Nötige veranlaßt — jedenfalls bedürfe man aber der Grundlage eines Rapports von seiten des Kommandos und er werde sich also erlauben, Wolfgang seinen Bericht wieder zuzusenden, damit er denselben entsprechend ändere. Der gute Mann war sehr betreten, als Wolfgang jede Aenderung des Rapports ablehnte, und daß er sich bemühte, dies in der verbindlichsten und liebenswürdigsten Form und unter Zuhilfenahme eines Scherzes zu thun, konnte über die Festigkeit seines Entschlusses und darüber, daß hier eine principielle Abneigung maßgebend war, nicht täuschen. Wolfgang mußte zuletzt direkt erklären, daß der Herr Bürgermeister ihn zu aufrichtigem Danke verpflichte, wenn er jenes Vorkommnis offiziell ignoriere, da er ihn dadurch der unangenehmen Notwendigkeit überhebe, eine Medaille abzulehnen, deren Annahme ihm seine Ueberzeugungen nicht gestatteten; es liege ihm nichts daran, der Regierung einen „Affront“ zuzufügen, und der Herr Bürgermeister werde nicht durch seine Hartnäckigkeit die Veranlassung sein wollen, daß der Regierung eine solche Beleidigung zugefügt werde, die ja immerhin Staub aufwirbeln würde. Der Bürgermeister, dessen Gesicht die lächelnde Gönnermiene längst eingebüßt und einen gekniffenen und befremdeten Ausdruck angenommen hatte, der mit dem eigentümlich kühlen Ton der Stimme harmonierte, erklärte, daß er wenigstens für den mitbeteiligten Steiger eine Belohnung beantragen müsse — der Mann habe, fügte er mit ziemlich scharfer Betonung hinzu, jedenfalls Ansichten, die sich eher mit den Institutionen eines monarchischen Staats in Einklang bringen ließen. Wolfgang lächelte über den Seitenhieb, der ihn nicht zu verwunden vermochte, und erwiderte, daß er selbstverständlich nicht beabsichtigt habe, den Steiger Krone (diesen Namen hatte der Bürgermeister freilich nicht erwartet) zu vergewaltigen, er habe jedoch guten Grund zu der Annahme, daß jener seine Anschauungen teile und werde ihm auf der Stelle Gelegenheit geben, sich hierüber auszusprechen. Auf seinen Ruf: „Steiger Krone, vor!“ trat dieser in einer Haltung aus dem Gliede, die das Produkt eines Kompromisses zwischen seiner Ueberzeugung von der Notwendigkeit eurer straffen Haltung und seinem tiefen Widerwillen wider alles, was an den Militarismus erinnerte, war und demzufolge einen leichten komischen Anstrich hatte — seine Art zu salutieren zeichnete sich durch die gleiche Unvorschriftsmäßigkeit aus.

„Steiger Krone, der Herr Bürgermeister teilt mir mit, daß er beabsichtige, die Verleihung der „Lebensrettungs-Medaille am Bande“ an Sie zu beantragen — Sie werden aufgefordert, sich darüber zu erklären, ob Ihnen dies erwünscht ist.“

Krone wurde rot wie ein junges Mädchen, dem man einen Heiratsantrag macht — aber seine grauen Augen bekamen einen harten Glanz und ein trotziger Ausdruck lagerte sich auf seine Lippen, als er fragte: „Ist die Medaille auch für Sie beantragt, Herr Hauptmann, und werden Sie dieselbe annehmen?“

„Der Herr Bürgermeister wünschte auch mich auszuzeichnen (es lag eine ganz feine Schattierung von Spott in der leichten Betonung dieses Wortes), ich habe ihn jedoch aus ganz privaten und individuellen und für Sie in keiner Weise maßgebenden Gründen bitten müssen, davon Abstand zu nehmen.“

„Das freut mich, Herr Hauptmann — übrigens würde ich die Medaille auch dann abgelehnt haben, wenn Sie angenommen hätten, erstens, weil Sie bei der ganzen Geschichte viel mehr gethan haben als ich, und zweitens, weil ich ein abgesagter Feind des ganzen Ordenswesens bin und dasselbe gar zu oft persifliert habe, um mich nun selber dekorieren zu lassen. Ich könnte die Medaille höchstens meinem Jungen zum Anschlagen geben und das zöge mir schließlich noch eine Verfolgung wegen Verhöhnung einer Staatseinrichtung zu.“

Wolfgang, der mit einem Lächeln gewahrte, daß der kleine, rundliche Bürgermeister nahe daran war, sich zu erbosen und eine heftige Antwort im barschsten Amtstone zu geben, die Krone, der bis dahin völlig sicher gewesen war, vielleicht erbittert und dadurch zu einer schlagenden Replik unfähig gemacht haben würde, ließ den Trotzigen, dessen ganze Art ihm immer besser gefiel, rasch zurücktreten und suchte das unmutige Oberhaupt des Städtchens zu beschwichtigen, indem er ihm freundlich sagte:

„Lassen Sie sich unsere Ablehnung nicht anfechten, Herr Bürgermeister; es wird noch lange dauern, ehe derartige Ansichten Gemeingut werden, und die Sehnsucht nach einer Auszeichnung hat sich Ihnen gewiß so oft in komischer und lästiger Zudringlichkeit genähert, daß es Ihnen als Abwechslung willkommen sein sollte, einmal ein paar Männer zu treffen, die in aller Seelenruhe ablehnen. Sagen Sie wenigstens: „Es muß auch solche Käuze geben!“ und tragen Sie mir die Weigerung nicht nach; es würde mir persönlich gewiß viel lieber gewesen sein, ich hätte Ihre wohlwollende Absicht mit herzlichem Danke gutheißen können.“

Das klang wieder so aufrichtig, daß der Bürgermeister ihm halb versöhnt die Hand gab; er schüttelte freilich den Kopf dabei und meinte: „Alles ganz gut und schön, mein Herr Hammer, aber glauben Sie mir, mit solchen Ansichten kommen Sie nicht durch die Welt, und daß Sie mit dem Menschen, dem Krone, sympathisieren, der also wirklich noch ganz in den Traditionen des tollen Jahres lebt und webt, will mir ganz und gar nicht gefallen. — Hoffentlich ist unsere nächste Begegnung eine angenehmere.“

„Das hoffe ich auch, sehr zuversichtlich sogar; es wäre doch wunderbar, wenn ich nochmals in die Notlage versetzt werden sollte, Ihnen einen Korb zu geben.“

Wolfgang salutierte, der Bürgermeister zog seinen Hut und Wolfgang ließ seine Mannschaften abtreten. Da trat Krone nochmals an ihn heran und es war eine köstliche, schüchterne Verlegenheit und eine schlichte Treuherzigkeit in seinem Wesen, als er sagte: „Nächsten Sonnabend hält der Herr Rektor Storck seinen Vortrag über den Darwinismus — Wenn Sie also kommen wollen —“.

„Natürlich komme ich, und wenn er's zu arg treibt und uns beschwindeln will, so beweisen wir ihm, daß er nicht in einer Kinderschule ist; haben wir es heute halb und halb mit dem Bürgermeister verdorben, so darf's uns auf den Rektor auch nicht ankommen.“

„Ich weiß nicht recht, ob er nicht gefährlicher ist; wenn Sie ihm eine Niederlage bereiten, so bekommen Sie ihn zum Feind, und ich glaube, er ist rachsüchtig und unversöhnlich.“

„Wollen Sie mir bange machen, Krone? Es soll Ihnen nicht glücken. Nun erst recht!“

Wolfgang war am Nachmittag eben im Begriff, in Prouds Begleitung einen seiner Streifzüge in die Berge anzutreten, als ihm ein Besuch gemeldet ward, dessen Ausbleiben ihm schon einigemal fast befremdlich erschienen war. Er hatte, solange er das Bett hüten mußte, regelmäßig mittags erfahren, daß der von ihm gerettete Schützling seiner beiden Freunde sich früh nach seinem Befinden erkundigt und daß jene Schreckensnacht bei ihr keinerlei Folgen hinterlassen habe, aber sie hatte es, so oft auch Frau Meiling sie aufforderte, mit hinauf zu kommen, unter irgend einem Vorwand abgelehnt und ihren Besuch auf später verschoben, bis nach ihres Retters völliger Wiederherstellung. Nun kam sie also, und Wolfgang ward hinunter in das Zimmer seiner Wirtin gerufen, wo sie mit ihrer alten Tante seiner wartete. Die überschwänglichen Danksagungen der Alten in jovialem und fast vertraulichem Tone ablehnend und abkürzend und ihr das Wort aus dem Munde nehmend, als könne er nicht rasch genug mit ihr fertig werden, streckte Wolfgang dem sichtlich befangenen und verlegenen jungen Mädchen, das ihm mit gesenktem Köpfchen und brennenden Wangen entgegenkam und nur einmal einen scheuen, fast forschenden Blick zu ihm aufschlug, die Hand entgegen und sagte lächelnd:

„Und nun vor allem — keine Danksagungen; sollten Sie mir selber einen kleinen Dank schuldig sein, so schulde ich Ihnen einen großen, dafür, daß Sie mir Gelegenheit gegeben haben, in meinem frei gewählten Berufe das Größte zu leisten und eine That zu verrichten, die jedes pflichttreuen Feuerwehrmanns höchster Ehrgeiz ist — der beiderseitige Dank hebt sich also vollständig, und meine erste Bitte an Sie ist, jene Nacht gar nicht zu erwähnen. Plaudern wir lieber so ein wenig — Sie sehen, Ihre Tante und meine gute Frau Meiling sind bereits in einem Austausch von wichtigen Mitteilungen und pikanten Geheimnissen begriffen."

Das junge Mädchen sah ihn erstaunt an — seine ganze Art und namentlich der Ton seiner Stimme flößten ihr Vertrauen ein. Sie taute bald auf, und als die beiden Alten unsichtbar wurden (Frau Meiling wünschte der Tante der „kleinen Anna" Wolfgangs Zimmer zu zeigen, das für sie der Inbegriff aller Merkwürdigkeit war), ging er mit so viel Geschick und Humor auf die kleinen Leiden und Freuden ihres Mädchenlebens ein und fragte ihr mit so viel Gewandtheit und Teilnahme ihre einfache Geschichte ab, daß sie endlich gar nicht umhin konnte, die beiden Alfrede zu erwähnen; sie schlug dabei mit einer heroischen Anstrengung die Augen ernsthaft zu ihrem Retter auf, von dem sie ja ganz gut wußte, daß er mit den beiden genau bekannt war und öfter mit ihnen verkehrte, und Wolfgang las in diesem klaren, standhaften Blick, daß das arme Kind zunächst ganz arglos und ahnungslos einen Pfad verfolgte, dessen Gefahren sie nicht kannte und der doch, mehr und mehr sich verengend, immer steiler, zerrissener und schlüpfriger wurde, bis ein plötzliches Straucheln und Ausgleiten fast unvermeidlich ward. Wolfgang sah ein, daß er nicht behutsam und schonend genug zu Werke gehen könne, und als er die Frage hinwarf, ob sie wohl schon einmal versucht habe, sich ein Bild von ihrer Zukunft zu entwerfen, aus dem sie sich die beiden jungen Männer ja doch hinwegdenken müsse, da erriet sie sofort seine Absicht und in einer beinahe ängstlichen, aber auch entschlossenen Spannung hefteten sich ihre Augen auf sein Gesicht — sie mußte jetzt vor allem Gewißheit darüber erlangen, ob Wolfgang auf eigene Faust oder im Einverständnis mit den beiden jungen Männern und vielleicht sogar in ihrem Auftrage handle, und als er sie aufforderte, ihn auf seinem Spaziergang zu begleiten (ihre Tante und Frau Meiling würden sich gewiß anschließen), da erklärte sie sich fast heftig bereit dazu.

Man ging gemeinsam bis zu einem einsamen Wirtshaus am Waldsaume, wo die beiden Alten sich bei der Kaffeekanne festsetzten, während die beiden jungen Leute in den Wald wanderten. Sie kamen erst spät zurück, und es war kein Zweifel darüber möglich, daß die Anna verweinte Augen hatte; dennoch war sie gefaßt und ruhig — es war, als sei sie in den paar Stunden um ebenso viele Jahre älter geworden. Wolfgang hätte ihr im Tone eines Freundes auseinandergesetzt, daß das momentan ganz schöne, schuldlose und beglückende Verhältnis zu den beiden jungen Männern unmöglich von Dauer sein könne, er hatte ihrer Naivetät das Geständnis abgelockt, daß sie jetzt schon halb eifersüchtig auf beide sei, und sie war sehr nachdenklich geworden, als Wolfgang sie plötzlich fragte, welchen Eindruck es auf sie machen würde, wenn sie die Nachricht von der Verlobung des einen oder beider erhielte; er hatte ihr in der mildesten Form angedeutet, daß die beiden doch bereits anfingen, das erst mit einer wahren brüderlichen Schwärmerei gehegte Verhältnis zuweilen lästig und beengend zu finden, seit sich aus dem Kinde das junge Mädchen entpuppt habe, und er hatte kein Hehl aus seiner Ueberzeugung davon gemacht, daß besonders der lange Alfred erleichtert aufatmen werde, wenn sie in einer freundlichen Form die bereits zu intim gewordenen Beziehungen wieder auf ein neutrales Gebiet hinüberspiele und die Stadt verlasse; in ihrer Macht liege es, den Briefwechsel, der in der ersten Zeit ja unvermeidlich sei, nach und nach auf ein Minimum zu reduzieren. Das arme Kind, das seine Illusionen zerstört sah, ohne mit Verstandesgründen gegen Wolfgangs eiserne Logik ankämpfen zu können und ohne an einem unbeirrbaren Gefühl einen Bundesgenossen gegen diese schreckliche Logik zu haben, hatte sich nach vielen Thränen zu dem Entschlusse aufgerafft, sich in die Trennung zu fügen und dieselbe ihrerseits zu einer vollständigen zu machen, wenn sie aus dem Verhalten der beiden und namentlich des langen Alfred — hatte er doch einen Vorzug vor seinem Kollegen gehabt? — bei der Ankündigung von ihrem Weggange entnehmen könne, daß ihnen schließlich doch, wenn auch uneingestandenerweise, ein Gefallen damit geschehe. Sie lächelte traurig, als sie hinzufügte, es solle ihnen nicht gelingen, sie durch die Versicherung ihres Bedauerns darüber zu täuschen, daß mit diesem Bedauern doch eine entschiedene Genugthuung über diese Lösung verbunden sei, und wenn ihr Gefühl, auf das sie sich verlassen dürfe, ihr bestätige, daß Wolfgang recht gehabt habe, so sei er zum zweitenmal ihr Retter geworden und ihr Dank für diese Rettung, den er gewiß nicht ablehnen könne, werde ein lebenslänglicher sein. Es fiel ihr übrigens jetzt ein, daß die jungen Leute zuweilen wirklich ein etwas zerstreutes und verlegenes Wesen an den Tag gelegt hatten — hatten sie unter dem Bann der Unnatur und Unklarheit des ganzen Verhältnisses gestanden, hatten sie Besuch erwartet, oder gefürchtet, mit ihr dem oder jenem Bekannten zu begegnen, der nichts von diesem geschwisterlichen Verhältnis wissen durfte, weil er unfähig war, es als ein geschwisterliches aufzufassen?

Unser schnurrbärtiger Freund und das hübsche Kind mit den braunen Rehaugen gingen auf einem begrasten Dammweg, der das Hochwasser des Frühlings von der wildreichen Niederung abhielt; das junge Mädchen, das sich, wenn auch von geschickter und sanfter Hand, einer so schmerzhaften Operation unterworfen sah, hatte sich eine handvoll Kletten abgestreift, die sie, ganz in ihre Gedanken versunken, Proud mechanisch nach und nach ins Fell warf, und Wolfgang konnte, als sie am Ausgang des Waldes ihm die Hand hinhielt und, mit verschleiertem Blick die Thränen gewaltsam hinabschluckend, ihm sagte: „Ich danke Ihnen — und Sie sollen auch mit mir zufrieden sein“ — der aufsteigenden Rührung nicht anders Herr werden, als indem er erwiderter „Ich glaube Ihnen aufs Wort — Sie haben ein tapferes Herz. Aber nun sehen Sie nur, wie sie meinen armen Proud zugerichtet haben — wollen Sie mir gleich helfen, ihm die Kletten aus dem Fell zu zupfen, die sich festgenestelt haben, als wären sie mit den Haaren verwachsen?“ Und gehorsam kauerte sie hin, und trotz ihrer Erregung war sie noch Kind genug, um über die wunderlichen Bewegungen des sich sehr unbehaglich fühlenden und nach rückwärts schnappenden Tieres durch Thränen zu lächeln.

Als sie im Begriff standen, sich wieder mit den beiden Frauen zu vereinigen, die nach und nach doch eine leichte Verwunderung über dieses lange Ausbleiben nicht hatten unterdrücken können, fragte Wolfgang, dem plötzlich ein Einfall kam, ob das junge Mädchen wohl nach W. ginge, wenn sie dort in einer Familie mehr als Gesellschafterin und Gehilfin, denn als Dienerin Aufnahme fände — sie gab ihm, von einer schmerzlichen Aufwallung übermannt, ein so melancholisches: „Ich kann Ihnen nicht sagen, wie gleichgültig mir der Ort ist, an dem ich künftig leben soll“ zur Antwort, daß er sie fast wie mahnend ansah. Sie faßte sich auch rasch, versicherte ihm, daß ihr jede Stellung die er vielleicht, um seiner Güte für sie die Krone aufzusetzen, für sie auswirke, recht sei und daß sie dem, was er ihr anbiete, vertrauensvoll den Vorzug vor jedem anderen Anerbieten geben würde, und mit echt weiblicher Geistesgegenwart und Verstellungsfähigkeit rief sie ihrer Tante vorbeugend zu, daß sie sich total verlaufen gehabt hätten und daß sie schon in Zweifel gewesen seien, ob sie noch vor Dunkelwerden aus dem Walde ins Freie sich finden würden.

Man ging gemeinsam heim, und als Wolfgang sich mit einem leisen: „Sie werden jedenfalls in kurzer Zeit von mir hören und inzwischen behalten Sie den Kopf hübsch oben und vergessen Sie nicht, daß Ihnen ein Freund geraten hat“ von ihr verabschiedet hatte, war er in innerster Seele mit sich zufrieden und ein wenig stolz auf sein diplomatisches Talent. Wie eigen hatte doch der Zufall hier gespielt! Die Intervention die ihm halb und halb als eine Menschenpflicht erschienen war, als er von dem jungen Mädchen noch nichts weiter wußte, als was ihm seine beiden Freunde erzählt hatten, nun war sie ihm förmlich aufgenötigt worden.

Der Abend des voraussichtlich eine mehr oder minder scharfe Widerlegung erheischenden rektorlichen Vortrags über die Descendenzlehre fand Wolfgang in großer Gelassenheit. Er war mit der Lehre Darwins genau bekannt, er war über die Weiterentwicklung derselben durch die deutschen Forscher, die mit Kühnheit und Energie die logischen Konsequenzen der Sätze des vorsichtigen und zurückhaltenden Engländers zogen, genügend orientiert, und er wußte, daß ihn kein ungestümes Drängen des Blutes nach dem Gehirn in der freien und besonnenen Verfügung über jedes einzelne seiner Beweismittel beirrte. Ohne Anspruch darauf zu machen, ein Redner zu sein, wurde er durch diese kaltblütige Ruhe in den Stand gesetzt, glatt und fließend, in klaren, bestimmten Sätzen zu sprechen, und so sah er also dem Vortrage, der ihn vielleicht im Dienste der Wahrheit ins Gefecht rief, mit ungetrübter Gemütsruhe entgegen. Sein Erscheinen im Saal rief eine gewisse Bewegung hervor; man war erstaunt über sein Kommen, aber da er sich bereits der Sympathien der Bevölkerung erfreute, so war diese Ueberraschung eine fast freudige, und diese Stimmung kam ihm im Notfalle sicher zu statten. Der Steiger Krone, der sich in eine ziemlich dunkle und entlegene Ecke gedrückt hatte und dort unter dem breitkrämpigen Filzhute an seinem Schnurrbart kaute und in Ungeduld und Erregung die mit den Zähnen faßbaren Haarspitzen abbiß, zwinkerte ihm nur mit den klugen, grauen Augen verstohlen zu und deutete ihm durch eine leichte Handbewegung an, daß er noch weiter nach vorn gehen, sich aber jedenfalls nicht zu ihm setzen möge, und Wolfgang erriet seine Absicht. Er hielt es für geraten, zunächst das Terrain ein wenig zu sondieren und ließ sich dem Herrn Rektor, der sich mit einer Art von Stab bereits eingefunden hatte, vorstellen. Der Mann mißfiel ihm in hohem Grade. Das lange, schmale, lederfahle Gesicht mit den kleinen, stechenden, geschlitzten Augen, den abstehenden, unerlaubt umfangreichen Ohrmuscheln, dem großen, entschieden unedlen Mund und dem zurückliegenden Kinn, der zwischen schmalen Schultern sich aufbauende lange, magere Hals, die aufgeblasene Pose des Schulmonarchen, der die linke Hand auf den Schenkel stemmte und die rechte zwischen Weste und Hemd versenkte, die durch die Umstände in keiner Weise motivierte Wichtigthuerei des Männleins — alles stieß ihn ab, und er fühlte, daß er ihm im Notfalle schärfer entgegentreten würde, als einer minder herausfordernden Persönlichkeit. Er konnte übrigens die Beobachtung machen, daß der Weise des Städtchens von seiner ironisch-artigen Bemerkung, „er sei auf seinen Vortrag um so gespannter, als er sich mit Darwin, Vogt, Häckel u. s. w. häufig und eingehend beschäftigt habe“, gar nicht sehr erbaut zu sein schien. Er erwiderte mit sauer-süßer Stimme, daß er ihm dann wohl um so weniger Neues werde sagen können, als er die Hypothese Darwins „vorwiegend aus philosophischen, religiösen und ethischen Gesichtspunkten“ zu beleuchten gedenke, während er die naturwissenschaftliche Begründung der Theorie nur nebenbei berühren könne, und Wolfgang wußte nun schon, was er zu hören bekommen werde. Was der Herr Rektor, von seinen Getreuen pflichtgemäß mit demonstrativem Beifall begrüßt, im docierenden Schulmeisterstil zum besten gab, übertraf jedoch alle seine Erwartungen, und war so überaus matt, lahm, schief und seicht, daß ihm Krones Ingrimm völlig verständlich wurde. Die Enden seines Schnurrbarts um die Finger wickelnd, hörte Wolfgang aufmerksam zu; er hatte nicht einmal nötig, sich Notizen zu machen, da die großen Grundirrtümer des Vortragenden zu ihrer Widerlegung schon so viel Zeit erforderten, daß er ihm die Nebenumstände sämtlich schenken mußte. In den vordersten Reihen der Zuhörer rührten sich, als der Herr Rektor abtrat, einige Hände; die übrige Hörerschaft verhielt sich ungewöhnlich kühl, und diese für seinen maßlosen Ehrgeiz sehr empfindliche Wahrnehmung hatte noch nicht voll ihre Wirkung geübt, als ihm Wolfgang eine neue, sehr unerwünschte Ueberraschung bereitete. Er bat, ihm zu einigen Bemerkungen über den eben gehörten Vortrag das Wort zu gönnen, und widerlegte nun, ruhig und sachlich, aber in scharf zugespitzten Sätzen, die Beweisführung des Rektors so vollständig, daß Krones enthusiastisches Bravo in dem lauten Beifall unterging, in den die Hörerschaft ausbrach, als Wolfgang geendet hatte. Der Rektor beging die denkbar größte Unklugheit, indem er auf Wolfgangs Ausführungen antwortete; er war gereizt und das heftige Verlangen, sein gefährdetes Ansehen zu wahren, ließ ihn hitzig, bitter und ausfällig werden und riß ihn zu gewagten Behauptungen hin, die er mit kaltem Blute gewiß nicht ausgestellt haben würde. Der Versuch, Wolfgang von oben herab mit seiner Ironie zu widerlegen und den Ton der wissenschaftlichen Ueberlegenheit dem Laien gegenüber, den Ton eines leichten, spöttischen Mitleids anzunehmen, mißlang ihm aufs kläglichste; die Zuhörer hatten sämtlich das Gefühl, einen hochmütigen, dünkelhaften Schulmeister vor sich zu haben, der sich auf den Sand gesetzt sieht und der sich durch Grobheiten und Anzüglichkeiten für den seinem Ansehen versetzten Stoß zu rächen sucht und sich immer mehr in die Hitze redet, ohne den Eindruck der Worte seines Gegners verwischen zu können; der Herr Rektor war ihnen nie kleiner und unwürdiger erschienen als in dieser Stunde, und es war höchst ergötzlich, auf Krones Gesicht sein inneres Wüten und Toben gegen den anmaßenden Ignoranten sich spiegeln zu sehen; der Zorn und die Entrüstung über ein so unwürdiges Benehmen würgten ihn ab und er hätte in diesem Augenblick viel darum gegeben, nur die Hälfte von Wolfgangs klassischer Ruhe zu besitzen, um dem Rektor nach Gebühr antworten und ihm auf gut deutsch die Wahrheit sagen zu können. Wolfgang erhob sich jedoch selbst zur Abwehr des durch nichts gerechtfertigten persönlichen Angriffs, und er hatte, als der Beleidigte und Herausgeforderte, bei seinen Hörern von vornherein gewonnenes Spiel. Ebenso ruhig und gelassen, als der Rektor eifrig und gereizt gewesen, zerpflückte er das Wenige, was derselbe an Argumenten noch vorzubringen vermocht hatte, und als er dann, seiner sonst sonoren, angenehmen Stimme die kalten, harten und scharfen Accente vornehmer Verachtung für einen brutalen Angriff abgewinnend, seinen Gegner in die Schranken zurückwies und sich für die Zukunft eine Behandlung ausbat, wie sie unter gebildeten Gegnern Sitte sei, und den Herrn Rektor daran erinnerte, daß er keinen Schulknaben vor sich habe, sondern einen Mann, der ihm wahrscheinlich auch noch auf anderen Gebieten des Wissens überlegen sei, als ihm gelang, was jener nur angestrebt hatte: den Ton der bewußten Ueberlegenheit zu treffen, die über den Gegner mit einem seinen Spottlächeln die Achseln zuckt und es verschmäht, ihn ernsthaft zu nehmen und schweres Geschütz gegen ihn aufzufahren, da schlug nicht bloß Krone, unfähig, seinen Herzensjubel über die Niederlage des verhaßten Feindes zu unterdrücken, mit strahlendem Gesicht die Faust auf den Tisch, daß sie ihm schmerzte, sondern man kam auch von allen Seiten und drückte Wolfgang die Hand, und mehr als ein älterer Bürger, der bisher in seiner arglosen Gutmütigkeit den Herrn Rektor für einen Ausbund von Gelehrsamkeit und für alles Wissen unerschöpflichen Born gehalten hatte, schüttelte den Kopf und meinte: „Heute hat der Rektor aber unrecht gehabt und der Herr Hammer hat es ihm ordentlich gegeben; der Herr hat Haare auf den Zähnen und vor dem mag der Rektor sich nur in acht nehmen.“ In noch viel entschiedenerer Weise äußerten sich die Sympathien der Jugend, auf die das leise, grollende Vibrieren der Stimme und der Zug und Schwung, der durch die ganze Erklärung ging, elektrisierend gewirkt hatten; bei manchem, der der Feuerwehr angehörte, hatte der entschiedene, freimütige Sprecher bereits ein günstiges Vorurteil für sich gehabt und der Rektor, dessen so unverhüllt zu Tage tretende Selbstgefälligkeit gerade die schlichtesten und wackersten Naturen verletzte, war nie so recht populär gewesen, und die Zahl derer, die ihm die Abfertigung von Herzen gönnten, war keine geringe. Der so unerwartet aus dem Sattel Gehobene ließ sich durch den Anblick der seinem siegreichen Gegner entgegengebrachten warmen Sympathien um den letzten Rest von Besonnenheit und Würde bringen. Glut und Blässe wechselten jäh auf seinem Gesicht, und der verletzte Schulmeisterhochmut unterdrückte jede andere Rücksicht und selbst die Erwägungen der einfachen Klugheit; er stieß die Erklärung hervor, die Selbstachtung verbiete ihm ein Weiterwirken in dem Verein, in dem er in so unerhörter Weise beleidigt worden sei, und der Tag sei hoffentlich nicht fern, an dem die Mitglieder zu der Ueberzeugung gelangen würden, daß sie undankbar gewesen seien und obendrein einen wenig vorteilhaften Tausch gemacht hätten. Wenn er glaubte, mit dieser in brüskem und hochfahrendem Tone abgegebenen Erklärung eine niederschmetternde Wirkung zu erzielen, so irrte er sich sehr; der Rückzug, den er mit demonstrativer Ueberstürzung antrat, wurde teils mit eisiger Kälte, teils mit spöttischem Achselzucken mit angesehen, und das von einigen Sitzen erschallende ironische Gelächter gereichte namentlich Krone zur innigsten Genugthuung. Daß die bisher von ihm schlecht und recht vertretene Sache, an der sein ganzes Herz hing, in so glänzender und ungeahnt vollständiger Weise triumphierte, erfüllte ihn mit einem in Worten nicht auszudrückenden Gefühl von Glück, und er war rot vor Freude, wie ein junges Mädchen, der ein begünstigter Tänzer auf einem Balle mit dem Ausdruck voller Bewunderung die Versicherung zuflüstert, daß sie zweifellos die Schönste und Anmutigste im Saale sei. Wenn seine Befriedigung über den Ausgang des von ihm eingefädelten Kampfs noch einer Steigerung fähig gewesen wäre, so würde sie in dem Augenblick eingetreten sein, in welchem Wolfgang, bei dem der flüchtige Rausch des Triumphs rasch verflogen war, mit ruhiger Sicherheit erklärte, daß der Verein durch den Streik des Herrn Rektors nichts einbüßen solle; für jenen selber hoffe er durch seine Person Ersatz zu bringen und der möglicherweise eintretenden Fahnenflucht anderer Lehrkräfte werde er jedenfalls auch die Spitze abbrechen können, indem er einen oder den anderen seiner Freunde für den Verein gewinne.

Diese Erklärung wurde mit großer Befriedigung entgegengenommen, und als Wolfgang dann lächelnd zu Krone trat und ihn fragte: „Nun, was sagen Sie, Krone, habe ich mein Wort eingelöst und sind Sie mit mir zufrieden?“, da überkam ihn wieder ein Anfall seiner vergebens nach Worten haschenden Erregung, und er konnte ihm nur stumm, aber mit einem beredten, vielsagenden Blick die Hand drücken - pressen wäre vielleicht eine richtigere Bezeichnung.

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Die letzten Tage des Mai brachten den Geburtstag der kleinen Emmy, der vom Kommerzienrat alljährlich durch ein Gartenfest gefeiert wurde. Auf der Liste der Einzuladenden, welche das Geburtstagskind selbst entworfen hatte, figurierte auch der Name Wolfgangs, und als der Kommerzienrat, dem es wider die Natur ging, jemanden, den er bezahlte, der in seinen Diensten stand und dem er befehlen konnte, einzuladen, bei diesem Namen hüstelnd stockte und zaghaft andeutete, daß er diesen Namen am liebsten gestrichen sähe, da sagte die Kleine fast ungeduldig und mit der Rechthaberei des verwöhnten Kindes: „Aber, Papa, ich weiß wirklich nicht, was Du willst; es ist doch selbstverständlich, daß Herr Hammer eingeladen wird, und ich wünsche ihn bei uns zu sehen, gerade an meinem Geburtstage. Nicht wahr, Martha, Du bist auch dafür?“

Der Kommerzienrat gab angesichts dieser Entschiedenheit seinen Einspruch auf und wartete Marthas vorsichtige und gelassene Antwort: „Ich sehe keinen Grund dagegen und nur Gründe dafür,“ gar nicht ab. So fand denn Wolfgang zwei Tage vor dem kleinen Feste eines Morgens auf seinem Pult ein zierliches Einladungsbriefchen, und das Herz klopfte ihm rascher, als er sich sagte, daß die Zwanglosigkeit einer fête champêtre ihm jedenfalls Gelegenheit geben würde, Martha Hoyer näher kennen zu lernen und diese stille, innerliche Natur zu sondieren; es war ja noch lange nicht erwiesen, ob sie bei eingehender Unterhaltung auch alles das hielt, was sie versprach, und in Wolfgangs Seele kämpfte der Wunsch, sie möchte sich so zeigen, daß er ein Recht bekam, sich achselzuckend von ihr abzuwenden und sie als abgethan fernerhin zu ignorieren, mit dem Wunsche, sie möchte alles das sein, was er nur von einem Mädchen träumen konnte. Es schien übrigens, als trage Martha kein Verlangen, ihm zu begegnen; er hatte eben erst das Haus betreten, als ihm bereits Gelegenheit ward, Fräulein Emmy seinen Glückwunsch darzubringen, und sie nahm denselben mit einem Lächeln entgegen, das sie für äußerst fein und vielsagend hielt und das Wolfgang andeuten sollte, sie habe selbstverständlich erraten, wer der Dichter des ihr anonym zugegangenen Gedichts sei, das der Bewunderung für ihre „knospenfrische“ Schönheit, für ihre „Gazellenanmut“ und ihres Auges „sanftes Feuer“ in so zarter und schüchterner Weise Ausdruck lieh; Frau v. Larisch, die eine sehr distinguierte Toilette gemacht hatte und reizend aussah, begrüßte ihn mit einer heiteren Freundlichkeit, über der es doch wie ein Hauch von Befangenheit lag; sie fragte sich, welcher Ausdruck wohl in seinen Augen liegen würde, hätte er nur eine Ahnung davon, daß ihre Lippen die Stirn über ihnen flüchtig gestreift hatten, und als er scherzend sagte, er hoffe, im Laufe des Abends Gelegenheit zu erhalten, ihr eine Bitte vortragen zu können, an deren Gewährung ihm viel gelegen sei, gab sie ihm, als stehe sie in seiner Schuld, eifrig die Versicherung, daß er sie jeden Augenblick bereit finden werde, ihn anzuhören, und daß er seine Bitte im voraus als gewährt ansehen möge, vorausgesetzt, daß die Gewährung in ihrer Macht liege. Während dieser Begrüßung stand Martha in dem Salon, der seine Flügelthüren nach dem Garten öffnete, und ordnete die Blumen in einer Vase; sie hatte Wolfgang kommen sehen und sich hierher geflüchtet, weil sie sich momentan unfähig gefühlt hatte, ihm gleichmütig gegenüber zu treten, und auch jetzt noch schwankte und zauderte sie, ob sie ihm nicht überhaupt so lange als nur möglich ausweichen solle. Auch sie dachte an den heimlichen Krankenbesuch — aber ihr nahm diese Erinnerung alle Herrschaft über ihr Empfinden, und der junge Mann durfte doch nicht ahnen, wie sie um ihn gezittert und geweint, wie sie gelitten und gezagt hatte. Und Wolfgang, der sie doch überall mit den Augen suchte, mochte nicht nach ihr fragen, und so währte es ziemlich lange, bis sie einander plötzlich zufällig gegenüberstanden.

Eine momentane Verwirrung kam über beide, aber sie faßten sich rasch und Wolfgang fand so schnell den herzlichen, natürlichen Ton wieder, den Martha heimlich unwiderstehlich nannte und bei dem ihr so wohl ward, daß sie fast unbefangen ihren Arm in den seinen legte, als er sie zu einer Promenade durch den Garten aufforderte, den er ja noch nicht kannte. Die Gäste hatten sich in größeren und kleineren Gruppen nach Laune und Zufall in den Parterrelokalitäten des Hauses, in Garten und Park zerstreut, jedes Ruheplätzchen war von einer animierten kleinen Gesellschaft eingenommen, bei jeder Krümmung der Wege fast stieß man auf einen solchen Kreis näherer Bekannter, und überall war Gelächter und Stimmengeschwirr und Gekicher, und die bunten Frühlingsgewänder der jungen Mädchen schimmerten durch die lichtgrünen Büsche. Aber das kümmerte die beiden wenig, die langsam dahinschritten und vor jedem Rondel, vor jedem Rosenbäumchen, vor jeder Blattpflanzengruppe stehen blieben und einander in der innigen Freude an der Natur unbewußt näher traten, als sie dies vor einer Stunde für möglich gehalten hätten. Es machte Wolfgang ungeahntes Vergnügen, Martha zu erzählen, wie er selbst in den Besitz eines Gartens gelangt sei und wie wohl er sich in seinem kleinen grünen Reiche fühle. Seine Wirtin besaß, außerhalb der Stadt und auf drei Seiten von einem beinahe stagnierenden Kanal umflossen, einen ziemlich großen Gras- und Obstgarten, in dem sie nebenher noch einige Küchenkräuter und etwas Gemüse zog. Mit Vergnügen hatte sie dieses Stück Land an ihn abgetreten und ihm gestattet, in demselben nach freiem Belieben zu schalten und zu walten, und mit Hilfe eines alten Gärtners hatte er sich daran gemacht, den halb wüsten Komplex zu einem freundlichen Garten umzuschaffen, was denn auch in der Hauptsache bereits gelungen war. Das halb verfallene gemauerte Häuschen, das zwischen den Bäumen stand, hatte sich mit geringen Kosten wieder in wohnlichen Stand setzen lassen; von wildem Wein überwuchert, bot es einen freundlichen Anblick, und den Sommer über wollte er draußen bei offener Thür und halb im Freien lesen und studieren. „Und dichten“, ergänzte Martha, beinahe zaghaft, aber mit einem so gewinnenden Lächeln, daß er für die Erwähnung seiner poetischen Versuche nicht einmal das unmutige Aufwerfen der Lippen hatte, das ihm sonst für derartige Indiskretionen zur Verfügung stand. Die Antwort, die ihm auf der Lippe schwebte, wurde ihm durch eine unerwartete Begegnung abgeschnitten, die dem Gespräch sofort eine andere Wendung gab. Der Rektor Storck und der Bürgermeister kamen ihnen in fast aufgeregtem, anscheinend politischem Gespräch entgegen und während letzterer höflich grüßte, schossen die Augen des ersteren, indem er vor Martha eine devote Verbeugung machte, einen Blick auf Wolfgang, in dem so viel Feindseligkeit und Haß lagen, daß Martha, als die beiden vorüber waren, nicht umhin konnte, Wolfgang zu fragen, ob er dem Rektor etwa Anlaß gegeben habe, ihm übelzuwollen. Wolfgang hatte keinen Grund, sein Rencontre mit dem Schulmonarchen zu verheimlichen; er erzählte dasselbe mit Laune und Humor und machte mit einem freudigen Staunen die Entdeckung, daß seine ernste Begleiterin aufs herzlichste zu lachen verstand. Die Demütigung, die der Hochmütige erfahren hatte, schien ihr zur persönlichen Genugthuung zu gereichen und sie machte kein Hehl daraus, daß ihr der Mensch in tiefster Seele antipathisch sei, obgleich er vor Jahren eine seiner Tanzkompositionen nach ihr getauft und ihr gewidmet habe — eine Ehre, die sie allerdings mit jeder seiner Schülerinnen im Klavierspiel teile. Sie waren so, ohne Acht aus den Weg zu haben, an die Pforte im Wildzaun gelangt, durch welche man aus dem Park in die königlichen Forste gelangen konnte und vor der sie nach ihrer ersten Begegnung voneinander schieden. Beiden drängte sich die Erinnerung an jene erste Begegnung auf und Wolfgang fragte: „Sind Sie nicht an dem Abend, wo der lichtgraue Stier so freundlich war, unsere Bekanntschaft in etwas ungewöhnlicher Weise zu vermitteln, durch diese Thür in den Park getreten?“

„Gewiß — aber wissen Sie auch, daß ich an jenem Abend doch etwas eingebüßt habe. Ich vermißte später einen meiner Handschuhe — mutmaßlich ist er an der Stelle liegen geblieben, wo wir meine kleine Blessur entdeckten.“

„Ich kann Ihnen Aufschluß geben — Ihre Vermutung trifft nicht zu. Ich habe den Handschuh damals mechanisch eingesteckt und vergessen, ihn zurückzugeben, und als ich ihn entdeckte, glaubte ich, ihn als ein kleines Andenken an jene Stunde behalten zu dürfen. Indessen steht er, wenn ich dabei zu voreilig geschlossen habe, jeden Augenblick zu Ihrer Verfügung.“

Martha errötete bis in die Schläfen, aber im nächsten Moment schon sagte sie ungezwungen, scherzend und ohne jeden Anflug von Koketterie:

„O nein, behalten Sie ihn immerhin und lassen Sie ihn ein Unterpfand ferneren freundlichen Verkehrs fein; ich würde jetzt in seiner Zurücksendung die Ankündigung erblicken, daß Sie nie wieder über Ihren Garten und Ihre Rosen mit mir plaudern wollen, wie Sie es heute gethan haben.“

„Dann kann ich ihn also wohl als mein unveräußerliches Eigentum betrachten, denn über diesen Punkt werden Sie mich vermutlich stets gesprächig und mitteilsam finden, da Sie ein warmes Naturgefühl und Sinn für einfache Schönheit haben.“

Sie waren umgekehrt und eben nicht angenehm überrascht, als ihnen Frau v. Larisch entgegenkam; schon von weitem rief sie ihnen scherzend zu:

„Also Martha entführt mir unseren tollkühnen Feuerwehrhauptmann, der mir vor einer Stunde mit sehr ernster Miene eröffnet, daß er eine Bitte an mich zu richten habe — freilich, wenn zwei Waldschwärmer zusammenkommen, finden sie so leicht kein Ende.“

„Nicht Buchen und Birken — des Herrn Kommerzienrats Rosen tragen die Schuld, und Sie können immerhin ein Examen mit Fräulein Hoyer anstellen: Sie weiß jetzt ganz genau, welche Rosen Gloire de Dijon, welche Malmaison, welche Boule de Neige, welche Paul Neron und Marechal Niel heißen; es ist fraglich, ob Sie eine gleich wißbegierige Schülerin gewesen wären.“

„In der That bin ich viel neugieriger auf die bewußte Bitte — ist es Ihnen gleichgültig, ob Sie dieselbe unter vier Augen oder vor Zeugen aussprechen?“

Wolfgang erriet wohl, daß es Frau v. Larisch am erwünschtesten gewesen wäre, Martha abzulösen und sich von ihm durch den Garten führen zu lassen, aber er verstand sie absichtlich nicht und erwiderte, daß seine Bitte sehr wohl auch von Fräulein Hoyer gehört werden könne; sie nahmen in der den Ausgang aus dem Gartensalon flankierenden, von Schlinggewächsen überwucherten Veranda Platz und auf Frau v. Larischs etwas ironisch klingende Aufforderung warf Wolfgang die Frage auf, ob sie in der Lage sei, ein junges Mädchen, für das er sich bis zu einem gewissen Grade interessiere, entweder selbst in ihren Dienst zu nehmen oder es in W. in einer Familie unterzubringen, die sie human behandle und ihr Gelegenheit biete, noch etwas zu lernen. Frau v. Larisch warf einen neugierigen Seitenblick auf Martha, und war ein wenig überrascht dieselbe fast teilnahmlos und ohne sichtbare Zeichen einer Anwandlung von Eifersucht zu finden; sie fragte, den Nachsatz leicht betonend: „Kann man die Person sehen und — ist sie hübsch?“

„Ich werde Ihnen, wenn Sie erlauben, meinen Schützling schicken; für einen Menschen, dem man das Leben gerettet hat, interessiert man sich immer ein wenig, und die Kleine ist hier nicht in Verhältnissen, die ihr zuträglich wären — ich möchte, daß sie von hier fortkäme. Ob sie hübsch ist — mein Gott, ich glaube — es ist wenigstens möglich — aber ich kann nichts bestimmtes darüber sagen.“

Frau v. Larisch brach in ein herzliches Gelächter aus und schlug Wolfgang mit dem Fächer leicht auf die Hand; es war ihr nicht möglich, die Aufrichtigkeit dieser Versicherung in Zweifel zu ziehen, und dennoch war es gewiß äußerst komisch, daß dieser junge Mann über das Aeußere des jungen Mädchens, das er auf seinen Armen durch Rauch und Flammen getragen, nur so unvollständige Auskunft zu geben vermochte.

„Sie sind in der That ein Original, Herr Hammer — aber da die Dinge eine solche Bewandtnis haben, ist es selbstverständlich, daß ich mich der Kleinen annehme. Schicken Sie dieselbe zu mir — ich werde sie, wenn ich nach W. zurückreise, gleich mitnehmen und das weitere lassen Sie meine Sorge sein. Das ist gewiß das mindeste, was ich thun kann, um Ihnen zu beweisen, welchen aufrichtigen Anteil wir alle an Ihrem beherzten Rettungswerk genommen haben, namentlich aber Martha, die sich in vollem Ernst für die — allerdings sehr unschuldige — Ursache Ihrer Verwundung hielt. Und doch — ich wette — hat Sie Ihnen während Ihrer langen Promenade kein Sterbenswörtchen über Ihre kühne That gesagt. Das gilt freilich auch von uns, von Emmy und mir, aber Sie dürfen überzeugt sein, daß sich im ganzen Städtchen niemand lebhafter über Ihre Genesung gefreut hat, als wir drei, und daß wir nur bedauerten, so gar nichts für Sie thun und uns nicht einmal persönlich nach Ihnen erkundigen zu können.“

Martha hatte sich schon von der geflissentlichen Hervorhebung ihrer Teilnahme peinlich berührt gefühlt, und sie errötete über diese unnötige Lüge ihrer Gefährtin bei jenem bangen und doch so wohlthuenden Abendgang, und es war ihr sehr lieb, daß Wolfgang dieses für sie fast peinliche Gespräch rasch beendete.

„Sie glauben nicht, wie viel mir daran liegt, nicht wieder an jene sogenannte heroische That erinnert zu werden. Ich habe es Fräulein Hoyer aufrichtig Dank gewußt, daß sie es mir erließ, von jener für mich wirklich sehr ungemütlichen Nacht zu sprechen, die ich zu den vergangenen Dingen rechne, und wenn Sie noch ein paar Minuten für mich haben, so lassen Sie uns lieber von anderem plaudern.“

„Es steht Ihnen, ein wenig den stolzen Sonderling zu spielen, das wissen Sie jedenfalls ganz genau, aber wir müssen, wie Sie sehen, zu plaudern aufhören; hören Sie nicht die ersten Takte der „Aufforderung zum Tanz?“ Von allen Seiten drängt man nach dem Saal — die paar Noten thun Wunder und beflügeln alle Füßchen. Auf Wiedersehen also in der Kolonne, die zur Polonaise antritt.“

Wolfgang erwiderte nichts, aber er warf einen fragenden Blick auf Martha und es berührte ihn wohlthuend, daß er ihre Kleidung, die er bisher nicht beachtet hatte, keineswegs ballmäßig fand — sie war, ohne gesucht frauenhaft zu sein, ein stummer Protest gegen die Vermutung, als wolle auch sie noch zu den tanzlustigen jungen Mädchen gerechnet sein, und man würde es ihr durchaus nicht haben verübeln können, wenn sie sich eine Nuance jugendlicher gekleidet hätte.

„Sie beabsichtigen natürlich ebenfalls, sich nun nach dem Saal zu wenden?“ fragte er. „Ich tanze nicht und auch das passive Zusehen macht mir kein Vergnügen, ich suche also lieber wieder den Garten auf und genieße den schönen Abend.“

Martha sah ihn, schmerzlich überrascht, fast bittend an: „Ich hatte gehofft, Sie würden mich nicht meinem Schicksal überlassen. Ich muß allerdings hinüber, aber ich werde so wenig als möglich tanzen, und wir hätten also plaudern können, vorausgesetzt, daß Ihnen das noch Vergnügen macht.“

„Wenn Sie meine Unterhaltung dem Tanzen vorziehen, ist es ja selbstverständlich, daß ich bei Ihnen bleibe, aber ich hatte eben daran gedacht, daß niemand an der Seite einer tanzlustigen Dame überflüssiger ist, als ein Herr, der selbst nicht tanzt und es verschuldet, daß sie nicht engagiert wird.“

Sie traten in den Saal, in welchem die Polonaise begonnen hatte, und Martha hatte mit raschem Ueberblick bald ein Plätzchen ausgespäht, das abgelegen war ohne versteckt zu sein und ihnen die Möglichkeit zusicherte, sich nach Wunsch zu isolieren. So hatte die Plauderei, die sich sofort entspann und die sehr bald den Charakter jener Vertraulichkeit annahm, die sich zwischen wahlverwandten Naturen oft in der ersten Viertelstunde der Bekanntschaft entwickelt, keine Zeugen — es war freilich auch eine Plauderei, die sich in diesem Ballsaal ausnahm, wie eine Tropenblume in einem märkischen Föhrenwalde, eine Plauderei, die Fräulein Emmy sicherlich ennuyant zum Sterben gefunden hätte. Ein Austausch von Bemerkungen und Reflexionen über jene kleinen Liebhabereien und Aversionen, aus denen man sich oftmals den ganzen Menschen konstruieren kann — nichts weiter, und dieser Austausch ward nicht einmal durch das Zutagetreten von Gegensätzen pikant gewürzt. Martha sah oftmals ein Lächeln auf Wolfgangs Lippen, wenn sie ihm wieder mit den Schlußworten einer Gedankenreihe entgegenkam und ihm so bewies, daß ihr diese Gedankenreihe längst vertraut geworden war, nun sie traf oftmals mit einem Wort das Wesen des erörterten Gegenstandes so glücklich, daß der ernste junge Mann nicht in Zweifel darüber sein konnte, ein Mädchen vor sich zu haben, das ebenso rastlos und ebenso energisch nachgedacht hatte, wie er selber, wenigstens auf allen den Gebieten, auf die ihr bescheidener, eher zaghafter als unternehmender Sinn sich gewagt hatte. Wolfgang, dem es schon schwer geworden wäre, dem flachen Fräulein Emmy eine von den banalen Schmeicheleien zu sagen, bei denen man sich nichts denkt und mit denen man bewußt falsche Münze ausgiebt, die aber doch begierig als echtes Gold genommen werden, würde sich Martha gegenüber jeden Kompliments und jedes Anklangs an die alltägliche Kurmacherei geschämt haben, und was er aus Ueberzeugung hätte sagen können, unterdrückte er gewaltsam, und mit einer Besorgnis, die etwas höchst unbehagliches hatte, unterwarf er jedes Wort einer peinlichen Censur und fragte sich, ob er nicht vielleicht bereits zu weit gegangen sei. Er hätte so gern sich gehen lassen, er hätte so gern vergessen, daß Martha gewissermaßen der Compagnon seines Chefs war, er hätte so gern nur das einsame Mädchen in ihr gesehen, das an ihm die ersehnte männliche Stütze, den Berater und Leiter zu finden schien, aber er stolperte fortwährend über das abgeschmackte, häßliche, brutale Wort: „er hat sich schlauerweise in die Fabrik eingeheiratet“, und dann wurde der Blick seiner Augen dunkel und streng und die Lippen schlossen sich fest aufeinander und von seinen offenen, ausdrucksfähigen Zügen verlor sich der freundliche Ausdruck. Dieses wechselnde Spiel des Affekts, dieser Widerschein des inneren Kampfs entgingen Martha nicht — traten sie doch zu Tage wie das jähe Sichablösen von Licht und Schatten auf einer Landschaft, die man an einen: Sommertage, an dem die Sonne mit rasch ziehenden Wolken in Hader liegt, vom Hügelkamm überschaut. Aber das arme Mädchen wußte sich diesen Wechsel des Ausdrucks nicht zu erklären, und beklommen und beunruhigt stand sie einem Rätsel gegenüber, ohne den Mut zu direkter, offener Frage. Das Gespräch der beiden hatte von dem Tanz, der den Saal mit wirbelnden Paaren erfüllte, kaum Notiz genommen: da flog Emmy im Arm eines jungen Husarenoffiziers vorüber und ihr Fächer deutete, während ihr Mund lächelnd einige Worte flüsterte, deren Sinn sich nicht einmal erraten ließ, auf die in ihr Geplauder Vertieften, die wie Bruder und Schwester, die über eine ernste, aber ihnen angenehme Angelegenheit sich unterhalten, beisammen saßen. Martha sah ihr einen Moment nach und wendete sich dann an Wolfgang mit der Frage:

„Sie perhorreszieren das Tanzen principiell?“

„Allerdings — es ist in meinen Augen eine schreiende Inkonsequenz, eine sanktionierte Verhöhnung der heilig gesprochenen Sitte. Auf der einen Seite sind die jungen Mädchen unnahbar, die geringste Unschicklichkeit läßt sie tief erröten und viele Dinge, die an sich sehr unschuldig und natürlich sind, dürfen in ihrem Beisein nicht erwähnt werden; es giebt nichts zarteres und verletzlicheres als ihre Schamhaftigkeit — und an einem Ballabend machen sie in der raffiniertesten Weise Parade mit allen irgend zu zeigenden Reizen. Man würde Zeter schreien über den jungen Mann, der im Feuer des Gesprächs sich erlaubte, ihre Hand zu fassen — und an einem Ballabend geht sie aus einem Arm in den anderen und schmiegt sich an wildfremde junge Männer, die ihr fünf Minuten vorher erst vorgestellt wurden, und ihre zarte Jungfräulichkeit erträgt ohne die geringsten Skrupel und ohne Unbehagen die Möglichkeit, im einen Moment von dem Manne ihrer Wahl und im nächsten von einem notorischen Wüstling umarmt zu werden, der vielleicht aus dem „Boudoir" einer Tingeltangel-Sängerin nach dem Ballsaal gefahren ist. Was von Person zu Person und unter vier Augen eine Gunst, ein indirektes Zugeständnis süßester Neigung wäre, wird im Ballsaal mit vollen Händen verschenkt; man macht sich zum Gemeingut, und der sittenloseste Mensch mag sich sein Teil annektieren, sobald er in einen Frack geschlüpft ist und seine Finger in weiße Glacés gezwängt hat; erforderlich ist dann nur noch eine tadellose Verbeugung und die Dame, die nicht bereits für alle Tänze versagt ist — und wäre ihr der Mensch noch so verhaßt und verächtlich —, hat einfach Folge zu leisten, will sie nicht überhaupt auf das Tanzen verzichten. Es ist merkwürdig, wie leicht von sonst ganz feinfühligen Menschen der unsittliche Kern einer Sitte übersehen wird und wie selten sich Naturen finden, die kein Bedenken tragen, auch über die altehrwürdigsten Bräuche nachzudenken, sie einer Kritik zu unterziehen und sie zu verurteilen, wenn sie ihnen widersinnig und häßlich erscheinen. Ich darf ganz offen bekennen, den modischen Rundtanz, der durch den Vergleich mit den meist graziösen Nationaltänzen geradezu lächerlich-unschön wird, von Kindesbeinen auf gehaßt zu haben, und es ist dies einer von den wenigen Punkten, über die ich erbittert und hartnäckig streiten kann, einer von den wenigen Punkten, über die ich leidenschaftlich zu werden vermag."

Er unterdrückte, was ihm noch auf den Lippen schwebte; er wollte nicht an den Vorwurf erinnern, den in Jordans „Demiurgos" Heinrich der Geliebten macht, daß sie

am Tanz, am dargestellten Sinnenbrand,
In seiner Gegenwart Gefallen fand.

Er mochte Goethes und des Dichterlords Aeußerungen über den Walzer nicht erwähnen, und Martha widersprach ihm ja auch nicht, sondern meinte nachdenklich, sie habe nie passioniert getanzt, und seit es ihr einmal eingefallen sei, mit zugehaltenen Ohren hinabzublicken in einen von galoppierenden Paaren erfüllten Saal, habe sie sich des Tanzens möglichst enthalten und sei immer bemüht gewesen, Engagements zu entgehen; höre man die Musik nicht, so meine man, unter Tollhäusler geraten zu sein, und diesen Eindruck habe sie nie verwinden können; über Wolfgangs Einwände müsse sie erst reiflich Nachdenken — sie seien überraschend und fast erschreckend und beschämend für sie, und solche neue Gesichtspunkte wollten sorgsam erwogen sein. Wolfgang gab dem Gespräch unmerklich eine andere Wendung, und Martha hatte ihn im Geiste auf einer Fußwanderung durch die Berge und Schluchten von Nordwales begleitet und mit ihm in Glan-y-Coed Strandferien verlebt, verträumt und verangelt, als sie sehr unliebsam und unerwartet gestört wurden. Ein Husaren-Rittmeister, der seine nicht mehr zu bemäntelnde Glatze wohl mehr dem üblichen „Leben" der Kavallerieoffiziere als seinem Alter verdankte, dessen Embonpoint jedoch dafür sprach, daß er in die behäbigen und bequemen Jahre kam, hatte sich zwischen Tischen und Stühlen bis zu den einsam Plaudernden durchgewunden und forderte Martha mit einer tiefen Verbeugung auf, ihm die Ehre eines Walzers zu gönnen. Sie war überrascht und verwirrt, ihre erste, instinktive Bewegung war, sich zu erheben, und sie würde dem Rittmeister, gewohnheitsmäßig, wenn auch mit Widerstreben und Bedauern, gefolgt sein, wenn ihr nicht plötzlich Wolfgangs lebhafte Abneigung gegen das Tanzen eingefallen wäre. Sie wagte nicht, ihn anzusehen, aber wozu war das auch nötig? Sie glaubte zu sehen, wie gespannt und erwartungsvoll sein Blick auf ihr ruhte. Sie irrte sich; Wolfgang betrachtete nachdenklich seine Stiefelspitzen, als ginge ihn das weitere nichts mehr an, und in seinen regungslosen Zügen war keine Spur einer Bewegung zu entdecken. Er war gespannt auf die Entscheidung, aber er wünschte fast, Martha möge dem Husaren folgen, damit er ein Recht erhielt, ihr gleichmütig den Rücken zu kehren, und doch — als sie, sich besinnend, des Rittmeisters Aufforderung ablehnte und ihm erklärte, daß sie diesen Abend noch nicht getanzt hütte und auch nicht tanzen würde, schoß ihm eine jähe Röte in die Wangen, und als der korpulente Kriegsmann seinen Rückzug bewerkstelligt hatte, sagte er leise, aber mit einem Ausdruck von Innigkeit, über den er selber erschrack:

„Sie haben mir eine große Freude gemacht, Fräulein Hoyer — ich danke Ihnen.“

„War die Ablehnung nach unserer Unterhaltung nicht eigentlich selbstverständlich?“

„Nein. Aber wir wollen das nicht weiter erörtern, sondern den abgerissenen Faden wieder aufnehmen, man wird uns hoffentlich nicht sogleich wieder stören.“

Und sie setzten ihr Geplauder fort, und die rauschenden Tanzweisen kamen wie aus weiter, weiter Ferne zu ihnen; beide hörten immer nur die eine liebe Stimme, die durch einen einzigen Laut all' jene leichten, seichten Melodien aufwog, und die Zeit verging ihnen mit einer unerklärlichen Schnelligkeit, die beinahe etwas Belustigendes hatte und die doch auch wieder betrübend war. Frau v. Larisch und Fräulein Emmy waren so unausgesetzt von ihren Tänzern umschwärmt, daß sie nicht zuzugeben brauchten, das eigentümliche Paar recht geflissentlich sich selber überlassen zu haben; dennoch würde namentlich die gewandte Frau v. Larisch keine Mühe gehabt haben, ihren Verehrern zu entschlüpfen, wenn ihr nicht gerade daran gelegen gewesen wäre, die beiden ungestört zu lassen. Diese Neigung war ihr ein psychologisches Problem, dessen Lösung sie reizte, und es beschäftigte sie in einer anregenden Weise, zu beobachten, wie diese beiden ungewöhnlichen Menschen bald mit kühnen Siebenmeilenstiefelschritten einander näher kamen, bald wieder vor einem winzigen feuchten Gesicker bedenklich Halt machten, das über den Weg sich zog und ihnen höchstens die Schuhsohlen genetzt haben würde. Es gab nur eins, was wohl noch interessanter sein mußte, als dieses Beobachten eine kleine, anmutig-heiße Liebelei mit dem blonden Sonderling, aber — wir kennen die Bedenken der klugen Weltdame von früher, und diese Bedenken hatten nichts von ihrer Stärke eingebüßt.

Es war schon Mitternacht, als sie endlich eine Pause dazu benützte, die beiden, deren freiwillige Isolierung im allgemeinen bei dem zwanglosen Charakter des Festes kaum aufgefallen war, aufzusuchen. Lächelnd wandte sie sich an Wolfgang:

„Sie erwarten einen Vorhalt darüber, daß Sie nicht tanzen? Seien Sie unbesorgt. Erstens haben Sie unzweifelhaft das bessere Teil erwählt, wenn Sie mit Martha plaudern, statt sich im Reigen zu schwingen, und dann — ich habe Ihnen bereits das Sonderlings-Privilegium eingeräumt, auf die Vergnügungen und Genüsse gewöhnlicher Menschenkinder mit einem Achselzucken herabblicken zu dürfen, und wundere mich keinen Moment darüber, daß Sie auch in dieser Hinsicht Ihrer Rolle getreu bleiben.“

„Wenn man schon dadurch ein Sonderling wird, daß man nicht tanzt, acceptiere ich die Bezeichnung — es fragt sich überhaupt noch, ob sie nicht eher ein Lob, als einen Tadel enthält; denn die meisten Menschen sind vielleicht nur darum unfähig, sich abzusondern, weil sie, allein mit ihrem eigenen trübseligen Ich, vor Langeweile umkommen würden.“

„Wird keinen Augenblick bestritten, mein Herr — es reizt mich nur, Sie zum Widerspruch herauszufordern, weil ich sicher sein kann, eine originelle Antwort zu erhalten, wie sie die meisten nicht zu geben wissen. Sie übertreiben ein wenig, aber ich bin ja nicht gezwungen, alles, was Sie sagen, für bare Münze zu nehmen und dafür, daß Sie gar nicht so absonderungslüstern sind, bürgt mir schon der Umstand, daß Sie Martha ein so treuer Ritter gewesen sind. Wissen Sie, daß ich bedaure, nicht auch haben zuhören zu können? Aber das läßt sich ja noch einigermaßen nachholen, indem ich mich hier eindränge, entschlossen, Sie fort und fort zum Widerspruch zu reizen.“

Und sie nahm Platz und verwickelte Wolfgang mit Laune und Geist in ein übermütiges Wort- und Witzgeplänkel. Plötzlich vermißte sie ihr Taschentuch und besann sich sogleich darauf, es in der Veranda liegen gelassen zu haben; Wolfgang stand auf, um es zu holen. Die nur matt erleuchtete Veranda war vollständig öde; nur an einem der Tische, die außerhalb derselben im Freien standen, mußten einige Herren, des Tanzens müde, Platz genommen haben, denn von dorther kam der Klang männlicher Stimmen. Er war gezwungen, zu hören, was da gesprochen ward, während er nach dem Tisch suchte, aber er achtete nicht weiter darauf. Plötzlich (er war eben im Begriff, das Tuch, das sich endlich gefunden, an sich zu nehmen) hielt er unwillkürlich den Atem an. War das nicht Martha, von der die Herren sprachen? Wie unwürdig ihm auch die Lauscherrolle erschien — sein Fuß wurzelte förmlich im Boden, und nun interessierte ihn auch die Einleitung des Gesprächs.

Die Stimme eines anscheinend noch jungen Mannes hatte in dem eigentümlichen näselnden Tone, an dem man den preußischen Offizier in jeder Verkleidung erkennen würde, gefragt:

„Aber was ist Ihnen, Wolfenstein? Sie entwickeln eine äußerst morose Laune. Schmeckt Ihnen der Veuve Cliquot nicht? Ich finde ihn excellent. Sie lieben doch auch einen reellen Tropfen, wenn er gut gekühlt ist.“

Der Aeltere knurrte verdrießlich: „Sie haben gut reden. Sie wissen so gut wie ich, daß meine Ressourcen erschöpft sind und daß ich meine Verhältnisse nur durch eine Geldheirat rangieren kann. Nicht einmal auf Avancement ist Aussicht — der General hat eine lächerliche Aversion gegen Rittmeister und ich werde beharrlich übergangen, abgesehen davon, daß die lumpige Majorsgage mich auch nicht retten könnte. Ich habe den Dienst nachgerade satt und denke es mir äußerst bequem, mit einer passierten Heiratslustigen ein Rittergut zu erheiraten und allen grilligen Generalen ein Schnippchen zu schlagen. Und nun hat es ganz den Anschein, als würde mir der saure Apfel, in den zu beißen ich gerade heute drauf und dran war, vor dem Munde weggeschnappt. Ich hätte nicht so lange zaudern sollen.“

„Sie sprechen in Rätseln. Ich hatte keine Ahnung, daß Sie auf Freiersfüßen gehen. Und wer ist, wenn man fragen darf, die merkwürdige Donna, die sich erlaubt. Ihnen einen Korb zu geben? Abgeschmackt! auf Ehre!“

„Sie bekommen einen Begriff von dem lamentablen Stand meiner Verhältnisse, wenn ich Ihnen sage, daß ich allen Ernstes entschlossen war, das ernsthafte Fräulein Hoyer um ihrer Füchse willen liebenswürdig zu finden und mich in sentimentale Unkosten zu stecken — ich sagte mir voraus, daß es ohne solche Albernheiten nicht abgehen würde, und was thut man schließlich nicht, um sich aus den Klauen der Breslauer Hebräer zu befreien, die schon anfangen, unverschämte Prozente zu verlangen? Uebrigens hatte ich doch zu viel Geschmack, um nicht erst an einigen anderen Stellen anzubohren — die gouvernantenhafte Hoyer war nur der letzte Notnagel, die letzte Reserve. In der vergangenen Woche habe ich nun an drei Punkten meine Flatterminen sprengen lassen und dann gestürmt, bin aber überall abgeblitzt und so reite ich heute hierher, fest entschlossen, als Bräutigam wieder von dannen zu ziehen und ohne jede Ahnung, daß ich auch hier abfallen könnte. Was glauben Sie nun, daß passiert? Fräulein belieben sich in Gesellschaft eines jungen Civilisten zu befinden, der allerdings Besitzer eines wirklich respektabeln Schnurrbarts ist; er heftet sich an ihre Fersen und als ich endlich ungeduldig werde und sie, nur der Sache ein Ende zu machen, mit wahrem Heroismus zum Walzer engagiere (ich glaube, ich habe seit drei Jahren keinen Schritt getanzt), giebt sie mir einen Korb und läßt mich stehen, um sich mit ihrem süßesten Lächeln wieder diesem unbequemen Rivalen zuzuwenden, gerade, als wäre sie froh, mich wieder los zu sein. Das verwünschte Zaudern! Vor vier Wochen hätte ich das Feld frei gefunden und könnte in diesem Augenblick alle Sorgen los sein. Und da soll man nicht verdrießlich werden?“

„Der Fall ist freilich bitter. Uebrigens kenne ich jetzt Ihren Rivalen und glaube beinahe, daß mir der verwünschte Kerl ebenfalls in das Gehege gekommen ist. Ich habe es ja nicht so eilig mit dem Heiraten und kann es schon noch ein paar Jährchen aushalten, billig möchte ich mich auch nicht verkaufen und so geht man möglichst behutsam zu Werke, aber an der kleinen Reischach würde man doch eine fast brillante Requisition machen, und daß sie ein Gänschen ist, halte ich eher für einen Vorzug als für einen Fehler. Es muß verdammt unbequem sein, eine „litterarisch“ und „ästhetisch“ gebildete Frau, wie diese Hoyer, zu haben, bei der man sich jede Minute mit seiner Unwissenheit Blößen geben kann und die verlangt, daß man sich für Bücher und Bilder mehr interessiere als für Pferde und Hunde. — Sie können schließlich froh sein, daß Sie die Hoyer nicht bekommen, und der blonde Ladenschwengel oder Ellenreiter scheint besser zu ihr zu passen. Die kleine Reischach hat mir nämlich mit einer Koketterie, die ihr allerliebst stand, angedeutet, daß er der Verfasser eines anonymen Geburtstagsgedichtes sei, das sie himmlisch fand, und sie kapricierte sich darauf, mich von diesem Herrn Hammer und seinen Kenntnissen und seinen wunderbaren Heldenthaten als Kommandant der Feuerwehr zu unterhalten. Vor der Hand scheint das ja nicht bedenklich zu sein; sie hat wohl nur kokettieren wollen, denn die Frauenzimmer haben sämtlich den Teufel im Leibe, und das albernste Gänschen wird erfinderisch und schlau, wenn es ans Kokettieren geht. Aber der Mensch ist ein verdammt hübscher Bengel, und man kann nicht wissen, was sich da entspinnt. Jedenfalls kann man es der Hoyer nicht so übermäßig verargen, wenn sie sich für ihre väterlichen Thaler, die sich seitdem ganz erklecklich weiter vermehrt haben sollen, lieber den jungen, frischen Kerl als einen halb ausrangierten — verzeihen Sie, aber Sie haben selbst diesen Ton angeschlagen — Rittmeister kauft. Aeltere Mädchen pflegen im Punkte der Moral ungewöhnlich streng zu sein, und wie man's als Offizier in einer Kavalleriegarnison treibt, davon haben sie gewöhnlich auch ein Lied singen hören und wissen allerlei bedenkliche Geschichten von Sängerinnen, Ballettdämchen, Cirkusreiterinnen u. s. w. zu erzählen — mehr vielleicht, als wir uns träumen lassen. Möchte übrigens wohl einmal unter vier Augen mit dem geriebenen Burschen ein kräftig Wörtlein reden und ihm die Lust austreiben, zwei Husarenoffizieren ins Handwerk zu pfuschen. Möglich sogar, daß ich ihn ebenso interessant fände, wie Fräulein Hoyer und die verteufelte kleine Reischach — mache gern eine interessante Bekanntschaft und weiß es zu schätzen, wenn jemand den Weibern gegenüber seinen Vorteil wahrzunehmen versteht — ist ein praktischer, fast militärischer Zug.“

Mit raschem Entschluß und doch ohne Ueberstürzung trat Wolfgang aus der Veranda und an ihren Tisch.

„Ich habe das Vergnügen, mein Herr, diesem Wunsche sofort bereitwillig zu entsprechen, indem ich mich Ihnen als Wolfgang Hammer vorstelle. , meine Herren, behalten Sie wohl für sich am zweckmäßigsten — ich trage kein Verlangen danach, dieselben zu kennen, und Ihnen würde es doch schwerlich angenehm sein, wenn ich die Herren namhaft machen könnte, die es passend fanden, sich in so kordialer Weise über die Damen ihres Wirts auszusprechen. Zum Danke dafür, daß Sie diesem Wunsche entsprechen und mir so eine Verlegenheit ersparen, will ich Ihnen einen guten Rat geben. Es dürfte sich sehr empfehlen, entweder den Gesprächsstoff zu wechseln oder die Stimme insoweit zu dämpfen, daß nicht jeder, der zufällig in die Veranda tritt, hören muß, wie ungemein glücklich die Herren den Ton des Stalls und der Kasernen mit dem des Salons zu verbinden wissen; als Kavalier würde ich selbstverständlich keinen Moment im Zweifel darüber sein, daß ich mich für die erste Alternative zu entscheiden habe.“

Die Gestalt, die so plötzlich aus dem Dunkel aufgetaucht war, ließ sich bei dem matten Schein von zwei glimmenden Cigarren nur ungenügend erkennen; dennoch hatte die Mischung von eisiger Höflichkeit und überlegener Ironie, mit der die Worte gesprochen wurden, die erste Ueberraschung und ihren Eindruck so nachhaltig verstärkt, daß die beiden Offiziere momentan nicht zu antworten wußten. Konnte man einen unbequemen Gegner, der so grausame Dinge in so unvorwerflicher Form zu sagen wußte, von oben herab behandeln oder mußte man ihn als ebenbürtig anerkennen? Der jüngere der beiden Offiziere faßte sich zuerst und machte einen ungeschickten Versuch, Wolfgangs Ton zu kopieren.

„Erlauben Sie mir die Bemerkung, mein Herr, daß ein Horcher und Spion wenig qualifiziert ist, ein Urteil über die Handlungsweise und die Pflichten eines Kavaliers abzugeben — in unserem Stande pflegt man derartige Leute mit Verachtung zu strafen.“

„Offiziersgespräche, meine Herren, pflegen sich innerhalb eines so engen Rahmens zu bewegen, daß gar keine Veranlassung zur Neugierde und zum Horchen vorliegt; eine Unterhaltung, die man sich jeden Augenblick aus ihren wenig zahlreichen Bestandteilen selber konstruieren kann, belauscht man nicht. Uebrigens habe ich Ihnen bereits erklärt, daß ich sehr unfreiwillig Ohrenzeuge Ihrer — freimütigen Aeußerungen wurde, und ich empfahl Ihnen dringend, dieser wiederholten Versicherung fernerhin weder direkten noch indirekten Zweifel entgegenzusetzen. Es giebt Dinge, bezüglich deren ein bürgerliches Ehrgefühl merkwürdig kitzlich und empfindlich ist, empfindlicher oft als das eines Adligen und Offiziers.“

„Ich konstatiere[WS 1], Rittmeister, daß uns in diesem Augenblick etwas höchst Lustiges passiert, das heißt, zwei Offiziere Sr. Majestät des Kaisers und Königs werden von einem unternehmenden und zungenfertigen Commisvoyageur bedroht! Mit der vorlauten Zunge natürlich nur. Darf man sich die wißbegierige Frage erlauben, was Sie etwa thun würden, wenn ich so frei wäre, auch Ihrer wiederholten Versicherung meine bescheidenen Zweifel entgegenzusetzen?

„Ihr Portepee würde mich nicht abhalten, Ihre Wange für eine Viertelstunde zu zeichnen, und wenn Sie versuchten, den Schimpf in meinem Blute abzuwaschen, gleichviel, ob ich bewaffnet oder nicht, so schlüge ich Sie nieder wie einen betrunkenen Bauer.“

Der Rittmeister, dem die Situation bedenklich zu werden begann, und der nicht umhin konnte, einzusehen, daß sie sich in eine prekäre Lage begeben hatten, daß sie von ihrem kaltblütigen und gewandten Gegner von vornherein ins Unrecht gesetzt waren und daß es Ihnen nicht gelingen würde, diesen Nachteil wieder auszugleichen, fürchtete den Jähzorn des Premierlieutenants, der nur mit Mühe noch an sich hielt, und er suchte dem Streit ein Ende zu machen. Er nahm einen fast väterlich ermahnenden und wohlwollenden Ton an, als er Wolfgang auf die Schulter klopfte und ihm sagte: „Junger Freund, Sie müssen selbst einsehen, daß wir uns hier unmöglich herumzanken können; Sie haben uns nach Ihrer Meinung die Wahrheit gesagt, wir haben Ihnen geantwortet, damit können wir's gut sein lassen. Wären Sie satisfaktionsfähig, so wäre die Sache äußerst einfach — wir wechselten unsere Karten und morgen oder übermorgen ein paar Kugeln, so aber, Sie begreifen — — “

„Ich weiß nicht, ob es mich nach dem Codex Ihrer sogenannten militärischen Ehre satisfaktionsfähig macht, daß ich im Jahre 1866 Lieutenant im k. k. österreichischen Jägerbataillon war und die große goldene Tapferkeitsmedaille und das Offiziersverdienstkreuz besitze?“ fragte Wolfgang.

Die beiden Offiziere sahen einander betreten an, und der Premierlieutenant bemerkte mit kühler, gemessener Höflichkeit und einer formellen Verbeugung:

„Dieser Umstand ändert die Sache allerdings ganz erheblich und —“

„Erlauben Sie, daß ich Sie unterbreche. Ob satisfaktionsfähig oder nicht, ich schlage mich überhaupt nicht.“

Der Premierlieutenant konnte nicht umhin, diese unerwartete Erklärung mit einem Hohn zu beantworten:

„Sie scheinen sehr praktisch, sehr klug und sehr vorsichtig zu sein, mein Herr. Im gegebenen Falle kann man Ihnen dazu allerdings nur gratulieren, denn in der ganzen Armee weiß man, daß ich eine gefürchtete Klinge schlage und daß ich schon mehr als einem eine Kugel zwischen die Augen geschossen habe, und ich könnte schließlich doch in Versuchung kommen, ein Meisterstück meiner Kunst an Ihnen zu machen.“

„Ich liebe das Renommieren nicht, kann Ihnen aber versichern, daß es noch sehr fraglich wäre, wer von uns unter ungünstigeren Bedingungen in den Zweikampf einträte. Das aber ist gerade der Grund, weshalb ich mich nicht schlage. Eine Sitte, die den Ungeübten und Kurzsichtigen dem Geübten und Falkenäugigen gegenüberstellt, ist ein Unfug, und wenn der Tüchtige und Brauchbare, das nützliche Glied der Gesellschaft, sein Leben als gleichwertig einzusetzen hat gegen das des Unwissenden und Leichtfertigen, der nur Geld zu verjubeln versteht, so ist das eine Ausdehnung des Gleichheitsprincips, die ich nicht anzuerkennen vermag und der ich gegebenen Falls meine Sanktion rundweg versage. Und damit Adieu, meine Herren.“

Der Premierlieutenant, in dem ein ingrimmiger Haß gegen seinen kaltblütigen Widersacher aufflackerte, machte eine heftige Bewegung, als wolle er Wolfgang in den Weg treten, aber der Rittmeister hielt ihn zurück, und er that weise daran, denn Wolfgang war völlig auf einen Angriff gefaßt und würde denselben energisch zurückgewiesen haben. Er trat in die Veranda und in den Saal, und es hätte ein scharfes Auge dazu gehört, in seinem nur etwas blässeren Gesicht eine Spur von Aufregung zu entdecken. Er überreichte Frau v. Larisch ihr Tuch und versuchte mit einer übermenschlichen Anstrengung das vorhin unterbrochene Gespräch in der alten Weise fortzusetzen. Es gelang ihm nicht; seine Stimme erhielt durch sein Bemühen, die tiefe Traurigkeit und Müdigkeit zu verdecken, die ihn beherrschte, einen fremden, fast harten Klang, und wenn Marthas Auge dem seinen begegnete, erschrak sie über einen Ausdruck, den sie sich nicht zu erklären vermochte, der aber das Gegenteil der zunehmenden Freundlichkeit war, an die sie sich bereits gewöhnt hatte und die ihr so innig wohlthat. Es war ihr, als müsse sie ihn bittend fragen, was ihm geschehen sei, was ihn so seltsam verwandelt habe, und als dürfe sie sich durch keine Ausflucht abweisen lassen. Doch das konnte sie im Beisein Leontinens nicht thun, und sie beschloß, zu warten, bis diese sich entfernt hätte. Aber ihre Absicht sollte durchkreuzt werden. Frau v. Larisch, der es ebenfalls nicht hatte entgehen können, daß Wolfgang seine Munterkeit eingebüßt hatte und zerstreut und fast düster geworden war, scherzte:

„Ist Ihnen in der Veranda ein Geist erschienen, Herr Hammer? Sie haben all Ihren Esprit draußen gelassen und sehen aus, als dichteten Sie an der gewaltthätigsten Scene eines finsteren Trauerspiels, in dem gemordet wird wie bei Shakespeare.“

Wolfgang ergriff die günstige Gelegenheit, allen Zwang von sich abzuschütteln, mit wahrer Hast. „Sie haben recht — ich bin sehr müde und abgespannt und ich erweise den Damen nur einen Dienst, wenn ich sie bitte, mich zu entlassen. Sie würden nichts mehr an meiner Gesellschaft haben und mir ist es Bedürfnis, zur Ruhe zu kommen.“

Er sah den bittenden, beinahe demütigen Blick nicht, der ihn aus Marthas Augen traf, oder er wollte ihn nicht sehen. Er reichte erst Frau v. Larisch, dann ihr die Hand, aber erwiderte den schüchternen, kaum fühlbaren Druck der ihrigen nicht, und ihr war, als sei aus der Hand des jungen Mannes alles Blut gewichen und als lege die starre, kalte Hand eines Toten sich in die ihre. Kein Blick begleitete die Verbeugung, mit der er sich verabschiedete, und Martha und Leontine sahen sich unwillkürlich betreten an. Aber sie konnten sich beide nicht zu einem fragenden Wort entschließen, und während Frau v. Larisch in den Kreis ihrer Verehrer zurückkehrte, im stillen mit der neuesten „Originalität“ dieses „bizarren“ Charakters beschäftigt, benutzte Martha den ersten Anlaß, aus dem Saale zu flüchten, der ihr urplötzlich wie verwandelt schien. Der Lichterglanz, die rauschende Musik, das Lachen und Flüstern, der wogende Tanz — alles that ihrem übervollen Herzen weh, und sie atmete tief auf, als sie in ihrem Zimmer allein war. Vor einem Stuhle brach sie, das Gesicht mit den Händen bedeckend, in die Knie, und lange, lange erschütterte ein krampfhaftes Schluchzen ihren Leib und schwere Thränen rollten durch die Finger der schlanken, weißen Hände. Ihr war, als hätte sie Wolfgang in dem Augenblick für immer verloren, wo er sich anschickte, ihr seine Freundschaft und die Teilnahme eines Bruders zu schenken. Und verzweifelt fragte sie: „Was ist geschehen, was habe ich ihm gethan? Welches Geheimnis drängt sich unerbittlich zwischen mich und ihn?“

Wolfgang ballte in Scham und Weh, in Zorn und Trotz die Fäuste, als er das Haus verließ, er biß die Zähne knirschend aufeinander, er nagte sich die Unterlippe wund und wiederholte sich hundertmal: „Keinen Schritt wieder über diese Schwelle.“ Er empfand eine Art von wilder Genugthuung darüber, den Offizieren mit Erfolg die Stirn geboten zu haben, und doch war er ihnen beinahe dankbar dafür, daß sie ihm die Augen geöffnet, daß sie ihn gewarnt und ihm gezeigt hatten, welche unwürdige Rolle er spielte, wie fern ihm auch die gemeine Berechnung lag, die man ihm andichtete. In greller Klarheit stand es vor seiner Seele, daß er in diesem Hause nicht verkehren, daß er seinen Bewohnern gegenüber nicht Mensch sein und sich einfach gehen lassen durfte, daß überall Fußangeln und Selbstschüsse lagen und daß die größte Vorsicht unvermögend war, ihn zu schützen. Er war noch erbittert über die Geringschätzung, mit der die Husaren von Martha gesprochen hatten, und doch blieb etwas von dem Spott über das alternde Mädchen, das sich einen jungen Mann „kauft“, mit vergiftendem Widerhaken in seiner Seele hängen, und er fragte sich, ob er nicht wie ein arglos summender Käfer in ein feines Netz von arglistigen Freundlichkeiten und feinen Avancen gegangen sei, in dem er sich schließlich doch rettungslos verstrickt hätte. Noch war es zum Glück nicht zu spät, noch konnte er das feine Gewebe zerreißen, und je schwerer es ihm wurde, sich aus seiner Zukunft dieses sanfte, kluge, ernste Mädchen wegzudenken, das er im einen Moment beschuldigte, ihm Fallen zu stellen, und das er im nächsten Moment gegen die ganze Welt auf Tod und Leben verteidigt haben würde, desto kälter und schärfer diktierte er sich die Trennung von ihr als den einzigen Ausweg aus diesem Labyrinth, als die einzige Rettung davor, endlich in eine schiefe, haltlose Lage zu geraten und in die bittersten Konflikte mit seinem besten und eigensten Sein. Die moralische Luft in jenem Hause war schwül zum Ersticken — er würde es nie lernen, dort zu atmen; der Fluch des Goldes lag auf dem Hause und seinen Bewohnern und zwischen ihm und ihnen konnte nie Gemeinschaft sein. Er hätte aufjauchzen mögen bei dem Gedanken, daß es in seiner Macht lag, sich mit einem Ruck frei zu machen und sich aus dem Reiche der Lüge, des Scheins, des Argwohns, der Verstellung und der List in das der Wahrheit, des Vertrauens, der Klarheit, der Offenheit, der Ehrlichkeit zu flüchten, und wieder zu sein, was er so manches Jahr gewesen — ein armer, einsamer Denker und Träumer, der ruhig und glücklich war, weil er auf eigenen Füßen stand und weil nichts den Einklang und Frieden seiner Seele störte.

Wolfgang war zunächst nach seiner Wohnung gestürmt! ein Pfiff brachte Proud an seine Seite, und mit diesem treuen Gefährten so manches aufreibenden Streifzugs bei Tag wie bei Nacht schlug er den nächsten Weg nach den Bergen ein. Es that ihm so wohl, endlich allein zu sein, und als die letzten Lichter der Stadt in der Dunkelheit erloschen waren, wie kleine, glimmende Pünktchen, strich er mit der Hand langsam und nachdrücklich über die Stirn, als wolle und könne er die quälende Erinnerung an die letzten Stunden aus seinem Gedächtnis weglöschen. Es wollte ihm freilich nicht gelingen, und so stark war die Neigung seines Herzens bereits geworden, daß sie den Kampf mit dem kalten, argwöhnischen Verstand ausnahm und seinen mißtrauischen Reflexionen, seinen spöttischen und höhnischen Einflüsterungen nicht ohne Gegenwehr Gehör lieh. Wohl erschien ihm Martha im einen Moment als die verblühende Schönheit, die mit zäher Beharrlichkeit und mit listiger Berechnung ihre Netze auswirft und ihre Taktik für jeden Fall ändert, und er erinnerte sich an jeden kleinen Zug, der sich als ein lockendes Entgegenkommen deuten ließ — im nächsten stieg ihr Bild in seiner ganzen nachdenklichen, ernsten, beinahe wehmütigen Schönheit vor ihm auf, und sie brauchte nur die Worte zu sprechen: „Hältst Du mich wirklich einer Berechnung für fähig?“, um ihn zu entwaffnen. Die brutale Sicherheit, mit der der Rittmeister bis zu dem Moment, in dem er Wolfgang an Marthas Seite sah, darauf gerechnet hatte, daß seine Bewerbung um sie eine erfolgreiche sein werde, hatte einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht; konnte der Mann das Selbstvertrauen und die Frauenverachtung soweit treiben, sich im voraus als ihren Gatten zu sehen, wenn er nur wollte, ohne daß sie ihm bestimmte Anhaltspunkte dafür gegeben hatte, daß seine Bewerbung ihr hochwillkommen sein werde? Es war kaum zu glauben, doch — wenn sie nun früher sehr zufrieden damit gewesen wäre, gegen die Nutznießung ihres Vermögens sich einen flügellahmen Husarenoffizier zu „kaufen“, und nur jetzt, wo sie Chance hatte, nicht bloß die Hand, sondern obendrein die aufrichtige Neigung eines arglosen, zur Schwärmerei geneigten, blühenden jungen Mannes zu erlangen, schwierig wurde und sich einer reservierten Haltung befleißigte, da ihr der Rittmeister infolge seiner Finanznöte immer noch sicher war? Wolfgang hätte sich selber hassen mögen, um dieser mißtrauischen argwöhnischen Regungen willen, die ihn so unglücklich, so elend machten, und wie sollte er den traurigen und zugleich verächtlichen und vorwurfsvollen Blick ertragen, den sie vielleicht berechtigt war, ihm vorzuwerfen, wenn ihr je eine Ahnung von diesen Zweifeln kam, von denen jeder eine Beschimpfung ihrer Menschen- und ihrer Frauenehre war? Was hätte er darum gegeben, auf den Grund dieser Seele blicken und ihre geheimsten Gedanken lesen zu können! Die trübseligste und prosaisch-ernüchterndste Gewißheit wäre ihm erträglicher gewesen, als dieses Schwanken zwischen dem innigsten und gläubigsten Vertrauen und dem zähesten, häßlichsten Verdacht, und die niederschlagende Aussicht auf ein langes Fortbestehen des quälenden Rätsels. Er rang sich wund und müde an diesen Zweifeln, und Licht und Finsternis wechselten jäh und unvermittelt in seiner Seele. Er hatte des Weges wenig acht gehabt und kaum bemerkt, daß der Mond aufgegangen war, und als ein schmaler Seitenweg, den er lange verfolgt hatte, mitten im Walde plötzlich auf eine Chaussee ausmündete, entdeckte er mit einem gewissen Staunen und einem leichten Kopfschütteln, daß er sich auf der Straße von M. nach W. befand; es war eine wunderliche Irrfahrt gewesen, die ihn zufällig hierher gebracht hatte. Mitternacht war vorüber und er hatte noch einen weiten Heimweg vor sich; er schritt rascher aus, während Proud gemächlich neben ihm hertrottete, aber sein Blick schweifte am Boden hin, und er war so tief in sein schmerzliches Brüten versunken, daß seine Sinne alles Wahrnehmungsvermögen verloren hatten. Er hörte den Hufschlag nicht, der von weither durch die nächtliche Stille hallte, und die beiden Reiter, die in scharfem Trabe auf ihn zukamen, waren ihm schon ziemlich nahe, als er sie bemerkte; er trat mechanisch und gleichgültig von der Mitte der von Gräben gesäumten Straße auf den schmalen Fußweg, um den beiden Reitern Platz zu machen; aber in demselben Augenblick wechselte der eine Reiter von der linken Seite seines Gefährten auf die rechte, so daß er jetzt auf dem Fußweg ritt, und Wolfgang, der in diesem Moment erst die beiden Husarenoffiziere in ihnen erkannt hatte, erriet blitzschnell auch ihre Absicht. Man wollte den im Wortgefecht so schlagfertigen Gegner durch ein „unglückliches Mißverständnis“, an dem er schließlich auch noch die Schuld trug, zu einem Sprung in den breiten, mit schmutzigem Regenwasser gefüllten und ohne Anlauf nicht zu überspringenden Graben zwingen, oder ihn durch den ungestümen Anprall der trabenden Pferde in den Graben stoßen. In solchen Augenblicken vollzieht sich der Gedankenprozeß mit einer rätselhaften Geschwindigkeit. Wolfgang sah, daß er überritten worden wäre, wenn er versucht hätte, auf die andere Seite der Straße zu gelangen; so rief er denn, alle Vergünstigungen der Notwehr entschlossen für sich in Anspruch nehmend, Proud zu: „Faß ihn — hoch!“, während er dem Pferde des Premierlieutenants in die Zügel fiel. Er hatte sich vollständig darauf gefaßt gemacht, niedergerissen und vielleicht ein Stück mit fortgeschleppt zu werden, aber so eisern war der Griff seiner Faust gewesen, daß das edle Tier zitternd und schnaubend sich zurückstellte. Der Zornruf des Premierlieutenants wurde von dem dumpfen Geheul übertönt, mit dem Proud plötzlich an dem Pferde des Rittmeisters in die Höhe sprang, und von einem Kasernenfluch des Reiters und einem schweren, planschenden Schlag ins Wasser. Das Pferd hatte sich in wildem Schreck hoch aufgebäumt — es drehte sich förmlich um seine Achse, schleuderte seinen schweren Reiter, der dem Veuve Cliquot etwas allzu reichlich zugesprochen hatte und der auf den ungestümen Angriff Prouds nicht gefaßt gewesen war, aus dem Sattel in den Graben auf der anderen Seite der Straße und jagte mit flatternder Mähne und fliegendem Schweif laut aufwiehernd davon. Der Premierlieutenant hatte Wolfgang knirschend ein: „Loslassen!“ zugeherrscht, worauf ein kaltes: „Nachdem Sie sich entschuldigt haben werden!“ zur Antwort bekam. Diese Erwiderung und der gleichzeitige tragikomische Fall seines Gefährten brachten den hochfahrenden jungen Offizier um den letzten Rest von Besinnung; er hob die Reitgerte und führte einen wütenden Hieb nach Wolfgangs Kopf, aber die linke Faust des jungen Mannes, in dem der heiße Zorn der Jugend auflohte und dessen Energie durch die vorausgegangenen Seelenkämpfe eine finstere Färbung erhielt, fuhr nach seinem Handgelenk, um das sie sich wie eine stählerne Klammer legte; im nu hatte sie ihm die Gerte entwunden und der Hieb, den sie ihrem Besitzer quer übers Gesicht zog, hatte alle Eigen-schaften, die eine hochaufgelaufene, brennendrote Schwiele verbürgen. Ein zweiter heftiger Hieb traf die Weiche des Pferdes, dessen Zügel die Rechte freigegeben hatte; es zuckte vor Schmerz zusammen, tanzte einen Moment, sich aufbäumend, auf den Hinterfüßen und jagte dann mit seinem halbgeblendeten Reiter, der Mühe hatte, im Sattel zu bleiben, davon, von Proud eine kurze Strecke mit wütendem, dumpfen Gebell verfolgt, das in der lautlosen Stille der Nacht doppelt unheimlich klang und die Angst des Pferdes vergrößerte. Wolfgangs Pfiff rief das mächtige Tier zurück; mit einem Lächeln voll grimmigen Humors streichelte er den Kopf seines treuen Bundesgenossen und sagte: „Sieh an, alter Bursche, so also treiben's die ritterlichen Herrn? Nun, sie sind freilich bei uns an die Unrechten gekommen und werden an die Bescherung denken. Aber Teufel, was hast du denn mit deinem Mann angefangen? Mir war's doch, als hättest du ihn in den Graben befördert, und wir müssen ihn am Ende wieder herausfischen.“

Das war jedoch nicht nötig. Der Rittmeister half sich eben selber aus dem Graben, in dem er ein unfreiwilliges kaltes Bad genommen hatte; triefend vor Nässe und merkwürdig abgekühlt und ernüchtert, erschien er auf der Böschung, von Proud mit einem wenig vertrauenerweckenden Geknurr empfangen. Es klang ziemlich kleinlaut, als er Wolfgang ansprach:

„Nehmen Sie die wütende Bestie zurück, Herr, — Sie sehen, ich bin wehrlos.“

„Gewiß, Herr Rittmeister, jetzt bedarf ich seiner Hilfe nicht mehr; Sie werden indessen zugeben, daß bei einer Unsicherheit der Landstraßen, wie ich sie heute zu konstatieren habe, eine solche „wütende Bestie“ ein ganz unschätzbarer Begleiter ist. Ohne meinen wackeren Hund hätte ich jetzt das Vergnügen, wie eine gebadete Maus mich heimzutrollen, und ich gestehe, daß ich diesen Zustand eben nicht sehr begehrenswert finde. Sie sind, nebenbei gesagt, immer noch besser daran, als ich daran wäre ich denke, Ihr Herr Kamerad wird ja mit der Zeit sein etwas aufgeregtes Pferd auch wieder, in die Gewalt bekommen, und vielleicht hat er jetzt das Ihrige bereits eingefangen und kommt Ihnen mit demselben entgegen. Uebrigens soll, soweit ich dabei etwas thun kann, der ganze Vorfall für Sie keine anderen Nachwehen haben, als höchstens einen Schnupfen; daß Sie außer stande waren, den Anforderungen des militärischen Ehrbegriffes zu genügen, der vorschreibt, jeden Schimpf unverzüglich an Ort und Stelle im Blute des Gegners abzuwaschen, soll sich nicht an Ihnen rächen; ich gelobe Ihnen Stillschweigen auch über diese Begegnung, und Sie können auf dieses Versprechen ebenso fest bauen, wie auf ein Offiziers-Ehrenwort. Guten Weg, also, Herr Rittmeister.“

Er lüftete mit einer Höflichkeit, die nur einen ganz leichten spöttischen Anflug hatte, den Hut, und ehe der Rittmeister mit sich darüber einig geworden war, ob er einen neuen Streit beginnen oder Wolfgang für einen Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle erklären und ihm eine Art Abbitte leisten solle, war dieser mit Proud in den Wald getreten und seinen Blicken entschwunden.

*          *          *

Wir finden Wolfgang einige Abende später in seinem kleinen, von wildem Wein überrankten Gartenhause; durch die halboffene Thür, die das Einströmen der lauen, von Blumenduft erfüllten Nachtluft gestattet, schimmert das flackernde, unruhige Licht der Windlampe. Wolf-gang hat aus der Brusttasche seiner leichten Bluse ein kleines, parfümiertes Briefchen genommen, aber sein Blick haftete nicht an der flüchtigen, feinen, graziösen Schrift, sondern an dem kleinen Maiblumenbouquetchen, das den Kopf des Bogens und die Siegelstelle des Couvertchens schmückt und das ihm ein Rätsel aufgiebt. Waltet hier ein neckischer Zufall und sucht ihn auf Irrwege zu locken oder soll er auf feine Weise Aufklärung darüber erhalten, wer die Absenderin des Straußes war, der ihm einst, auf dem Krankenbett, eine so liebe Ueberraschung bereitete? Diese Lösung des Rätsels wäre ihm unerwünscht, aber sie hat eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich, da sie sich mit dem Tone der Zuschrift, der vielleicht um eine Nüance zu vertraulich ist, recht wohl in Einklang bringen läßt, und seit dem Empfange des Briefchens hat er Momente gehabt, in denen sich seine Eitelkeit von dieser Lösung geschmeichelt fühlen wollte, wenn er sich auch im nächsten Augenblick über diese Erregung sehr ungeduldige und ehrlich gemeinte Vorwürfe machte.

Frau v. Larisch schreibt ihm:

Mein Herr!

Ihre kleine Schutzbefohlene ist bei mir gewesen und hat mir sehr gut gefallen. Es wurde mir also leicht, sie in meinen Dienst zu nehmen, daß ich darauf verzichten muß, für diesen Entschluß einen Dank Ihrerseits zu beanspruchen. Dieses Arrangement giebt Ihnen Gelegenheit, sich ab und zu von dem Ergehen der Kleinen persönlich zu überzeugen, und ich sehe keinen Grund, Ihnen dies durch Kautelen zu erschweren, da man einem jungen Manne von Ihrer Indisposition für Abenteuer leichterer Art kein Mißtrauen entgegenzubringen braucht; die Verantwortung, die ich übernehme, indem ich das hübsche Kind in meinen Dienst ziehe, verträgt sich also mit einer Erlaubnis, die zu erteilen ich anderenfalls Bedenken tragen würde.

Es wird mich freuen, recht bald wieder Gelegenheit zu erhalten, den paradoxen zu widersprechen, mit denen Sie so freigebig sind, und Ihnen vielleicht einmal den Beweis liefern zu können, daß trotz dieser Paradoxen einen wohlwollenden Anteil an Ihrem Ergehen nimmt

Ihre ergebene Leontine v. Larisch.

Wolfgang faltete das Briefchen mechanisch wieder zusammen, steckte es ins Couvert und legte dasselbe achtlos zur Seite. In tiefe Gedanken versunken, blickte er in die Flamme und sah dem Spiel der zartgeflügelten Motten und der kleinen Nachtfalter zu, die rastlos die Flamme der Kerze umkreisten, bis sie endlich mit versengter Schwinge auf den Grund der Lampe taumelten oder wie blind direkt in die Flamme flogen, die sie knisternd verzehrte. So überhörte er es, daß gemessene Schritte über den Kies der Wege knirschten, und der dicke Alfred, der auf der Schwelle erschienen war und sich mit dem seidenen Taschentuch die Schweißperlen von der Stirn trocknete, schreckte ihn erst durch seinen Anruf aus seinem tiefen Sinnen auf.

„Ist das eine köstliche Nacht, Herr Hammer, und welche wunderbare Stille! Und wieviel Rosen sind aufgeblüht! Geben Sie mir ein paar? Ich möchte sie der hübschen Marie in der Konditorei verehren — das Mädchen ist wirklich recht niedlich.“

„Haben Sie wieder einen neuen Gegenstand der Verehrung entdeckt ? Sie sind außerordentlich findig und scheinen die kleinen Emotionen zum täglichen Brote zu rechnen?“

„Was wollen Sie? Man kommt ja in einem solchen Neste um, wenn das ewig Weibliche nicht wäre, und ich bin nun einmal eine zart besaitete Natur. Ja, lachen Sie nur — ich sehe freilich nicht danach aus, aber man sieht mir auch nicht an, daß ich krank bin und daß mir kein Doktor helfen kann. Die Kerle wissen alle nichts, sonst müßte ich doch das Ohrensausen längst los sein, das mich fortwährend quält. Sehen Sie, darum ist mir hier so wohl — diese köstliche Stille ist eine wahre Erquickung für mein überreiztes Nervensystem. Aber was machen denn eigentlich meine alten Freunde im Kanal? Sind sie heute aufgelegt?“

Und damit trat er an den Zaun, der das Kanalufer säumte, und ahmte das helle, triumphierende Quaken eines liebebrünstigen Frosches nach, indem er einen Finger der Linken in den Mund steckte und mit der Rechten streichelnd und pochend die aufgeblasene Backe bearbeitete. Die Wirkung war eine so vollständige, daß die graugrünen Schwimmer an allen Ecken und Enden rege wurden und daß in kurzer Zeit ein paar Dutzend von ihnen dem vermuteten Schicksalsgenossen antworteten; ihrer nur auf eine gemessene Entfernung genießbaren Musik mischte sich bald das dumpfe, gravitätische Murren der Unken bei, und der virtuose Nachahmer der Froschstimme wollte sich vor Lachen ausschütten; er lachte noch herzlicher als Wolfgang, der aus dem Häuschen getreten war, lächelnd sagte:

„Allen Respekt vor der behaupteten Zerrüttung Ihres Nervensystems, aber es ist doch ein kleiner innerer Widerspruch, wenn Sie im einen Augenblick einen Lobgesang auf die tiefe, lautlose Stille hier außen anstimmen und im nächsten die Frösche rebellisch machen.“

„Sie sind ein Spötter, aber es ist wirklich und wahrhaftig so weit mit mir, daß ich diesen Sommer wieder nach Helgoland muß —“

„Um Hummern zu essen, Katzenhaie zu angeln und Seehunde zu schießen, dafern es einem solchen unglücklichen Geschöpf einfallen sollte, sich im Bereich des Felseneilands zu zeigen.“

„Wollen Sie mich denn heute abend so fort ärgern, Herr Hammer? Aber wo bleibt denn mein Bruder? Er wollte schon vor einer Stunde hier sein.“

Die beiden Alfrede nannten sich „Bruder“ und führten echt brüderlich eine gemeinsame Finanzwirtschaft, die allerdings zuweilen an einem Deficit laborierte.

Der Bruder kam in diesem Augenblick durch das Dunkel gestürmt und warf sich erschöpft in einen Stuhl. Aus der Seitentasche seines Sommerpaletots verschiedene Bücher auf den Tisch legend, begann er in komisch-wehleidigem Tone:

„Machen Sie mich nur heute nicht schlecht. Ich kann wahrhaftig nichts dafür, daß ich so spät —“

Aber Wolfgang fiel ihm ins Wort: „Keine Entschuldigungen -- Sie sind im voraus dispensiert, denn wir sind nachgerade daran gewöhnt, uns nicht mehr auf Sie zu verlassen. Sie sind da — und damit ist's gut. Was haben Sie mitgebracht?“

„Heute kommt Mark Twain an die Reihe, dessen A new pilgrims progress vor Ihren Augen sicher Gnade finden wird.“

„Und was wird, während wir uns abwechselnd vorlesen, aus unserem Froschvirtuosen?“

Ich höre zu, das ist wohl selbstverständlich,“ meinte dieser.

„Sie sagen das mit dem Tone der Beklemmung und mit der Miene eines Opferlamms.“

„Wollen Sie nun, um Ihrer Schändlichkeit die Krone aufzusetzen, auch noch bezweifeln, daß ich mich für die schöne Litteratur interessiere?“

Qui vivra verra — wer es erlebt, wird es sehen. Und ich fürchte, der Amerikaner wird Ihre Nerven affizieren.“

Der dicke Alfred ging statt einer Antwort an das Entkorken einiger Weinflaschen, die in einer Gießkanne bis an den Hals im Wasser standen, und das Einschenken absorbierte seine Aufmerksamkeit vollständig.

Inzwischen hatte sein „Bruder“ das Briefchen entdeckt, das noch auf dem grüngestrichenen Tisch lag, und es hastig ergreifend und von allen Seiten betrachtend, sagte er, mehr erstaunt als ironisch:

„Was muß ich sehen, lieber Hammer? Ich habe Sie immer für einen Ausbund von Offenheit gehalten und Ihnen vertrauensvoll alle meine kleinen Sünden gebeichtet, und jetzt stellt sich, wie es scheint, heraus, daß sie ein hinterlistiger Duckmäuser sind! Zarte Korrespondenzen — kann man gratulieren?“

„So leicht würde ich es Ihnen doch wohl nicht machen — so weit könnten Sie mich am Ende kennen. Sie irren übrigens sehr, denn der Brief, den Sie für ein Billet-doux halten, geht Sie beide viel mehr an, als mich, was ich Ihnen noch im Laufe des Abends zu beweisen gedenke. Machen Sie sich immerhin auf eine kleine Ueberraschung, auf ein fait accompli, gefaßt, daß Ihnen einigermaßen in die Bude schneien wird, wie wir in Sachsen sagen.“

„Das ist jedenfalls wieder einer von Ihren Scherzen, aber daß ich mich geirrt haben soll, thut mir aufrichtig leid. Ich würde mich kindisch freuen, wenn endlich einmal einer von uns den Anfang machte, und Sie haben entschieden die meiste Anlage dazu. Sie haben einen soliden Fonds und ich habe sie schon oft um denselben beneidet.“

„Nun werden Sie mir aber mysteriös. Nach allem, was Sie mir erzählt haben, erwarte ich jeden Tag die Anzeige von Ihrer Verlobung mit Ihrer Else Ellen, der kleinen zarten Engländerin in Breslau, und jetzt stellen Sie wieder alles in Frage.“

Der lange Alfred betrachtete mit einem fast melancholischen Ausdruck die Asche seiner Cigarre, und versuchte zu seufzen, indem er erwiderte:

„Ich bin entschieden eine problematische Natur und ich glaube jetzt steif und fest, daß ich ledig bleibe. Vorigen Sonntag war ich in Breslau, um die Geschichte ins Reine zu bringen, aber schon auf der Hinreise wurde mir heiß und kalt bei dem Gedanken, mich binden zu sollen. Für immer zu binden! Das ist ein schrecklicher Gedanke. Die Frau Mama war auch so diskret, mich mit der Kleinen allein zu lassen. Ellen war sehr liebenswürdig, aber glauben Sie, ich hätte ein Wort über die Lippen gebracht? Ich wurde von dem lächerlichen Einfall beherrscht, wenn ich den erforderlichen Kniefall thäte, würden mir die Unaussprechlichen über dem Knie zerplatzen, und dann kam im entscheidenden Moment die Mama mit einer unausstehlichen, dicken alten Kriegsrätin oder sonst einer Rätin, und ich wußte nicht, ob ich wütend oder seelenfroh sein sollte. Nachher war ich wieder im Garten bei der Kleinen allein, und bis auf den Kniefall hätte ich meine Herzenswünsche ganz gut anbringen können, aber da trieben sich wieder im Hintergrunde zufällig ein paar Gärtner herum, und die beiden Kerle und ihre Anwesenheit lähmten mir die Zunge. So bin ich unverrichteter Dinge wieder abgefahren, und nun wird auch — Gott sei's geklagt oder Gott sei Dank! — nichts aus der Verlobung, und ich sterbe unbeweibt.“

„Erlaube, Bruder, das geht doch noch übers Bohnenlied, und Du bist nicht ganz zurechnungsfähig oder die Geschichte hat sonst noch einen geheimen Haken. Das Mädchen ist reich, verdammt hübsch und sicher gebildet. Du hast sie lieb und sie Dich, d. h. sie hat nichts dagegen gehabt, daß Du auf einer Kahnpartie bei Mondschein — schauderhaft romantisch! — zufällig ihre Hand fandest und sie zehn Minuten lang krampfhaft festhieltest. Was willst Du denn eigentlich noch?“

Der lange Alfred erwiderte nichts und that seufzend einen langen Zug aus seinem Glase.

Der Eifer des Dicken amüsierte Wolfgang, aber er sagte ernst: „Hier läßt sich weder raten noch zureden. Unser platonischer Don Juan scheint von Haus aus jedenfalls ganz erklecklichen Vorrat an Gefühl in seinen zahllosen Liebschaften, Liebschäftchen und Liebeleien so vollständig zersplittert zu haben, daß der ihm gebliebene Rest für eine wirkliche Liebe, geschweige denn für eine Leidenschaft, nicht mehr ausreichen will. Das wäre übrigens wohl eine nicht ganz unverdiente Strafe.“

Der also Verurteilte verteidigte sich nur lau: „Gott weiß, was es ist — aber ich fürchte, ich finde überhaupt nie eine harmonisch mit der meinen zusammenklingende Natur.“

„Erlaube, Bruder, Du bist ein so schauderhafter Kerl, daß ich die, die harmonisch mit Dir zusammenklänge, ganz gewiß nicht heiraten würde, woran ich übrigens gar nicht denke.“

„Lieber Hammer, ich konstatiere, daß mein teurer Bruder bereits bei Invektiven anlangt, und da ist es immer am geratensten, das Gespräch zu wechseln.“

„Nichts leichter als das. Wenn Sie für die nächste Zeit auf die Rolle des liebenden Bräutigams verzichten, so sehe ich nicht ein, warum Sie mir nicht kämpfen helfen könnten. Es handelt sich darum, die Batterien der Naturwissenschaft gegen die Zwingburg der Bibelgläubigkeit aufzufahren, und Sie könnten mein Oberkanonier werden, das heißt, ab und zu im Bildungsverein einen Vortrag halten, was für Sie doch ein Leichtes ist.“

Und Wolfgang erzählte seinen Zusammenstoß mit dem Rektor und hatte die Genugthuung, daß der Umworbene sich keinen Augenblick besann, sondern eifrig und freudig zusagte und sofort eine ganze Reihe verschiedener Vorträge in Vorschlag brachte.

„Das Härteste für Sie wird sein, daß sie pünktlich sein müssen. Und Sie, Rosenräuber? Wie wäre es mit einem Vortrag zur Naturgeschichte des Hummers und der Auster oder zu einer Streife in die geheimnisvolle Welt der Pilze, natürlich nur der eßbaren? Von den hier vorkommenden will ich Ihnen gern Exemplare zur Verfügung stellen, als Grundlage für den Anschauungsunterricht.“

„Aus Ihrer Frage sehe ich schon, daß Sie nicht ernstlich auf mich zählen. Erstens bin ich zu bequem, dann sitze ich lieber in Ihrem Garten und endlich glaube ich, daß die Arbeiter schon viel zu gelehrt sind und schon viel zu viel wissen. Wenn das so fortgeht, bringt man sie schließlich nur mit Kanonen zur Raison, und es würde mir entschieden nicht passen, wenn ich die Uniform wieder anziehen müßte.“

„Nun, das ist wenigstens konsequent und die Konsequenz ist immer und überall respektabel. Uebrigens irren Sie insofern, als wir gerade verhindern wollen, daß es zum Schießen und Hauen kommt. Doch ich verzichte darauf, Ihnen das klar zu machen — wir würden uns kaum verständigen.“

„Sie wissen, Herr Hammer, ich bin kein Unmensch und würde, wenn ich die Zeche nicht zu bezahlen habe, gar nichts dagegen einwenden, daß auch die armen Teufel in der Zuckerfabrik Natives frühstücken und sie mit Chablis begießen, aber solche Bildungsvereine riechen für mich nach Sozialdemokratie, und mit der bleiben Sie mir zehn Meilen vom Leibe. Das ist die allerungemütlichste Partei, die ich mir nur denken kann, und sie auch nur indirekt zu unterstützen, geht mir wider die Natur. Es ist ein wahres Kreuz, daß man keinen genießbaren Kerl mehr findet, der nicht irgendwie sozialistisch angekränkelt wäre; bei meinem Bruder Alfred ist es schon lange nicht ganz richtig, und nun kommen Sie auch noch!“

„Sie haben sehr recht; wer das Herz und den Kopf auf dem richtigen Flecke hat, zuckt schon lange, wenn auch nur heimlich, über das offizielle Kesseltreiben wider die Sozialdemokratie die Achseln, und wenn alle, die dies bis jetzt nicht opportun finden, offen mit ihren Ansichten hervorträten, würde es sehr viele lange Gesichter geben. Die Wissenden aber halten jeden, der sich aus ehrlicher Ueberzeugung an dem großen Treiben beteiligt, für das Gegenteil eines Lichts, und ich wüßte schlechterdings nicht, wie ich Einheitlichkeit und Konsequenz und Logik in meine Weltanschauung bringen sollte, wenn ich nicht Sozialist wäre.“

„Und Sie werden nun am Ende anfangen, uns die Arbeiter aufzuwiegeln? Sie machen mich unglücklich; so haben Sie doch ein klein wenig Mitleid mit mir! Und Sie richten ja auch nichts aus und machen die Leute nur unzufrieden mit ihrem Lose. Jetzt wissen sie's nicht anders, und es fällt ihnen gar nicht ein, zu denken, daß es jemals anders sein könnte. Denken Sie doch auch an die Verantwortung, die Sie übernehmen!“

„Beruhigen Sie sich. Ich habe keinen Beruf zum Agitator, und selbst das Propagandamachen geht mir wider die Natur, wie Sie denn heute das erste Wort darüber hören, daß Sie auch mich zu den Teilern und zu den Anhängern der freien Liebe zu rechnen haben.“

„Nun, wissen Sie, die Geschichte mit der freien Liebe wäre am Ende nicht so ganz unrecht und der einzige Punkt, über den sich unterhandeln ließe.“

„Ich fürchte, wir würden uns gerade über diesen Punkt zu allerletzt verständigen, denn Sie scheinen eine sehr vage Vorstellung von der von seiten der Sozialisten angestrebten Form der Ehe zu haben, indessen — sollen wir uns den Abend mit fruchtlosen Debatten verderben? Sehen Sie, der Mond ist aufgegangen und die Frösche, die Sie vorhin rebellisch gemacht haben, wollen sich gar nicht wieder beruhigen.“

„Wahrhaftig, die reinen Sozialdemokraten! Sie respektieren mein Ruhebedürfnis nicht! Wollt ihr wohl die breiten Mäuler halten, ihr unverschämten Kerle?“

Und er schleuderte eine Handvoll Sand nach der anderen in den Kanal, und als das nichts fruchten wollte und ein vehementes Quaken seinen komischen Zorn verhöhnte, bewaffnete er sich mit einer Bohnenstange und schlug ins Wasser-, daß die Flut hoch aufspritzte und die Trommler und Trompeter der Tiefe erschrocken verstummten.

Die Nacht war so mild, daß Wolfgangs Vorschlag, in der offenen Weinlaube vor dem Häuschen vorzulesen, mit Freuden begrüßt ward. Der dicke Alfred, der es übernahm, die Frösche im Zaume zu halten, nahm mit seiner Bohnenstange gravitätisch auf einem Sessel Platz; sein „Bruder“ legte sich, die Arme unter dem Kopfe, mit angezogenen Beinen auf eine Bank und blickte angeblich „träumerisch“ empor zu dem noch wenig dichten Blätterdache der Laube und zu dem mit funkelnden Sternen bedeckten Himmel; häufig genug passierte es ihm, daß er die Cigarre, die er nur mit den Zähnen hielt, aus dem Munde in den Sand verlor, und er begleitete jeden solchen Fall mit einem komischen Fluch, legte sich aber, nachdem er den Sand sorgfältig abgewischt hatte, in aller Seelenruhe aufs neue zurecht und schien sich so wohl zu befinden, daß man eine gewisse Berechtigung zu der Annahme erhielt, selbst das Nahen einer Dame würde ihn trotz seiner Galanterie nicht vermögen können, diese behagliche Lage aufzugeben. Wolfgang hatte auf die Cigarre halb verzichtet, das heißt, er gestattete sich nur ab und zu, während einer natürlichen oder Kunstpause, einen Zug, damit sie nicht ganz ausging; das Vorlesen fesselte seine volle Aufmerksamkeit und er dachte kaum daran, das Glas flüchtig an die Lippen zu führen. Der auf dem Rücken liegende Zuhörer ließ nichts zu wünschen übrig; häufig genug verriet ein dazwischen geworfenes Wort seine lebhafte Teilnahme. Sein „Bruder“ dagegen rückte sehr bald mit allen Zeichen des Unbehagens auf dem Schemel hin und her, veränderte jeden Augenblick seine Körperhaltung und erklärte, als man am Schlusse des ersten Kapitels angelangt war, daß er es nicht länger aushalten könne. Das Sausen in seinen Ohren sei unerträglich und jedes Geräusch peinige ihn, — man solle es ihm nicht übel nehmen, wenn er sich in den entlegensten Winkel des Gartens zurückziehe, um dort eine Stunde zu ruhen. Die ganze, unwiderstehliche, kindliche Gutmütigkeit seines Wesens lag im Ton seiner Stimme und in seinen Zügen, und als seine fast demütigen und bittenden Vorstellungen eine gute Statt fanden und man ihn lachend entließ, zog er mit seinem Sessel, einer kleinen Bank und den beiden ausrangierten Ruhekissen, die zu dem altväterischen Sofa im Häuschen gehörten, erleichterten Herzens und mit merkwürdiger Beschleunigung ab. Man hörte ihn noch einige Minuten rumoren und Sessel und Bank unter halblautem Selbstgespräch im Sande hin- und herrücken, dann ward Stille, und zuletzt sah man auch seine Cigarre nicht mehr, die noch lange wie ein Glühwürmchen durchs Dunkel geleuchtet hatte. Der Schlag der Mitternachtsstunde mahnte die beiden in der Laube endlich ans Aufhören, und der Lange erhob sich aus seiner weniger malerischen als bequemen Lage und sagte mit dem warmen Ausdruck der innersten Ueberzeugung:

„Sehen Sie, lieber Hammer, das sind meine glücklichsten Stunden, und wenn wir uns bei einer guten Cigarre und einem echten Tröpfchen etwas Vernünftiges vorlesen, vergesse ich alles, was mich wohl sonst beschäftigt, beunruhigt und plagt. Ich mag mir die Sache hundertmal überlegen — so glücklich war ich weder bei einer meiner dreiundzwanzig offiziellen Liebschaften, noch kann ich mir vorstellen, daß ich so glücklich würde, wenn ich Ellen heiratete. Sie ist eine reine Elfe, aber — ich kann ohne sie leben; ich habe sie sehr gern, aber — ich kann mich nicht mehr verlieben, und wenn Sie wieder von hier fortgingen, so würde mir das viel mehr Kopfschmerzen verursachen, als irgendeine von den kleinen Herzensangelegenheiten, vor denen ich mich nun einmal nicht retten kann.“

„Sehr schmeichelhaft für mich, indessen sollen Sie mir dieses Kompliment nicht ungestraft gemacht haben. Ich nehme Sie beim Wort und hoffe, daß unser Freund, der da hinten neben der Federnelkenrabatte seinen Sommernachtstraum träumt, derartiger Empfindungen wenigstens einigermaßen fähig ist. Sie haben hoffentlich nicht vergessen, daß ich Ihnen noch eine Enthüllung zu machen hatte.“

„Ja so, wie war denn das? Da müssen wir also den Bruder wecken, der sonst bis zum Morgen schnarcht.“

Sie suchten den harmlosen Sozialistenfresser auf und fanden ihn auf seinem provisorischen Lager in festem, süßem Schlummer. Als man ihn rüttelte, fuhr er gähnend auf und rief dann enthusiastisch:

„Ich kann Ihnen nicht sagen, Herr Hammer, wie herrlich ich geschlafen habe — geradezu märchenhaft. Die Nelken dufteten, eine Unmasse großer und kleiner Nachtschmetterlinge umschwärmten die fleischfarbigen Blumen, die in der Dunkelheit weiß erschienen, und dann und wann passierte es wohl, daß so ein Schwärmer mir mit seinen sammetweichen Flügeln das Gesicht streifte oder mir krabbelnd aus der Hand hinkroch oder einer von den ganz großen flog mir hart an den Augen vorüber und drüben im Walde schlug eine Nachtigall — leise, wie im Traume; darüber bin ich denn eingeschlafen und keine Sprache hat Worte, mit denen ich Ihnen schildern könnte, wie schlau ich mich befinde und welche Wohlthat ich meinem gemarterten Leichnam erwiesen habe. Aber nun erlauben Sie wohl, daß ich mir bei Sternenschein einen Rosenstrauß schneide — Sie haben ja, wenn Sie sich erinnern wollen, huldvoll Gewährung gelächelt.“

„Immerhin — nur an der „Ophelia“ gehen Sie mir respektvoll vorüber — sie hat nur zwei Blumen und über diese breite ich schirmend meine Hände. Ich bin übrigens gar nicht so uneigennützig; vielleicht würde ich Ihnen weniger behilflich sein, ein neues, kleines Verhältnis anzuknüpfen, wenn ich nicht drauf und dran wäre, eine älteres kurzerhand durchzuschneiden, wobei es möglicherweise ohne einige kleine Schmerzensschreie nicht abgehen wird.“

„Herr, Sie sprechen in Rätseln!“ erwiderte der Dicke mit Pathos.

„Sie werden die Lösung wohl mit sehr gemischten Empfindungen entgegennehmen; sie liegt in dem kleinen duftenden Briefchen, das mich vorhin in den Verdacht brachte, zum Romeo irgend einer Julia avanciert zu sein.

Man war wieder in der Laube angelangt; Wolfgang las den beiden das Briefchen Leontinens vor und sagte dann rasch:

„Die hübsche Kleine, von der die Rede ist Ihre kleine Anna, die ich Ihnen, wie Figura zeigt, entführt habe. Ich glaube, auf das junge Mädchen Rechte erlangt zu haben, die den Ihrigen, wennschon dieselben die älteren sind, mindestens die Wage halten, und bei aller meiner Hochachtung für Sie habe ich nicht umhin gekonnt, es wünschenswert, wo nicht notwendig zu finden, daß der Verkehr der Kleinen mit Ihnen ein Ende nehme. Es ist nichts mehr an der Sache zu ändern, und es fragt sich bloß, ob Sie mir unter dem Druck der Zwangslage, in die ich Sie als echter Diplomat gebracht habe, Indemnität erteilen wollen, oder ob Sie es für notwendig halten, mich zur Rechenschaft zu ziehen. Wenn Sie es wünschen, werde ich meine Gründe in Schlachtordnung vor Ihnen aufmarschieren lassen, ich bin aber geneigt, zu glauben, daß Sie über die Natur dieser Gründe keinen Augenblick im Zweifel sind und daß ich nur gethan habe, was Ihnen wohl so manches Mal in einer Stunde des Nachdenkens als notwendig vorgeschwebt haben mag.“

Der lange Alfred brannte sich die Cigarre an der Kerze der Windlampe an und sagte mit einer elegischen Geste und melancholischem Tonfall:

„Das ist das Los des Schönen auf der Erde! Nie hat ein reineres und schöneres Verhältnis bestanden, als zwischen uns und der kleinen Anna, und ich möchte blutige Thränen weinen, aber ich kann nicht umhin, mich Ihren Gründen, die ich Ihnen erlasse, zu beugen, und wenn mein stummer Schmerz sich erst etwas gemildert haben wird, werde ich wohl die Kraft haben. Ihnen sogar zu danken und die Hand zu küssen, die mich züchtigte. Unsere kleine Anna! Wie eine Rose kam sie mir entgegen!, aber Sie haben recht, sie soll nicht Nr. 24 sein, und das wollen Sie doch verhindern, während Sie sich jedenfalls sagen, daß meine überwältigende Liebenswürdigkeit der Kleinen früher oder später dieses Los bereitet haben würde. Uebrigens kann man als Beschützer einer gefährdeten Unschuld unmöglich mehr spanische Grandezza entfalten, als Sie, lieber Hammer; Sie haben die kleine Intrigue ganz meisterhaft durchgeführt, und wir können nur gute Miene zum bösen Spiel machen, ich wenigstens werde mich einem Mädchen zuliebe niemals mit Ihnen zanken.“

Der Dicke war anscheinend minder versöhnlich. Er schmollte wie ein verwöhntes Kind, dem man ein Lieblingsspielzeug aus der Hand nimmt und das doch nicht wagt, dasselbe zurückzufordern; er ließ die Mundwinkel verdrießlich hängen und konnte die Notwendigkeit, die kleine Anna von ihren Brüdern zu trennen, absolut nicht einsehen. Als der Lange ihm lachend sagte: „Aber Bruder, Du machst ja ein Gesicht, wie die Katze, wenn's donnert!“, verharrte er in verstocktem, mürrischem Schweigen und wühlte mit der Fußspitze im Sande. Aber Wolfgang verstand es, auch mit ihm fertig zu werden, indem er nach einigen Minuten allseitigen zaudernden Schweigens im Tone des Bedauerns sagte:

„Sie sind so verstimmt, daß ich in der That nicht wage, die Bitte auszusprechen, die ich an Sie richten wollte, und so muß die Verwirklichung des kleinen Plans, der ohne Sie unausführbar ist, also auf unbestimmte Zeit vertagt werden.“

„Ach, machen Sie keine Geschichten — wenn Sie einen Plan haben, so schießen Sie los. Sie wissen doch, daß ich mich für alle Ihre Pläne von vornherein interessiere. Ein kleines Feuerwerk, halbweiche Eier und Forellensalat, eine Erdbeerbowle oder was sonst?“

„Nun, dazu brauchten wir Ihre Hilfe wohl nicht, wie wäre es denn aber, wenn Sie uns übermorgen mit Ihren sachverständigen, höchsteigenen Händen einen Eierpunsch bereiteten? Ich liefere alle Ingredienzen, die Sie mir nur anzugeben brauchen, sowie das Geschirr, das Frau Meiling herausrücken muß, Sie lassen Ihren Petroleum-Kochapparat herausschaffen, wir binden Ihnen die weiße Schürze vor und dann sollen Sie schalten und walten nach Lust und Begehr.“

„Herr Hammer, ich könnte Ihnen fast vergeben, daß Sie ein Sozialist sind, Ihre Linke heilt die Wunden, die Ihre Rechte geschlagen. Der Gedanke ist superb, und ich garantiere mit meiner Ehre als Koch für einen Eierpunsch, wie ihn Seine Majestät in Berlin auch nicht besser haben kann. Und nun geben Sie Ihr Messer her — ich will mir meinen Strauß schneiden und von der Kleinen soll zwischen uns, ich gelobe es Ihnen, nicht wieder die Rede sein. Wenn man alles reiflich überlegt, haben Sie ja auch recht, und da Sie ihr das Leben gerettet haben, so gehört sie Ihnen. Ist das nicht die Seelengröße eines Spartaners? Bewundern Sie mich, Herr Hammer! Auch ich bin besser als mein Ruf.“ Und mit ausgelassenem Humor und karikierten Gesten rezitierte er ganze Monologe aus der „Jungfrau von Orleans“ und „Tell“, und als er nach einer Stunde mit einem mächtigen Rosenstrauß heimwanderte, war jede Spur von Bitterkeit und Verdruß aus seiner Seele ausgetilgt, und als er zu Hause die Rosen in ein Wasserglas steckte, sagte halblaut vor sich hin: „Der Teufel soll ihm gram sein — er ist und bleibt doch ein liebenswürdiger, gemütlicher Herr, — und diese unbezahlbare, erquickende Stille in seinem Garten! Wir bleiben gute Freunde, Herr Hammer! Abgemacht — punktum!“

*          *          *

Wolfgang entwickelte in den beiden Wochen, die dem verhängnisvollen Geburtstag folgten, eine fast nervöse Thätigkeit für den Bildungsverein, der sich in der That von fast allen bisherigen Lehrkräften verlassen sah; der lange Alfred löste zum Glück sein Wort ein und stand Wolfgang treulich bei, ja, er schien sogar einen Begriff von Pünktlichkeit zu bekommen, und wenn er an den Abenden, an denen er einen Vortrag zu halten hatte, sich verspätete, so betrug die Verzögerung im höchsten Falle fünf Minuten; er war tatsächlich zerknirscht, als es ihm doch einmal passierte, zehn Minuten zu spät einzutreffen. Dem Eifer und der Tapferkeit der beiden jungen Männer gelang es, den wankenden Verein zu stützen, ihm über die Krisis hinwegzuhelfen und ihn in neue Bahnen zu lenken, und Wolfgang sah mit herzlicher Befriedigung, daß auch die anfänglich Zaudernden und Unschlüssigen sich ihnen innerlich anschlossen und ihnen vertrauensvoll und dankbar folgten. Doch alle mit dieser neuen Thätigkeit verbundenen und für sein sensitives Wesen doppelt empfindlichen Sorgen, und alle Freude über das Gelingen seines Unternehmens vermochten nicht, ihn von dem bittersüßen Gedanken an Martha und von dem Zwiespalt in seiner Seele, den er so unerträglich fand, zu erlösen. Er konnte weder zur Verurteilung noch Freisprechung gelangen, und während er die Sätze der Anklage formulierte, empfand er ein fast schmerzliches Verlangen, sich zum Verteidiger aufzuwerfen. Sein sonst so gleichmäßiges, in sich gefestetes Wesen ward beinahe rastlos und unstät, und er hätte viel darum gegeben, diesen Teil seiner Erlebnisse in M. aus seiner Erinnerung wegtilgen zu können, wie man mit dem feuchten Schwamm ungeduldig über die Tafel wegfährt, wenn die Rechnung, die man auf derselben anstellt, nicht stimmen will und sich rettungslos verwirrt und verwickelt hat. Das Resultat dieser inneren Kämpfe war zuweilen eine tiefe Traurigkeit und Müdigkeit, und wenn diese Stimmung ihn beschlich, griff er krampfhaft nach dem Zunächstliegenden, das ihn vor dem Versinken in diese Weichheit behüten konnte. Jeder kleine Vorfall, der ihn dienstlich in Anspruch nahm, war ihm willkommen wie nie, und als etwa vierzehn Tage nach dem Geburtstag Fräulein Emmys in vorgerückter Abendstunde eine mächtige Feuerstatt am dunklen Himmel erschien und reitende Boten aus einem eine starke Meile entfernten Dorfe dringend um Hilfe baten, die bei der isolierten Lage des Dorfes nur von M. aus kommen konnte, ließ er Alarm blasen und jagte mit den ersten Mannschaften, die er hatte zusammenraffen können, auf der Landspritze davon. Der Brand hatte bereits eine Anzahl Gehöfte ergriffen und drohte bei der herrschenden Windströmung dem ganzen Dorfe den Untergang, jedoch gelang es, den nach und nach auf Leiterwagen eintreffenden Mannschaften, die Wolfgangs Beispiel, sein ermunternder Zuruf und sein beißender Spott für jedes Symptom von Unentschlossenheit oder Zaghaftigkeit zu übermenschlichen Anstrengungen anspornten, die Feuersbrunst auf ihren Herd zu beschränken, und als der Morgen kam, zeigte sich, daß kein Grund zu weiteren Besorgnissen sei, wenn es auch wünschenswert erschien, daß die gesamte Mannschaft noch in Thätigkeit blieb, bis die von Wolfgang gleich bei seiner Ankunft aufgegebenen Gebäude abgelöscht oder vollends niedergebrannt waren. Darüber konnte leicht der Mittag herankommen, und da Wolfgangs Anwesenheit im Comptoir nötig war (er erwartete eine wichtige englische Post, die er selber erledigen mußte), so war ihm das freundliche Anerbieten eines Bauers, anzuspannen und ihn nach der Stadt zu fahren, sehr willkommen. Nachdem er das Kommando dem ältesten Spritzenmeister übertragen und demselben seine letzten Anordnungen erteilt hatte, bestieg er das leichte Wägelchen, das bald rasselnd auf der Chaussee dahinrollte; die beiden jungen, feurigen Pferde griffen fast übermütig aus, und es war nicht eben leicht, während dieser polternden Fahrt, bei der es ohne kleine Stöße und ein gelegentliches Hin- und Herwanken nicht abging, zu schlummern. Dennoch war Wolfgang mit hochgeschlossenen Augen in jenen Zwischenzustand versunken, der nicht mehr Wachen und noch nicht Schlafen ist, als ihn ein Mann, der ihm entgegenkam, durch seinen lebhaften Anruf jäh aus seinem Vorsichhindämmern aufschreckte.

„Herr Hammer, machen Sie, daß Sie in die Stadt kommen, in Ihrer Fabrik ist der Teufel los, wenn die Polacken sie nicht bereits erstürmt und demoliert haben."

Wolfgang schüttelte ungläubig den Kopf. Woher sollte dieser Arbeiterbevölkerung, die er immer zu unterwürfig gefunden und der er schon oft ein steiferes Rückgrat und einen starreren Nacken gewünscht hatte, die Geneigtheit zu gewaltsamen Ausschreitungen kommen?

„Haben Sie das alles mit eigenen Augen gesehen oder hat man Ihnen einen Bären aufgebunden? Und ist ja etwas vorgekommen, so macht man wohl aus der Maus einen Elefanten."

„Ich komme direkt von der Fabrik und habe mich fortgemacht, weil die Geschichte anfing, mir unheimlich zu werden. Ich sage Ihnen, Herr Hammer, ich möchte nicht in der Haut des Herrn Kommerzienrats stecken, und wenn sie ihm heute den roten Hahn nicht aufs Dach setzen, so hat er von Glück zu sagen. Sie kennen die Polen nicht — das ist schlechtes, heimtückisches Volk, und wenn sie gezecht haben, sind sie zu allem fähig."

„Nun, wir werden ja sehen, — schön Dank, trotz der Hiobspost. Und wenn Sie aufgeschnitten haben, mache ich Sie in ganz M. schlecht und schreibe mit Kreide an Ihre Hausthür: Windbeutel."

Der Mann schüttelte beteuernd den Kopf, und Wolfgang, dem plötzlich die neue Fabrikordnung einfiel, die der alte Weinlich ausgearbeitet hatte und die ein Zuchthausregiment in der Fabrik einzuführen strebte, und der nun selber unsicher wurde, bat den Bauer, ihn nicht erst nach seiner Wohnung, sondern geradenwegs nach der Fabrik zu fahren. Man hatte dieselbe noch lange nicht erreicht, als Wolfgang bereits allerlei Anzeichen dafür erhielt, daß der vorsichtige Spießbürger nicht übertrieben hatte. Kein Mensch war auf den Straßen, durch die sie[WS 2] dahinrasselten, nur ab und zu fuhr ein neugieriger Frauenkopf ans Fenster, um rasch wieder zu verschwinden; und aus der Ferne kam, wenn auch gedämpft, ein verworrener Lärm, wie von vielen zornig erhobenen und einander bekämpfenden Stimmen. Als das leichte Gefährt auf den freien; Platz einbog, auf dem die Weberei und das Wohnhaus des Kommerzienrats einander gegenüberlagen, bot sich Wolfgang ein überraschendes Schauspiel, und ein minder Beherzter wäre vielleicht unschlüssig geworden. Die Fabrik war auf allen Seiten von aufgeregten Arbeitern umzingelt, aus deren Mitte ab und zu ein Stein gegen die Fenster flog, und wenn wieder eine Scheibe klirrend zersplitterte, belohnte ein wüstes Hurra den geschickten Wurf. Im Erdgeschoß und im ersten Stockwerk war kaum noch eine Scheibe zu zertrümmern und auch die Laternen waren dem knabenhaften Unfug zum Opfer gefallen. Die Arbeiter selbst schienen in zwei nicht ganz einige Heerlager zerspalten; die Polen, bei denen die Flasche unablässig kreiste und in deren Mitte ab und zu eine von den eintönig-schwermütigen slawischen Weisen angestimmt wurde, die man so schwer vergißt, wenn man sie nur einmal gehört hat, schienen zu rücksichtslosem Vorgehen geneigt, und die hitzigsten und heftigsten von ihnen, die immer wieder nach dem Comptoir zu drängten, wurden mit Mühe von einer Anzahl deutscher Kameraden zurückgehalten, während zugleich zwischen einem kleinen Trupp, anscheinend ihren Wortführern, und zwischen mehreren älteren und ruhigeren Polen lebhaft, ja leidenschaftlich verhandelt wurde. War nur dieser Zwiespalt bisher die Rettung der Fabrik vor dem Schicksal der Demolierung gewesen? Fast schien es so.

Wolfgang sprang vom Wagen, reichte dem Bauer, der das befremdende Schauspiel verblüfft anstarrte, die Hand auf den Bock und drückte die seine mit einem freundlichen Wort des Dankes. Dann wendete er sich und ging ruhig, mit raschem, festem Schritt auf die Fabrik zu.

Machte man der durchnäßten, schmutzbespritzten und rauchgeschwärzten Uniform Platz, ohne sich eigentlich über die Regung unwillkürlichen Respekts Rechenschaft abzulegen, der man dabei gehorsamte? Hatte Wolfgang sich schon so lebhafte Sympathien erworben, daß man es nicht über sich gewann, ihm in den Weg zu treten? Er hatte bereits, ohne anscheinend um die bedrohlichen Zusammenrottungen sich zu kümmern, den weiten Platz zur Hälfte durchkreuzt, und die einzelnen Gruppen hatten ihn vorübergelassen. Da traten ihm plötzlich zwei junge polnische Arbeiter in den Weg und herrschten ihm auf polnisch zu, umzukehren; er stellte sich, als verstehe er sie nicht und wollte weitergehen, und als ihn der eine an der Brust packte und drohend die Faust hob, stieß ihn Wolfgang zurück, daß er taumelte. Ehe der also Abgewiesene sich zu einem neuen Angriff aus den in trotziger Verteidigungsstellung ihn Erwartenden entschlossen hatte, eilten mehrere deutsche Arbeiter herbei und drängten die Polen weg. Sie schlossen einen schützenden Kreis um ihn, und einer von den jungen Leuten, der sofort bei den durch den Drang der Stunde an die Spitze gestellten Wortführern Verhaltungsbefehle eingeholt hatte, kam mit dem Bescheid zurück: „Herr Hammer passiert.“ Ein schon betagtes Mitglied des Bildungsvereins trat zu ihm und fragte halb vertraulich: „Was wollen Sie beim Bürgermeister und seinen Polizisten, beim Kommerzienrat und dem alten Leuteschinder Weinlich? Sind Sie auch gegen uns?“

„Ich kann Euch drüben vielleicht mehr nützen, als stellte ich mich auf Eure Seite. Vor allem will ich hören und dann, wenn irgend möglich, vermitteln. Mit solchen Krawallen kommt Ihr nicht vorwärts, das müßt Ihr sehen, und das Einwerfen der Fenster ist eine unnütze Roheit und obendrein eine Thorheit.“

„Glauben Sie, das wäre nach meinem Sinn? Aber halten Sie einmal die Leute im Zaume! Wir haben unsere liebe Not gehabt, den Polen den Daumen aufs Auge zu setzen; ihnen ist es weniger um die Fabrikordnung zu thun, als um den Krawall, und daß drüben am Wohnhause noch nichts passiert ist, war nur sehr schwer durchzusetzen.“

„Gut — ich denke, wir sprechen uns gleich wieder.“

Im Comptoir waren von innen die Läden vorgesetzt; die Thür war verschlossen, und erst auf Wolfgangs wiederholtes Klopfen und auf die Nennung seines Namens öffnete sich die Thür so weit, daß er gerade hineinschlüpfen konnte. Im Comptoir fand er seinen Chef, der, die Arme auf der Brust verschränkt, ruhelos und mit allen Zeichen der Ungeduld und Gereiztheit im Zimmer auf und ab ging, als kämpfe er mit einem Entschluß, der ihm nicht leicht ward und zu dem ihn doch die Leidenschaft anstachelte. Sein Gesicht war hochgerötet und der Blick seiner Augen verhieß wenig Gutes. Er machte, als Wolfgang eintrat, plötzlich Halt und stieß ein erstauntes: „Sie, Herr Hammer? Hat die Bagage Sie durchgelassen?“ hervor.

„Wie Sie sehen, ja. Uebrigens glaube ich nicht, daß die Leute diesen Namen verdienen, — ich habe sie ziemlich vernünftig und zugänglich gefunden.“

Der Kommerzienrat lachte höhnisch auf. „Das ist ja ein kapitaler Spaß, — schließlich sind die besoffenen Polacken noch die sanften Lämmer und wir hier innen die reißenden Wölfe. Wollen Sie sich nicht gefälligst überzeugen, wie vernünftig und zugänglich die Kerle dem armen Weinlich gegenüber gewesen sind?“

Er öffnete die Thür und Wolfgang sah im anstoßenden Zimmer den alten Weinlich unter den Händen der kleinen Anna. Er hatte einige ansehnliche Löcher im Kopfe und die Kleine war vergebens bemüht, die Blutung zu stillen. Seine kleinen, falschen Augen funkelten von Haß und Wut und Rachgier, und doch lag soviel feige Furcht in dem Wesen des Menschen, daß Wolfgang nur tiefe Verachtung, aber keine Regung von Mitleid empfand. Er fragte kühl:

„Und wie ist das gekommen? — Ich kann den Grund nur vermuten.“

„Weinlich hatte eine neue, strengere Fabrikordnung entworfen, da in der letzteren Zeit mehrfach Unordnungen und Unbotmäßigkeiten vorgekommen waren, die absolut nicht geduldet werden können. Die Herrschaften haben gefunden, daß dieses Reglement ihren Mannesstolz und ihre Menschenwürde verletze, es hat sich eine vollständige Verschwörung gebildet und heute früh fängt niemand an zu arbeiten, sondern die Leute sammeln sich auf dem Hofraum, halten Rat und schicken eine Deputation ins Comptoir, die mit dürren Worten die Zurücknahme der Fabrikordnung fordert. Haben Sie gehört, Herr Hammer? Fordert, nicht etwa erbittet! Unerhört geradezu!“

„Und darauf hat Herr Weinlich die Leute bedeutet, daß sie wiederkommen möchten, wenn Sie da seien, da er keine Entscheidung treffen könne?“

„Erlauben Sie, Herr Hammer, das wäre sehr wenig nach meinem Sinn gewesen. Er hat ganz nach meinen Intentionen gehandelt, indem er den Kerlen gehörig den Kopf wusch, ihnen mit Entlassung der Rädelsführer drohte und sie bedeutete, daß an eine Zurücknahme oder auch nur Milderung der Fabrikordnung jetzt gar nicht zu denken sei, da ich sicher sehr erzürnt über ihre Dreistigkeit sein würde. Er hat durch einen Boten sofort den Herrn Bürgermeister benachrichtigt, der sich unverzüglich mit seinen beiden Dienern hierher begab und auf dem Platze ankam, als ich mich eben ins Comptoir verfügt hatte.“

„Ohne irgendwie molestiert worden zu sein, nicht wahr?“

„Nun, das fehlte noch, daß man sich sogar an mir vergriffe — was fällt Ihnen ein, Herr Hammer? Weinlich ließ es sich nicht nehmen, dem Herrn Bürgermeister entgegen zu gehen, und er beging nun die kleine Uebereilung, den Polizisten die Leute zu bezeichnen, die als Rädelsführer graviert waren und von denen einige verhaftet werden sollten; das sollte nach des Herrn Bürgermeisters Absicht nur ein Schreckschuß sein, aber die Idee läßt sich nicht zur Ausführung bringen, denn man widersetzte sich, und als nun Weinlich in seinem Eifer für die Gesetzlichkeit den Polizisten behilflich sein wollte, war dies das Signal zu einem wüsten Handgemenge, das mich für das Leben aller fürchten ließ. Von allen Seiten fiel man mit wütendem Geschrei über sie her, entriß ihnen die Verhafteten und zwang sie zur Flucht nach dem Comptoir; der Herr Bürgermeister ist mit einem angetriebenen Cylinder weggekommen und auch die beiden Polizisten haben nur ihre Stöcke eingebüßt, dagegen haben sie den alten Weinlich dermaßen zerbläut, daß es mich nicht gewundert hätte, wenn ihm alle Knochen im Leibe zerbrochen wären.“

„Wohl ein Beweis, daß Herr Weinlich die Deputation durch überflüssig brüskes Wesen gereizt hat und daß man nebenbei weiß, aus wessen Feder die Fabrikordnung geflossen ist.“

„O, dafür hat Weinlich selber gesorgt, er hat ihnen ins Gesicht gesagt, daß er die Fabrikordnung entworfen habe, daß er sich darauf sogar etwas einbilde und daß er seinen ganzen Einfluß bei mir aufbieten würde, damit ich fest bliebe und ihnen nicht etwa aus Gutmütigkeit Konzessionen machte, die sie nicht verdienten.“

„Wenn das ist, dann wundert es mich allerdings nicht, daß man ihn die Fäuste zu spüren gab, und ich gestehe, daß ich nicht umhin kann, diese Tracht Prügel wohlverdient zu finden. Diese Fabrikordnung, Herr Kommerzienrat, ist nämlich wirklich ein ungeheuerliches Machwerk, und wenn die Leute sich ihr stillschweigend unterworfen hätten, würde ich sie für ganz verkommen und entnervt halten müssen.“

„Daß Sie kein Mitleid mit Weinlich haben, wundert mich gerade nicht, denn Sie haben von Anfang an nicht mit ihm sympathisiert; was das Reglement betrifft, so muß ich Ihnen zugeben, daß einzelne Paragraphen etwas zu scharf sind, — ich habe mich eben auf Weinlich verlassen und das Ding nur flüchtig angesehen und dann unterschrieben. Vorhin habe ich mir die hervorgehobenen Bestimmungen genauer betrachtet, und da muß ich allerdings sagen, daß ich sie am liebsten zurücknähme. Allzuscharf macht schartig.“

„So nehmen Sie diese Paragraphen zurück und alles ist geebnet, — ich finde das äußerst einfach. Die Polizei hat sich ohnmächtig erwiesen: was soll werden, da die Leute schwerlich nachgeben?“

„Herr Hammer, nun muß ich Sie aber doch ersuchen, sich zu erinnern, mit wem Sie reden. Ich nachgeben? Jetzt? Haben Sie denn gar keinen Begriff davon, daß das der reine Selbstmord wäre und daß ich mir für alle Zukunft den Respekt vergeben würde? Man wirft mir ein paar Hundert Scheiben ein, man schlägt meinen treuesten, ältesten Mitarbeiter kreuz- und lendenlahm und dann treten Sie auch noch hin und raten mir kaltblütig und lächelnd, nachzugeben! Ich weiß thatsächlich nicht, was ich von Ihnen denken soll, Herr Hammer.“

„Daß ich nicht Partei bin und die Situation unbefangen beurteile. Ich kann nur immer wieder fragen, was Sie sonst thun wollen und thun können.“

„Das wird sich gleich zeigen.“ Der Kommerzienrat sah nach der Uhr. „Bis Zehn habe ich den Leuten Zeit gelassen, an ihre Arbeit zu gehen und ruhig abzuwarten, bis ich sie auffordern würde, mir ihre Beschwerden durch einige ältere Leute vorzutragen; sei der Platz bis zehn Uhr nicht geräumt, so würde ich genötigt sein, andere und strengere Maßregeln zu ergreifen. Wissen Sie, was die Antwort war, Herr Kammer? Man fing gleich darauf an, mir die Fenster einzuwerfen und erklärte, die Arbeit keinesfalls, eher wieder aufzunehmen, als bis die Fabrikordnung zurückgezogen sei. Man war sogar so unverschämt, mir Bedenkzeit bis zwölf zu geben, gerade als verhandelten wir auf gleichem Fuße und als zwei ebenbürtige Parteien!“

Wolfgang zuckte die Achseln; es war ihm unmöglich, dieses Verlangen so ungeheuerlich zu finden, als es dem Kommerzienrat erschien, aber er hatte sich überzeugt, daß sie Standpunkte innehatten, die einander völlig ausschlossen, und er unterdrückte die Antwort, die ihm auf den Lippen schwebte, um so lieber, als in diesem Augenblick der Bürgermeister, der sich mit seinen beiden stark eingeschüchterten und ziemlich kleinlauten Polizisten im dritten Comptoirzimmer aufgehalten hatte, eintrat. Man rief auch Weinlich herein, dem die kleine Anna inzwischen den Kopf regelrecht verbunden hatte; die Commis, sowie die Aufseher in der Fabrik hatten sich teils durch die Drohungen der Arbeiter, teils durch die eigene Furcht abhalten lassen, an ihren Posten zu erscheinen, wie Wolfgang auf seine Frage erfuhr. Der Bürgermeister war sichtlich echauffiert; er hatte sein Gesicht in streng amtliche Falten gelegt, und mit gemessener Förmlichkeit nahm er Platz und begann:

„Die den Aufrührern gesetzte Frist ist abgelaufen, ohne daß sie sich eines besseren besonnen hätten; man ist im Gegenteil zu argen Excessen übergegangen. Die Haltung der zum Teil berauschten Menge wird von Viertelstunde zu Viertelstunde bedrohlicher und es ist ganz unberechenbar, zu welchen Ausschreitungen sich der Haufe noch hinreißen lassen wird, wenn nicht radikale Mittel angewendet werden. Ihre Damen, Herr Kommerzienrat, sind längst in Sicherheit, wir brauchen also mit ihnen, die sehr gefährdet wären, nicht zu rechnen. Mit meinen zwei Dienern läßt sich nichts ausrichten; die Feuerwehr ist leider nicht am Platze. — “

„Ihr Hauptmann würde auch Bedenken tragen, sie und sich der Polizei zur Verfügung zu stellen; es ist ihm von irgend welchen Verpflichtungen, derartige Dienste zu leisten, nichts bekannt, und eine derartige Intervention könnte unter Umständen Anlaß zu Gehorsamsverweigerung werden und den Bestand des Corps in Frage stellen,“' unterbrach ihn Wolfgang.

Der Bürgermeister sah Wolfgang mit einem bedeutungsvoll gedehnten „So?“ betroffen an, der alte Weinlich lächelte höhnisch, der Kommerzienrat brauste auf:

„Wir brauchen Sie auch nicht, Herr Hammer, eine Schwadron Husaren ist mir entschieden lieber, als Ihre gesamte Feuerwehr.“

Der Bürgermeister fuhr mit allem Aplomb, dessen er fähig war, fort:

„Meine Pflicht gebietet mir, diesem ungesetzlichen Treiben nicht länger passiv zuzusehen und die Ordnung aufs schleunigste wieder herzustellen. Ein Telegramm an das Garnisonkommando in W. führt in spätestens dreiviertel Stunden eine ausreichende Abteilung Husaren hierher und bis mittag kann alles vorüber sein. Es handelt sich nur darum, das Telegramm nach der Station zu bringen und das hat seine Schwierigkeiten. Die Fabrik ist auf allen Seiten umzingelt; von uns kann niemand daran denken, sie zu verlassen und höchstens die Jungfer der Frau v. Larisch könnte den Versuch wagen.“

„Ich meine, der Erörterung der zweiten Frage muß erst die Entscheidung über die erste vorausgehen,“ wendete Wolfgang ein.

„Ich setze allerdings voraus, daß über die Bejahung der ersten Frage Stimmeneinhelligkeit herrscht, Sie höchstens ausgenommen, den Sie aus mir unerfindlichen Gründen ein beinahe sentimentales Mitleid mit dem unbotmäßigen, rohen Volke zu empfinden scheinen. Ich werde jedoch nicht dulden, daß man aus so windigen Motiven den zum Schlag ausholenden Arm des beleidigten Gesetzes lahm legt.“

Der Herr Bürgermeister kam sich in diesem Moment jedenfalls sehr erhaben vor, und das feine Lächeln, welches sein gewaltsames Pathos auf Wolfgangs Lippen rief, reizte ihn so, daß er beschloß, sich weitere Einreden dieses kecken, alle Autorität instinktiv negierenden jungen Mannes nachdrücklich zu verbitten. Weinlich sah Wolfgang von der Seite an, als bedaure er, ihn nicht mit einem Blick vergiften zu können; der Kommerzienrat trommelte ungeduldig mit den Fingern auf der Tischplatte und fragte unwirsch und heftig:

„Darf man fragen, welchen anderen Ausweg Herr Hammer vorzuziehen beliebt? Ich kann nicht glauben, daß Sie die versteckte Parteinahme für diese Undankbaren so weit treiben werden, uns hier, aufs ungewisse hinaus, in der Gefangenschaft zu erhalten, und es giebt keine Rettung, als — Husaren.“

„Doch, Herr Kommerzienrat, es giebt noch ein Mittel und dieses sollte nicht unversucht bleiben. Uebertragen Sie mir die Verhandlung mit den Leuten, geben Sie mir eine Stunde Zeit, und wenn es mir bis dahin nicht gelungen ist, sie vom Platze zu entfernen, so — mögen Sie thun, was Sie nicht lassen können.“

Der Bürgermeister gab dem sichtlich überraschten Kommerzienrat einen abmahnenden Wink mit den Augen; es lag ihm viel daran, daß keine weitere Verschleppung entstand. Weinlich aber, der vor Verlangen brannte, sich an dem „aufsässigen Volke“ zu rächen, sagte höhnisch:

„Ich werde mich natürlich nie unterstehen, dem Herrn Kommerzienrat Vorschriften machen zu wollen, aber Ihr zartes Mitleid mit diesen Aufrührern scheint mir denn doch an sträfliche Parteinahme zu grenzen. Schlimm wird es ja auf keinen Fall; wenn sie die Husaren nur von weitem sehen, geht es an ein Laufen und Rennen, und ein paar Blutstropfen werden Ihre Nerven doch nicht gleich affizieren — der Anblick meines Blutes schien Sie wenigstens sehr kalt zu lassen.“

„Wenn aber die Leute nun standhalten, wenn es nicht bei ein paar Tropfen Blut bleibt? So ein paar überrittene und von den Hufen zertretene Greise, die nicht schnell genug laufen und rennen können, so ein paar klaffende Schädel scheinen Ihnen den Aufschub von einer Stunde nicht wert? Ich habe mehr als ein Schlachtfeld gesehen und ich thue Ihnen die, vielleicht unverdiente, Ehre an, zu glauben, daß Sie nach dem Zusammenstoß wünschen würden, Ihre Husaren wären geblieben, wo sie waren und Sie hätten sich mit dem Telegraphieren etwas Zeit genommen.“

Der Kommerzienrat schwankte; er war im Grunde eine friedfertige Natur und der Gedanke an Blut reichte hin, ihm Uebelkeit zu verursachen. Wolfgang benutzte dieses Schwanken und sagte in dringendem Tone:

„Ich habe, seit ich bei Ihnen bin, noch nie eine Bitte an Sie gerichtet, und werde schwerlich je eine Bitte aussprechen. Schlagen Sie mir die erste und letzte nicht ab, geben Sie mir so einen Beweis Ihrer Zufriedenheit und einen Sporn zu freudiger Thätigkeit. Ich habe Ihr Wort, Herr Kommerzienrat, mich eine Stunde meine Mittel erschöpfen zu lassen und vorher nichts, absolut nichts zu thun? Dafür, daß man in der Zwischenzeit nichts gegen Sie unternimmt, verbürge ich mich, und die Leute haben es ja überdies versprochen.“

„Sehr beruhigend, in der That!“ murmelte Weinlich.

Der Kommerzienrat zögerte, aber, wenn auch widerwillig, er schlug endlich ein, ohne sich durch die lebhaften Zeichen von Unzufriedenheit und Entrüstung, die der Bürgermeister gab, beirren zu lassen. Als dieser den Stuhl unmutig zurückstieß und halblaut ein: „Unverzeihliche Schwäche!“ fallen ließ, meinte der Fabrikherr begütigend: „Lassen Sie ihn doch — er wird ja auch nichts ausrichten. Ich bin ihm und seiner Humanitätsschwärmerei eine gewisse Rücksicht schuldig und es kann ihm nichts schaden, wenn er sich überzeugt, daß an diesem trotzigen Volke Hopfer und Malz verloren ist.“

Mit einem leichten: „Also bis 11 Uhr — wünschen Sie mir glücklichen Erfolg, meine Herren!“ verließ Wolfgang rasch das Comptoir; einer der Polizisten, ein älterer Mann und Familienvater, folgte ihm bis an die Thür und flüsterte ihm zu:

„Ich wollte, Sie könnten etwas ausrichten, — niemand würde sich mehr darüber freuen als ich. Mein Kollege kommt eben erst von der Miliz, dem liegt die Kaserne noch in den Gliedern, — unsereiner fühlt sich aber doch nach und nach wieder als Mensch.“

Die treuherzigen Worte erschienen Wolfgang als eine glückliche Vorbedeutung. Er trat ruhig in den Hof und sprach gegen einen jungen Arbeiter, der erwartungsvoll auf ihn zukam, den Wunsch aus, mit ihren Wortführern Rücksprache zu nehmen. Man führte ihn sofort zu den abseits Rat haltenden Mitgliedern der Deputation, die von Weinlich so übel aufgenommen worden war. Das Gerücht, daß er als Unterhändler abgeschickt worden sei, verbreitete sich wie ein Lauffeuer in den einzelnen Gruppen und fand fast überall eine günstige Aufnahme. Er sah wohl da und dort ein finsteres Gesicht, auf dem ein verwegener Entschluß sich malte, aber viel häufiger grüßte man ihn mit freundlichem Nicken.

Die Deputation schien das Wort an einen noch ziemlich jungen, erst vor kurzem vom Rhein eingewanderten Arbeiter abgetreten zu haben, der fragend, aber weder unfreundlich noch entgegenkommend, auf Wolfgang zutrat. Das energische, etwas blasse Gesicht mit den tiefliegenden, forschenden grauen Augen und dem fast kokett gestützten rötlichen Schnurrbart gefiel Wolfgang. Dieser Mann wußte, was er wollte. „Was bringen Sie?“ fragte der Anwalt seiner Genossen.

„Am liebsten Frieden und jedenfalls wohlgemeinten Rat. Ich kenne nun die Stimmung drin (er zeigte zurück) und was ich Ihnen sagen kann, wird Ihnen vielleicht nützlich sein. Ich komme als Unparteiischer.“

„Ein Wort für viele. Billigen Sie die Fabrikordnung?“

„Nein. Das thut auch der Kommerzienrat nicht. Er ist bereit, eine Deputation zu empfangen, die ihm die zu ändernden Punkte namhaft macht, und er ist bereit, das Reglement entsprechend abzuändern. Aber er knüpft dieses Zugeständnis an die Bedingung, daß bis 11 Uhr der Platz geräumt ist und daß um 1 Uhr die Arbeit ruhig wieder aufgenommen wird.“

„Das hätte vielleicht heute früh ausgereicht — jetzt ist es wohl zu spät. Aber geben Sie mir eine Frist von fünf Minuten.“

Wolfgang zog das Etui, bot dem jungen Manne eine Cigarre an, setzte selber eine in Brand und ging etwas abseits, um die Beratung in keiner Weise zu stören.

In dem Gesicht des Rheinländers zuckte keine Muskel, als er zurückkam. „Ich bedaure, Herr Hammer, es ist in der That zu spät. Wir sind unvermögend, wenn wir selbst wollten — und ich persönlich will allerdings nicht — auf Grund einer solchen Konzession hin die Leute zur Wiederaufnahme der Arbeit, oder auch nur zum Verlassen des Platzes zu bewegen. Die Polen besonders fangen bereits an, ungeduldig zu werden, — ginge es nach ihnen, so hätte der Sturm auf die Fabrik längst begonnen. Biegen oder brechen, ist jetzt die Alternative. Wir fürchten uns vor nichts.“

„Vor nichts? Sie sprechen dieses große Wort sehr gelassen aus. Wissen Sie auch, daß man drinnen fest entschlossen ist, an den Säbel zu appellieren und aus W. Husaren kommen zu lassen? Die Depesche liegt bereits auf dem Bureau, — spätestens um 11 Uhr wird sie expediert, und wie rasch das Militär hier sein kann, können Sie sich selber ausrechnen. Ich bin über diesen Entschluß erschrocken; ich habe ihn nach Kräften bekämpft, weil mir der Gedanke, die wehrlosen Menschen dem brutalen Gutdünken einiger Husarenoffiziere überantwortet zu sehen, schrecklich war und ist; ich habe mir eine weitere Stunde Frist behufs Unterhandlung mit Ihnen förmlich erbettelt und ertrotzt und ich hätte gewünscht, mit dieser Mitteilung, die doch immer einen Stachel zurücklassen wird, zurückhalten zu können. Wenn man es aber mit Ihnen zu thun hat, wird die längste Unterhandlung kurz, — das ist übrigens ganz nach meinem Sinn und man sieht sich bald gezwungen, seinen letzten Trumpf auszuspielen.“

„Ihre Drohung schreckt uns nicht. Mit den zwei Schwadronen, die in W. stehen, werden wir fertig. Es sind genug alte Soldaten unter uns, denen die Kavallerie am allerwenigsten imponiert. Wenn Sie sich umsehen wollen, werden Sie finden, daß wir von Anbeginn auch auf diesen Fall gefaßt waren und den einzigen Zugang für die von W. kommenden Husaren bereits durch einige ziemlich einfache Hindernisse nahezu unwegsam gemacht haben. Ein Steinhagel ist unter Umständen sehr wirksam und an Munition fehlt es nicht, da der Hof großenteils aufgerissen ist, um neu gepflastert zu werden. Lassen Sie Ihre Husaren nur herankommen — für warmen Empfang ist gesorgt.“

„Wollen Sie sich nicht begnügen, zu sagen: Die Husaren? Ich habe sie nicht gerufen und würde sie auch nicht rufen — schlimm genug, wenn sie ungerufen kommen. Ich habe auch nicht gedroht, ich habe nur warnen wollen, und da ich zufälligerweise auch etwas vom Kriegshandwerk verstehe, gebe ich Ihnen gern zu, daß Sie die Husaren mit blutigen Köpfen heimschicken können; ich würde an Ihrer Stelle hierüber gleichfalls ohne allzugroße Sorge sein. Aber, gesetzt, Sie werfen den Angriff zurück, — was dann? Je später und nach je längerem Widerstande Sie niedergeworfen werden, desto größer wird schließlich die Niederlage, desto grausamer geht man gegen Sie vor — wollen Sie das?“

„Jetzt gebe ich Ihnen recht. Man würde es wohl auf einen zweiten Angriff mit verstärkten Kräften nicht ankommen lassen, der aber doch immer erst morgen erfolgen könnte. Indessen man hätte doch den Husaren eins ausgewischt und um die Fabrik und das Wohnhaus des Herrn Schlotjunkers würde es bis zum nächsten Tage sehr wunderlich aussehen.“

„Und die Rache des Siegers? Sie wissen, es giebt sehr drakonische Gesetzesbestimmungen, die der Willkür des Richters einen weiten Spielraum lassen.“

„Die Graviertesten fliehen, und wenn sie gefangen und zu Zuchthaus verurteilt werden, so ist das Unglück nicht allzu groß. Die Leute führen ja so schon ein Zuchthausdasein und haben verdammt wenig zu verlieren. Das bißchen Leben? Lieber Herr, gerade heute sind sie verteufelt geneigt, es in die Schanze zu schlagen, besonders die von ihren Kaplänen meisterhaft verhetzten katholischen Polen, die einen speciellen Span auf den lutherischen Essenbaron haben. Die setzen alles aufs Spiel, um einmal wenigstens Rache zu nehmen und ihren Groll auszutoben, und ich sagte Ihnen schon, daß wir sie gar nicht mehr in der Gewalt haben. Und im Stiche ließen wir sie schon deshalb nicht, weil sie den ersten Anstoß von uns bekommen haben. Wir haben eben auch so etwas wie Corpsgeist.“

Wolfgang gab sich keinen Illusionen mehr hin. Bis 12 Uhr hatten die Arbeiter dem Kommerzienrat Bedenkzeit gegeben — es ließ sich annehmen, daß sie bis dahin warten würden, aber dann ging man aller Wahrscheinlichkeit nach zum Sturm und zur Demolierung über, und waren diese erregten Leute einmal an der Arbeit, so wurde sie gründlich besorgt. Ein scharfer Ritt von einer halben Stunde führte die Husaren nach M.; es war kein Zweifel, daß sie einhauen oder doch ein Karabinerfeuer eröffnen würden und es ließ sich nicht absehen, wie groß die Zahl der Opfer sein würde.

Der Arbeiter deutete Wolfgangs Schweigen und sein nachdenkliches Zaudern mit der Antwort falsch. Er fuhr fort:

„Um den Herrn Kommerzienrat und seine bürgermeisterlichen Gnaden, sowie um die armen Teufel von Polizisten seien Sie ganz außer Sorge, ja selbst um den sauberen Herrn Weinlich, obgleich der alte Schuft gerade keine Schonung verdient hat. Für sie hafte ich Ihnen persönlich mit meinem Wort. Ich werde mit den zuverlässigsten Leuten das Comptoir besetzen und es soll ihnen kein Haar gekrümmt werden.“

Aber nicht das war es, was Wolfgang nachdenklich machte. Er hatte längst gemerkt, daß die Bewachung der Rückseite des Comptoirs eine sehr oberflächliche und ungenügende war; ein Polizist hätte leicht entschlüpfen und die verhängnisvolle Depesche fortbringen können. Sollte er, um das Blutvergießen um jeden Preis zu verhindern, dem Führer der Streikenden einen Wink geben und ihm wenigstens andeuten, daß die Absendung der Depesche sich noch verhindern lasse? Aber es schien ihm fast, als sei demselben gar nichts an der Verhinderung der Requisition gelegen; hatte er doch die falsche Mitteilung, von der er sich eine so tiefe Wirkung versprochen, mit der größten Kühle aufgenommen. Und dann kam es erst zur Demolierung, so war kein Zweifel, daß der Telegraphist auf eigene Faust nach W. Nachricht gab, und dann passierte das Unglück eben nur ein paar Stunden später. So mußte er denn das letzte versuchen. Er fragte:

„Würden Sie Ihren Kameraden von den Zugeständnissen und von der Drohung des Kommerzienrats Mitteilung machen und davon, daß die Husaren möglicherweise in diesem Augenblicke bereits unterwegs sind, wenn nämlich der Telegraphist nicht bis elf gewartet hat?“

„Sie glauben, das werde die heißen Köpfe abkühlen? Machen wir das Experiment. Es kann mir nur erwünscht sein, Ihnen zu beweisen, daß ich Ihnen die reine Wahrheit gesagt habe und daß die Leute zum äußersten entschlossen sind. Sie sollen selber sehen, ob und wie Ihre — pardon, die Husaren wirken.“

Er stieg auf eine Tonne, und eine fast unheimliche Stille war die Folge seines Erscheinens. Die melancholischen polnischen Lieder verstummten wie abgeschnitten; man drängte sich von allen Seiten geräuschlos heran und mit lauter Stimme und in kurzen Sätzen teilte der junge Mann den erwartungsvoll Lauschenden mit, zu welcher Erweiterung seines ursprünglichen Zugeständnisses der Fabrikherr sich herbeigelassen habe (daß Wolfgang damit bereits eine große Verantwortung auf sich geladen hatte und daß er gar nicht berechtigt war, dieses Zugeständnis zu machen, war ihm ja unbekannt) und daß die Husaren telegraphisch beordert und vielleicht bereits auf der Straße zwischen W. und M. seien. „Und nun,“ schloß er, „entscheidet euch — ja oder nein?“

Es war ein brausendes Geschrei, das ihm antwortete. „Nein, tausendmal nein!“ „Unbedingte Zurücknahme!“ „Sie sollen nur kommen, die Schnurenmännchen!“ erscholl es drohend und leidenschaftlich von allen Seiten, geballte Fäuste erhoben sich gegen die Fabrik und der Redner schwang sich von der Tonne, trat zu Wolfgang und fragte leise und fast vertraulich: „Die Hand aufs Herz, glauben Sie, daß es denen drin so nicht auch am liebsten ist? Sie wollen Blut sehen und Sie werden es sehen!“

Wolfgang biß sich auf die Lippen. Konnte er, wenn er ehrlich sein wollte, entschieden widersprechen? Er sah nach der Uhr — es fehlten nur noch wenige Minuten an 11 Uhr und er hatte keine Zeit zu verlieren, wenn er die Absendung des Telegramms verhindern wollte. Noch war ja bis zwölf Zeit, da vorher der Waffenstillstand schwerlich gebrochen wurde; wenn es ihm gelang, durch eine lebhafte und eindringliche Schilderung dessen, was er gesehen und gehört, dem Kommerzienrat Furcht einzuflößen, für seinen Besitz nicht bloß, sondern sogar für sein Leben (das wäre ja nur eine verzeihliche Notlüge gewesen), so ließ sich derselbe doch vielleicht noch bestimmen, die Fabrikordnung zurückzunehmen. Einen Erfolg konnte er sich freilich nur versprechen, wenn die Absperrung nach jeder Seite eine vollständige war und kein Bote durchzuschlüpfen vermochte; er machte also den jungen Arbeiter, der ihn zuerst empfangen hatte und ihn jetzt auch wieder zurückbegleitete, scherzend darauf aufmerksam, daß sie sich doch nicht so recht aufs Belagern verstünden und daß es ihm ein leichtes sein würde, aus dem Comptoir zu entkommen. Der Wink wurde verstanden — der junge Mann beorderte sofort eine Anzahl Polen, die Rückseite des Gebäudes scharf zu überwachen und niemanden, wer es auch sei, durchzulassen. Der Gedanke, nun den Kommerzienrat eine volle Stunde bearbeiten und die Einflüsterungen des Bürgermeisters und Weinlichs bekämpfen zu müssen, war wenig erfreulich, aber Wolfgang war entschlossen, nichts unversucht zu lassen und den Kampf mit allen aufzunehmen; es durfte nicht zum Einschreiten der Husaren kommen, es durfte wenigstens nicht nach ihnen geschickt werden, und wenn sie infolge anderweiter Benachrichtigung kamen, so hatte er wenigstens alles gethan, was in seinen Kräften stand, und brauchte sich, keinen Vorwurf zu machen. Diese Gedanken jagten sich in seinem müden, wirren, übernächtigten Kopfe, als er nach einer fast artigen Verabschiedung von dem Vertreter der Gegenpartei dem Comptoir zuschritt. Da fühlte er sich plötzlich am Aermel gezupft und gewahrte neben sich einen kleinen barfüßigen, blauäugigen Knaben, der ihm ein zusammengefaltetes Zettelchen hinhielt; ein „Fräulein“ hätte es ihm gegeben und ihm aufgetragen, es so schnell als möglich zu Herrn Hammer zu bringen, den er auf dem Fabrikhof finden würde.

„Ja, kennst Du mich denn Kleiner?“

„O, wie werde ich Sie nicht kennen? Wir kennen Sie alle ganz gut.“

Wolfgang überhörte die kindliche, hübsche Antwort. Er hatte den ziemlich roh zusammengebrochenen Zettel hastig geöffnet und erschrocken und empört knitterte er das inhaltsschwere Briefchen in der Faust zusammen. Auf grobem Papier und in eilfertig hingeworfenen, aber dennoch ungelenken Schriftzügen las er folgende Worte:

„Sie waren kaum fort, so ließ der Herr Kommerzienrat sich von den andern Herrn beschwatzen. Ich wurde mit der Depesche fortgeschickt und es hielt mich niemand auf. Die Depesche, auf die man schon gewartet hatte, ist gleich fortgegangen — es war höchstens halb elf. Richten Sie sich danach. Ich habe mich selbst angeboten, weil sonst einer von den Polizisten sich fortgeschlichen hätte und dann hätte ich Ihnen keine Nachricht geben können. Ida.“

Wolfgang fühlte sich von einem Schwindel angewandelt; es wurde ihm momentan schwarz vor den Augen; aber die Erbitterung über den Wortbruch, den man gegen ihn begangen, gab ihm rasch die Besinnung wieder. Die fieberhafte Aufregung, in welche die Zeilen der Kleinen ihn geworfen hatten, wich rasch einer unheimlichen Kälte. Er bückte sich herab zu dem Knaben und küßte den Erstaunten auf den kirschroten Mund, fuhr ihm mit der Hand über den kurzgeschorenen Flachskopf, der so hübsch mit dem sonnengebräunten Gesicht kontrastierte, und sagte ihm: „Hab Dank, mein Junge, Du hast Deine Sache brav gemacht. Und morgen kommst Du einmal in meinen Garten und holst Dir Johannisbeeren — ja?“

Der Kleine wurde ganz rot vor Freude und Verlegenheit und nickte verschämt, während Wolfgang, der ihn schon wieder vergessen hatte, sich einen letzten, verzweifelten Entschluß abrang. „A corsaire corsaire et demi[1] knirschte er; — „und es soll nicht zum Hauen und Schießen kommen und sollte ich darüber zum Lügner werden und auf und davon gehen müssen Knall und Fall. Nun bitte ich euch nicht mehr — nun zwinge ich euch und stelle nachträglich die Kabinettsfrage.“

Jetzt, wo er den schlagendsten Beweis dafür in den Händen hatte, daß man im Comptoir keinen gütlichen Ausgleich wollte, jetzt, wo die Husaren von Minute zu Minute eintreffen konnten und jede verrinnende Sekunde seinem gereizten Chef, dem an seiner Amtswürde verletzten Bürgermeister und dem rachgierigen Weinlich ein erhöhtes Gefühl der Sicherheit geben und sie in ihrem starren Trotz bestärken mußte, durfte er keine Nachgiebigkeit mehr erwarten. Sich von seinen Vorstellungen noch irgend einen Erfolg zu versprechen und einen Sieg seiner Beredsamkeit über die Leidenschaften für möglich zu halten, die im Comptoir die Herrschaft an sich gerissen hatten, wäre ein geradezu kindlicher Optimismus gewesen. Andererseits mußte der Platz geräumt sein, bevor die Husaren anlangten; ihr Erscheinen konnte nur zur Folge haben, daß die Erbitterung der Arbeiter in hellen Flammen aufloderte, und goß eine schroffe Haltung des Anführers der Reiter noch Oel ins Feuer, was ja die Wahrscheinlichkeit für sich hatte, so war keine Macht der Erde im stande, ein Blutvergießen zu verhindern; warf er sich dann der Strömung entgegen, so schwemmte ihn eine Woge derselben mit fort oder schleuderte ihn spielend zur Seite. Hier gab es kein Zaudern; er kehrte um und suchte den jungen rheinischen Arbeiter auf, der, als er ihn gewahr ward, die lebhafte Beratung, deren Mittelpunkt er war. verließ und ihm rasch entgegentrat.

„Hat man sich doch noch anders besonnen? Es wird hohe Zeit.“

„Die Fabrikordnung wird einfach zurückgezogen, unter der einzigen Bedingung, daß der Platz binnen fünf Minuten geräumt ist und daß die Arbeit nach Tische wieder aufgenommen wird. Veranlassen Sie so schnell als möglich das weitere — jede Minute Zeitverlust kann sich bitter rächen“.

Er hatte die Worte herb und scharf herausgestoßen und bleich und düster erwartete er die Wirkung seines gewagten Schrittes. Aber die Arbeiter schienen nicht sehr geneigt, ohne weiteres seiner überraschenden Mitteilung Glauben zu schenken und sich zurückzuziehen. Man zauderte und einer sagte endlich in halb entschuldigendem Tone:

„Ihr Wort in Ehren, Herr Hammer, aber das muß uns der Herr Kommerzienrat persönlich wiederholen; wir wollen uns nicht an der Nase herumführen lassen, und wer bürgt uns dafür, daß man Sie, nachdem man seinen nächsten Zweck erreicht hat und uns los geworden ist, nicht einfach Lügen straft?“

„Ich gebe Ihnen eine Bürgschaft — mein Wort. Genügt es nicht?“

„ Es genügt, Herr Hammer!“ erwiderte ernst und mit einem forschenden Blick der junge Rheinländer. Dämmerte ihm eine Ahnung von dem eigentlichen Zusammenhange aus? „Sie, das weiß ich, ertrügen unsere Verachtung nicht — Sie machen sich nicht zum Werkzeug einer Lüge. Wir erfüllen, nachdem man unsere Forderung bewilligt hat, unser Versprechen: in zwei Minuten ist kein Mann mehr auf dem Platze und — die Husaren werden keine Arbeit finden,“ fügte er, bedeutsam betonend, hinzu.

Wieder ließ er sich auf die Tonne heben — ein donnerndes, triumphierendes Beifallsgeschrei beantwortete seine Eröffnung. Mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit und Disciplin, die Wolfgang einen Begriff von der Ernsthaftigkeit und Planmäßigkeit des Widerstandes gab, auf den die Husaren gestoßen wären, verließ die Menge den Platz, und nach Minuten schon lag er leer und öde im Sonnenlicht und Wolfgang sah sich allein. Er atmete erleichtert auf, aber nur, um im nächsten Augenblick die Hand vor die fiebernde Stirn zu legen; er war nach allen Aufregungen der Nacht und des Vormittags einer Betäubung nahe. Aber er rüttelte sich mit einer energischen Willensanstrengung aus derselben auf; er biß die Zähne aufeinander, als er auf die Fabrik zuging. Was ihm nun noch bevorstand, war ja der schwierigste Teil seiner Aufgabe, und wenn er das verwegene Spiel, mit dem er alles auf eine Karte setzte, verlor, wenn die Karte gegen ihn schlug, sah ihn schon der nächste Zug auf der Flucht vor der Verachtung derer, die seinem Wort vertraut hatten. War das sanfte, ernste Mädchengesicht, dessen Bild in diesem Augenblick vor seinem geistigen Auge auftauchte und den Blick traurig auf ihn heftete, schuld an dem stechenden Schmerz, den er bei diesem Gedanken empfand? Der Kommerzienrat kam ihm ungeduldig und erwartungsvoll entgegen:

„Sie sind ja ein Teufelskerl, Herr Hammer; daß Sie das fertig bringen würden, hätte ich nimmermehr gedacht. Wird die Arbeit nach Tische wieder aufgenommen?“

„Sicher — es ist alles geebnet, freilich nur dadurch“ (und Wolfgang legte einen fast trotzigen Nachdruck auf jedes Wort), „daß ich in Ihrem Namen die Fabrikordnung zurückgenommen habe.“

„Wa—was?“ fuhr der Fabrikherr aus, als könne er seinen Ohren nicht trauen. „Sie hätten wirklich — machen Sie keine schlechten Späße, Herr Hammer, ich bin durchaus nicht zum Scherzen aufgelegt. Sie erlaubten sich einen sehr unpassenden Scherz? Ja oder nein?“

„Nein; und die ganze Angelegenheit ist eine so ernste, daß auch Ihnen der Gedanke an einen Scherz völlig ausgeschlossen erscheinen sollte.“

„Wohl, was Sie mir da zumuten, ist aber doch heller Wahnsinn; haben Sie denn auch nur eine Sekunde lang geglaubt, ich würde mich durch diese Komödie bestimmen lassen, nachzugeben? Dann kennen Sie mich sehr wenig; ich werde das von Ihnen eigenmächtig Vereinbarte niemals gutheißen.“

„Vielleicht doch, Herr Kommerzienrat, wenn Sie erst alle in Erwägung zu ziehenden Faktoren kennen. Sicherlich können Sie erklären, daß ich auf eigene Faust und Verantwortung und ohne Ihre Autorisation gehandelt habe, aber ich bilde mir noch immer ein, daß Sie doch Bedenken tragen werden, den eben erst beigelegten Konflikt wieder aufleben zu lassen, denn — wenn Sie nicht gutheißen, was ich vereinbart habe, so ist es für mich ein Gebot der einfachsten Ehrenhaftigkeit, mit dem nächsten Eisenbahnzuge M. zu verlassen, und ich rühre bis dahin keine Feder mehr an.“

„Also zwingen wollen Sie mich, Herr?“ brauste der Kommerzienrat auf, und die Zornader auf seiner Stirn war hochgeschwollen. „Und wenn ich Sie nun gehen lasse, um nicht, sowohl den Arbeitern als Ihnen gegenüber, allen Respekt einzubüßen?“

„Ich bin auf alles gefaßt und sehe Ihrem Entschluß mit großer Ruhe entgegen. Was ich gethan habe, wird mir immer als durch meine Menschenpflicht geboten erscheinen. Ich würde es mir nie vergeben können, hätte ich es zu einem Blutvergießen wegen einer Fabrikordnung kommen lassen, die Sie selbst nicht billigen konnten, und die ich abscheulich fand; andererseits war die Gefahr eines Gemetzels in die bedrohlichste Nähe gerückt, denn ich sah Sie unbeugsam und von verhängnisvollen Einflüssen beherrscht, und die Arbeiter waren zu gewaltsamer Abwehr entschlossen und gerüstet. So habe ich denn beiden Teilen zu dienen geglaubt und wenn ich den gutgemeinten Versuch mit meiner Stellung bezahlen muß, so wird mich das im vorliegenden Falle wenig anfechten und ganz gewiß nicht irre an mir selber machen. Ich will Sie nicht drängen, Herr Kommerzienrat, überlegen Sie die Angelegenheit, die nun doch noch etwas komplizierter geworden ist, in Ruhe und geben Sie mir um ein Uhr Ihre Antwort. Ich verzichte absichtlich darauf, dem Vorstellungen des Herrn Bürgermeisters und meines menschenfreundlichen Kollegen die Wage zu halten, nur darum bitte ich Sie, meinen Entschluß als einen unwiderruflichen anzusehen. Es ist nicht meine Art, derartige Erklärungen abzugeben und sie später zurückzunehmen.“

Es war eine äußerst ceremonielle Verbeugung, mit welcher Herr Reischach den jungen Mann entließ; dennoch fühlte dieser, daß das Spiel bereits halb gewonnen sei. Wolfgang nahm sich nicht die Zeit, nach Hause zu gehen; er warf nur seinen als Regenreserve in der Comptoir-Garderobe hängenden leichten Ueberrock über die Schultern und vertauschte den Helm mit dem weichen Filzhut, und ohne auch nur nach dem Stadtoberhaupt und dem alten Weinlich zu fragen, schlug er den nächsten Weg nach der Chaussee nach W. ein. Er hatte dieselbe noch gar nicht lange verfolgt, als sein Blick eine in der Ferne aufsteigende Staubwolke gewahrte, die sich rasch näherte; sehr bald ließen sich die voraussprengenden Eclaireurs der Schwadron erkennen, und Wolfgang blieb gelassen stehen und ein heimliches, zufriedenes, ein ganz klein wenig spöttisches Lächeln irrte um seine Mundwinkel. Der im schärfsten Tempo herannahenden Schwadron war der Rittmeister weit voraus, und Wolfgang erkannte mit einem Gemisch von Mißbehagen und Humor seinen Rivalen, dem er nun schon zum zweitenmal eine Hoffnung zu Wasser machte. Der Rittmeister, dessen Blick an der Kirchturmspitze des Städtchens hing, und der im Geiste bereits zur Attacke auf tobende Arbeitermassen blasen ließ und nach derselben den überströmenden Dank des Kommerzienrats (und seiner Damen) für sein „ritterliches“ Einhauen, das sie aus den Händen des Pöbels befreite, entgegennahm, wäre achtlos an Wolfgang vorübergetrabt, hätte ihm dieser nicht zugerufen: „Herr Rittmeister, mäßigen Sie Ihre Eile — Sie kommen trotzdem früh genug, denn der Krawall ist vorüber und der ganze Konflikt in Güte beigelegt.“

War es für den Rittmeister schon eine höchst unerwünschte Ueberraschung, dem jungen Manne zu begegnen, dem gegenüber er zweimal eine so unglückliche Rolle gespielt hatte, so riß ihn die Eröffnung Wolfgangs aus allen Himmeln. Er brachte sein Pferd zum stehen, kommandierte „Halt!“ und fragte in fast gereiztem Tone:

„Haben Sie Auftrag, mir entgegenzugehen oder habe ich mich bei Ihnen für eine persönliche — Aufmerksamkeit zu bedanken?“

„Ich beanspruche keinen Dank, Herr Rittmeister, „obgleich es Ihnen ja ganz erwünscht sein kann, bei Ihrer Ankunft im Städtchen bereits von der veränderten Lage Kenntnis zu haben; Sie werden jetzt sicher eine langsamere Gangart wählen und einen etwas weniger martialischen und finsteren Gesichtsausdruck annehmen, wie er einem harmlosen Spazierritt angemessen ist.“

Inzwischen war auch der Premierlieutenant herangeritten und fragte scharf und in feindseligem Tone: „Und daß es bei dem bloßen Spazierritt bleibt, ist jedenfalls Ihr Werk?“

Wolfgang gab mit der unbefangensten Miene eine beißende Antwort. „Allerdings. Ich bin ein so großer Freund des Militärs und besonders der Husaren, daß mir sehr viel daran lag, einen Zusammenstoß zu verhüten, bei dem Sie sehr leicht durch einen Hagel von Pflastersteinen hätten zurückgeschlagen werden können. Und nicht wahr, Herr Premierlieutenant, Verwundungen, die nicht durch Kugel oder Klinge erfolgen, sind unerwünscht und es klebt ihnen immer ein Makel an?“

Der junge Offizier gab keine Antwort; er dachte an die schmale, rote Spur, die sich seit der Nacht, welche dem Geburtstag Fräulein Emmys folgte, quer über sein Gesicht zog, und in leidenschaftlicher Erregung schloß er die Rechte um den Säbelgriff und biß sich auf die Lippe. Der Rittmeister hielt es unter solchen Umständen für das beste, das Gespräch zu beenden, damit es nicht am Ende eine bedenkliche Wendung nahm. Er wendete sich an den Premierlieutnant und sagte gemessen und Wolfgang ignorierend:

„Hinunter müssen wir aber doch reiten und dem Herrn Kommerzienrat unsere Aufwartung machen?“ Der Premierlieutenant nickte, und auf des Rittmeisters Kommandoruf ritt die Schwadron dem Städtchen zu. Die beiden Offiziere hatten Wolfgang in jener nachlässigen Weise gegrüßt, durch die man so gut eine gewisse Geringschätzung ausdrückt; er lächelte ironisch und rückte nur leicht seinen Hut, und in dem Blick, den er der im Sonnenlicht glitzernden Schwadron nachsandte, lag der Ausdruck des reinsten Triumphs.

In einem Gasthaus an der Straße kehrte er ein; er fühlte sich totmüde; seine Kniee zitterten, als er sich niederließ, und während er ein paar Bissen zu essen versuchte, sank sein Kopf auf den Arm, den er auf die Tischplatte gelegt hatte, und bleischwer schlossen sich die Lider über den brennenden, schmerzenden Augen. Er hörte nichts davon, daß die Schwadron auf dem Rückweg vorüberritt, und es war ziemlich ein Uhr, als er erwachte. Wie es uns häufig geht, wenn wir starke und anhaltende Aufregungen durchzumachen hatten, war auch über unsern jungen Freund eine völlige Apathie gekommen, und er sah der endlichen Entscheidung, an deren Schwelle er jetzt stand, mit unsäglicher Gleichgültigkeit entgegen.

Der Empfang, welchen ihm der Kommerzienrat bereitete, überraschte ihn aber doch. Herr Reischach war allein und sein Gesicht hatte weder einen mürrischen, sauertöpfischen, verkniffenen, noch einen forciert feierlichen Ausdruck; mit einem Anflug von jovialer Kordialität kam er Wolfgang entgegen und hielt ihm die Hand hin:

„Sie bleiben natürlich, Herr Hammer, und die Fabrikordnung wird nach den Wünschen der Arbeiter geändert; ich habe die Husaren, die auf ein Telegramm der Station hinausgesandt waren, wieder weggeschickt und euch mit dem Bürgermeister alles in der Weise arrangiert, daß die dumme Geschichte in der Hauptsache vertuscht wird und keine unangenehmen Folgen für die Krawaller hat. Es ist doch am besten so. Sie haben recht; aber daß Sie ein so desperater Mensch sind und mir ohne weiteres den Stuhl vor die Thüre würden setzen, hätte ich doch nicht gedacht. Nun, mit den Jahren wird man ruhiger, das werden Sie sehen.“

Die reine Freude, mit der Wolfgang dem Kommerzienrat für seinen Entschluß dankte, würde eine starke Trübung erfahren haben, hätte er gewußt, daß die Bonhomie seines Chefs nur Maske und sein eigentliches Empfinden ein keineswegs freundliches war. Der Kommerzienrat hatte sich nur entschlossen, seinem rebellischen Comptoirchef nachzugeben, weil er denselben für die nächsten Monate schlechterdings nicht entbehren konnte und weil er einen Streik der Arbeiter fürchtete, der bei der augenblicklichen Lage des Geschäfts mit großen Opfern für ihn verknüpft gewesen wäre. Er vergab es Wolfgang so leicht nicht, ihn durch eine „Komödie“ zum Nachgeben gezwungen zu haben, er war sogar entschlossen, bei erster Gelegenheit eine gründliche Rache zu nehmen und dem „arroganten“ jungen Manne die peinliche Viertelstunde mit Zinsen heimzuzahlen, aber die Klugheit riet ihm, sich davon zunächst nichts merken zu lassen und sich zu stellen, als nehme er die Sache leicht. Es war ihm vor allem darum zu thun, von seinem gefährdeten Ansehen soviel als möglich zu retten. So stellte er dem Bürgermeister und Weinlich die Nachgiebigkeit als eine durch schwerwiegende, geschäftliche Rücksichten bedingte dar, und ersterer, dessen gewichtigster Steuerzahler der Kommerzienrat war, und der, wo es sich um Sammlungen für wohlthätige und Verschönerungszwecke handelte, mit der guten Laune desselben rechnen mußte, hielt es nicht für geraten, irgend eine Rücksicht höher zu stellen, als die geschäftlichen Erwägungen des Herrn Reischach, während Weinlich seinem Chef ja nie widersprach, sondern sich mit geschmeidiger Schmiegsamkeit in seinen Willen fügte, mochte derselbe noch so wenig nach seinem Geschmack sein. Der Alte erriet wohl die eigentliche Ursache der befremdlichen Sinnesänderung seines Chefs, und diese Vermutung machte seinen Haß gegen Wolfgang nur noch giftiger; aber er sagte sich, daß der junge Mann diesen Sieg teuer bezahlen werde und den Boden unter seinen Füßen selbst unterhöhlt habe; sein Sturz war bei seiner gewiß noch öfter zu Tage tretenden Parteilichkeit für die Arbeiter nur eine Frage der Zeit, und auf ein halbes Jahr des Wartens kam es dem alten Weinlich wahrlich nicht an.

Infolge der von dem ebenso geriebenen als eitlen Kommerzienrat adaptierten[WS 3] Taktik wurden die Offiziere, als ihre Schwadron in den Fabrikhof eingeritten war, mit dem Ausdruck des lebhaftesten Bedauerns darüber empfangen, sie umsonst bemüht zu haben; die Haltung der Arbeiter sei zwar eine Zeitlang eine so bedrohliche gewesen, daß der Herr Bürgermeister es für unerläßlich gehalten habe, sich militärischer Hilfe zu versichern, doch habe die Unerschrockenheit, Energie und Unbeugsamkeit des Fabrikherrn ihnen dergestalt imponiert, daß sie ganz kleinlaut und eingeschüchtert das Feld geräumt hätten. Man setzte den Offizieren ein Frühstück vor, und die Mannschaften wurden mit Bier reguliert, aber nach kurzer Zeit schon ordnete der sichtlich verstimmte und enttäuschte Rittmeister den Wiederaufbruch an. Er hatte entschieden kein Glück und alle Mächte des Zufalls hatten sich feindlich gegen ihn verschworen. Die Depesche war dem Major, der in dem Hause wohnte, in welchem sich das Telegraphenbureau befand, ohne Verzug zu Händen gekommen und er hatte dem Rittmeister, der sich mit seiner Schwadron auf dem nach M. zu gelegenen Exerzierplätze befand, durch eine Ordonnanz die schriftliche Order erteilt, unverzüglich nach M. aufzubrechen und notfalls mit rücksichtsloser Energie einzuschreiten. So gab Fortuna dem Rittmeister, wie er meinte, eine Gelegenheit, sich durch Entschlossenheit und Thatkraft auszuzeichnen und sich dadurch die Anwartschaft auf die nächste freiwerdende Majorsstelle zu erwerben; viel wichtiger war es ihm freilich, daß ihn der Zufall dazu berief, der Retter des Kommerzienrats und seiner Damen zu werden. Er dachte sich das Wohnhaus von einer wütenden Menge umzingelt und bedroht, den Kommerzienrat in Verzweiflung, die Damen in Ohnmacht und Todesangst. Wenn er nun den Haufen durch einen ungestümen Reiterstoß auseinandersprengte[WS 4], und dann mit noch entblößter Klinge in den Salon trat, um zu melden, daß alle Gefahr beseitigt sei, mußte dann nicht für die Damen, auch für Martha Hoyer, eine Glorie der Ritterlichkeit sein nur noch dürftig behaartes Haupt umfließen, und wenn er in dieser Situation die Gunst des Augenblicks mit raschem Entschluß benutzte und seine Werbung anbrachte, sprach dann nicht die Wahrscheinlichkeit dafür, daß dieselbe angenommen ward? Er wußte es nicht anders, als daß nichts den Frauen so sehr imponierte, als männliche Tapferkeit, gerade wegen ihrer natürlichen Furchtsamkeit und ihres Schutzbedürfnisses, und so konnte leicht diese Vormittagsstunde seinem Geschick eine ganz andere Wendung geben. Nicht viel anders hatte der Premierlieutenant kalkuliert, nur daß er an den „kleinen hübschen Grasaffen Emmy“ dachte. Nun waren beide Luftschlösser zerronnen, aller Wahrscheinlichkeit nach infolge eines zielbewußten Eingreifens jenes Menschen, der die Uniform ausgezogen hatte, um den Comptoirsessel zu besteigen! Das war wohl geeignet, beide unwirsch zu machen, und als die Schwadron aufgesessen war, gaben sie nach einer ziemlich kühlen Verabschiedung von Herrn Reischach ihren Pferden die Sporen zu fühlen und sprengten davon.

Es war eine weitere Folge der vom Kommerzienrat adaptierten[WS 5] Taktik, daß er seinen Damen gegenüber, die er gegen Abend hatte zurückholen lassen und die nur die ersten Anfänge des Krawalls kannten, den ganzen Vorfall auf die leichte Achsel nahm und ihn als eins von den unangenehmen, aber leider unvermeidlichen Vorkommnissen schilderte, die im Leben eines Fabrikbesitzers die Dornen bilden, denen aber ein energischer und humaner Mann, namentlich wenn er von der Pike auf gedient hat, Gott sei Dank, stets gewachsen ist. Er spöttelte sogar ein wenig über den Beamteneifer des Bürgermeisters, der ohne sein Wissen nach Militär telegraphiert habe, das sehr überflüssig gewesen sei, und über Wolfgang, der seinen ehrlichen Willen, aber auch seinen Mangel an Autorität bei dem gemeinen Volke bewiesen habe, indem er zu intervenieren versuchte, und sowohl Frau v. Larisch als Emmy fanden ein solches Mißgeschick in diesem bestimmten Falle so natürlich, daß sie es keinen Moment in Zweifel zogen, während sie andererseits die Thatsache, daß auch Wolfgang sich in ein Unternehmen stürzen könne, dem er nicht gewachsen war, viel zu wenig nach ihrem Geschmack fanden, als daß sie Lust gehabt hätten, sich nach Details zu erkundigen. Auch der Kommerzienrat glitt möglichst leicht über die ärgerlichen Vorkommnisse des Vormittags hinweg und berührte dieselben nicht weiter, und so kam es, daß am Theetisch bald von allem andern geplaudert ward, nur nicht von dem Konflikt, der so leicht den gefährlichsten Charakter hätte annehmen können. Nur Martha war nicht ganz frei von Zweifeln. Sie kannte alle Schwächen des Kommerzienrats, sie wußte, daß er stets zu Prahlereien geneigt war, daß er es mit der Wahrheit nicht allzu genau nahm und daß er es niemals über sich gewonnen hätte, zuzugeben, daß er einer Situation nicht gewachsen gewesen sei: sie mutmaßte stark, daß Wolfgang keineswegs die Rolle gespielt habe, die ihm sein Chef andichtete. Aber wo sollte sie sich erkundigen? Sie wußte nicht, wieviel die kleine Anna gesehen und gehört und noch weniger, daß sie gewissermaßen mit Wolfgang konspiriert hatte, und hätte sie es gewußt, es ist mehr als fraglich, ob sie es über sich gewonnen hätte, das junge Mädchen zu fragen. Es würde ihrem Feingefühl widerstrebt haben, durch eine private Erkundigung ein Interesse an den Tag zu legen, das wohl auch die kleine Anna sich richtig gedeutet haben würde, und sie hätte lieber alle Qual des Zweifels und der Ungewißheit schweigend getragen, als sich dazu herbeigelassen, einen Schritt zu thun, der für sie einen fatalen Beigeschmack hatte. Dafür, daß Anna ihrer natürlichen Mitteilungslust nicht die Zügel schießen ließ, sondern sich, da niemand sie ausforschte, über die Ereignisse des Vormittags ausschwieg, hatte Wolfgang gesorgt. Als er in der Abenddämmerung nach Hause ging, huschte aus dem Schatten der Häuser heraus eine Mädchengestalt an seine Seite und bemühte sich, mit ihm Schritt zu halten; er war aber so in seine Gedanken versunken, daß er sie nicht beachtete und daß erst ein leises, ein wenig neckisches: „Guten Abend, Herr Hammer!“ ihn erstaunt aufblicken ließ. Es war Anna, die eine leichte Befangenheit unter einem Lächeln zu verbergen strebte, aber sofort sicher ward, als Wolfgang ihr mit einem freundlichen:

„Sieh da, meine kleine, kluge, entschlossene Verbündete! Wie hübsch sich das trifft!“ die Hand entgegenstreckte. Sie fühlte sich fast gehoben von dem Händedruck Wolfgangs und erwiderte eifrig:

„So ganz zufällig ist es doch nicht, daß ich hier bin, aber ich mußte doch wissen, ob ich Ihnen mit meinem Zettel etwas nützen konnte, ob ich es recht gemacht habe und ob Sie mit mir zufrieden sind.“

„Wenn Sie wüßten, wieviel das Zettelchen wert war! Es hat wer weiß wie vielen Menschen das Leben gerettet und Sie haben mir einen Dienst geleistet, für den ich Zeit meines Lebens in Ihrer Schuld stehen werde. Wenn ich wüßte, womit ich Ihnen eine recht große Freude machen könnte!“ —

„Ach, Herr Hammer, Sie wissen doch, daß ich nie wieder gut machen kann, was Sie schon alles für mich gethan haben. Und was habe ich denn hier besonderes ausgeführt? Ich glaube, jedes andere Mädchen, das nicht ganz auf den Kopf gefallen ist, hätte dasselbe gethan. Ich hatte gehört, daß Sie nichts von den Husaren wissen wollten und daß man Ihnen eine Stunde Zeit gab. Sie waren kaum zur Thür hinaus, da ließ sich der Herr Kommerzienrat von dem dicken Bürgermeister, der wie ein erboster Truthahn kollerte, und von dem alten, häßlichen Kerl, dem ich seine Löcher im Kopfe von Herzen gönnte, beschwatzen und brach sein Versprechen. Das ärgerte mich und ich dachte mir, es könnte Ihnen lieb sein, wenn Sie davon erführen. Darum schlug ich, als sie den jüngeren Polizeidiener mit der Depesche wegschicken wollten, vor, mich gehen zu lassen, da ich doch gewiß leichter durchkäme; und sie ließen sich überzeugen und lobten mich und versprachen mir ein gutes Trinkgeld, und der alte, grauköpfige Mensch wollte mich sogar in die Backe kneipen, aber ich habe ihn tüchtig auf die Finger geschlagen und ihm gesagt, er sollte sich schämen; der Herr Kommerzienrat und der Bürgermeister lachten herzlich darüber. Ich lachte aber, als ich draußen war, am meisten, denn nun konnte ich Ihnen doch Nachricht geben. Das ist alles, und nun machen Sie ein solches Aufheben davon!“

Wolfgang konnte ein Lächeln nicht unterdrücken; er fragte:

„Also, wenn ich einen Bauch hätte, wie der Herr Bürgermeister, und so häßliche, graugrüne Augen, wie der alte Weinlich, und die beiden sähen ungefähr so wie ich aus, würden Sie nicht auf Ihren klugen Einfall gekommen sein?“

„Aber wie können Sie so etwas sagen? Das ist recht schlecht von Ihnen. Wären Sie denn nicht trotzdem immer noch Herr Hammer geblieben und hätte ich Ihnen nicht helfen müssen, wie ich nur konnte?“

Wolfgang nickte begütigend und freundlich, dann aber nahm seine Stimme einen ernsten Klang an und er setzte ihr die Lage, in der er sich befunden und den weiteren Verlauf des seltsamen Konflikts genau auseinander. Die Augen der Kleinen hingen an seinen Lippen, Röte und Blässe wechselten auf ihren Wangen, und als er geendet, gewahrte er am Saum ihrer Wimper ein paar blitzende Thränen, die sie rasch mit dem Handrücken wegwischte.

„Das war ja ganz schrecklich,“ sagte sie endlich, „und nun bin ich freilich recht froh, daß ich den guten Gedanken hatte. Davon hätte ich mir doch nichts träumen lassen.“

„Das glaube ich wohl, aber Sie müssen mir nun auch beweisen, daß Sie schweigen können. Erzählen Sie niemandem etwas von dem, was ich Ihnen anvertraut habe. Ihnen war ich die Aufklärung schuldig, aber ich möchte nicht, daß sonst jemand davon erführe — auch Ihre Damen nicht.“ Und nach einigem Zögern fügte er hinzu: „Wenn sie nicht geradezu und ausdrücklich danach fragen.“

Die Kleine sah ihn offen und voll an, als wolle sie ein Gelübde ablegen.

„Verlassen Sie sich auf mich; ich müßte doch die ärgste Plaudertasche sein, getraute ich mir nicht, Ihnen zu versprechen, daß kein Wort über meine Lippen kommen soll.“

„Brav, meine kleine Tapfere, und nun nehmen Sie meinen herzlichen Dank an, nicht wahr?“ Er hielt ihr die Hand hin; sie drückte dieselbe herzlich und dann beugte sie sich blitzschnell nieder, preßte ihren Mund für einen Moment auf seine Rechte und war im nächsten Moment mit einem halberstickten: „Ich hätte auch mein Leben für Sie hingegeben!“ in der Dunkelheit verschwunden.

Wolfgang ging ziemlich nachdenklich heim; das Benehmen der Kleinen erschien ihm etwas befremdlich, und er hatte Mühe, sich dasselbe mit eine[m] fast hervorgestoßenen: „Jugendliche Exaltation!“ notdürftig zu erklären.

Es waren wohlthuend stille Wochen, die für Wolfgang auf all den Sturm und Drang jenes Tages folgten, und er erprobte an sich aufs neue die wunderbare Heilkraft der Natur. Zwischen den Bohnenstangen, an denen die Ranken Tag für Tag höher kletterten, und zwischen den Birken am Waldsaum, die ihre zarte Belaubung lose im Winde fluten ließen, schlief der Widerstreit zwischen seiner schmerzlichen Sehnsucht und den Vorstellungen seines Verstandes und seines Stolzes oft auf Tage ein und die wenn auch nur halb überwundene Leidenschaft fing an, sich in ferner Seele zur Poesie zu verklären. Er kam selten von seinen Abendspaziergängen heim, ohne ein paar Strophen — hatte sie ihm das Laub zugeflüstert, hatten die Zweige sie auf ihn niederfallen lassen? — aufzuschreiben, und es machte ihm ein wehmütiges Vergnügen, diese neu- erwachte Produktivität mit jenem eifersüchtigen Wachen über die Reinheit der Sprache und über die Einfachheit und Natürlichkeit des Ausdrucks auszunutzen, die für seine Poesie charakteristisch waren und ihm als der einzige Vorzug derselben erschienen. Vor einem haltlosen Versinken in diese lyrischen Stimmungen behütete ihn die Thätigkeit im Bildungsverein, die eine um so angestrengtere war, als der lange Alfred so ziemlich sein einziger Kampfgenosse war.

Martha Hoyer war weit davon entfernt, in diesen Wochen ebenfalls zu einer vergleichsweisen inneren Ruhe zu gelangen, dieselben waren vielmehr für sie in vieler Hinsicht an Aufregungen reich. Die häusliche Thätigkeit der Frauen und Mädchen läßt ihnen ja vollauf die Freiheit, ihren bittersüßen Gedanken nachzuhängen und dieselben erhalten von keiner Seite ein ausreichendes Gegengewicht an Gedanken, Empfindungen und Sorgen. Immer und immer wieder mußte sie an den Abend denken, der so beglückend begann und so traurig endete, an die Wandlung, die sich urplötzlich mit Wolfgang vollzog und die ihr als ein fast unheimliches Rätsel erschien. „Hatte sie diese Wandlung verschuldet? Und womit dann?“ Diese beiden Fragen beschäftigten sie unaufhörlich und doch konnte sie zu keiner endgültigen Beantwortung derselben gelangen und alles Sinnen und Grübeln blieb fruchtlos. Sie rekapitulierte im Geiste alle Phasen des Gesprächs, sie prüfte streng jede Antwort, die sie gegeben, jede Bemerkung, die sie gemacht, aber sie war unfähig, ein Wort zu finden, das sie für den grellen Umschwung hätte verantwortlich machen können. Sie wollte sich zuweilen einreden, daß Wolfgang wirklich nur müde und abgespannt gewesen sei, aber mit schmerzlich zuckender Lippe verwarf sie nur zu bald diese trügerische Illusion, die höchstens dann eine Aussicht hatte, Einfluß auf sie zu gewinnen, wenn ihr Wolfgang bei der nächsten Begegnung mit der vollen, fast vertraulichen Herzlichkeit von einst entgegenkam. Jedoch gewann es fast den Anschein, als sei auf eine solche Begegnung gar nicht mehr zu hoffen. Wie oft sie auch, zaghaft und errötend und doch mit fast trotzigem Entschluß, in abendlicher Stille durch die kleine Pforte im Wildzaun aus dem Park in den Wald trat, um endlich langsam den Hohlweg entlang zu wandern, in dem sie Wolfgang kennen gelernt — nie begegnete sie ihm, und es blieb ihr bald kein Zweifel darüber, daß er ihr mit Geflissentlichkeit ausweiche. Hätte er nur das leiseste Bedürfnis empfunden, ihr eine Aufklärung über jenen verhängnisvollen Abend zu geben, so lag es doch für ihn so nahe, sie da zu suchen, wo sie ihm das erste Mal begegnet war, und daß er dieses Bedürfnis nicht empfand, zwang es sie nicht zu der Annahme, daß er innerlich mit ihr gebrochen habe? Es war ihr zuweilen, als müsse sie, wenn dem so war, fort, weit fort, und dann wieder sagte sie sich, daß sie sich in der Fremde doppelt einsam und verlassen fühlen und daß ein bitteres Heimweh sie nach den Stätten zurückzwingen würde, an denen ihr ein Schimmer von Glück gelächelt. Sie sollte bald in unerwarteter Weise auf die Probe gestellt werden. Leontine beschloß, die Familie ihres Schwagers, die nach Pyrmont zur Kur ging, zu begleiten, nicht, weil sie ebenfalls eine Kur durchzumachen beabsichtigte, sondern weil sie auf Umwegen erfahren hatte, daß sie in Pyrmont denjenigen von ihren einstigen Bewerbern treffen würde, der sie am meisten interessiert, den sie aber aus Rücksicht auf seine Jugend und seine Armut abgewiesen hatte. Aus dem bizarren jungen Manne mit dem halb sanften, halb düsteren Wesen war im Laufe der Jahre ein Novellist von Ruf geworden; er war seit Jahren verheiratet, wie man sagte, mit einer äußerst liebenswürdigen jungen Frau: sie wollte ihn in unverfänglicher Weise einmal wiedersehen und erproben, ob ihr Blick noch Macht über ihn habe oder ob er denselben unbewegt aushalte. Es fiel ihr nicht ein, ihn wieder an sich locken zu wollen, sie wollte sich nur die pikante Situation und die kleine Emotion einer unerwarteten Begegnung mit ihm verschaffen und ihn vielleicht einmal eine Stunde lang plaudernd sondieren; es würde ihr geschmeichelt haben, wenn er einen neuen Beleg für die Richtigkeit des alten „on revient tojours à ses premiers amours[2] geliefert hätte, wenn ihm auch in der Flucht der Jahre und an der Seite einer aus echter Neigung heimgeführten jungen Gattin die Empfänglichkeit für den eigentümlichen Reiz und Zauber gerade ihres Wesens nicht abhanden gekommen wäre.

Seit Fräulein Emmy wußte, daß Leontine mit nach Pyrmont ging, verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand von Tag zu Tag und der Hausarzt ward plötzlich ein vielbegehrter und unermüdlich konsultierter Mann. Der Kommerzienrat, der sich sehr schwer entschlossen haben würde, seinen Liebling von sich zu lassen, wurde durch die Sorge mürbe gemacht, und als der Arzt, der die eigentliche Ursache der fortwährenden Klagen des Töchterchens natürlich durchschaute, aber keinen Beruf fühlte, den Herrn Papa aufzuklären und es dadurch für immer mit der reiselustigen Kleinen zu verderben, ihm mit ernsthaftem Gesicht vorstellte, daß die rasche Wiederherstellung der sich etwas zu rasch entwickelnden jungen Dame nur von einem längeren Badeaufenthalt zu erwarten sei, verzichtete er nicht nur auf jeden Widerspruch, sondern betrieb sogar die Abreise mit einer gewissen Ungeduld und war sehr zufrieden damit, daß sein Töchterchen sich Frau v. Larisch und den Verwandten dieser von ihm hochverehrten Dame anschließen konnte. Es sollte übrigens sehr einsam und leer im Hause Herrn Reischachs werden, denn Fräulein Emmy bestand mit dem ganzen Eigensinn eines verzogenen und sich über seine Macht klaren Kindes darauf, daß Martha sie begleite, und auch Frau v. Larisch, entwickelte zu Gunsten dieser Idee eine Beredsamkeit, die den Gedanken nahelegte, daß sie ein gewisses geheimes Interesse daran habe, Martha nicht allein in M. zu lassen. Diese war, ganz wider alle Gewohnheit, wenig geneigt, dem vereinten, fast hartnäckigen Drängen und den Bitten, Liebkosungen und Thränen Emmys nachzugeben, und erst als Frau von Larisch mit einem ganz leichten Anflug von Ironie die Bemerkung hinwarf, Emmy möge Martha auch nicht zu sehr bestürmen, da sie doch nicht wissen könne, welche Gründe diese habe, das Zurückbleiben in M. vorzuziehen, willigte sie plötzlich mit kühler Bestimmtheit und in fast trockenem Tone ein; sie fühlte deutlich heraus, daß Leontine ihr unterschob, sie wünsche zurückzubleiben, weil dann das Feld für sie frei gewesen wäre und sie sich ungezwungen und jeder lästigen Aussicht ledig hätte bewegen können. Aber je näher der Tag der Abreise kam, desto öfter und desto tiefer bereute sie, der augenblicklichen Aufwallung willfahrt zu haben, und desto schwerer wurde es ihr, sich von M. zu trennen; machte es doch jeder verrinnende Tag unwahrscheinlicher, daß sie noch eine Gelegenheit erhalten werde, Wolfgang zu fragen, was ihn an jenem Abend so tief verstimmt und so plötzlich von ihrer Seite gescheucht habe. Es fiel ihr auf, daß der Kommerzienrat, als Leontine ihm ganz beiläufig andeutete, daß es ihr erwünscht sein würde, Wolfgang vorher noch einmal zu sprechen, da sie ihn um einige Bücher bitten möchte, achselzuckend meinte, es werde sich dies kaum thun lassen, da jener eine kleine Geschäftsreise erledigen müsse; wenn auch Frau v. Larisch, die momentan nur ein geteiltes Interesse an Wolfgang nahm, sich mit dieser Antwort begnügte, so erriet Martha, daß dieselbe nur ein leerer Vorwand sei, und daß Herr Reischach Wolfgang nicht bei sich sehen wollte. Hing diese Abneigung gegen den jungen Mann vielleicht irgendwie mit dem Krawall der Fabrikarbeiter zusammen? Sie fühlte sich versucht, es anzunehmen, aber das war doch eine sehr vage Mutmaßung, und dieses neue Rätsel verschärfte nur die Traurigkeit, von der sie beherrscht ward und die sie nur mühsam den Blicken ihrer Umgebung zu verschleiern vermochte. Der Tag vor der Abreise ließ diese Traurigkeit so übermächtig werden, daß sie ängstlich nach einem Grunde haschte, das Haus wenigstens auf eine Stunde zu verlassen; es war ihr, als müsse sie zwischen den engen Mauern ersticken und als werde es ihr den Abschied erleichtern, wenn sie vorher zum erstenmal einen Blick in Wolfgangs Garten geworfen hätte. Er hatte ihr die Lage desselben so genau beschrieben, daß sie wohl hoffen durfte, ihn zu finden, und das Verlangen, sein kleines, grünes Reich kennen zu lernen, war so unbezwinglich, daß sie auch durch die ihr förmlich aufgezwungene Begleitung der kleinen Anna nicht an der Ausführung des Gedankens hindern ließ. Sie ging mit derselben erst zur Schneiderin (in dem Gang zu ihr hatte sie den gesuchten Vorwand gefunden), schützte aber dann Kopfschmerzen vor, die sich vielleicht verlören, wenn sie noch eine Strecke Wegs ginge, und schlug, durch ihre Begleiterin kaum noch gestört, die Richtung nach Wolfgangs Garten ein. Derselbe ward auf der einen, nicht von dem alten Kanal umschlossenen Seite von der Straße begrenzt; ein Einblick war aber nur an der Thür möglich, da dichtbelaubtes Gesträuch den Zaun entlang eine grüne Wand bildete. Marthas Hoffnung, ein paar Minuten lang das Bild dieses Tuskulums ihrer Seele einprägen zu können, ward vereitelt; sie zuckte unwillkürlich zusammen, als sie sah, daß einem Schwarm von Kindern, die vor der Thür standen, von innen halbverblühte Rosen zugeworfen wurden. Nur die Befürchtung, Anna aufmerksam zu machen, hielt sie ab, dem Impuls einer mädchenhaften Scheu nachzugeben und umzukehren; sie nahm all ihre Kraft zusammen und ging den Zaun entlang, und die Dämmerung verbarg die Röte, die ihr in die Wangen stieg, als sie an einer Stelle, wo das Gebüsch weniger dicht war, mit verstohlenem Seitenblick Wolfgang gewahrte, der mit der Rosenschere die hochstämmigen Remontanten von den Blumen säuberte, die zu verblühen und zu verwelken begannen, und die abgeschnittenen in ein Körbchen sammelte, um sie dann den Kindern zuzuwerfen. Anna hatte noch mehr gesehen; der lange Alfred und sein dicker „Bruder“ kamen vom Kanal her mit gefüllten Gießkannen, und um von ihnen nicht bemerkt zu werden, beschleunigte sie ihre Schritte fast noch mehr als Martha. Als sie außer Gesichtsweite waren, verlangsamten sie ihren Gang und bald sahen sie sich von den Kindern eingeholt, die mit ihren Rosen heimzogen und eifrig darüber stritten, wer von ihnen die schönsten habe. Ein kleines Mädchen hatte ihr Schürzchen ganz voll Blumen und ausgefallenen Blumenblättern; Martha blieb unwillkürlich bei ihr stehen und sagte freundlich:

„Was hast Du da für wunderschöne Rosen, mein Kind! Erlaubst Du, daß ich mir eine davon auswähle?“

Die Kleine hielt ihr das Schürzchen hin — auf eine Rose kam es ihr bei solchem Reichtum wahrlich nicht an. Martha hatte nicht zu lange zu suchen; überrascht wählte sie eine weder sehr große, noch sehr volle Rose, die aber mit ihrem tiefdunklen Purpur geradezu braun erschien und auf deren Blättern ein weicher Sammethauch lag. Sie hatte nie eine so dunkle, so ernste, fast geheimnisvolle Rose gesehen, und auch der feine Duft hatte etwas Eigentümliches, das sie von all ihren weißen, roten und gelben Schwestern unterschied. Sie drückte der Kleinen ein Geldstück in das magere Händchen und steckte die braune Rose an die Brust, und als sie daheim in ihrem Zimmer war, ruhte ihr Blick lange und nachdenklich auf der eigenartig-schönen Blume. Ihre Lippen zitterten, als sie leise zu sich selber sagte: „Wie ihr Purpur in Braun übergeht, so wird alle Liebesinnigkeit in mir zur Trauer.“ Und dann streifte ihr kleiner Finger über die von der Sonne versengten, des Sonntagshauchs beraubten und wie verbranntes Papier zusammengerollten Ränder der untersten Kelchblätter, und als sie wehmütig-lächelnd sagen wollte: „Und siehst du, braune Rose, wir fangen beide an, zu verblühen, und wie er dich weggeworfen hat, weil du nicht mehr tadellos frisch und schön bist und morgen vielleicht farblos und ohne Duft wärst, so wirft er auch mich weg und mich wird niemand aufheben, wie die Kinder und ich es mit dir gethan!“ — da schossen ihr die Thränen heiß in die Augen und ein schwerer Tropfen rollte über ihre Wange und fiel auf die braune Rose. Dann aber, wie sich besinnend und der Schwäche sich schämend, sagte sie leise: „Armes, thörichtes Herz, willst du denn nie zur Ruhe kommen und ewig nach den Sternen greifen?“ Aber sie nahm doch ein kleines Couvert aus der Schreibmappe, schob die Rose sorgsam hinein und legte es dann in ihren Lenau. „Dem melancholischsten Dichter die melancholische Rose, — ich glaube, sie hätte ihn zu einem gedankenvollen Gedicht begeistert.“

Am nächsten Morgen aber schloß sie den Lenau mit der Rose in ihren Reisekoffer, und es war ihr, als nähme sie wenigstens einen Abschiedsgruß von Wolfgang mit in die Ferne, ein liebes Pfand der Versöhnung und ein Geschenk, das er ihr nicht verweigert haben würde, hätte sie ihn darum gebeten, — trotz alledem! —

Die Rückkehr der Damen hatte sich bis in den Herbst hinein verzögert. Die Verwandten Leontinens gingen von Pyrmont nach dem Rhein und Emmy setzte es durch, daß man sie auch dorthin begleite; sie fand es so verlockend, eine Weinlese mit durchzumachen, und Martha hatte ihr, wie sehr sie sich auch nach Hause sehnte, durch ihre Weigerung die Freude nicht verderben mögen. Sie hatte sich schweigend gefügt, aber es war ihr sehr schwer geworden und sie hatte überhaupt von der ganzen Reise wenig Genuß gehabt. Wie oft hatte sie in jungen Jahren von einer solchen Reise geträumt und geschwärmt, und jetzt, wo diese alten Träume ihre Erfüllung fanden, blieb ihr Gemüt kalt und leer, und ihr war, als sehe sie die wechselnden Landschaftsbilder durch graue, alles verschleiernde Gläser. Sie machte sich Vorwürfe über die Unempfindlichkeit und fragte sich dann wieder traurig, ob denn ihr Herz schon abzusterben beginne, leise lächeln. Hatte es doch nie in ihrem Leben so bang, so rastlos geschlagen. Sie hatte oft bitteres Heimweh nach M. und zählte die Tage bis zur Rückkehr; ungeduldig sehnte sie den endlich für die Abfahrt festgesetzten Tag herbei und zitterte vor einem neuen Verschiebungsbeschluß; als der Tag gekommen war, begrüßte sie ihn mit einem unsagbaren Gefühl der Erleichterung und der Beruhigung, und es lag wie ein Hauch von Heiterkeit über dem stillen, ernsten Gesicht, als sie in Köln von dem Hotel nach dem Bahnhof fuhren, Es ist immer ein freudiges Gefühl, mit dem man nach mehrmonatlicher Abwesenheit die Heimatberge und die Türme der Vaterstadt begrüßt, und selbst Emmy empfand dasselbe und gab ihm in ihrer kindlich lebhaften Weise Ausdruck; Martha hatte sich in die Kissen zurückgelehnt und legte die Rechte vors Gesicht, als blende sie die Abendsonne, — sie fühlte, daß ihr die Augen feucht wurden, und das sollte niemand sehen.

Herr Reischach war auf dem Perron, als sie ankamen; in überwallender Freude schloß er sein Töchterlein, das wie ein Heckenröschen blühte, in die Arme und versuchte, Frau v. Larisch, die seine etwas ungeschickte Galanterie stets mit gutem Humor ablehnte, ein Kompliment über ihr Aussehen zu machen. Sie hatte sich allerdings fast verjüngt, seit die von ihr gesuchte Begegnung in Pyrmont das von ihr gewünschte und ihrer Eitelkeit schmeichelnde Resultat ergeben hatte. Der junge Schriftsteller war, als er ihr unvorbereitet in der Brunnenallee begegnete, jäh bis in die Schläfen errötet und dann ebenso plötzlich bleich geworden; er war, als sie ihn später in Gesellschaft traf und ihn „mit holder Unbefangenheit“ freundlich ansprach, verlegen, einsilbig und verwirrt gewesen; als sie später einmal plötzlich zur Seite sah, hatte sie entdeckt, daß sein Blick mit einem nicht mißzuverstehenden Ausdruck auf ihren Zügen ruhte, und er hatte, wie auf einer unerlaubten Razzia ertappt, beschämt die Augen niedergeschlagen und sich abgewendet, um seine Befangenheit zu verbergen. Ab und zu war sie versucht gewesen, sich noch direktere Beweise dafür zu verschaffen, daß seine Schwäche für sie die alte sei, und sie hatte keinen Augenblick bezweifelt, daß dies sehr leicht sein würde: aber dann war ihr wieder Wolfgang eingefallen, sie hatte unwillkürlich Vergleiche angestellt und endlich mit einem achselzuckenden: „Es lohnt sich wirklich nicht!“ beschlossen, sich nicht weiter um den einstigen „Anbeter“ zu bekümmern.

Wir finden die Damen einige Tage nach ihrer Rückkehr im Salon und Emmy erzählt Frau Rektor Storck unermüdlich von ihrer Reise und hebt besonders die zahlreichen kleinen komischen Episoden hervor, die sich ihrer Erinnerung am tiefsten eingeprägt haben. Frau Leontine hatte den Herrn Rektor auf sich genommen; ohne irgendwie zu radikalen Ketzereien zu neigen, findet sie die Hyperloyalität des Rektors, seine abgöttische Bewunderung für den Fürsten Reichskanzler, seine teutonische Verachtung für alles Französische, sein hochtrabendes Prahlen mit des neuen Reiches Macht und Herrlichkeit sehr komisch, und das stark satirische Aederchen in ihr giebt ihr eine Reihe von feinen Bemerkungen ein, deren ironischer Nebensinn dem Herrn Rektor bei seiner ehrlichen Beschränktheit und seinem überstiegenen Dünkel vollständig entgeht.

Martha hört, mit einer feinen Handarbeit beschäftigt, schweigend zu; es scheint fast, als leihe sie diesem von Leontine mit soviel feiner Bosheit geführten Geplänkel, das für diese so amüsant ist und das sie vollkommen durchschaut, nur ein halbes Ohr und als sei die plumpe, ahnungslose Zuversicht, mit der der Rektor in jede ihm gelegte Falle tappt, für sie bereits etwas so Bekanntes, daß sie es langweilig finden darf.

Leontine fragte im verbindlichsten Tone und so, als interessiere es sie aufs lebhafteste, zu hören, welche Erfolge der allezeit streitbare Herr Rektor im Kulturkampfe errungen habe:

„Wie sind Sie in den letzten Monaten mit den Fortschritten Ihrer beredten Propaganda für den Reichskanzler und die Excellenzen Falk und Eulenburg zufrieden gewesen? Ist der Geist der Bevölkerung ein besserer geworden?“

„Ich darf wohl, ohne unbescheiden zu sein, sagen, daß ich nicht umsonst gewirkt und gekämpft habe. Würde ich nur einigermaßen unterstützt, so wäre der Sieg gewiß, aber ich stehe mit meiner schwachen Kraft, meinem ehrlichen guten Willen und mit meiner — ich darf wohl sagen heiligen — Begeisterung für Kaiser und Reich fast allein und finde überall nur Sympathien, aber keine werkthätige Förderung. Die Reichstreuen haben sich eben daran gewöhnt, zu glauben, daß ich alles vermag und mit allem allein fertig werde, und da legt sich denn die liebe Bequemlichkeit auf die faule Bärenhaut und denkt vertrauensvoll; Unser Storck wird das schon machen.“

„Ja, Herr Rektor,“ warf Leontine ein, „haben denn die Leute damit nicht eigentlich ganz recht und ist dieses blinde Vertrauen nicht ebenso ehrenvoll, als verdient? Es wird schwerlich noch ein Mann im Städtchen sein, dem die Gabe der Rede in nur annähernd gleichem Grade zur Verfügung steht, und dann sind Sie nun einmal die allzeit kampffreudige und schlagfertige Natur, deren Element der Streit der Geister ist.“

Der so arglistig gekitzelte Schulmonarch affektierte eine Bescheidenheit, die ihm sehr fremd war. Er erwiderte mit einem Tonfall, der an das behagliche Knurren eines Katers erinnerte, dem eine weiche Hand das Fell kraut:

„Sie sind zu gütig, gnädige Frau, und überschätzen meine Verdienste. Es ist ja wahr, ich bin, gottlob, nicht leicht müde zu machen und fechte den großen Kampf zur Not auch allein durch, aber man hat soviel Perfidie und Bosheit zu Boden zu schlagen, daß man sich doch zuweilen nach einem Bundesgenossen umsieht, der mit in die Bresche springt.“

Emmy, die das Gespräch halb verfolgt hatte, sagte arglos:

„Warum schließen Sie nicht ein Schutz- und Trutzbündnis mit Herrn Hammer? Das ist doch gewiß ein kenntnisreicher, gebildeter junger Mann, an dem Sie eine gute Hilfe hätten.“

Der Rektor sah sie betreten an; er wußte ersichtlich nicht, ob sie sich einen sehr unziemlichen und übermütigen Scherz mit ihm erlaubte oder ob dieser Vorschlag von einem arglosen und ahnungslosen Kinde gemacht wurde. Marthas Spannung auf die Antwort war größer als ihre Scheu, sich durch eine befremdliche Teilnahme zu verraten; sie ließ unwillkürlich die Arbeit sinken und heftete ihre dunklen Augen auf den Rektor, während Frau v. Larisch das Gespräch infolge dieser Wendung doppelt fesselnd zu finden schien. Des Rektors Gesicht verfinsterte sich und ein böses, kaltes Lächeln zeigte seine großen gelben Zähne. Er sagte spitz und empfindlich:

„Sie scheinen wenig über dieses Herrn wahres Wesen unterrichtet zu sein, gnädiges Fräulein. Gerade gegen ihn und sein lichtscheues Wühlen könnte ich Hilfe gebrauchen!“

Emmy war sichtlich betroffen; sie antwortete rasch:

„Würden Sie wohl die Güte haben, uns das zu erklären, Herr Rektor? Das lichtscheue Wühlen ist mir wirklich vollkommen unverständlich.“

„Zwei Worte genügen; dieser Herr Hammer, dem es, wie ich mit Bedauern sehe, gelungen ist, sich auch in so distinguierte Kreise einzuschleichen, ist ein Feind unseres ritterlichen Kaisers und seines großen Kanzlers, ein Feind der Religion, des Eigentums und der Familie.“

In Marthas Augen zuckte es flüchtig auf; Leontine lächelte mit überlegener Ironie, von Emmys Lippen kam das helle, fröhliche Lachen eines Kindes.

„Aber, Herr Rektor, Sie verlangen doch nicht etwa, daß ich all diese schrecklichen Anschuldigungen so ohne weiteres für erwiesen ansehen soll? Um ein paar kleine Details muß ich Sie schon bitten, denn die Männer sind ja immer geneigt, ihre politischen Gegner auch zugleich für ganz schlechte Kerle zu halten.“

„Sie sollen zehn Beweise für einen haben, gnädiges Fräulein. Vor ein paar Wochen wurde in unserer nächsten Nähe die Kaiserjagd abgehalten. Es war schon lange mein innigster Herzenswunsch gewesen, den greisen Heldenkaiser einmal in meinem Leben von Angesicht zu Angesicht zu sehen; ich trommle also meine Knabenkapelle zusammen, miete einen Omnibus und fahre nach dem Jagdschlosse, vor dem wir uns aufstellen. Seine Majestät kommen aus dem Walde, grüßen sehr leutselig die kleinen Musikanten, die „Heil dir im Siegerkranz“ anstimmen, und mich, und gehen ins Schloß, um sich umzuziehen. Bald darauf kommen Seine Majestät im Jagdanzug zurück und reden mich an. Ich wurde gefragt, woher wir kämen, wieviel Kinder die Stadtschule habe, ob ich gedient hätte, und Seine Majestät geruhten dann zu bemerken, daß ich ja meinen Orden an einem falschen Bande trüge; das war in der That der Fall — ich hatte das richtige kurz vorher bei einem Festzuge verloren. Ich bat um die Gnade, noch ein paar Stücke spielen lassen zu dürfen; Seine Majestät gingen dann ins Schloß und bald kam der Bescheid, daß wir uns zurückziehen möchten. Ich erzählte abends im Ratskeller von diesem schönsten Ereignis meines Lebens, und der Herr Hammer, der mit einigen Feuerwehrleuten an einem Nachbartisch saß, zuckte nicht bloß, als ich sagte, daß wir berauscht heimgefahren seien, da wir das Schönste erlebt hatten, spöttisch die Achseln, sondern hat sich auch, wie ich später vom Wirt hörte, der ganz entsetzt darüber war, dahin geäußert, daß ihm die Befriedigung dieser Neugierde noch nicht einmal einen Weg von hundert Schritten wert sei und daß ihm der Duc de Broglie und der Signor Gambetta menschlich immer noch mehr interessierten, als dieser alte Herr. Ist das nicht revoltierend, meine Damen?“

Er fuhr, als er diesen Trumpf ausgespielt hatte, nach einer kurzen Kunstpause noch lebhafter fort:

„Ganz im Einklang damit steht es, daß er, als bei dem Stiftungsfest des Turnvereins ein Hoch auf den Reichskanzler ausgebracht ward, sich weder erhob, noch mit anstieß, und das berührte um so peinlicher und fataler, als eine ganze Anzahl Leute von der Feuerwehr, die sich daran gewöhnt haben, immer auf ihn zu sehen und in allem nach ihm sich zu richten, in demonstrativster Weise das Gleiche thaten. Dieser üble und geradezu seelenmörderische Einfluß auf die armen, einfachen Menschen, denen er ihr Bestes und Heiligstes stiehlt, reicht hin, ihn gefährlich zu machen.“

Martha fiel dem Rektor ins Mort. „Ich glaube, Herr Rektor, die Leute wählen durchaus noch nicht das schlechteste Teil, wenn sie dem Einfluß Herrn Hammers sich überlassen. Dieser Einfluß wird sich jedenfalls nicht bloß in dieser, sondern in den verschiedensten Richtungen geltend machen, und selbst der von Ihnen angeführte politische Einfluß will mir durchaus nicht so seelenmörderisch erscheinen. Ich würde auch nicht stundenweit fahren, um den Kaiser zu sehen, und der Kanzler vollends —“

„Sie entschuldigen, mein Fräulein!“ unterbrach der Rektor, der anfing, zu fürchten, daß er eine politische Ketzerei zu hören bekommen werde, die sich beim besten Willen nicht vertuschen und beschönigen ließe. „Eine Dame hat selbstverständlich das Recht, in politischen Dingen anders zu fühlen, als ein Mann, und wenn sie voll holder Sinngkeit in ihrem engen weiblichen Kreise bleibt, statt Unteil an den großen Fragen der Nation und an ihren großen Männern zu nehmen, so kann sie niemand deshalb tadeln; ich bedaure sie höchstens darum, daß sie die hohe Flut patriotischer Begeisterung und nationalen Stolzes nicht mitempfinden kann, die in so großer, herrlicher Zeit des Mannes Brust durchwogt. Vom Manne aber darf und muß ich fordern, daß sein Auge flammt, wenn die großen Heldennamen genannt werden, und wenn er nicht mit uns verehren kann oder will, so trägt er ein Kainsmal an seiner Stirn.“

Martha antwortete nicht und bereute diesem Phrasenschwall gegenüber bereits, sich überhaupt eine Erwiderung haben entreißen zu lassen. Frau v. Larisch dagegen meinte mit einem unverkennbaren Anflug von Spott, der dem Rektor wiederum entging:

„Trügt der Bedauernswerte das unheimlich flammende Kainsmal bloß deshalb, weil er keine Lust hatte, eine kleine Reise zu machen, um den Kaiser zu sehen und weil er nicht auf des Kanzlers Wohl anstieß?“

„O nein, gnädige Frau, keineswegs bloß deshalb. In ganz ähnlicher Weise hat er, als es sich um die Beteiligung der Feuerwehr am Festzug der Sedanfeier handelte, es positiv abgelehnt, die Leute dazu zu kommandieren; er hat, wie wir ganz genau wissen, in einer vertraulichen Besprechung der Führer erklärt, daß es jedem freistehe, sich zu beteiligen, daß er für seine Person jedoch fehlen werde, und so hat er denn einfach nach einer Uebung den Leuten im gleichgültigsten Tone die Aufforderung des Komitees als eine Einladung mitgeteilt, der man Folge geben oder die man unbenützt lassen möge, wie es dem einzelnen eben beliebe. Natürlich sprach sich unter den Leuten bald herum, was er gegen die Chargierten geäußert hatte, und die Folge war, daß in unserem Festzuge am Sedantag die Feuerwehr durch ihre Abwesenheit glänzte. Das Häuflein, das sich eingefunden hatte, war so lächerlich klein, daß wir es wieder nach Hause schickten — sie hätten höchstens als eine Deputation figurieren können.“

Martha nickte, ohne ein Wort zu sagen, befriedigt in sich hinein; wie hübsch war es, daß die Leute sich so von ihm leiten ließen und ihm seine Wünsche von den Augen absahen! Aber konnte es denn auch anders sein, mußten sie für ihn nicht durch Feuer und Wasser gehen? — Frau v. Larisch dagegen, der Wolfgangs politische Meinungen außerordentlich gleichgültig waren und die nur etwas über ihn in Erfahrung bringen und den Rektor in Eifer sehen wollte, fragte, als nehme sie die Sache nachgerade doch ernst:

„Hoffentlich hat Ihr Sündenregister keine Fortsetzung?“

„O doch, gnädige Frau! Bei Gelegenheit der großen Herbstmanöver nahm unser ritterlicher Kronprinz für eine Nacht hier Quartier und die Stadt bereitete ihm einen herzlichen und feierlichen Empfang. Schade, daß Sie nicht hier sein konnten — es war ergreifend, überwältigend, einzig. Die Feuerwehr wurde ersucht, mit den Kriegern, Sängern u. s. w. Chaine zu stehen, lehnte aber, sehr höflich und verbindlich natürlich, durch ihren Hauptmann ab, und ihr Fehlen ist sogar Seiner kaiserlichen Hoheit aufgefallen, und der Herr Bürgermeister mußte wohl oder übel zu einer Notlüge greifen.“

Selbst dieser erschwerende Umstand erzielte jedoch noch lange nicht die gewünschte Wirkung. Frau v. Larisch warf nur hin:

„Lieber Gott, das ist aber immer noch kein Majestätsverbrechen. Ich denke mir das Chainestehen und Hurraschreien nicht viel interessanter als das Sträußchenwerfen, und das überlasse ich anderen.“

Auch Emmy, die inzwischen der Frau Rektorin in übermütiger Laune allerlei übertriebene Schilderungen entworfen und eine gläubige, kritiklose Zuhörerin gefunden hatte, und die dem Gespräch der anderen nur halb gefolgt war, wendete sich an den patriotischen Schulmonarchen und sagte lebhaft:

„Ach, gehen Sie mir mit Ihrer häßlichen, langweiligen Politik, Herr Rektor. Wenn Sie weiter nichts gegen Herrn Hammer sagen können, fällt es mir gar nicht ein, mich vor ihm zu fürchten und ihn für einen lichtscheuen Wühler zu halten. Er hat wirklich nichts, aber auch gar nichts von einem Maulwurf!“

„Sie sind um Ihre glückliche, kindliche Harmlosigkeit zu beneiden, gnädiges Fräulein!“ seufzte der Rektor. „Ach, man lernt, je älter man wird, nur immer mehr erkennen, daß oft gerade die Offenheit und Freimütigkeit die Maske sein muß für die verborgensten und verworfensten Pläne. Und dieser Herr Hammer ist mir ein neuer Beleg dafür, denn sein Vorgehen im Bildungsverein läßt mich vermuten, daß diese ganze aufdringliche Thätigkeit nur Mittel zum Zweck, nur ein anscheinend sehr harmloses Mittel für einen schlimmen Zweck ist.“

Martha hob den Kopf, und ihre an sich so sanfte Stimme klang beinahe ein wenig scharf, als sie sagte:

„Darf ich Sie um eine Erklärung des Wortes aufdringlich ersuchen? Ich möchte dasselbe fast für eine kleine Uebereilung halten.“

„Ich bedaure, diese Bezeichnung durchaus nicht zurücknehmen oder auch nur mildern zu können. Ich hatte im Bildungsverein eine äußerst eifrige und unermüdliche, beinahe aufreibende, aber auch wahrhaft fruchtbringende Thätigkeit entfaltet; da drängte sich Herr Hammer als Gast ein, übte an einem Vortrage, den ich gehalten, eine anmaßende und von totalem Mangel an wissenschaftlicher Durchbildung zeugende Kritik und insultierte mich unter dem Beifall einiger roher Gesellen in so hochfahrender Weise, daß mir nichts übrig blieb, als ihm eine exemplarische Züchtigung angedeihen zu lassen und dann dem Verein für immer den Rücken zu kehren oder wenigstens für solange, als dieser Herr dort seine destruktiven Tendenzen verfolgt.“

„Ich muß Ihnen gestehen, Herr Rektor, daß ich Ihrer Schilderung des Hergangs doch keinen vollen Glauben zu schenken vermag; ich bin zufällig in der Lage, Ihre Angaben durch die eines Mannes kontrollieren zu können, dessen Glaubwürdigkeit der Ihrigen die Waage hält, und ich gestehe Ihnen weiter, daß mir die innere Wahrscheinlichkeit eher für den Bericht meines Gewährsmannes, als für den Ihrigen zu sprechen scheint. Ich bedaure, diese Zwischenbemerkung machen zu müssen, aber es widerstreitet meinem Gefühl, einen Abwesenden nicht in Schutz zu nehmen, wenn Dinge über ihn erzählt werden, die ich für ungenau halte. Ich möchte beinahe vermuten, daß auch die übrigen von Ihnen angeführten Thatsachen mit einer gewissen Vorsicht aufzunehmen sind und daß persönliche Gegnerschaft Ihren Mitteilungen eine Färbung verliehen hat, die man wohl grell nennen darf.“

Martha hatte das gesagt, ohne die Stimme zu erheben, anscheinend ohne jede leidenschaftliche Aufwallung, und dennoch vibrierten ihre feinen Nasenflügel und sie hatte die Lippe geringschätzig, wo nicht verächtlich aufgeworfen. Welche Rücksicht hatte sie noch auf einen Mann zu nehmen, dessen Worte sie empörten, der Wolfgangs Feind, und zwar ein lügnerischer, verleumderischer, feiger Feind war?

Frau v. Larisch, die der Kontroverse mit gespanntem Interesse folgte, hielt es für angezeigt, zu intervenieren, damit das Gespräch, auf mildere Formen zurückgeführt, weitergesponnen werden konnte. Sie sagte:

„Es frappiert mich einigermaßen, daß Martha so entschieden widerspricht, und ich bin geneigt, anzunehmen, daß sie im Rechte ist. Ich will Ihnen gewiß nicht zu nahe treten, Herr Rektor, ich fürchte aber beinahe auch, daß eine — natürlich vollauf berechtigte politische Gegnerschaft Ihnen dabei einen kleinen Streich gespielt hat. Wenn eine Frau, die sich der vollsten Unparteilichkeit rühmen darf, dagegen reagiert, so dürfen Sie ihr das nicht übelnehmen.“

Der Rektor hielt es für angezeigt, die ihm auf den Lippen schwebende ironische Frage nach dem Namen des Gewährsmanns, auf den Martha sich berief und der ihr so viel Vertrauen einflößte, zu unterdrücken; er glaubte diesen Gewährsmann sehr genau zu kennen. Es schien ihm überdies, als habe er ein unfehlbares Mittel in den Händen, Martha ihre Parteilichkeit für Wolfgang bereuen zu lassen, und er erwiderte also, mit einem Lächeln, das er für sarkastisch hielt, das aber nur impertinent war:

„Ich bin weit davon entfernt, gnädige Frau, zu vergessen, daß meine Gegnerin eine Dame ist, und Damen pflegen bei Würdigung eines Mannes von Gesichtspunkten auszugehen, die für uns irrelevant sind, und Erwägungen Gehör zu geben, die wir nicht zu Rate ziehen. Ich erlaube mir nur, an Fräulein Hoyer die Frage zu richten, ob sie auch damit einverstanden ist, daß Herr Hammer und ein ihm befreundeter Chemiker im Bildungsverein ganz offen und unverblümt den Materialismus und Atheismus predigen und bemüht sind, in diesen armen Menschen den Glauben ihrer Väter zu zerstören und zu verflüchtigen?“

„Lassen Sie meine Antwort eine indirekte sein. Ich würde etwas darum geben, diese Vorträge mit anhören und mir so die Antwort auf mancherlei Fragen holen zu können, die in mir aufgetaucht sind und die mich zuweilen förmlich gequält haben. Und wie kommt es, daß Sie plötzlich so besorgt um das Seelenheil jener Leute sind? Wenn ich mich recht erinnere, habe ich öfters Gelegenheit gehabt, aus Ihrem Munde recht freigeistige Aeußerungen zu hören, Aeußerungen, die gerade nicht nach positiver Religion und orthodoxem Luthertum klangen. Ist bei Ihnen eine Bekehrung eingetreten, Herr Rektor?“

„Gewiß nicht, ich stehe dem Protestantenverein ziemlich nahe und würde kaum zaudern, mich ihm anzuschließen, legte nicht die altehrwürdige Frömmigkeit unseres kaiserlichen Herrn jedem Patrioten eine gewisse Reserve auf. Uebrigens haben meine persönlichen Ansichten mit der Frage so gut wie nichts zu thun. Der gebildete Teil der Nation mag ja mit heimlichem Lächeln und einem Achselzucken auf den groben Köhlerglauben der Masse herabblicken, aber er soll sich hüten, sich öffentlich zu seiner freieren Auffassung zu bekennen, und es ist offenbarer Frevel, wenn er im Volke die religiösen Stützen untergräbt, wenn er es unternimmt, die Aufklärung, die sein Vorrecht ist, in die Tiefe zu tragen. Wissen Sie nicht, was unser unsterblicher Schiller gesagt hat:

Weh' denen, die den Ewigblinden
Des Lichtes Himmelsfackel leih'n!
Sie leuchtet nicht, sie kann nur zünden,
Und äschert Städt' und Länder ein.

Martha sah den Eifernden mit einem Blicke an, der ihm hätte verraten können, daß er die Achtung dieses Mädchens nicht mehr besaß, wenn er sie je besessen. „Ich kenne Ihre Theorie der Aufklärung für die Spitzen, der Unwissenheit und des Aberglaubens für die Basis des Volks; sie ist weder neu noch originell; sie zu widerlegen, kann ich mich nicht entschließen, so zuwider ist sie mir. Ich habe meinen Schiller übrigens auch gelesen und entsinne mich einer Stelle, die wohl auch hierher paßt:

Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht,
Vor dem freien Manne erzittre nicht.

„Aber, Fräulein, woher haben Sie diesen unpraktischen Radikalismus? Uebersehen Sie denn in Ihrer romantischen Schwärmerei ganz, daß man das Volk der Sozialdemokratie in die Arme treibt, wenn man ihm seinen Glauben nimmt; daß die Masse, wenn sie nicht mehr auf die ausgleichende und rächende Gerechtigkeit in einem irdisch gedachten Jenseits hoffen kann, notwendig auf den Einfall kommt, sich lediglich mit den Zuständen hienieden zu beschäftigen? Das Volk muß etwas haben, woran es sich halten kann, und wir stürzen uns in die heillosesten und schrecklichsten Verwirrungen, wenn wir es nicht in dem kindlich-poetischen Bibelglauben zu erhalten suchen — seinem besten und schönsten Trost. Die Bildung und Aufklärung in ihren höchsten und reinsten Formen kann nie Gemeingut werden, kann nie allen zu teil werden. Von der religiösen Ungläubigkeit zur Sozialdemokratie ist nur ein Schritt, und dieser Schritt ist hier leider bereits gethan worden. Herr Hammer ist natürlich zu klug, die Politik und die sozialen Fragen im Verein zu behandeln, er beschränkt sich auf Geschichte, Litteratur und Naturwissenschaft, aber es hat sich neben dem Bildungsverein bereits ein sozialdemokratischer Arbeiterverein gebildet, und ich habe die moralische Ueberzeugung, daß Herr Hammer insgeheim den ersten Anlaß zu dieser verderblichen Gründung gegeben hat, daß er gewissermaßen der Taufpate des jungen Vereins war und ihn unter der Hand mit Rat und That unterstützt.“

Diesem Teil der Eröffnungen des Rektors gelang es, Frau v. Larisch sowohl, als die muntere Emmy nachdenklich und schwankend zu machen, und die erstere begnügte sich mit einem beinahe ein wenig kleinlauten:

„Es dürfte doch voreilig sein, sich bei einer so schweren Anschuldigung auf nichts zu stützen, als auf die eigene moralische Ueberzeugung und vielleicht, wenn's hoch kommt, auf einige vage Indizien.“

Zu einer wesentlich verschiedenen Auffassung bekannte sich Martha, mit einer ruhigen Sicherheit, mit einer furchtlosen Entschiedenheit, die niemand von dem stillen, schüchternen, allezeit nachgiebigen und fügsamen Mädchen erwartet hatte.

„Und wenn nun Herr Hammer wirklich in näheren oder entfernteren Beziehungen zu jener Partei stünde, wenn er ihr mit ganzer Seele angehörte — was folgte daraus? Für mich nicht, daß ich fernerhin meine Ansichten über Herrn Hammer, sondern daß ich meine Ansichten über seine Partei zu ändern hätte. Ich würde nicht Herrn Hammer meine Achtung und Teilnahme entziehen, weil er zur Sozialdemokratie gehört, sondern ich würde die Sozialdemokratie achten und ihre Entwicklung mit Teilnahme verfolgen, weil Herr Hammer sich ihr angeschlossen hat. Ich habe kein Urteil über die Partei, die ich bisher nur von ihren Feinden, und immer nur oberflächlich schildern hörte, wenn aber ein Mann von dem Charakter, dem Wissen, der Erfahrung und den Gemütseigenschaften Herrn Hammers Sozialdemokrat ist, so kann die Sozialdemokratie unmöglich das sein, als was ich sie schildern hörte.“

Fräulein Emmy sagte lebhaft: „Du hast gewiß recht, Martha; wenn ich jetzt Papas Ansichten habe, so werde ich ebenso gewiß späterhin die Ansichten meines Mannes zu den meinigen machen; ich glaube, das ist die Pflicht einer Frau und das ist selbstverständlich. Nicht wahr, Frau Rektor?“

Es fiel niemandem ein, die Konsequenzen zu ziehen, welche diese Parallele der Kleinen so nahe legte; der Rektor aber erwiderte mit seinem vollen Selbstbewußtsein und mit viel Aplomb:

„Das ist allerdings streng weiblich gedacht, meine Damen. Denken gnädige Frau ebenso?“

Leontine zauderte einen Moment, dann entgegnete sie: „Ich weiß nicht so recht, es ist aber möglich, wahrscheinlich sogar, daß ich mich ebenfalls den Ansichten meines Gatten accomodieren würde, wie dies ja auch die Frau Rektor vorhin durch ihr Kopfnicken bejahte.“

Der Rektor hatte seinen letzten Trumpf noch nicht ausgespielt. Er hob wieder an:

„Fräulein Hoyer wird sich vielleicht in der Praxis von ihrer Theorie lossagen, wenn sie erfahren hat, daß jeder Fortschritt jener — in meinen Augen — verdammenswerten Partei eine direkte Schädigung ihrer Interessen ist.“

Martha schüttelte energisch den Kopf. „Wohl kaum, Herr Rektor. Muß man der Wahrheit entgegen sein, sobald sie uns Schaden bringt? Das ist nicht sehr männlich gedacht.“

„Sie erinnern sich zweifelsohne noch des Krawalls in diesem Frühjahr, bei dem Herr Hammer eine noch nicht vollständig aufgeklärte Rolle spielte — eine sehr zweifelhafte, sehr bedenkliche Rolle sogar!?“

„Ich muß Ihnen nochmals widersprechen, Herr Rektor. Für mich ist diese Rolle eine vollständig aufgeklärte. Ein Zufall hat mir vor einigen Wochen die Kenntnis aller Nebenumstände verschafft und ich glaube, auch Sie würden nicht umhin können, wären Sie in die geheime Geschichte dieses Vormittags eingeweiht wie ich, das Benehmen des Herrn Hammer bei dieser Gelegenheit über jeden Tadel und über jeden Verdacht erhaben, wenn nicht geradezu bewunderungswürdig zu finden.“

Sie hatte das „bewunderungswürdig“ so betont, daß selbst der Rektor stutzig ward.

„Ich wäre begierig, diese gewiß höchst interessanten Nebenumstände kennen zu lernen, indessen kann ja dieser Punkt immerhin in der Schwebe gelassen werden. Vermutlich steht Ihnen aber für ein anderes Vorkommnis, das in die Zeit Ihrer Abwesenheit fällt, keine derartige intimere Kenntnis zur Seite. Oder hat Ihnen der Herr Kommerzienrat von dem Streik erzählt, der vor etwa sechs Wochen ganz unvorhergesehen in der Fabrik zum Ausbruch kam?“

Es gehörte nicht zu den Gewohnheiten des Kommerzienrats, seine Damen mit geschäftlichen Vorkommnissen zu unterhalten: die Thatsache war ihnen vollständig neu. Der Rektor erzählte denn, mit schlecht verhehlter Schadenfreude jedes Wort zu einem Pfeil für Martha zuspitzend:

„Denken Sie sich also, die Arbeiter, die seit dem Krawall eine fast unheimliche Ruhe beobachtet hatten, traten plötzlich mit der Forderung einer Lohnerhöhung hervor und beriefen sich darauf, daß in allen Fabriken des Distrikts die Löhne in der letzten Zeit erhöht worden seien, nur bei ihnen nicht.“

„Und war dem in Wirklichkeit so?“ warf Martha dazwischen.

„Ich bin darüber nicht genau informiert, ich denke aber, es war so; doch —

„Kein „doch,“ Herr Rektor! Schlimm genug übrigens, wenn dann die Leute erst haben fordern müssen.“

„Aber, Fräulein Hoyer, man wird ihnen doch nicht freiwillig mehr geben! Das kann doch nur Ihr Scherz sein? In Wirklichkeit hat der Herr Kommerzienrat die verlangte Lohnerhöhung verweigert, um nicht durch Nachgiebigkeit zu Wiederholungen aufzumuntern, und so kam der Streik zum Ausbruch. Herr Reischach konnte es auf einen längeren Ausstand nicht ankommen lassen, auf ein paar Tage kam es jedoch nicht an, und wenn dann nur etwa der dritte Teil der Leute mutlos ward und zurückkam, konnte er die Lücken durch von anderen Orten herbeigezogene Kräfte notdürftig ausfüllen, seine Lieferungskontrakte innehalten und es ruhig abwarten, bis die Not die Streikenden mürbe und windelweich gemacht hatte. In der That kamen schon nach ein paar Tagen einzeln und in Trupps ältere, verheiratete Leute und meldeten sich zur Wiederaufnahme der Arbeit, und der Plan des Herrn Kommerzienrats würde vollständig geglückt sein, wenn nicht plötzlich die bittend und demütig Wiedergekommenen die Arbeit nochmals eingestellt hätten und zwar Mann für Mann. Alle Vorstellungen und Versprechungen des Herrn Kommerzienrats waren vergebens, er predigte tauben Ohren, und aus mancherlei Andeutungen ging hervor, daß die Arbeiter wußten, in welcher Notlage er sich befand und daß er bei einer Fortdauer des Streiks in einer Woche mehr verloren hätte, als die Lohnerhöhung in einem Monat austrug. Die Arbeiter, mit denen er verhandelte, zuckten zu allen seinen Versicherungen mit ungläubigem, spöttischen Lächeln die Achseln, und es ist kaum ein Zweifel, daß ihnen von einem Eingeweihten, dessen Versicherung ihnen eine hinreichende Bürgschaft war, verraten worden ist, in welcher Lage sich der Herr Kommerzienrat befand und daß ihm gar nichts weiter übrig blieb, als nachzugeben. Wer diesen schimpflichen Verrat begangen hat, darüber kann man zur Zeit nur Vermutungen haben, aber diese Vermutungen stützen sich auf so mancherlei Indizien, und es ist bereits eine Fährte aufgefunden, die uns das schlaue, scheue Wild schließlich doch ins Garn liefern wird. Mit etwas Zähigkeit und Geduld kommt man immer ans Ziel und braucht noch nicht einmal auf glückliche Zufälle zu hoffen. Ich kann Ihnen nur soviel sagen, daß Herr Weinlich und ich ein und dieselbe Vermutung hegen, und Herr Weinlich ist ein feiner Menschenkenner und hat Gelegenheit, Tag für Tag Beobachtungen anzustellen. und zwar auch außerhalb des Comptoirs und außerhalb der Stadt.“

„Womit Sie jedenfalls andeuten wollen, daß das scheue, schlaue Wild Herr Hammer ist und daß sich Spione finden, die ihm nachschleichen, um zu ermitteln, ob er mit jemandem von den Arbeitern einen geheimen Verkehr unterhält, Spione, die sich ihres — eigentümlichen Handwerks nicht einmal schämen? In der That, Herr Rektor, ich muß Ihnen zu lebhaftem Danke verbunden sein für die hohe Meinung, die Sie von mir hegen, indem Sie glauben, daß auch ich diesem Komplott Gelingen wünsche. Wodurch habe ich Ihnen je Veranlassung gegeben, mich so — hoch zu stellen und zu wähnen, daß ich solche Intriguen billigen könnte, mögen sie nun gerichtet sein gegen wen sie wollen?“

Diesmal geriet selbst der Rektor in Verwirrung, er fühlte, wie ihm eine brennende Röte in die Wangen stieg, und er erkannte, daß er sich zu weit hatte fortreißen lassen und seine Karten unvorsichtigerweise offengelegt hatte. Er stotterte in arger Verlegenheit:

„Sie nehmen die Sache entschieden zu tragisch, Fräulein Hoyer, so böse, als sie glauben, ist es ja gar nicht gemeint. Und dann dachte ich, Sie würden nicht so ganz gleichgültig gegen eine Unterstützung der Prätensionen der Arbeiter sein und berücksichtigen, daß jede Lohnerhöhung den Geschäftsertrag, an dem Sie ja Ihren Anteil haben, erheblich schmälern muß.“

„Ich muß Ihnen dafür dankbar sein, daß Sie mir Gelegenheit geben, mich gegen die Annahme zu verwahren, als sei ich zugänglich für solche Erwägungen. Ich habe ja keinen Einfluß auf die Leitung des Geschäfts, würde ich jedoch in solchen Fällen befragt, so können Sie sicher sein, daß ich stets und principiell für die Bewilligung von Lohnerhöhungen sein würde; es ist hart und beschämend genug für mich, daß ich erst durch solche Vorkommnisse zum Nachdenken über diese Dinge komme.“

Frau v. Larisch, die gleich Emmy alle Phasen des eigentümlichen Duells mit Spannung verfolgt hatte (Frau Storck, die ihren Gatten blind bewunderte und es gar nicht fassen konnte, daß jemand — und obendrein eine Dame — den Mut hatte, ihm zu widersprechen, hatte in sprachlosem Staunen dagesessen und sich den Angstschweiß von der Stirn getrocknet, da sie, privaten Erfahrungen zufolge, jeden Augenblick einen Ausbruch rücksichtslosen Zorns von ihrem Eheherrn erwarten mußte), brachte das Gespräch durch eine Frage an den Rektor mit der Gewandtheit der Weltdame auf einen anderen, minder gefährlichen Gegenstand, und der Rektor war ihr dankbar dafür, denn er war mit seinem Latein zu Ende. Eine gewisse peinliche Verstimmung war aber doch nicht zu beseitigen, das Gespräch schleppte sich nur mühsam weiter und man empfand es allfertig als eine Erleichterung, als der eitle Schulmonarch sich erhob und zum Aufbruch rüstete. Er hielt es für geraten, Martha, die ihm in unverkennbar ablehnender Haltung gegenüberstand, wenn möglich zu begütigen, und so sagte er denn in fast schmeichelndem Tone:

„Ich hoffe, Fräulein Hoyer, die kleine Meinungsverschiedenheit, die heute zu meinem innigsten Leidwesen zwischen uns zu Tage getreten ist, wird nicht im stande sein, mir Ihr Wohlwollen zu entziehen; ich würde dies unaussprechlich bedauern und hoffe auf eure nachsichtige Beurteilung meiner Kühnheit, die vielleicht zu weit ging; hätte ich ahnen können, daß der Gegenstand unseres Gesprächs das Glück hat, von Ihnen so wohlwollend beurteilt zu werden, so würde ich selbstverständlich unterlassen haben, meine vielleicht sehr irrigen Vermutungen über denselben so unverhohlen zu äußern.“

„Es bedarf der Entschuldigung nicht, Herr Rektor; Sie haben mir, wenn auch unabsichtlich, einen namhaften Dienst geleistet, indem Sie mir Aufschluß über Verhältnisse gaben, die mich interessieren, die man aber beharrlich der Kenntnis der Frauen entzieht.“

Uebrigens hatte der Rektor, der sich auf dem Heimweg ziemlich heftige Vorwürfe über sein Ungeschick machte, niemanden durch seine Abbitte und den demütigen Ton derselben getäuscht. Die Damen hatten sämtlich das Gefühl, daß dieses hart an einen Wortwechsel streifende Gespräch, dem unverkennbaren Haß des hochmütigen Pädagogen nur neue Nahrung zugeführt habe, und daß Wolfgang die Folgen bald genug empfinden werde. Es hatte etwas wie Tücke und Bosheit in den Augen des sich aus sehr materiellen Rücksichten Demütigenden gefunkelt, und für dergleichen Symptome ist das Auge einer Frau, namentlich dann, wenn ihre Sympathien und Antipathien ins Spiel kommen, wunderbar hellsichtig. Leontine sowohl als Emmy, wie wenig die letztere auch im Grunde von dem ganzen Streit begriffen hatte, hatten ganz insgeheim denselben Gedanken: „Er muß gewarnt werden, damit er sich durch Vorsicht schützen kann; der Rektor und Weinlich dürfen ihr Spiel nicht gewinnen. Aber wie? Marthas Entschiedenheit hatte ihnen imponiert und sie mit einer gewissen Bewunderung erfüllt, gerade weil sie eines solchen offenen Frontmachens unfähig gewesen wären, aber würde Martha denselben klugen und praktischen Gedanken haben? Er kam ihr allerdings, aber nur, um mit einem stolzen Lächeln zurückgewiesen zu werden. Ihre Bewunderung Wolfgangs war eine viel zu tiefe und echte, als daß sie sich mit der Idee, ihn zu warnen, vertragen hätte. Er stand ihr viel zu hoch, als daß sie hätte fürchten können, jenes edle Paar werde etwas gegen ihn ausrichten. Sie mochten ihr Schlimmstes, ihr Aeußerstes thun, — war er ihnen nicht zehnfach überlegen, würde er nicht alle ihre Netze wie Spinnengewebe zerreißen, alle ihre Pläne durchkreuzen, auch ohne ihre Hilfe, auch ohne ihre Warnung? Er war keiner von den Männern, die eines so kleinlichen Beistandes von Frauenhand bedürfen, und sie zagte im voraus vor dem erstaunten, halb stolzen, halb mitleidigen Blick, mit dem er ihr sagen würde: „Ich danke Ihnen, Sie haben es gut gemeint, aber die Warnung ist überflüssig. Glauben Sie, daß ich diese Intriguen nicht durchschaue und daß ich mit diesen Gegnern nicht ganz allein fertig werde?“ Und das war noch der günstigste Fall. Konnte er nicht in der Warnung, die sie ihm zukommen ließ, einen unzarten Annäherungsversuch sehen, der sie in seiner Achtung herabsetzte? Stand es doch ohnedies schon wie ein dunkles, banges Geheimnis zwischen ihnen, sollte sie nun auch noch mit eigener Hand den letzten Pfad verschütten und unwegsam machen, der ihn ihr vielleicht doch wieder zuführte? Sie vermochte den Gedanken nicht zu ertragen, nein, sie durfte ihn nicht warnen wollen.

Es war eine seltsame Aufregung, die für den Rest des Abends die doppelt schweigsam Gewordene beherrschte. Was war nur über sie gekommen, was war in ihrem Innern vorgegangen, daß sie unter Verleugnung ihres eigensten Wesens für eine Stunde aus der zarten Schäferin Johanna zur geharnischten Jungfrau wurde, daß sie streiten gelernt und scharfe, ja bittere Accente gefunden hatte? Sie begriff sich selber nicht, und so wenig war sie daran gewöhnt, eine andere, als eine passive Energie zu entwickeln, daß die ungekannte Anstrengung und Erregung noch lange in ihr nachzitterte. Sie fühlte sich, als der unausbleibliche Rückschlag kam, der jeder starken Anspannung unserer Geisteskräfte zu folgen pflegt, ermattet und erschöpft, und es beschlich sie eine eigene Art von Traurigkeit, aber selbst diese Ermattung hatte etwas Süßes und Hand in Hand mit der Traurigkeit ging ein Gefühl von Glück, Stolz und Zufriedensein mit sich selbst, das sie um keinen Preis hätte hingeben mögen. Es war so unwahrscheinlich, daß Wolfgang je erfuhr, wie tapfer sie für ihn eingetreten war und aus ihrem Munde erfuhr er es gewiß nie, aber was kam darauf an? War es nicht genug, daß er, wäre er ungesehener Zeuge der Scene gewesen, ihr freundlich zugenickt und einen Blick voll ermunternder Zustimmung für sie gehabt hätte? Ihre Natur schrak vor Streit und Widerspruch zurück, das aber wußte sie, daß sie, wenn sie Wolfgang wiederum verunglimpfen hören sollte, keinen Moment zaudern würde, ganz ebenso für ihn einzutreten, gegen die ganze Welt, wenn es sein mußte. Nur das fragte sie sich noch, ob sie auch alles gethan habe, was sie Wolfgang schuldig war, ob sie den Rektor, den sie jetzt geradezu hassen zu können glaubte, auch nach Verdienst zurechtgewiesen habe. Und lange, lange noch lag sie in der Nacht, die diesem aufregenden Abend folgte, schlummerlos in den Kissen und legte die Hand vor die brennende Stirn und sann und sann.

Zwei Tage später fand Wolfgang, als er abends heim kam, am Spiegel ein kleines, zierliches, parfümiertes Briefchen mit ausgezackter Schlußklappe. „Stadtpoststempel? eine völlig unbekannte Handschrift? kein Siegel? kein Monogramm?“ Er öffnete das Couvert, trat, die Cigarre zwischen den Zähnen, ans Fenster, da es schon merklich dämmerte, und las mit steigender Verwunderung und wiederholtem Kopfschütteln die folgenden rätselhaften Zeilen:

Mein Herr!

Eine Dame, die Ihnen wohl will und der kein anderer Weg offen steht, um Ihnen einen Wink zu geben, der wohl von Wichtigkeit für Sie sein dürfte, entschließt sich, wenn auch ungern, dazu, sich brieflich an Sie zu wenden und hält sich für dazu verpflichtet, in Erinnerung an eine ihr von Ihnen erwiesene zarte Aufmerksamkeit, die ihr eine lebhafte Freude bereitet hat, ohne daß sie im stande gewesen wäre, Ihnen ihren Dank abzustatten.

Es droht Ihnen Ihrer politischen Thätigkeit wegen und weil man einen geheimen Verkehr zwischen Ihnen und den Arbeitern vermutet, Gefahr von seiten zweier Männer, die Ihre Gänge überwachen und sich aufs Spionieren gelegt haben. Es wird Ihnen von Interesse sein, das zu wissen. Ich erlaube mir nicht, Ihnen einen Rat geben zu wollen, aber ich bitte Sie, auf Ihrer Hut zu sein, und Sie werden diese Bitte nicht mißverstehen und ihr keine willkürliche Deutung geben.

Wenn Ihre Vermutungen über die Schreiberin dieser Zeilen, was ja möglich wäre, das Richtige träfen, so geben Sie derselben Ihren Dank dadurch zu erkennen, daß Sie ihr durch keine Andeutung und keinen Wink eine Verlegenheit bereiten, sondern diese Zeilen absolut ignorieren.

I. S. D. N.

P. S. Die beiden Ihnen feindlich gesinnten Herren sind Rektor Storck und Weinlich. Wenn Sie im Sinne der Absenderin handeln wollen, so übergeben Sie diese Zeilen den Flammen; ich bin zu dieser Bitte genötigt, obwohl ich Ihnen für das mir gewidmete Andenken gern ebenfalls ein schriftliches Erinnerungszeichen gewährte.“

Wolfgang zündete eine Kerze an und hielt das Blatt in die Flamme, bis das starke, mit Goldschnitt versehene Blatt langsam zu einem verkrausten schwarzen Aschenblatt verbrannt war; er legte dasselbe auf die flache Hand, öffnete das Fenster und blies es hinaus in die blaue Abendluft, die es spielend entführte. Der Brief gab ihm Rätsel auf. Die Anspielungen auf mutmaßlich sehr zarte und keine rauhe Berührung vertragende Beziehungen zwischen ihm und der Schreiberin waren ihm vollkommen unverständlich, und er vermochte trotz alles Nachdenkens keinen Sinn in diese geheimnisvollen Andeutungen zu bringen. Er würde un-bedenklich ein Mißverständnis angenommen haben, hätte nicht das Thatsächliche der Warnung jeden solchen Gedanken ausgeschlossen. Davon, daß ihm der Rektor und der alte Weinlich aufs bitterste grollten, brauchte man ihn nicht erst in Kenntnis zu setzen, und auch das war für ihn über jeden Zweifel erhaben, daß ihm die beiden häufig nachschlichen; er war ihrer wiederholt in später Stunde auf einsamen Wegen von weitem ansichtig geworden, und sie hatten dann jedesmal das ersichtliche Bestreben gezeigt, ihm auszuweichen und sich seinem Blick baldmöglichst zu entziehen. Er hatte das anfänglich für Zufall gehalten, doch allmählich hatte sich ihm die Ueberzeugung aufgedrängt, daß hier Absicht und Planmäßigkeit angenommen werden mußten. Es unterlag also, auch wenn die Adresse nicht gewesen wäre, keinem Zweifel — der Brief war an ihn gerichtet.

Nun war es freilich komisch, äußerst komisch, daß man sich so romantische Vorstellungen von seinem geheimen Ratschlagen mit den Arbeitern machte und die Zusammenkünfte mit denselben in des Waldes tiefste Gründe und womöglich in Schluchten und Höhlen verlegte, man hätte es näher und bequemer haben können, denn in Wirklichkeit hatten die vertraulichen Besprechungen, die zur Gründung des kleinen, aber bereits gehaßten, weil instinktiv gefürchteten sozialdemokratischen Arbeitervereins geführt hatten, im Städtchen selbst und zwar in der Wohnung eines Arbeiters stattgesunden, und Wolfgang hatte es nicht einmal für nötig gehalten, den Gang dorthin vermummt oder auf Umwegen und durch Nebenpförtchen anzutreten. Immerhin war und blieb die Warnung gut gemeint nicht bloß, sondern auch dankenswert, aber von wem kam diese Warnung? Er wußte keine Antwort auf diese Frage.

Das Briefchen hatte seine Geschichte. Fräulein Emmy war sich entschieden wichtig vorgekommen, als sie ihre Schreibmappe zur Hand nahm — that sie nicht vielleicht einen folgenschweren Schritt, indem sie, wenn auch anonym, an Wolfgang schrieb? Sie wählte lange unter ihren Briefbogen: sollte sie einen bunten, sollte sie einen mit gepreßten Käntchen nehmen? Das war in der That eine wichtige Frage, wichtiger fast, als die, in welchem Tone der Brief zu halten sei. Als freilich ein Bogen gewählt war, fiel ihr der Zweifel, ob sie auch den richtigen Ton treffen werde, schwer aufs Herz — sie befand sich allerdings in einem höchst bedenklichen Dilemma. Sie zagte davor, als Absenderin bekannt zu werden, und mußte sich doch gestehen, daß sie sehr unzufrieden mit dem Briefe sein würde, wenn sein Wortlaut die Möglichkeit ausschlösse, erraten zu werden; sie errötete tief bei der bloßen Vorstellung, daß Wolfgang aus dem Tone ihrer Zeilen schließen könnte, sie nehme ein wärmeres Interesse an ihm und doch hätte sie ihren Brief um keinen Preis so formuliert, daß jede solche Vermutung ausgeschlossen war. Nein, das durfte nicht sein; sie dachte sich's unwillkürlich bezaubernd, durchblicken zu lassen, nach welchem sinnverwirrenden, nie geträumten Glück Wolfgang nur die Hände auszustrecken brauchte. Sie wurde seltsam warm bei dem Gedanken, welchen überwältigenden Eindruck so viel Güte und Herablassung auf den jungen Mann machen müßte, und wenn er dann zu ihr kam, wenn er hingerissen vor ihr auf die Knie sank und ihre Hände bebend mit Küssen bedeckte — wer wußte, ob sie dann nicht ihrer romantischen Güte die Krone aufsetzte und ihn zu sich emporzog? Er war freilich nicht Offizier, und das war ewig schade, aber er war doch ein so hübscher junger Mann, sanft und stolz zugleich, und traf sie nicht vielleicht eine weise Wahl, wenn sie sich einen Gatten auserkor, der ihr ewig dankbar sein, der sie anbeten und auf den Händen tragen mußte, was wohl keiner von den verwöhnten Herren in Attila und Stulpstiefel thun würde? Sie war fast gerührt und weich und das Romantische des Gedankens lieh ihr Flügel — sie konnte ein mutwillig-übermütiges Lächeln nicht unterdrücken, wenn sie an das köstlich verblüffte Gesicht des Vaters bei der Eröffnung dachte, die sie ihm selber machen würde. Unter dem Einfluß dieser ausschweifenden Träumerei schrieb sie ihren Brief, als sie ihn aber tief aufatmend überlas, erschrak sie über das Unerhörte ihres Schritts, und wenn ihr auch der Gedanke, Wolfgang könne sie verschmähen, weltenfern lag und ihr gar nicht kommen konnte, so knitterten und knäulten die kleinen Hände das unvorsichtige, verräterische Blatt doch heftig zusammen und sie beschloß, einen anderen Brief zu schreiben, einen Brief, der so steif und förmlich, so gemessen und kalt ausfiel, daß er ihr beim Ueberlesen geradezu abscheulich vorkam und daß sie ihn in kurz und kleine Stückchen riß. Also ein dritter Entwurf! Auch er befriedigte sie nicht und schien ihr auf der einen Seite schon zu viel zu verraten und auf der anderen keine genügende Ermutigung für Wolfgang sein; sie fand, es sei doch eigentlich schwer, einen Brief zu schreiben, der dazu auffordern mußte, ganz bestimmte Dinge zwischen den Zeilen zu lesen, und am liebsten hätte sie einen vierten Entwurf gemacht. Aber es war schon zu spät, ihre Lider sanken schwer über die Augen, sie mußte ja auch den Entwurf, in dem sie so gewaltig herum korrigiert hatte, noch abschreiben und so behielt sie diesen dritten Entwurf bei und fügte nur nach einigem Besinnen die Nachschrift hinzu und die Buchstaben I. S. D. N. (das Geburtstagssonett hatte mit den Worten begonnen: „Ich sah dich nah'n — dann warf sie sich, fast erschöpft von der ungewohnten Anstrengung, auf ihr Lager und fragte sich noch im Einschlafen: „Werde ich in acht Tagen Braut sein? Was würden die Herren Offiziere zu der unerwarteten Botschaft sagen? Und sie lächelte und schlief mit dem Gedanken an die Toilette ein, in der sie ihre Brautvisiten machen würde. —

Sie war auch in vierzehn Tagen noch nicht Braut, denn Wolfgang gab weder eine direkte noch eine indirekte Antwort. Sie war einige Tage hindurch sehr geneigt, dem Undankbaren zu zürnen, der sich so vieler Güte nicht würdig zu zeigen wußte, aber bald kamen ihr andere Gedanken. „Nein, diese Männer,“ sagte sie sich halb unmutig, halb belustigt — „das Feinste und Zarteste in der weiblichen Natur bleibt ihnen doch ewig unverständlich und ihrem groben Wahrnehmungsvermögen kann man doch nur mit groben Mitteln beikommen. Der leise Duft einer echt jungfräulichen Natur ist zu unkörperlich für sie und höchstens in aristokratischen Familien und in wirklich vornehmen Kreisen bildet sich das Feingefühl aus, das für einen solchen Duft empfänglich ist. Woher soll am Ende dieser Herr Hammer auch ein solches Feingefühl und Verständnis haben? er ist doch aus gewöhnlicher Familie und dann — seine Verzagtheit und Schüchternheit haben doch auch etwas Hübsches. Er wagt es nicht, den Blick zu mir zu erheben und glaubt gewiß, er sei höchstens berechtigt, mich im stillen zu verehren, mich zu seiner Muse zu machen und mir seine Gedichte zu widmen, müsse sich aber im übrigen, zu hoffnungsloser Liebe verurteilt, in achtungsvoller Entfernung halten, immer fürchtend, durch ein rauhes Wort den poetischen Zauber zu brechen und sich streng und vorwurfsvoll in seine Schranken zurückgewiesen zu sehen. Und hat das Bewußtsein, einem modernen Dichter dasselbe zu sein, was Beatrice für Dante war (soviel hatte sie doch aus der Literaturgeschichte behalten), nicht auch seinen geheimen Reiz? Wer weiß, ob er nicht noch berühmt wird, und dann steht vielleicht in seiner Biographie, daß eine hoffnungslose, verschwiegene Liebe zu einer jungen Dame, die gesellschaftlich unerreichbar hoch über ihm stand, seinen schönsten Liedern das Leben gegeben und ihnen die schwermütig-seelenvolle Färbung verliehen habe, und daß er unverheiratet geblieben sei, da er diese Liebe nicht zu vergessen vermochte. Gewiß, es ist besser so, und ich bin doch eigentlich recht romantisch-thöricht gewesen, als ich an einen minder zarten Ausgang dachte. Nicht Braut, aber ein in verschwiegener Seele verehrtes Dichterideal! Ich werde ihn durch einen tiefen, seelenvollen Blick belohnen, der ihm sagt, daß ich ihn verstehe und seine Huldigung annehme.“ Und sie kam sich sehr erhaben vor und lächelte, träumerisch wie sie glaubte, vor sich hin. —

Für Wolfgang schien mit dem Briefchen der Kleinen eine Aera der Billet doux zu beginnen. Am Tage nach dem Empfang jenes Briefchens fand er ein zweites vor, dessen Handschrift er sofort erkannte; es war die von Frau v. Larisch. Dieses zweite Briefchen war erheblich kürzer als das Emmys und lautete folgendermaßen:

„Wenn Sie sich morgen abend 7 Uhr an der Parkpforte einfinden wollen, werden Sie dort eine Dame finden, die der Wunsch, Ihnen eine Warnung zukommen zu lassen, bestimmt, einen solchen der Mißdeutung ausgesetzten Schritt zu thun. Dafür, daß er bei Ihnen einer solchen Mißdeutung nicht ausgesetzt ist, bürgt ihr Ihr Charakter.

Ein Maiblümchenstrauß.“

Sie also?“ sagte Wolfgang leise vor sich hin. Nun erst erfuhr er, daß es Frau v. Larisch gewesen war, die ihm diese feine Aufmerksamkeit erwies, die ihn auf seinem Krankenlager so eigentümlich bewegt und gerührt hatte. Diese Entdeckung war weit davon entfernt, ihm Freude zu machen und nur widerstrebend entsagte er der Illusion, die er so lange gehegt hatte. Er schwankte sogar geraume Zeit, ob er dieser Einladung Folge leisten solle, aber der Gedanke an die Bereitwilligkeit, mit der ihm Frau v. Larisch entgegenkam, als er sie für die kleine Anna zu interessieren wünschte, schien ihm die Verpflichtung aufzuerlegen, ihre Warnung anzuhören, die jedenfalls mit der bereits erhaltenen identisch und ebenso gut gemeint war. Vielleicht erfuhr er sogar von der weltkundigen klugen Dame Näheres und Greifbareres, und so wenig er sich auch vor seinen Gegnern fürchtete — war es denn so ganz unmöglich, daß die äußerste Vorsicht noch gebotener war, als er nur ahnen konnte?

Dem Abend, an dem sich Wolfgang zu dem geheimnisvollen Rendezvous begab, war einer jener klaren, milden, stillen Tage vorausgegangen. Wie sie auch das letzte Drittel des Oktober uns zuweilen noch beschert. Auch in der Seele unseres jungen Freundes war es still und klar, und der Gedanke an die Begegnung, die ihm bevorstand, trieb ihm das Blut nicht rascher durch die Adern. In nachdenklichster Stimmung schritt er langsam auf dem schmalen Waldpfad auf und ab, die Hände auf dem Rücken ineinander gelegt; sein Blick haftete am Boden und an dem rostbraunen, welken Laub, das zollhoch die Erde bedeckte und das sein Fuß vor sich herschob. Aber seine Gedanken waren nicht bei der schönen Frau, die ihn an dieses einsame Plätzchen bestellt hatte, sondern bei der Strophe, die den Schluß eines an Martha gerichteten Gedichts bildete und die ihm schon den ganzen Tag durch den Sinn gegangen war; er hatte sie schon wiederholt umgegossen, aber noch immer befriedigte sie ihn noch nicht recht, und er hatte sich auf die Stunde des einsamen Wartens im Walde vertröstet, auf die er vorbereitet war — Frauen sind ja niemals pünktlich. Nur zuweilen warf er beim Vorübergehen an der Parkpforte einen flüchtigen und zerstreuten Blick in die kiesbestreuten Gänge und wendete befriedigt den Kopf wieder weg, wenn er diese Gänge noch einsam im ersten Dämmern des Abends liegen sah. Die stille Stunde erwies sich ihm günstig; er fand für seinen Gedanken eine Form, die ihn vollkommen befriedigte, und kritzelte sie, sich an den Stamm einer alten Buche lehnend, mit Bleistift in stenographischen Zeichen auf ein Blatt seines Notizbuchs. Die Verse lauteten:

Auf Klippen und Dünen, in Schlick und in Sand,
An der Wimper der Woge spritzenden Schaum,
Sah ich im Geiste mein Heimatland,
Das buchengrüne, in wachem Traum;
Wenn im Sturme die Möve ängstlich schrie
Und des Leuchtturms Licht durch den Nebel glomm.
Kam fernher geweht eine Melodie,
Eine liebe, vertraute, und lockte mich: „Komm!

Nun bin ich daheim, doch mein Herz ist schwer.
In den Domen des heimischen Waldes träumt
Meine kranke Seele vom ewigen Meer,
Das zu weißem Geflock an der Klippe zerschäumt.
Es rauschen die Kronen; die Grasmücke singt
Durch die heimliche Stille, doch mir ist weh,
Und lausch ich den Stimmen des Waldes, so klingt
Durch sie alle hindurch ein mahnendes: „Geh!

Hier wird mir bange, hier ist es schwül.
Ueber grüne Wogen mit Kämmen von Schnee
Weht drüben erfrischend der Wind und kühl
Und die Möve kreischt und es donnert die See.
Dort war ich ganz und aus einem Guß,
Hier bin ich zerrissen, krank und geteilt;
Meine Lippe schmachtet nach einem Kuß —
Ob Meer und Wind mir die Seele heilt?

Kaum hatte er das Buch wieder in die Brusttasche geschoben, als er auch die eiserne Parkpforte leise klirren hörte, und als er den Blick erhob, sah er sich Frau v. Larisch gegenüber.

„Sie wußten, daß Sie mich erwarteten?“ fragte sie mit einer leichten Befangenheit, die sie besser kleidete, als alle kecke Sicherheit, die sie bei früheren Anlässen entwickelt hatte.

Wolfgang nickte leicht mit dem Kopfe. „Ich konnte wohl nicht im Zweifel darüber sein, da man Ihre Handschrift so leicht nicht vergißt. Sie hat etwas höchst Charakteristisches.“

„Wollen Sie mir Ihren Arm geben und mich tiefer in den Wald führen? Sie begreifen, daß ich jede Begegnung zu vermeiden wünsche; nicht nur soll, was ich Ihnen zu sagen habe, unter uns bleiben, sondern es ist auch am besten, wenn niemand ahnt, daß ich Ihnen einen Wink gegeben habe.“

„Nichts einfacher als das, gnädige Frau.“

Er nannte sie zum erstenmal so und hatte die abgeschmackte Titulatur bisher stets geflissentlich vermieden, infolge einer Regung demokratischen Selbstbewußtseins, das lieber anstieß, als sich beugte. Frau v. Larisch entging es nicht, daß er sich dieser Form bediente, und sie sah ihn über-rascht und halb vorwurfsvoll an.

„Sie könnten die „gnädige Frau“ auch heute beiseite lassen, denke ich. Nie war sie so überflüssig.“

Wolfgang errötete leicht; er mußte sich sagen, daß er im Unrecht war, und dieses Bewußtsein stimmte ihn wider Willen weicher.

„Ich würde mir in der That Vorwürfe machen müssen, wenn ich Sie vorsätzlich gekränkt hätte, denn ich bin Ihnen für Ihre gütige Absicht, mich zu warnen, den lebhaftesten Dank schuldig, und diese Dankbarkeit wird dadurch, daß Sie mir schwerlich etwas neues sagen und daß ich genau zu wissen glaube, vor wem Sie mich warnen wollen, gewiß nicht verringert. Sie wollen mich darauf aufmerksam machen, daß Herr Weinlich und Herr Rektor Storck mir auf Schritt und Tritt nachspüren und daß sie hoffen, mir einen geheimen Verkehr mit den Häuptern des sozial-demokratischen Arbeitervereins nachweisen zu können, weil sie glauben, mich dadurch für hier unmöglich zu machen?“

„Sie sind ein Hexenmeister, — woher in aller Welt wissen Sie das?“ lautete die betroffene Antwort.

Wolfgang lächelte. „Lassen Sie das mein Geheimnis bleiben; ich bin zum Schweigen verpflichtet, wenigstens moralisch, und Sie werden mich dieser Pflicht nicht abtrünnig machen wollen.“

„Würde ich Glück damit haben? Ich werde den Versuch klüglich unterlassen. Uebrigens ist es am Ende kein so großes Wunder, daß Sie die Pläne Ihrer Feinde kennen, denn möglicherweise ist Herr Rektor Storck anderwärts nicht vorsichtiger gewesen, als uns gegenüber.“

„Darf ich fragen, wen Sie unter diesem „uns“ verstehen?“ sagte Wolfgang, mit einem vergeblichen Versuch, die Spannung zu verbergen. Mit der er auf die Antwort wartete.

„Ich will offener sein, als Sie es sind. Der Herr Rektor hat sich seines Vorhabens Fräulein Reischach, Fräulein Hoyer und mir gegenüber gerühmt und schien seiner Sache so sicher zu sein, daß ich ernstlich besorgt ward und es für meine Pflicht hielt, Sie vor Unvorsichtigkeiten zu warnen, zu denen Ihr Stolz Sie so leicht verführen könnte. Aber Sie scheinen ja sehr kühl über diese Intriguen zu denken und sich so sicher zu fühlen, daß Sie sich berechtigt glauben, die Warnung lächelnd und achselzuckend entgegenzunehmen. Das gefällt mir übrigens so gut, daß ich gern auf das Bewußtsein verzichte, Ihnen einen Dienst geleistet zu haben.“

Es lag etwas wie Bewunderung in dem Ton, mit dem diese Worte gesprochen wurden und in dem Blick, der sie begleitete.

Aber Wolfgang erwiderte ernst und mit einem leichten Anflug von Traurigkeit: „Ich bin weit davon entfernt, mich so sicher zu fühlen, als Sie annehmen; es wird mich im Gegenteil gar nicht überraschen, wenn ich der Koalition unterliege, die sich gegen mich gebildet hat und die mir schließlich doch hinterrücks ein Bein stellen wird. Ich bin, um ein militärisches Gleichnis zu brauchen, ein verlorener Posten in Feindesland, und habe mich schon gefragt, ob es mir gar so sehr verübelt werden könnte, wenn ich den Posten aufgäbe, auf den mich der Zufall gestellt hat. Es würde mir gerade in diesen Herbsttagen leicht werden, auf und davon zu gehen; der Zugvogel in mir regt jetzt, wo die letzten Geschwader unserer Sommervögel sich lärmend zum Aufbruch rüsten, fast sehnsüchtig die Schwingen, und selbst wenn ich ungern ginge, würde ich mich mit dem welken Laube trösten, das jeder Windhauch von den Aesten streift, wie ich mich mit ihm trösten würde, müßte ich aus dem Leben scheiden.“

Er hatte es ohne jede Affektation gesagt, mehr zu sich selbst, als zu der anmutigen Frau, die ihren Arm unwillkürlich fester auf den seinen legte; er fühlte, wie jeder Finger ihrer Hand ein mildes Feuer ausströmte, das ihm durch alle Adern floß, und als er sie ansah, überraschte ihn ein Ausdruck in ihrem Gesicht, den er noch nicht kannte. Es lag urplötzlich etwas Mädchenhaftes in ihrem Wesen, etwas Sanftes, Anschmiegendes, Schüchternes und fast Demütiges, und sie war ihm in diesem Moment ungleich gefährlicher, als je zuvor.

Ob sie eine Ahnung davon hatte? Es war, als verschleiere sich ihr Blick von einer im Auge zerdrückten Thräne, als sie leise, ein wenig traurig und mit beinahe stockender Stimme sagte:

„Wird Ihnen das Scheiden von hier so leicht? Ich hatte geglaubt, die Trennung würde Ihnen aus mehr als einem Grunde schwerer fallen, und dieser resignierte Ton gefällt mir nicht an Ihnen, weil ich größere Tiefe und Wärme des Gefühls — für Orte und Menschen — bei Ihnen voraussetzte. Aber ich hätte mir sagen können, daß Sie das anscheinend unvermeidliche Gebrechen aller Poeten teilen, sich in der Praxis von all den zarten und schönen Empfindungen zu emancipieren, die ihren Dichtungen Reiz und Zauber verleihen.“

„Vielleicht thun Sie mir doch sehr unrecht, vielleicht bin ich viel mehr Mensch als Poet, und vielleicht sind es gerade rein menschliche Empfindungen, die nur das Scheiden leichter machen, als dies ohnedem der Fall sein würde. Ich habe hier schmerzliche Erfahrungen zu machen gehabt und bin in Verwicklungen geraten, die befriedigend zu lösen ich keine Hoffnung habe. Und ist es nicht besser, ich gehe, bevor mir das Herz wund geworden ist und ich die Frische und Elasticität der Seele eingebüßt habe? Bisher habe ich den Kopf oben behalten, aber ich bin aus weichem Ton gemacht und kann nicht dafür stehen, daß ich nicht auf die Dauer an dem Widerstreit zwischen einer ernsten Neigung und äußeren Verhältnissen ernstlich erkranke.“

Er dachte dabei an Martha, der er es vorwerfen zu dürfen glaubte, daß sie, gerade sie, keinen Schritt gethan hatte, wie Frau v. Larisch, und selbst die lustige, halb kindische Emmy. Der Aufschluß, der ihm von Frau v. Larisch gegeben, ließ ihm, trotz mancher rätselhaften Wendung, kaum einen Zweifel darüber, daß der erste Brief von Emmy herrührte; darauf, daß er nicht von Martha geschrieben war, hätte er blindlings einen Eid geleistet: Handschrift und Stil konnten nicht die ihren sein. Er vermochte eine Aufwallung von Bitterkeit und Trauer nicht zu unterdrücken und daran, daß seine Worte von Frau v. Larisch falsch gedeutet werden konnten, ja daß sie dieselben beinahe falsch deuten musste, dachte er mit keiner Silbe.

Frau v. Larisch verstand ihn aber wirklich falsch. Wenn er Martha liebte, wie sie bisher so fest geglaubt, wie konnte er dann von äußeren Hindernissen sprechen? War Martha nicht in jeder Hinsicht frei, brauchte er nicht bloß um sie zu werben, und konnte es denn einen Moment zweifelhaft sein, auch für ihn, daß er mit offenen Armen empfangen ward? Aber vielleicht hatte sie sich geirrt, vielleicht lag in Wolfgangs Worten eine Anspielung auf ein — möglicherweise nebenhergegangenes? — tieferes Empfinden für sie selbst und auf ihre Verhältnisse, die ja stadtkundig waren von denen er beinahe wissen mußte. Sie mußte ihn sondieren, und sie erwiderte mit einer Wärme, die Wolfgang unter anderen Umständen stutzig gemacht haben würde:

„Ist das auch eine echte Neigung, die sich von ungünstigen Verhältnissen, von zufälligen Unterschieden der sozialen Stellung und des Vermögens abschrecken läßt? Verdient sie nicht den Vorwurf der Kleinmütigkeit und des voreiligen Verzagens? Hat sie nicht die Pflicht, einen ernsten und entschlossenen Versuch zu wagen, ehe sie die Accente elegischer und schwermütiger Resignation anschlägt? Ich fürchte, Sie vergessen, daß Sie den ersten Schritt zu thun haben, daß er von Ihnen erwartet wird und daß Sie die Verhältnisse unrichtig beurteilen.“

Wolfgang sah düster vor sich nieder und zuckte traurig die Achseln. „Ich begehe vielleicht einen Fehler, aber ich habe den Mut nicht, den Sie von mir fordern. Wir sind eben alle das Produkt unserer Verhältnisse, unserer Erziehung und unserer Erfahrungen, und in jedem bilden sich gewisse Grundsätze aus, nach denen er handeln muß, wenn er sich nicht selber untreu werden will. Aber wollen wir das melancholische Gespräch nicht fallen lassen? Es kann kaum ein Interesse für Sie haben, und ich bitte, zu entschuldigen, daß ich diesen Ton angeschlagen habe. Es ist wohl die wehmütige Herbststimmung, für die ich immer besonders empfänglich war, die mich zu dieser Abschweifung auf ein so intimes Gebiet verleitet hat und mich der Gefahr aussetzt, von Ihnen für einen Lyriker aus System gehalten zu werden.“

Frau von Larisch war nicht geneigt, sich Wolfgang entschlüpfen zu lassen. Sie glaubte mehr und mehr, einen tiefen Blick in sein Herz gethan zu haben, und nachdem er soweit aus sich herausgegangen war, ließ er sich wohl auch aus der letzten Verschanzung locken. Kam alles, wie sie wünschte und plötzlich hoffte, so schrak sie auch vor dem kleinen Wagnis nicht zurück, den verhängnisvollen ersten Schritt, zu dem er sich anscheinend nicht entschließen konnte, ihrerseits zu thun.

Sie mußte sich vor allen Dingen Gewißheit darüber verschaffen, wie Wolfgang innerlich zu Martha stand, ob nicht vielleicht aus ihr unbekannten Ursachen (und die Gründe, welche Liebende trennen, sind oft spinnwebendünn und spinnwebenfein) eine Entfremdung zwischen den beiden eingetreten war. Lag eine solche Entfremdung vor, so galt es, sich dieselbe zu nutze zu machen, wennschon sie daran, Wolfgang vielleicht für immer von Martha zu trennen, kein Interesse hatte. Vor einer ernsten Leidenschaft schrak sie ihrer ganzen Natur nach zurück; sie fand, da sie an Treue und Beständigkeit nicht glaubte, eine Frau bezahle solche Leidenschaften stets zu teuer — mit einem verwüsteten und ausgebrannten Innern und einem innerlich gebrochenen Sein. Dieser blonde Philosoph und Dichter vollends schien ihr ganz der Mann, pedantisch gründlich in einer Liebesleidenschaft zu sein, und deshalb fürchtete sie ihn, wenn er sie auch nicht gerade durch diese Schwere und Einseitigkeit in seinem Wesen mehr reizte, als jeder andere Mann, den sie bisher kennen gelernt. Es peinigte sie, daß er fortwährend wie ein ungelöstes Rätsel vor ihr stand; sie versprach sich eine eigentümliche, ironische Befriedigung von der Entdeckung, daß er nur durch einen fremdartigen Anstrich den Schein erhalte, anders zu sein, als die Männer, die sie bisher kennen gelernt; sie hatte sich endlich schon so manches Mal gestanden, daß seine Unempfindlichkeit für ihre äußeren Reize und die Anmut, Lebendigkeit und prickelnde Geistreichigkeit ihres Wesens eine Beleidigung ihrer Eitelkeit sei; sie mußte ihn zu ihren Füßen sehen. Und dann? Je nun, sie traute sich das Geschick zu, eine kleine, pikante, heiße Tändelei mit ihm zu unterhalten und dieselbe abzubrechen, sobald die Sache kritisch zu werden begann, sobald sie sich sagen mußte, daß sie anfing, die volle sichere Herrschaft über sich selber zu verlieren. War die Liebe eines Poeten ein Lilienkelch voll perlenden Champagners, so wollte sie den Schaum wegnippen und das Glas dann beiseite schieben; einer Frau von Geist und Erfahrung mußte das gelingen, und gelang es, so hatte sie das Buch ihrer Erinnerungen um ein ganz eigentümliches Blatt bereichert.

Es klang ganz unbefangen, aufrichtig und ernst, als sie Wolfgang, nachdem, sie geraume Zeit hindurch schweigend und nachdenklich neben ihm hergegangen war, wie mit plötzlichem Entschluß fragte:

„Haben Sie, als Sie so gleichmütig und gefaßt von der Möglichkeit eines baldigen Scheidens von uns sprachen, auch an Martha Hoyer gedacht? Ich habe, offen gestanden, geglaubt, daß sie Ihnen nicht ganz gleichgültig sei.“

Ihr scharfes Auge erkannte trotz der Dunkelheit, die rasch zugenommen hatte, daß Wolfgang jäh und tief errötete. Das war ihr genug — sie hatte wirklich den wunden Punkt berührt.

Wolfgang erwiderte rasch, ungeduldig und herb: „Nun überraschen Sie mich heute abend doch; daß Sie mir das imputieren würden, hätte ich mir niemals träumen lassen, und ich bin eigentlich sehr geneigt, zu fragen, ob Ihnen momentan kein anderer und besser motivierter Scherz einfallen wollte, wenn nun einmal um jeden Preis gescherzt werden mußte.“

Frau von Larisch unterdrückte mit Mühe ein Lächeln. Hätte sie offen sein wollen, so hätte sie sagen müssen: „Mein lieber Herr Hammer, vergessen Sie nicht, daß Sie es mit einer Frau, und zwar mit einer in Herzensdingen erfahrenen Frau zu thun haben. Wenn man beschuldigt wird, ein zärtliches Interesse für eine Dame zu hegen, ereifert man sich nicht, es sei denn, daß die Frage den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Nun weiß ich, daß Sie in Martha verliebt sind, daß aber hier irgend eine verliebte Laune, irgend eine eingebildete Kränkung, irgend eine Empfindlichkeit, ein Skrupel oder eine Grille oder alles miteinander in schönem Bunde im Spiele ist. Sie sind nur ärgerlich, weil man Sie durchschaut, obgleich Sie wunderbar vorsichtig gewesen zu sein und Ihr Gefühl durch kein Wimperzucken verraten zu haben glauben.“

Von alledem sagte sie natürlich nichts, aber Wolfgang empfand auf seinem Arme einen leisen Druck, der zur Not zufällig sein konnte und der doch seinen Zweck nur um so sicherer erreichte. Sie hing sich fester in seinen Arm und näherte dabei wie absichtslos ihren Kopf seiner Schulter, so daß er dieselbe für einen Moment streifte, und dann sagte sie, voll zu ihm aufblickend:

„Nun ja, lassen Sie es einen Scherz sein. Martha ist ein sehr gutes Mädchen und kann einen etwas schwärmerisch angelegten jungen Mann auf den romantischen Gedanken eines Freundschaftsbündnisses bringen, aber Ihre Geliebte habe ich mir doch anders gedacht, sobald ich reiflicher über Ihre Stellung zu Martha nachdachte. Ich sage absichtlich nicht „Ihre Frau“ — ich kann Sie mir kaum verheiratet denken, und Dichter sollten vielleicht überhaupt nicht heiraten.“

Es war ein gleichgültiges und wenig überzeugt klingendes: „Sie können recht haben!“ das Wolfgang zurückgab. Die Uebereilung, die er begangen hatte, war ihm rasch zum Bewußtsein gekommen; es verdroß ihn, daß er sich durch eine so abgebrauchte List oder — wenn keine Berechnung im Spiele gewesen war — durch eine Regung, wie sie höchstens einen noch halb kindischen Gymnasiasten beherrschen durfte, sein sorgsam gehütetes Geheimnis hatte entreißen lassen; er war ärgerlich über sich selbst, und dieser Unmut machte ihn nicht bloß ungeduldig und kurz, sondern er übertrug denselben auch auf die schöne Frau, die in der verführerischen Dämmerung an seiner Seite schritt und ihren Arm so fest auf den seinigen legte, ohne eine Ahnung von der anscheinend launischen und doch in Wirklichkeit so gut motivierten Wandlung zu halben, die sich in ihm vollzog.

Sie würde zu jeder anderen Zeit die Veränderung in dem Tone Wolfgangs bemerkt haben, der es nie der Mühe wert hielt, sich zu verstellen und dem die Gabe der Verstellung auch nur in bescheidenem Maße zur Verfügung stand; jetzt war sie selber halb befangen und erregt, so daß ihr auch die leise ironische Färbung von Wolfgangs nächster Frage entging: „Und wie, wenn ich fragen darf, dachten Sie sich meine — Geliebte?“

Die Antwort erfolgte nicht sofort; es war, als habe Leontine ein Zaudern und Schwanken zu überwinden oder als suche sie nach den ihren Gedanken am klarsten wiedergebenden Worten. Ihre Stimme zitterte ein wenig, als sie endlich halb schüchtern sagte: „Sie sind von ernstem und nachdenklichem Wesen — Sie neigen sogar zur Melancholie; Sie würden die schönste und befriedigendste Ergänzung in einer Frau von heiterem Sinn, von neckischem und witzigen Wesen finden, die genug von der Welt weiß, um ihr nicht naiv und unerfahren gegenüberzustehen, und die vielleicht gerade darum die Tiefe des Gefühls zu schätzen weiß, deren Sie fähig sind, und von der man in der Welt glaubt, daß sie sich höchstens auf der Schwelle des Jünglingsalters finde, wo sie Hand in Hand mit allerlei ungenießbaren und komischen Extravaganzen geht, die uns beim besten Willen nicht gestatten, uns ernstlich mit dieser unreifen Empfindung einzulassen.“

Es war selbst Wolfgang nicht möglich, zu verkennen, daß Frau von Larisch von sich selber sprach, aber diese Entdeckung hatte durch die vorausgegangene Erwähnung Marthas und durch den geringschätzig-spöttischen Ton, in dem sie erfolgt war, alles Gefährliche, Betäubende, Verwirrende und Berauschende verloren. Jene Worte, die ihm sein Empfinden für Martha zum Vorwurf machen zu wollen schienen, hatten ihn tief verletzt, und indem sie das Bild der Stillen, Innerlichen vor ihm auftauchen ließen, hatten sie zugleich den süßen, verlockenden Spuk zerblasen, und er lief von diesem Moment an keine Gefahr mehr, von einer verzeihlichen und erklärlichen Wallung des warmen Jugendbluts in eine Selbstvergessenheit und Selbsttäuschung hineingelockt zu werden, die er am nächsten Tage bitter bereut haben würde; er hatte von jenem Augenblick an an seinem Stolz und an seinen Grundsätzen einen starken Bundesgenossen wider die bestrickende Nähe der schönen Frau, deren Atemzüge er hörte und deren Berührung ihn mit entnervendem Schauern durchrieselte; ja, er empfand etwas wie Bitterkeit gegen sie, und den Wunsch, sich dafür zu rächen, daß er trotz aller Gegenwehr doch sinnlich in dem Bann ihres Wesens stand und mit aller Anstrengung gegen denselben ankämpfen mußte. Es war nur noch das Verlangen, sie zum Fallenlassen der Maske zu verleiten und sie dann zu demütigen und ihr das feine Gewebe, das sie bereits halb über ihn geworfen, zerrissen vor die Füße zu werfen, das ihm die Worte diktierte:

„Ich kann und ich mag nicht leugnen, daß Sie da ein seltsam verlockendes Bild vor mir aufrollen, und daß mir um mich selber bange sein würde, nähme mir eine Frau, die diesem Bilde entspricht, jeden Zweifel darüber, daß ich ihrer Gegenliebe sicher sei. Nun, das ist ja aber nur eine akademische Unterhaltung; gesetzt, ich kennte eine Frau, die ganz so ist, wie Sie sich meine Geliebte denken — das Zweite gehört darum doch in das Reich der Träume.“

Waren diese Worte mißzuverstehen? Frau von Larisch fühlte, wie ihr das Blut zum Herzen drängte; sie verlor die Fähigkeit, ihre Gedanken in das lose, trügerische Gewand des Scherzes zu kleiden und ihre überlegene Sicherheit ging in Erregung und Spannung unter, die sie ihrer besten Waffen beraubte. Sie konnte nur noch gerade aus ihr Ziel losgehen und wähnte auch, daß dabei keine Gefahr mehr sei. Es lag wie ein zärtlich-strafender, schmollender Vorwurf in dem Klang ihrer Stimme, als sie leise erwiderte:

„Wie kleinmütig! Ich glaube zu wissen, wen sie meinen; ich kenne diese Frau ebenfalls und zwar besser als Sie — soll ich Ihnen sagen, wie sie denkt? Sie hat sich von Anfang an für Sie interessiert, ihr Interesse ist unvermindert und es droht nicht einmal Ihrer Freiheit Gefahr von ihr, denn — eine testamentarische Bestimmung ihres verstorbenen Herrn Gemahls räumt ihr die Nutznießung seines Vermögens bis zu ihrem Tode nur unter der Bedingung ein, daß sie sich nicht wieder verheiratet; schließt sie eine neue Ehe, so fällt auch diese Rente an die Verwandten des Testators. Diese Bestimmung wehrt die Verheiratung mit einem Manne ohne Vermögen, aber — ich traue ihr soviel Geist zu, diese von greisenhafter Eifersucht diktierte Bestimmung dadurch zu umgehen, daß sie wenigstens die Neigung eines Mannes annimmt, dem sie ihre Hand nicht reichen kann. Diese Frau,“ setzte sie ganz leise hinzu, „liebt Sie — nach meiner festen Ueberzeugung —, und ich glaube, sie könnte von Momenten der Selbstvergessenheit erzählen, in denen sie, nur von ihren vier Wänden oder von der Stille des Waldes gehört. Ihnen zurief: Komm!“ Sie hatte schon vorher, wie absichtslos und ohne daß er es zu hindern gesucht, ihren Arm leise aus dem seinen gezogen und dann war sie einen Schritt zur Seite gewichen und stehen geblieben; hätte er nur die leiseste Bewegung gemacht, so würde sie ihm die Arme entgegengebreitet haben.

Aber Wolfgang warf ihr nur einen halb forschenden, halb düsteren Blick zu und sagte so unbefangen, daß der ironische Beigeschmack seiner Worte auch für einen harmlosen Scherz gelten konnte:

„Ich muß Ihnen in diesem Augenblick einen Verdacht abbitten, den Sie glänzend widerlegen. Ich glaubte allen Ernstes, Sie seien tiefer Empfindungen nicht fähig, am wenigsten aber einer wahren Freundschaft. Sie müssen aber eine äußerst lebhafte Zuneigung für diese Dame empfinden, von der ich, wenn ich Ihren Worten wirklich Glauben schenken muß, geliebt werde, denn sie haben sich so lebhaft in ihre Situation hineingedacht und hineingefühlt, daß Sie dieselbe mit einer Lebendigkeit und Lebenswahrheit wiedergeben, die mich mit Bewunderung erfüllt. Darf ich Ihnen wieder meinen Arm bieten, gnädige Frau?“

Einen Moment regte sich in der so kalt Verschmähten und bitter Enttäuschten das leidenschaftliche Verlangen, Wolfgangs Arm zurückzustoßen, aber es war nur ein Moment. Mit Blitzesschnelle drängten sich in ihrem Kopfe die Gedanken, und mit der Erkenntnis, daß sie sich nur kompromittieren könne, wenn sie das beleidigte Weib herauskehre, fand die Weltdame auch ihre volle Sicherheit wieder. Später fand sich ja wohl eine Gelegenheit zur Rache, für den Augenblick mußte sie die tödliche Kränkung verbergen und den Schmerz verbeißen, die Vergeltungslust unterdrücken. Sie legte ihren Arm wieder auf den Wolfgangs, freilich lange nicht mehr so fest, wie vorher; und erwiderte, wenn auch mit einem nicht ganz zu unterdrückenden leisen Beben der Stimme, bedeutungsvoll und beziehungsreich:

„Sie haben sehr recht, Herr Hammer, das Herz spielt uns zuweilen, wenn Ort und Stunde dem günstig sind, sonderbare und höchst lächerliche Streiche, die wir bei kaltem Blut und klarem Sinn gar nicht zu begreifen vermögen. Im vorliegenden Falle ist es um so unverzeihlicher, daß ich mich von meinem lebhaften Temperament zu einer kleinen Ueberschreitung des gesellschaftlich üblichen Tones hinreißen ließ, als ich wußte, daß Sie bei weitem weniger Temperament besitzen, und als ich mir im voraus hätte sagen können, daß die Dame, für die ich bei Ihnen mit weniger Geschick und Umsicht, als Eifer plädierte, von Ihnen nichts zu erwarten hatte und daß unsere Unterhaltung doch lediglich eine akademische war.“

Wolfgang schien keine von den kleinen Malicen zu verstehen, die Frau von Larisch in diese Worte gepackt hatte, obgleich er jeden Stich fühlte. Er erwiderte ernst und ruhig:

„Ich bin weit davon entfernt, eine so spöttische Absicht gehabt zu haben, als Sie zu vermuten scheinen. Die von Ihnen an den Tag gelegte Wärme des freundschaftlichen Gefühls für jene Dame macht Ihnen in meinen Augen wirklich nur Ehre, ich bedauere sogar lebhaft, daß ich Ihre uneigennützige Absicht zu spät erriet, sonst würde ich Ihnen mit einer Erklärung zuvorgekommen sein, die unser Gespräch vor dieser Abschweifung bewahrt hätte. Aber was wollen Sie? Ich bin in vielen Stücken ein ungeleckter Bär, der seine angeborene Ungeschlachtheit auch darin beweist, daß er für eine Liaison, wie die von Ihnen angedeutete, keinen Sinn und kein Verständnis hat. Die Grundsätze des Salons sind mir gleich fremd wie sein Ton, und auch in Liebesdingen habe ich wunderbar altväterliche, pedantische und schwerfällige Maximen. Als ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts habe ich allerdings längst begriffen, daß eine Ehe im besten und edelsten Sinne des Wortes nicht bloß ohne den Segen der Kirche, sondern auch ohne die Sanktion des Staates existieren kann, ich habe begriffen, daß ein Bündnis zwischen Mann und Weib keiner Formalitäten bedarf und daß es seine Heiligung durch die Tiefe, Wahrheit und Aufrichtigkeit der gegenseitigen Neigung erhält, ich habe begriffen, daß vom Standpunkt der reinen Moral aus Verhältnisse, über die die Welt die Nase rümpft und die Achseln zuckt, und von denen man in „guter“ und „anständiger“ Gesellschaft beileibe nicht sprechen darf, viel reiner und makelloser sein können, als Ehen, bei denen es ganz normal und wohlanständig herging, die der Beamte in seine Bücher eingetragen und über die der geistliche Herr seinen Segen gesprochen hat — aber Ihrem scharfen Verstande wird es nicht entgehen, daß ich damit zwar Schranken niedergerissen, nur aber dafür neue aufgebaut habe, die viel schwerer zu überklettern sind, als die beseitigten. Schloß ich früher eine für alle Welt unangreifbare und „Gott wohlgefällige“ Ehe, wenn ich nur jene Bedingungen erfüllt hatte, die sich mit sehr unedlen Beweggründen meines Innern prächtig vertrugen, so hängt jetzt und vor dem Richterstuhl der neuen Moral die Gültigkeit und ethische Berechtigung einer Ehe von der Beantwortung der Gewissensfrage ab, ob es denn auch wirklich eine zwingende, aufrichtige, ehrliche Liebesneigung ist, die zwei Menschen zusammenführt. In dem von uns rein akademisch erörterten Fall muß die Frage zweimal verneint werden; davon, daß ich eine Liebesneigung für jene Dame empfände, kann zu allernächst keine Rede sein, aber es ist nicht einmal die Möglichkeit vorhanden, daß in mir je eine solche Neigung entstünde, denn — die Dame liebt ja auch mich nicht oder vielmehr, sie dürfte wohl nur einer halben Liebe fähig sein. Ich habe ihre Neigung offenbar mit dem bequemen, standesgemäßen Auskommen zu teilen, für das meine Liebe sie nicht entschädigen könnte — liebte sie mich, so würfe sie mit ihrem ganzen früheren Leben auch diese Rente über Bord, durch die ihr erster Gemahl sie selbst über das Grab hinaus an sich zu fesseln wünschte. Dazu aber, mich mit einem halben Herzen zu begnügen, bin ich nun doch zu stolz, und das hätten Sie wissen können, gnädige Frau.“

Frau von Larisch war schweigend und mit geringschätzig aufgeworfener Lippe neben ihm hergegangen; ihre feinen Nasenflügel vibrierten, und als Wolfgang geendet, sagte sie, mit der Spitze ihres Stiefelchens einen kleinen Stein weit wegschnellend, ironisch:

„Es ist bitter schade, Herr Hammer, daß Sie nicht Professor geworden sind — Sie würden Ihren aufmerksamen Zuhörern die lichtvollsten Exposés liefern, und die Hochschule, an der sie lehrten, würde um Sie beneidet werden. Ich erlaube mir gegen Ihre überzeugenden Deduktionen nur den einen schüchternen Einwand, daß Sie mit Ihren Anschauungen bezüglich der Liebe und der Ehe nicht sowohl ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts, als vielmehr ein voreiliger Vorläufer kommender Jahrhunderte sind, die mit überlegenem Lächeln auf unsere vorurteilsvolle Beschränktheit herabblicken. Ob Sie dieses Bewußtsein auch noch in späteren Jahren darüber zu trösten vermag, daß Sie an der Gegenwart und an allem, womit sie Ihnen winkte, vorübergingen, weil sonst Ihr sublimes System zu schaden gekommen wäre, muß ich dahingestellt sein lassen. Einer Frau werden Sie leise Zweifel daran zu gute halten müssen.“

„Verzeihen Sie, gnädige Frau, wenn ich Sie gelangweilt habe, aber ich liebe reinen Tisch und wünschte, Ihnen Rechenschaft über meine letzten Beweggründe abzulegen, da mir, was Sie auch glauben mögen, daran gelegen ist, von Ihnen vielleicht für einen starren Principmann, aber doch nicht für einen verdrehten Sonderling gehalten zu werden. Erst so rückt, was mir heute miteinander verhandelt haben, in die richtige Beleuchtung, und sollte an voller Klarheit nicht auch Ihnen gelegen sein?“

Sie waren mittlerweile wieder an die Pforte angelangt und Frau von Larisch nahm rasch ihren Arm von dem Wolfgangs und trat in den Park. Noch einmal haftete ihr Blick — der Mond war inzwischen emporgestiegen — an Wolfgangs Zügen, dann sagte sie:

„Ich gebe gern zu, daß wir zu voller Klarheit gelangt sind, und das hat seinen unleugbaren Wert. Zudem bin ich um die Erinnerung bereichert, einmal eine Stunde lang im Abenddunkel mit einem Doktrinär pur sang im Walde spazieren gegangen zu sein — Sie werden es verzeihlich finden, wenn diese Erinnerung jedesmal ein Lächeln auf meine Lippen ruft.“

„Gewiß nicht, nur wünsche ich, daß es kein bitteres sei. Ich werde von meinem Philosophenrecht Gebrauch machen, höchstens nachdenklich zu lächeln, und da Sie ja wohl kaum in Versuchung geraten werden, von dem heutigen Abend gegen einen Dritten etwas zu erwähnen, so will ich Ihnen meinerseits ausdrücklich versprechen, ebenso zu handeln. Meine Lippen, gnädige Frau, sind versiegelt — (sollte auch darin ein Doppelsinn liegen? Frau von Larisch neigte zu dieser Annahme) auch für den Fall, daß meine Tage hier, wie ich vermute, gezählt sein sollten!“

Diese leichte Mahnung an den Ausgangspunkt ihrer eigentümlichen Unterhaltung brachte dieselbe zu Ende. Frau von Larisch drehte den Schlüssel um, gab ihn: ein vieldeutiges: „Das letztere glaube ich jetzt allerdings selbst! Ihnen ist schwerlich zu helfen, Herr Hammer!“ zurück, und war mit einem plötzlichen, wieder weich und bewegt klingenden, fast zögernden: „Gute Nacht, leben Sie Wohl!“ in der Dunkelheit verschwunden.

Wolfgang kehrte sich scharf, beinahe heftig um und führte die Linke langsam und nachdrücklich über die Stirn; dann sagte er halblaut zu sich selber:

„Wieder ein Feind! Es wird nicht lange mehr dauern und es ist vielleicht am besten so.“ Und er schritt auf weitem Umweg langsam seiner Wohnung zu.

Mit dem „Feind“ irrte er aber doch. Leontine von Larisch war mindestens ein Feind, der das Feld räumte. Sie weinte in der Nacht, die diesem Abend folgte, zornige Thränen und zuckte bei jeder Erinnerung an die einzelnen Phasen dieses Gesprächs noch Wochen nachher zusammen, aber sie konnte sich, als der erste heiße Schmerz der erlittenen Demütigung verwunden war, nicht verhehlen, daß sie sich die derbe Lektion selber zugezogen hatte, und einer unedlen, kleinen Rache war sie nicht fähig. Sie besann sich am nächsten Tage auf eine alte, dringende Einladung zu einer in Berlin verheirateten Jugendfreundin, alle Vorstellungen und Bitten des Kommerzienrats und Emmys konnten sie an der Ausführung dieses plötzlich entstandenen Planes nicht verhindern, und erst im Frühjahr kehrte sie nach M. zurück. Bis dahin aber hatte sich viel geändert.

*          *          *

Wenige Wochen nach jenem Abend schon ergriff der Winter Besitz von den das Städtchen umschließenden Höhen und drang die Hänge hinab ins Thal vor. Die einsamen Ausflüge Wolfgangs, der seinen Gewohnheiten auch im Winter nicht entsagen mochte, und dessen Stimmung ganz danach angethan war, an grauen Novembernebeln und wirrem Flockengestöber Gefallen zu finden, mieden jetzt, wo er kaum noch Gefahr lief, unvermutet Martha zu begegnen, die Höhe hinter dem Park des Kommerzienrats und den Hohlweg nicht mehr, in dem er Martha kennen gelernt, und eher hätte behauptet werden können, daß er diese Punkte mit einer gewissen Vorliebe aufsuche. Er würde freilich, hätte man ihm diesen Umstand neckend vorgehalten, behauptet haben, daß dies purer Zufall sei und völlig absichtslos geschehe.

Weihnachten war nicht mehr gar fern, als er an einem Sonntagabend, im Begriff, den Heimweg von einem eine Meile entfernten Dorfe anzutreten, von einem heftigen Schneesturm überfallen ward. Man riet ihm aus einem der letzten Häuser des Dörfchens mit freundlichem Zuruf, ja auf der Straße zu bleiben, aber er schlug dennoch einen Feldweg ein — es war, als übe der Hohlweg, den er auf diesem Wege berühren mußte, eine magische Anziehungskraft auf ihn aus, ja, als sei der weite Marsch, den er sich und Proud zugemutet, nur ein Vorwand dafür gewesen, dem Hohlweg einen Besuch zu machen. Er achtete es kaum, daß der Sturm fortwährend an Heftigkeit zunahm und daß er nur langsam vorwärts kam. Der feuchte Schnee, der sich bereits wie eine dicke Kruste schwer auf seinen flockigen Paletot gelegt hatte, ballte sich an den Sohlen und Absätzen seiner hohen Stiefel, und nur mit Anstrengung setzte er einen Fuß vor den andren. Die großen Flocken füllten seine Augen, vor die sie sich momentan wie dichte, weiche Körper gelegt hatten, immer wieder mit Nässe, so daß er gezwungen war, die Lider halb zu schließen und nur zu blinzeln; er konnte ohnedies in dem dichten, grauen Gestöber nur wenige Schritte vor sich sehen und kaum noch Proud erkennen, der verdrießlich und schnaufend mit gesenktem Schweif durch den Schnee watete und von Zeit zu Zeit den mächtigen Kopf hob, um einen fragenden Blick auf seinen Herren zu heften und dann resigniert seinen Weg fortzusetzen.

So kamen sie, standhaft gegen den heulenden Sturm ankämpfend, in den Hohlweg, der schon arg verschneit war und in dem Wolfgang wiederholt bis an die Knie in lose Wehen versank. Unwillkürlich suchte sein Blick das Brombeergestrüpp, durch dessen stachliches Gewirr er einst Martha in die Höhe zog; die kahlen Ranken ragten noch aus der weißen Hülle hervor, und er blieb einen Augenblick stehen, um — mußte es gerade an dieser Stelle sein, Freund Wolfgang? — Atem zu schöpfen. Er rückte die weiche Bibermütze aus der Stirn und trocknete die großen Schweißperlen und die Nässe der von der Hautwärme geschmolzenen Flocken mit dem Taschentuche auf. Als er das ganz durchweichte Tuch wieder in die Brusttasche steckte, horchte er plötzlich auf.

Was war das? Er sah Proud nicht mehr, aber aus ganz geringer Ferne kam das dumpfe, freudige Gebell, mit dem er die Freunde seines Herrn zu begrüßen pflegte. Und als Wolfgang einige Schritte vorwärts gethan hatte, erkannte er durch das dichte Gestöber die Umrisse einer weiblichen Gestalt; Prouds buschiger Schweif war in rascher Bewegung — wer konnte das sein?

Der Gedanke „Martha Hoyer“ ward ebenso schnell mit einem unmutigen Kopfschütteln verworfen, als er gekommen war; wie konnte man nur auf einen so phantastischen Einfall geraten? Und dennoch — wie hätte er Martha verkennen können? Halb in Freude, halb in Schreck war er im Nu neben ihr, und es war eine alle Verstellung verschmähendes, besorgtes und teilnahmvolles: „Sie hier, Fräulein Hoyer, in diesem heillosen Unwetter?“, das er hervorstieß.

Sie war es in der That, erschöpft, halb bewußtlos, von dem ihr entgegenbrausenden Sturm an die Stelle gefesselt; ihre Knie wollten brechen, und der Blick, der den Kommenden traf, drückte die vollste Hilflosigkeit und doch auch einen Herzensjubel aus, der wohl nicht bloß dem Retter, sondern zum guten Teil gerade diesem Retter galt.

Sie versuchte, zu sprechen, aber der Sturm nahm ihr die mit schwacher Stimme gehauchten Worte von den Lippen und führte sie davon.

Wolfgang, der einen Moment nicht wußte, ob er wachte oder träumte und ob das ganze nicht vielleicht doch nur ein Spuk seiner erregten Sinne war, — so überwältigte ihn die unwillkürliche Freude über diesen wunderbaren Zufall, — hätte im nächsten Augenblick hinausjauchzen mögen in den Sturm; seine Sehnen strafften sich und er wünschte, daß die Gefahr größer sein möchte, als sie war; er fühlte sich allem gewachsen, und eine fast übermütige Kampflust loderte in ihm auf und forderte die Wut des Sturmes auf, ihr Aeußerstes zu thun. Ihm war nicht bang, und freundlich ermunternd rief er Martha zu:

„Fürchten Sie nichts, die Geschichte hat ganz und gar nichts zu bedeuten und ich bringe Sie sicher hinab in die Stadt. Geben Sie mir nur Ihren Arm, und dann wollen wir es einmal vereint mit diesem unmanierlichen Nordost aufnehmen. Können Sie schon wieder weiter oder wollen Sie noch ein paar Minuten rasten?“

Sie nickte nur und that als Antwort einen Schritt dem Sturm entgegen.

„Brav so, wir dürfen uns doch auch nicht von Proud beschämen lassen.“ Das stolze Tier hatte sich bereits wieder mit gesenktem Kopf in Marsch gesetzt, aber in dem Augenblick, in dem es den Hohlweg und den Schutz der Seitenwände desselben verließ, warf es die Gewalt des Sturmes, der an dieser Stelle am tollsten tobte, fast auf die Seite, so daß es ein murrendes Geheul ausstieß; und auch Wolfgang und Martha wankten, als sie diese kritische Ecke, vor der Martha eine Viertelstunde vorher erschöpft hatte Halt machen müssen, passierten. Einmal wieder im Freien, kamen sie langsam aber stetig vorwärts, und Marthas einzige Antwort auf Wolfgangs besorgte Fragen, ob sie nicht wieder Halt machen sollten, damit sie ein paar Minuten ausruhen könnte, war ein verneinendes Lächeln, und am liebsten hätte sie gefragt: „Soll mir Ihre Nähe nicht die Kraft einflößen, mit Ihnen Schritt zu halten? Und ich bin auch gewiß kein nervenschwaches Dämchen, das in einer solchen Situation nichts besseres zu thun weiß, als in Ohnmacht zu fallen und sich tragen zu lassen.“ Sie errötete über den eigenen Gedanken, — mußte sie sich gestehen, daß er etwas seltsam Süßes und Verlockendes hatte?

Die Heftigkeit des Sturmes verminderte sich nicht, aber als sie erst den Wald erreicht hatten, der ihnen Schutz bot, achteten sie desselben kaum noch und schritten in dem nur aus wenige Schritte einen Ausblick gestattenden Gestöber langsamer dahin, als unbedingt nötig gewesen wäre; sie hatten es ja beide nicht so eilig, dieses unvermutete, beglückende Beisammensein zu beendigen.

Wolfgang ließ sich von Martha erklären, wie sie bei diesem greulichen Unwetter ins Freie gekommen war. Ein Samaritergang in ein benachbartes Dorf, von dem man daheim nichts wußte und auch nichts erfahren sollte, hatte ihr mehr Zeit gekostet, als sie erwartet hatte, und der Wunsch, vor Einbruch der Nacht die Stadt wieder zu erreichen, hatte sie verleitet, den ihr „so vertrauten“ (sagte sie das absichtslos?) näheren Weg einzuschlagen.

Wie lieb und herzlich klang es, wie stolz und glücklich machte es sie als Wolfgang erwiderte:

Mir verraten Sie kein Geheimnis, wenn Sie mir sagen, daß Sie Armen und Elenden Hilfe gebracht und ihnen — was vielleicht mehr ist — in teilnahmsvoller Weise Trost eingesprochen haben. Ich habe Ihren Namen oft nennen hören, von lebensmüden Greisen und von verkümmernden Kindern; ich habe ja so manchen Blick in die Hütten gethan und werde, was ich so gesehen, nie vergessen.“

Martha war nahe daran, sich mit Bitterkeit und Entrüstung darüber auszusprechen, daß Wolfgang gerade seiner Teilnahme für die Armen wegen angefeindet werde, der Name des Rektors schwebte ihr auf der Zunge, aber — nie war es ihr kindischer vorgekommen, diesen sicheren, kühnen, besonnenen Mann warnen zu wollen, und wenn sie es that und die Warnung ihm als ein Ausfluß kleinlicher weiblicher Klugheit erschien und ihn unangenehm berührte, hätte sie dann nicht mutwillig den Zauber gebrochen, der über ihnen waltete? Und konnte er nicht auch glauben, sie wolle ihn in Ermangelung anderer Berührungspunkte dadurch für sich interessieren und eine gewisse Bundesgenossenschaft zwischen ihnen herstellen, daß sie Sympathien mit seinen politischen und sozialen Anschauungen verriet? Mußte er nicht denken: „Davon verstehen Sie ja doch nichts, es muß also einen sehr persönlichen Grund, den Grund, sich mir angenehm zu machen, haben, wenn Sie solche Fragen herbeiziehen?“ Und sie that aus Zartgefühl das Unklugste und Unpraktischste was sie nur thun konnte — sie schwieg.

Sie hatte flüchtig auch den Gedanken, Wolfgang offen und ehrlich zu fragen, was ihn an jenem Abend, an dem eine so auffällige Wandlung mit ihm vorging, so seltsam verstimmt habe; sie wollte ihn herzlich bitten, ihr eine ebenso offene und rückhaltlose Antwort zu geben, und vielleicht bekam sie dann auch Aufschluß über den Abbruch jedes Verkehrs und darüber, daß er nie wieder eine Einladung erhalten hatte. Aber sie schrak vor dem Wagnis zurück, sie fürchtete, sich einer Mißdeutung auszusetzen, sie zitterte davor, Wolfgang durch ein zu sichtliches Entgegenkommen zurückzustoßen und einen Verdacht in ihm zu erwecken, an den sie nicht denken konnte, ohne tief und brennend zu erröten. Ja, hätte Wolfgang nur mit einer Silbe davon gesprochen, daß sie sich so lange nicht gesehen, hätte er das leiseste Bedauern darüber geäußert! Aber er knüpfte ja, mit absoluter Uebergehung der ganzen Zwischenzeit, da wieder an, wo sie an jenem Abend abgebrochen hatten, und konnte er nicht Gründe dafür haben, die lange Pause, die für ihn vielleicht herbe Erinnerungen barg, mit Stillschweigen zu übergehen? Und war das, was er that und fühlte, nicht recht und gut, so daß sie nicht anders konnte, als sich ihm fügen, auch wo sie ihn nicht verstand? War zudem nicht alles, alles wieder gut, war er nicht in Blick und Ton ganz der Alte, und war nicht vielleicht alles, was sie geträumt und gefürchtet, sehr, sehr thöricht? Mußte denn auch gesprochen sein, da schon in dem bloßen Einanderwiederhaben, in dem langsamen Nebeneinanderhergehen ein so reines Glück lag?

Wie schade, daß uns nicht wenigstens in unseren Herzensnöten ein Schutzengel zur Seite geht, der so freundlich ist, uns in kritischen Momenten einen guten Rat zuzuflüstern und uns so vor verhängnisvollen Unterlassungssünden zu bewahren! Hätte ein solches gutmütiges, allwissendes Fabelwesen unsichtbar zwischen den beiden Menschen geschwebt, die zuletzt so langsam durch das Flockengewimmel schritten, als hätten sie am liebsten jeden Schritt zurückgethan, der sie ihrem Ziele entgegenführte, es hätte Martha zugeraunt: „Sprich und sprich sofort; sag ihm, daß du auch vor seiner Parteistellung nicht zurückschreckst, daß du, um ihn zu verteidigen, zum ersten und vielleicht letztenmal in deinem Leben auf einen politischen Streit dich eingelassen hast. Er wartet darauf, mit ungeduldigem Herzklopfen, daß du thust, was Leontine und selbst das Kind Emmy gethan haben und was er ihnen kaum gedankt hat, während er es dir von ganzer Seele und in überströmendem Gefühl danken würde.“ — Und Wolfgangs Hand hätte es leise, aber fest zurückgehalten, als sie schwer ward und niedersinken wollte, und ihm ins Ohr gehaucht: „Noch nicht, erst laß sie reden; dann thue, was du willst und was dein Herz dich lehrt. Du wirst eine Voreiligkeit, die fünf Minuten nicht warten mag, mit Qual und Thränen bezahlen.“

So aber blieben sie sich selber überlassen; Martha kämpfte, überlegte und zauderte, und als sie endlich den Mund öffnen wollte, um die paar Worte zu sprechen, die fortan kein Mißverständnis zwischen ihnen hätten auftauchen und Macht gewinnen lassen, da war es zu spät, denn — schon sank Wolfgangs Rechte scheu und kaum fühlbar, leise und lose auf die ihre, um einen Moment da zu ruhen und dann, wie auf einem strafbaren Vergehen ertappt, rasch zurückgezogen zu werden. Es konnte ein Zufall gewesen sein, aber die bloße vertrauliche Berührung dieser Hand — wohin war der wildlederne Handschuh geraten, den sie sich erinnerte, anfänglich an ihr gesehen zu haben? — jagte Martha alles Blut zum Herzen; die Worte erstickten ihr in der Kehle, sie fühlte, wie sie errötete, und ihre Augen mieden die Wolfgangs, der das freilich nicht bemerkte, denn er befand sich in ganz derselben hilflosen Gemütsverfassung und fürchtete sich vor dem Blick jener ruhigen, ernsten, dunkeln Augen. Konnte dieser Blick nicht ein verwunderter, fragender, vorwurfsvoller sein, eine stumme Verwahrung gegen jede Wiederholung einer solchen Vertraulichkeit? Dennoch zwang es seine Hand wenige Minuten später wieder herab auf die kleine Linke im gefütterten Glacéhandschuh, die um keinen Preis von ihrer Stelle gewichen wäre, seitdem sie erfahren hatte, welchen angenehmen Gefahren sie hier ausgesetzt war, und diesmal fühlte Martha, daß es kein Zufall war und sein konnte, denn die Hand des jungen Mannes umfaßte, wenn auch kaum fühlbar, die ihre und — wurde nicht wieder zurückgezogen. Martha zitterte davor, diese Hand durch eine Bewegung der ihrigen zu verscheuchen, sie würde so traurig gewesen sein, wenn sie absichtslos eine neue Flucht herbeigeführt hätte, und am liebsten hätte sie sich herabgebeugt und ihre Lippen auf diese schüchterne, zaghafte Hand gepreßt. Zwischen dem, was wir in solchen Momenten thun möchten und wirklich thun, besteht aber ein merkwürdiger Unterschied; als die liebe Hand die von ihr umfaßte leise drückte, wagte sie nicht, diesen Druck zurückzugeben ; sie wagte nicht, Wolfgang anzusehen, so sehr sie sich danach sehnte, in seinen Augen die stumme Bestätigung der Vermutung zu lesen, die einen Schauer von Glück über sie ausgoß, und sprechen hätte sie vollends nicht gekonnt; es pflegt uns in derartigen thöricht-süßen Momenten absolut nichts halbwegs Vernünftiges einzufallen, und auf die Worte, die uns zur Wiedergabe unserer Empfindungen zur Verfügung stehen, blicken wir nun vollends gar mit souveräner, unauslöschlicher Verachtung herab. Höchstes und reinstes Glück ist immer stumm, und dieses jeden Laut fürchtende, fast andächtige Verstummen kam über beide. Als vollends Wolfgangs kleiner Finger sich den Marthas suchte und sich um ihn legte, hatten sie das Gefühl, als müßten sie noch stundenlang so fortgehen, gleichgültig wohin, und Proud konnte froh sein, daß Wolfgang, der ja wußte, daß Martha daheim nicht vermißt sein wollte, nicht einmal einen Umweg zu machen wagte, — hätte er sich einfallen lassen, ihr eine Waldpartie vorzuschlagen, sie hätte willenlos genickt und man wäre wohl noch bis in die sinkende Nacht durch das Gestöber gewandert, ohne an den armen, treuen, triefenden Proud zu denken, den man ganz und gar vergessen zu haben schien und der soviel instinktive Diskretion besaß, sich nicht bemerkbar zu machen und stumm hinterher schritt. Aber selbst auf der kurzen Strecke Wegs, die noch zurückzulegen war, setzten die beiden Hände das Miteinandervertrautwerden mit merkwürdigem Erfolg fort, und als man vor dem Hause des Kommerzienrats stand und Martha die erste Bewegung machte, ihren Arm aus dem Wolfgangs zu nehmen, da hatte dieser erst eine sehr innige Verschlingung aller Finger der beiden Hände zu lösen; vier der seinen hatten sich nach und nach zwischen je zwei Marthas gedrängt und nur für den kleinsten war nicht mehr Rat geworden; dafür war er freilich auch nicht mit gefangengenommen worden, als Marthas Hand sich unwillkürlich schloß und die vier Kühnen festhielt, die allerdings diese Gefangenschaft viel zu süß fanden, um sich aus derselben fortzuwünschen.

Und dann stand man sich ein paar Augenblicke länger gegenüber, als nötig gewesen wäre, und — hätte sich am liebsten gefragt: „Morgen?“ Aber es ging noch immer nicht mit dem Sprechen, und gerade, daß Martha ihm nicht dankte, machte Wolfgang sehr glücklich (er hätte natürlich auch jedes Dankeswort hinreißend gefunden). Sie gab ihm noch einmal die Hand; er drückte sie, als hätten sie einen Abschied auf ewig zu nehmen, und in dem Blick, den sie dabei, im Scheiden endlich Mut findend, tauschten, lag der innigste und beredteste Ausdruck, zu dem ihre scheue junge Liebe nur immer gelangen konnte; es lag soviel übermenschliche Glückseligkeit in ihm, daß man ihn fast hätte traurig nennen können — Glück und Trauer sind einander näher verwandt, als man glaubt.

Man mochte sich nicht „Hammer“ und „Hoyer“ nennen und „Herr“ und „Fräulein“ waren vollends gar abscheulich und unaussprechbar; man hatte nicht den Mut zu „Wolfgang“ und „Martha“, und so kam es unwillkürlich, daß beide — feine Diplomatie der Liebe! — nur: „Gute Nacht!“ sagten. Aber wie vertraut und innig es auch dafür klang, dieses schlichte „Gute Nacht!“ —

*          *          *

Am selben Abend hatte in dem seit dem Kriege in „Gasthof zum preußischen Adler“ umgetauften „Hotel de Prusse“ eine Sitzung des nationalliberalen Komitees für die bevorstehende Reichstagswahl stattgefunden, dem sowohl der Kommerzienrat als der Landrat v. Wertowsky beiwohnten. Beide Herren beschlossen, zusammen zu soupieren, da sie noch verschiedenes zu besprechen hatten, und als dem saftigen Rehrücken volle Gerechtigkeit widerfahren war und man sich in der behaglichen Stimmung, die eine gute Mahlzeit zu erzeugen pflegt, eine Cigarre angezündet hatte, um noch in Ruhe und Gemütlichkeit eine verstaubte und mit Spinnengeweb behangene Flasche Burgunder aufzustechen, hob der Kommerzienrat sein Glas und sagte im Vorgefühl des Sieges: „Trinken wir darauf, daß am 10. Januar den Schwarzen die Lust verleidet wird, in unserem Kreise je wieder im Ernste einen Kandidaten aufzustellen.“

Der Landrat ließ sein Glas mit dem Herrn Reischachs anklingen, legte die Serviette beiseite und sagte, den Wein mit geübter Zunge bedächtig nachkostend:

Das kann leicht kommen, aber — glauben Sie denn, daß wir es nur mit dem Kandidaten des Centrums zu thun bekommen? Ich möchte nicht darauf schwören und bin auf einen dritten Bewerber gefaßt, wenn ich ihn auch vorerst nicht fürchte.“

„Aber, Herr Landrat, woher soll denn der Dritte kommen? Wir sind ja, wenn wir auch liberal heißen, so konservativ, daß sich alle konservativen Elemente uns angeschlossen haben, und eine Fortschrittspartei existiert in unserem Kreise doch nur noch dem Namen nach — Offiziere ohne Soldaten!“ Herr Reischach lächelte behaglich und überlegen.

„Nun, und die Roten, Herr Kommerzienrat? Sie vergessen, daß das letzte Mal im ganzen Kreise noch kein sozialistischer Verein existierte; jetzt sind sie allerwärts aufgetaucht, wie Pilze nach einem warmen Regen, und die Leute werden einmal das ziffermäßige Resultat ihrer bisherigen Anstrengungen sehen wollen, die gar nicht zu verachten sind. Ich bin sehr geneigt, zu glauben, daß sie eine überraschend anständige Minorität erzielen würden.“

„Aber das fehlte gerade noch — das ist ja gar nicht möglich, lieber Herr Landrat. Unser Vereinchen hier am Platze besteht allerdings aus intelligentem Burschen — ich habe mich schon oft darüber geärgert —, aber was ihnen anhängt, ist doch fast ausschließlich heruntergekommenes, wüstes, gewaltthätiges Volk, das mehr abschreckt als anzieht; auf den Kern unserer Arbeiterschaft haben sie nicht den mindesten Einfluß, und die ganze Bürgerschaft ist ihnen spinnefeind, um nicht zu sagen todfeind.“

„Meine Informationen klingen weit weniger rosig, bester Herr Kommerzienrat; man hat die unlauteren Elemente entweder discipliniert oder abgestoßen und der Verein hat, wenn auch, aus naheliegenden Gründen, wenig Mitglieder, desto mehr heimliche Sympathien, und die Wahl ist ja, wenigstens nach der Meinung der Leute, die Farbe und Format eines Stimmzettels in ihrer Unschuld für gleichgültig halten, geheim. Speciell Ihre Arbeiter sind, wie ich höre, sehr stark infiziert und unter allen Umständen ist mir ein kleiner Krawall, wie der in diesem Sommer, lieber, als die Einsicht, daß Krawalle und Putsche nur schaden. Sie lassen sich durch die Ruhe der Leute und ihre principielle Vermeidung aller Widersetzlichkeiten täuschen.“

„Ah bah — so schlimm ist es doch nicht, wenn ich auch zugeben will, daß ich mich vielleicht nicht genug um die Stimmung unter den Leuten gekümmert und den Andeutungen des alten Weinlich zu wenig Gewicht beigemessen habe. Vor allen Dingen fehlt ein Führer, der ihnen als Autorität gilt und auf den sie schwören; den Rheinländer, der das Zeug dazu gehabt hätte, haben wir gelegentlich mit guter Manier und ohne Aufsehen uns vom Halse geschafft.“

„Doch nicht so ganz rechtzeitig, mein Freund, und dann ist wohl der Führer fort, aber die Autorität ist geblieben und übt Tag für Tag ihren unfaßbaren, ideellen Einfluß aus.“

Der Kommerzienrat lächelte ungläubig. „Und wer wäre diese geheimnisvolle Autorität? Von ihr müßte ich doch schlechterdings auch etwas wissen, denke ich.“

„Sie scheinen sich wenig darum zu kümmern, was Herr Hammer außergeschäftlich treibt.“ — „Das ist kein Vorwurf,“ setzte der Landrat eilig hinzu, „denn das geht Sie im Grunde nichts an, und wenn er im Geschäft seine Pflicht thut und Ihnen nützlich ist, sind Sie miteinander im Reinen, abgesehen davon, daß mir dieser Herr Hammer ganz den Eindruck gemacht hat, als würde er sich jeden Versuch eines Eingriffs in sein privates Thun und Lassen sehr nachdrücklich verbitten.“

„Aber um Gotteswillen, Herr Landrat, was treibt er denn eigentlich? Jetzt wird mir die Sache ernstlich fatal und ich muß um genauen Aufschluß bitten.“ In der That hörten der Wein wie die Cigarre auf, Herrn Reischach zu munden, seit des Landrats Andeutungen eine so konkrete Form annahmen.

„Nachweisen läßt sich ihm nichts, dazu ist er viel zu klug, und vielleicht ist er auch eine zu kontemplative Natur, um an einer eigentlichen agitatorischen Thätigkeit, die ihm tausend praktische Rücksichten auferlegen würde, während er es lediglich mit der Idee zu thun haben mag, Geschmack zu finden,“ erwiderte der Landrat, den Herrn Reischachs Verblüfftheit und seine komische Verzweiflung höchlichst amüsierten.

Diese Auskunft beruhigte den Kommerzienrat wieder; tief aufatmend sagte er:

„Ja, aber Herr Landrat, wenn man ihm nichts nachweisen kann, läßt sich auch nichts thun.“

„Und was wollten, Sie thun, wenn ich fragen darf?“

„Das kann doch nicht zweifelhaft sein; ich brauche ihn nötig, sehr nötig, wenigstens zur Zeit noch, aber wenn er hier eine sozialdemokratische Bewegung in Gang gebracht hätte, würde ich ihn, ohne auf meine Interessen Rücksicht zu nehmen, entlassen; von zwei Uebeln wählt man das kleinere, und ich werde niemals an meinen Vorteil denken, wo es sich darum handelt, diese unheilvollen, verbrecherischen Bestrebungen zu bekämpfen.“

„Das sind die loyalsten Gesinnungen, die sich denken lassen, aber praktisch und klug gehandelt wäre dies wohl kaum. Ein bekehrter und gewonnener Feind ist mehr wert, als ein zu Boden geschlagener, und selbst wenn sich dieser Herr Hammer frei herausgewagt hätte, wenn er offenkundig Sozialist wäre, würde ich für ein minder gewaltsames Verfahren plaidieren. Erinnern Sie sich nicht mehr, wie ich Sie im Frühling auf ihn aufmerksam machte und mir zugleich erlaubte, Ihnen einen wohlmeinenden Wink zu geben? Ich sah voraus, daß seine etwas zu radikalen Ansichten ihn nach und nach zur Unterstützung staats- und gesellschaftsfeindlicher Bestrebungen bestimmen würden, weshalb ich Ihnen riet, zu versuchen, ob es nicht möglich sei, ihn in unser Lager herüberzuziehen, was bei seinen Anlagen und Kenntnissen wohl der Mühe wert war. Nun finde ich alle meine Vermutungen im vollsten Umfange bestätigt; es ist also jedenfalls nicht angänglich gewesen, den zweifellos begabten jungen Mann in unser Interesse zu ziehen und ihn nicht bloß unschädlich zu machen, sondern ihn sogar in geeigneter Stunde zu benutzen?“

„Erinnere mich sehr wohl, Herr Landrat; wie könnte ich auch einen Rat vergessen, den ein so einsichtiger und gewiegter Politiker wie Sie mir gab? Aber es hat sich nur eben mit Herrn Hammer nichts anfangen lassen, und die fatale Krawallgeschichte, die Sie ja im wesentlichen kennen, hat mich doch verdrossen, und ich habe seit der Zeit nur noch geschäftliche Berührungen mit ihm gehabt. Zuweilen kam mir wohl, wie ich schon erwähnte, andeutungsweise zu Ohren, daß er im Verdacht stehe, sich auf geheime Verbindungen mit den Arbeitern eingelassen zu haben, aber ich hielt das für müßiges Gerede, und ein Geschäftsmann ist ja ein vielgeplagter Mensch, der nicht Zeit hat, sich um solches Geschwätz zu bekümmern; er verlangt Thatsachen, wenn er sich mit Nichtgeschäftlichem befassen soll.“

„Was ihm kein Vernünftiger verübelt — gewiß nicht. Aber zu Ihrer Information teile ich Ihnen mit — ganz im Vertrauen, Herr Kommerzienrat, aber quasi amtlich —, daß Herr Hammer die sozialistische Bewegung hier am Ort und in der Umgegend dadurch unterstützt, ja, ihr eigentlich erst auf die Beine geholfen hat, daß er die Führer unter vier Augen ermunterte und in ihren Ansichten bestärkte, daß er ihnen allerlei Broschüren besorgte und zustellte, daß er ihnen nie seinen Rat versagte und höchst wahrscheinlich auch seine verteufelt gewandte und scharfe Feder nicht. Daß er mit seinen Sympathien zu ihnen steht, ist eine große Ermutigung für die Arbeiter gewesen; er ist allgemein bekannt, beliebt und geachtet, und es hat sich rasch herumgesprochen, daß er zu der radikalen Partei hält und daß die Führer nichts thun, ohne sich seines Einverständnisses vergewissert zu haben. Können Sie es den Leuten verdenken, daß sie an ihn glauben, daß er so manchem eine Bürgschaft für die Richtigkeit der neuen Lehre ist? Und diesen Einfluß werden Sie gewiß nicht unterschätzen. Das alles läßt sich ihm nicht Nachweisen, aber ich denke, Sie können die moralische Gewißheit, die ich hege, teilen; Sie wissen, daß ich nicht vorschnell mir eine Meinung bilde.“

„Ich bin so fest überzeugt, als hätten Sie mir die unwiderleglichsten Beweise geliefert; aber was läßt sich in dieser verdrießlichen Geschichte thun?“

„Nichts, Herr Kommerzienrat, als meinen ursprünglichen Rat beherzigen und darüber nachdenken, ob es nicht möglich ist, den Herrn Hammer zu uns herüberzuziehen. So oder so sollte die Sache sich doch machen lassen, wenn auch nicht heute und morgen, und jetzt, wo er bereits eine Autorität ist, dürfte seine Bekehrung aus einem radikalen, neuerungssüchtigen Saulus in einen praktischen, konservativen Paulus einen noch erheblich höheren Wert haben, als damals, als ich zuerst diese Idee hinwarf.“

Der Kommerzienrat, dem die Cigarre längst ausgegangen war, stützte den Kopf in die Hand und sah äußerst nachdenklich aus, doch überraschte es den Landrat keineswegs, daß das einzige Resultat ein ratloses Achselzucken war. Er stand auf, klopfte Herrn Reischach vertraulich auf die Schulter und sagte mit einer Mischung von Kordialität und Herablassung:

„Nun, nun, kommt Zeit, kommt Rat; suchen Sie nur ernsthaft, so finden Sie auch einen Weg, haben Sie aber den erst, so braucht es nur noch ein wenig diplomatische Gewandtheit, die Ihnen ja vollauf zu Gebote — nein, nein, Herr Kommerzienrat, keine übergroße Bescheidenheit; ich sage nur, was ich denke! Und haben wir ihn erst herum, so trinken wir eine Flasche Sekt in Eis — ja?“

Der Kommerzienrat, der sich namenlos geschmeichelt fühlte, drückte Herrn von Wertowsky wiederholt dankbar die Hand und sagte einmal über das andere: „Ich werde alles thun, alles — verlassen Sie sich darauf, Herr Landrat. Ich kann Ihnen nicht genug danken, wahrhaftig nicht.“

Der Landrat lächelte bedeutungsvoll. „Nicht im voraus; ich hoffe, Ihnen innerhalb der nächsten vier Wochen noch eine kleine Ueberraschung bereiten zu können; ich bedaure, es bei dieser Andeutung bewenden lassen zu müssen. Es scheint, als sei die Angelegenheit — Sie wissen doch? —, die ich, schon solange betrieben habe, jetzt im richtigen Fahrwasser.“

Das war eine frohe Ueberraschung für den Kommerzienrat, die ihn ganz verwirrte. Der Landrat hatte ihm in Aussicht gestellt, daß er sich bei seinem Bruder, der Minister an einem der kleinen deutschen Höfe war, für ihn dahin verwenden würde, daß er den Orden des Ländchens bekäme. Er hatte immer noch nicht recht daran glauben wollen, daß die Sache sich realisieren werde, denn welches Verdienst hatte er sich um diesen Hof erworben? Nicht einmal Geschäftsverbindungen hatte er in diesem Ländchen. Nun sollte es also dennoch wahr werden, und vielleicht sah ihn — erhebender Gedanke! — das neue Jahr bereits als doppelten Ritter — nein, der Landrat war doch ein ganz prächtiger Herr und ein Edelmann vom Scheitel bis zur Sohle! Wenn er nur gleich gewußt hätte, womit ihm ein recht willkommener Dienst geleistet werden könnte. Die Gedanken drängten sich in seinem Kopfe und er vergaß völlig, zu antworten, aber er war hochrot vor Freude geworden und sein verklärtes Gesicht hatte für den Landrat eine höchst ausdrucksvolle Beredtsamkeit. Die beiden Herren bezahlten, und als sie aus dem Hause traten, schob Herr v. Wertowsky, um des Kommerzienrats freudige Verwirrung zu vervollständigen, seinen Arm unter den seinigen und schlenderte mit ihm bis an seine Wohnung, wo er sich mit kräftigem Händeschütteln von ihm verabschiedete; Herr Reischach wollte ihn bis nach dem Bahnhof begleiten, er aber lehnte es ab, schlug ihn noch einmal auf die Schulter und hatte, als er mit raschen Schritten davonging, wohl kaum eine erschöpfende Vorstellung davon, wie stolz und gehoben der Kommerzienrat die erleuchtete Treppe zu seiner Wohnung emporstieg; es war gerade, als sei er noch einige Zoll gewachsen, und die ganze Welt erschien ihm im rosigsten Lichte. War sie denn auch nicht eine Welt, in der es kordiale, einflußreiche Landräte und mehr Orden gab, als die sämtlichen Knopflöcher eines eitlen Kommerzienrats zu fassen vermögen? —

Im Wohnzimmer fand er Emmy und Martha, und die erstere empfing ihn mit dem fröhlichen Zuruf:

„Das ist hübsch, Papachen, daß Du heimkommst, — hoffentlich zum Plaudern aufgelegt? Wo bist Du aber so lange gewesen? Denke nur, es ist zehn vorüber und der Thee wird kaum noch heiß sein.“

„Das Wohl des Staates, liebes Kind, und das Wohl der Nation gehen vor, — man muß auch daran denken. Im Januar schon ist ja Reichstagswahl und wir müssen dafür Sorge tragen, daß unser Kreis einen reichstreuen Mann ins Parlament schickt. Ich habe mit dem Herrn Landrat über diese Dinge intim geratschlagt — wichtige Besprechungen privater Natur, die sich der Erörterung in größeren Kreisen entziehen.“

„Nun, weißt Du, Papa, ich bin auch gar nicht neugierig auf diese Staatsgeheimnisse, wenn Du mir aber sonst etwas erzählen wolltest, wäre dies sehr hübsch von Dir, denn mit Martha ist heute gar nicht zu reden. Sie hat den ganzen Abend neben mir gesessen, wie der Genius des Schweigens, und wenn ich eine Frage an sie richtete, bekam ich entweder gar keine oder eine falsche Antwort.“

„Aber, Emmy, das kann doch gar nicht sein!“ sagte Martha mit einem leichten Erröten. „Ich war allerdings etwas müde und nicht zum Plaudern aufgelegt, aber ich würde es doch gehört haben, wenn Du mich etwas gefragt hättest; Du übertreibst da wohl wieder einmal.“

„Nein, nein, rede Dich nur nicht aus!“ erwiderte die Kleine eifrig, „es war gar nicht zum Aushalten mit Dir, so lieb ich Dich auch habe.“

Der Kommerzienrat fragte besorgt „Bist Du etwa unpäßlich, Martha? Du bist doch nicht am Ende bei diesem gräßlichen Schneesturm aus gewesen und hast Dich erkältet?“

„Gott behüte, Papa,“ warf Emmy ein, „unwohl ist sie durchaus nicht, sie ist auch gar nicht verstimmt und traurig, hat vielmehr mit einem ganz verklärten Gesicht dagesessen und zuweilen still vor sich hin gelächelt.“

„Nun, dann ist es ja gut!“ sagte Herr Reischach beruhigt; „Du könntest doch wissen, daß Martha zuweilen ihre stille, schweigsame Stunde hat.“

„Aber Emmy, was hast Du auch nur mit mir? Ich glaube wirklich nicht, daß es so war, wie Du sagst.“

„Nicht? Sieh einmal an! Und doch,“ fügte sie leise hinzu, „sahst Du so glücklich aus, als — nun ja, als hättest Du Herrn Hammer getroffen und als wäre er sehr liebenswürdig gegen Dich gewesen.“

„Du wirst unartig, Emmy,“ erwiderte Martha und suchte einen strafenden, vorwurfsvollen Ton anzunehmen, aber ihre Stimme zitterte und eine tiefe, brennende Röte überflutete ihr Gesicht bis herab zum Halse.

„Sei nicht böse, Martha,“ flüsterte Emmy wieder. „Es kam mir aber so vor, und Du weißt doch, daß mir das Herz auf der Zunge sitzt. Uebrigens, was wäre denn weiter Schlimmes dabei? Oder ist meine Vermutung denn gar so unwahrscheinlich und könnte es denn nicht so gewesen sein? Hat er Dich nicht immer ausgezeichnet und — siehst Du ihn etwa nicht gern?“

„Ich liebe die Scherze über so ernste Dinge nicht!“ erwiderte Martha, die sich rasch gefaßt hatte, und damit ließen sie das verfängliche Thema fallen.

Der Kommerzienrat hatte sich mit halbgeschlossenen Augen in die schwellenden Divankissen zurückgelegt und verriet durch nichts, daß er auch nur eine Silbe von den geflüsterten Worten vernahm.

Dennoch war ihm keine Silbe entgangen, und es gingen ihm allerlei blendende Lichter auf. Der alte Praktikus verriet dies allerdings nicht, als sich jedoch Martha, Müdigkeit vorschützend, zurückgezogen hatte, um ihr Zimmer aufzusuchen, sagte er unbefangen und harmlos zu Emmy:

„Apropos, was habt Ihr denn vorhin über Hammer verhandelt? Darf man dies wissen oder ist es ein Geheimnis?“

Die Kleine war ein wenig betreten und es war ihr eigentlich nicht lieb, von Marthas gemutmaßter zarter Neigung sprechen zu sollen. Doch sie hatte wenige Tage vorher wieder eine von den Novellen aus weiblicher Feder gelesen, die von der Ueberzeugung diktiert sind, daß die Männer das so unendlich viel sensitivere und scharfsichtigere weibliche Geschlecht in unwürdiger Vormundschaft zu erhalten suchen und es von oben herab und ohne die ihm gebührende Achtung behandeln, und daß sie ohne jede Ahnung von dem reichen, ehrwürdigen und rührend-lieblichen Seelenleben ihrer Frauen und Töchter und Schwestern sind; es reizte sie, ihrem Herrn Papa, der vielleicht auch ein solcher Tyrann war (wer konnte es wissen? Diese Männer verstecken unter ihrer Galanterie vielleicht nur die hochmütige Nichtachtung, mit der sie auf die Frauen herabblicken — es ist abscheulich!), den Nachweis zu führen, daß sich unter seinen Augen ein förmlicher kleiner Roman abgespielt habe, ohne daß er auch nur eine blasse Ahnung davon bekam, und ihm dann zu sagen: „Nicht wahr, ein Mann ist doch nicht klug genug, um alles zu durchschauen, und wir Frauen geben ihnen trotz unserer „Inferiorität“ noch allerlei Rätsel auf?“ Sie sagte also ziemlich spöttisch und übermütig:

„Also jetzt fällt Dir endlich etwas auf und auch nur, weil wir zu laut und unvorsichtig gewesen sind? Und doch haben wir anderen längst Bescheid gewußt, ohne daß uns Martha ein Wort gesagt hätte. Das ist wirklich amüsant, und am Ende könnte ich mich ebenfalls verlieben, ohne daß Du etwas davon merktest.“

„Ah bah — Einbildungen! Was ihr nicht alles zu wissen glaubt! Manchmal mögt ihr ja recht haben, aber noch viel häufiger vergallopiert ihr euch.“

Das war also gerade der männliche Dünkel, den Emmy hatte bekämpfen wollen. Mit mehr Eifer als Besonnenheit erwiderte sie:

„Nun ja, wir — ich meine auch Leontine — haben natürlich die Augen nur dazu im Kopfe, um nichts zu sehen, oder doch nur das, was wir sehen wollen. Eine Frau und ein Mädchen haben eben kein Urteilsvermögen, und wenn sie etwas wissen wollen, so haben sie sich nur etwas eingebildet.“

„Aber Kind, was fällt Dir denn ein? Du thust ja gerade, als hätte ich Dich beleidigen wollen, und doch glaube ich es Dir ganz gern, daß sich zwischen Martha und dem Herrn Hammer etwas angesponnen hat; es würde mich sogar interessieren, genaues darüber zu erfahren, denn ich glaube fast, hier müßte jemand vermitteln, wenn die beiden zusammenkommen sollen; Hammer wird eben nicht den Mut haben, seine Bewerbung anzubringen, und so können sie noch lange nebeneinander herlaufen und sich nacheinander sehnen und alle erdenklichen Umstände machen und die Zeit vergeuden.“

Emmy lachte. „Allerdings, Papa, langweilig wird die Geschichte, und Martha sollte vielleicht Herrn Hammer einige Avancen machen. Aber sie ist so verliebt, so schrecklich verliebt, daß sie ganz unpraktisch zu Werke geht, und das kann noch lange so gehen, wenn Herr Hammer sich nicht ein Herz faßt.“

Es fiel dem praktischen Kommerzienrat gar nicht ein, zu fragen, ob denn auch Wolfgang „schrecklich verliebt“ sei; er meinte wohl, das sei überhaupt nicht nötig, und man könne sich eine Bewerbung um Martha auch ohne eine eigentliche Liebesneigung genügend erklären. Er lächelte überlegen und ein wenig ironisch, als Emmy fortfuhr:

„Es ist übrigens hübsch, daß Martha noch einen Mann bekommt, der sie liebt; Herr Hammer ist ja auch ein ganz netter Mann und hat sie sehr, sehr gern.“

Herr Reischach mokierte sich im stillen über diese mädchenhafte romantische Schwärmerei, nahm sie aber gelassen hin und sagte:

„Nun, ich werde mir den Fall überlegen und dann die nötigen Schritte thun; ich hoffe, die wunderliche Geschichte soll rasch ins Reine kommen.“

„Aber Papa, wirst Du es denn auch zart und vorsichtig genug anfangen?“ wendete Emmy nach einigem Zögern ein. Sie war in der That sehr geneigt, zu glauben, daß Papa sich eben nicht besonders zum Heiratsvermittler qualifiziere.

„Papperlapapp, Kind; ich habe schon zartere Angelegenheiten geregelt und selbst mit Martha wollte ich fertig werden, wieviel mehr mit einem jungen Manne.“

Und er lächelte so selbstbewußt und überlegen, daß seine Tochter, die seine Schwächen aufs Haar kannte, Bedenken trug, weitere Zweifel zu äußern, wennschon es ihr keineswegs unmöglich schien, daß der kluge Herr Papa kläglich Schiffbruch leiden und sie in dem Glauben an das Dogma von der Unfähigkeit der Männernatur, die tieferen Empfindungen eines Frauenherzens zu verstehen und angemessen zu behandeln, bestärken würde. Sie begnügte sich also mit einem leichten, vieldeutigen Achselzucken und packte ihre Plisséstickerei zusammen, um ihr Zimmer aufzusuchen.

„Viel Glück also, Papa, zu Deiner zarten Mission!“ sagte sie scherzend noch in der Thür; sie sah nicht mehr, wie verschmitzt Papa vor sich hin schmunzelte. Er war seiner Sache ja ganz sicher, und als er nach seinem Zimmer ging, um dort noch eine Cigarre zu rauchen, schnipste er vergnügt und im Vorgenuß einer für ihn humoristischen Situation mit den Fingern der fleischigen Rechten und murmelte vor sich hin: „Was werden Sie für Augen machen, Herr Hammer, und wie hastig werden Sie zugreifen, wie gern Ihren unpraktischen Träumereien entsagen, um für sie ein solides Glück einzutauschen! Wie solid dieses Glück ist, davon haben Sie schwerlich auch nur eine annähernde Vorstellung. Als armer Teufel gehen Sie heute zu Bett und morgen abend sind Sie ein gemachter Mann; es wird nicht jedem so bequem gemacht, und wie lange hat es gedauert, bis ich mit Hängen und Würgen es soweit gebracht hatte.“

Fräulein Emmy brauchte längere Zeit als sonst zu ihrer Nachttoilette. Eine nahe bevorstehende Verlobung im nächsten Kreise der Verwandtschaft oder Bekanntschaft hat ja unter allen Umständen etwas Aufregendes für alle junge Mädchen dieses Kreises, und hier handelte es sich beinahe um eine ältere Schwester, um deren Zukunft man schon recht besorgt gewesen war. Und es war ja außerdem ein wahrhaft kleiner Roman, der sich seinem fröhlichen Ende zuneigte und in dem sie selber eine erhebende und rührende Rolle spielte. Wie groß und edelherzig, wie uneigennützig und selbstverleugnend war es von ihr, daß sie Martha den zuführte, der eigentlich ihr gehörte, der sie scheu und aus der Ferne im stillen anbetete, der seine Augen nicht zu ihr zu erheben wagte! Er konnte längst ihr Verlobter sein, wenn er nur ein wenig kühner und sie ein wenig entgegenkommender war, wenn sie nicht lieber die Muse, als die Frau eines Dichters ward; er dichtete vielleicht schwärmerisch- melancholische Stanzen an sie in demselben Augenblick, in welchem sie auf ihn verzichtete, um eine andere durch seine Hand zu beglücken. Ach ja, das war wieder einmal ein Ausfluß jener wunderbaren Erhabenheit und Seelengüte, die dem Frauenherzen eigen ist und die ihre Opfer im stillen bringt und mit blutendem Herzen lächelt, weil sie andere glücklich sieht, ein Ausfluß jener Entsagungsfähigkeit, von der die Männer nichts ahnen und an die sie nicht glauben, weil sie sich ihnen nicht aufdrängt, und an die sie nicht würden glauben mögen, auch wenn sie sich ihnen täglich vor Augen stellte, weil sie dann vor den Frauen ehrfürchtig und bewundernd die Knie beugen müßten. Niemand, niemand, auch Wolfgang und Martha nicht, erfuhren je, was sie gethan und wie edel und selbstlos sie handelte; ja, sich selbst wagte sie — rührende Demut des Frauenherzens! — kaum zu gestehen, wie schön dieser stille, schweigende Heroismus war. Sie wollte ja nicht durch Eitelkeit und Stolz diesem Opfer seinen inneren Wert nehmen. Und dann fiel ihr ein, das sie ja unbedingt Marthas erste Brautjungfer werden mußte, und während sie vor Rührung über die eigene Entsagungsfähigkeit ein paar kleine Thränen vergoß, dachte sie an ihre Toilette und fragte sich, ob sie Meergrün oder Blaßrosa wählen, ob sie Fuchsien oder Oleander ins Haar flechten solle, ob ihr Vorrat an weißen Glaces auch ausreichen werde und ob Martha nicht besser thue, statt weißen Mull lieber farbige Seide zu wählen; sie war doch am Ende in den Jahren, in denen man keine Ansprüche mehr darauf macht, zu den jungen Mädchen gerechnet zu werden, und daher durch weißen Mull oder Rips nur die Spottlust herausfordert.

Unser Freund Wolfgang war freilich sehr weit entfernt davon, Gedichte an Fräulein Emmy Reischach zu richten, wenngleich sie bis zu einem gewissen Grade das Richtige getroffen hatte, als sie sich ihn mit Versen beschäftigt dachte. Er war wie ein Trunkener nach Hause gekommen, hatte Frau Meiling ziemlich zerstreute und konfuse Antworten gegeben und sein Abendessen gar nicht berührt. Die Arme auf der Brust verschränkt, als vermöge er auf diese Weise den Tumult in seiner Brust zu unterdrücken, ging er lange, lange mit großen Schritten im Zimmer auf und ab, sich im einen Augenblick mit Vorwürfen über seine Selbstvergessenheit überhäufend und im nächsten diese Selbstvergessenheit segnend. Sie hatte ja das Eis gebrochen, den Damm zerrissen, dem Schwanken und Zweifeln ein Ende gemacht; er mußte nun handeln, gerade und ehrlich handeln, und zwar ohne weiteren Aufschub. Martha Hoyer erwartete jetzt eine offene Erklärung und sie hatte ein Recht, sie zu erwarten. Er wollte sie geben, schriftlich geben, denn wieviel hatte er zu sagen, wie viele Fragen aufzuwerfen, wie viele Erklärungen abzugeben, wie viele Bedenken und vielleicht auch Vorurteile aus dem Wege zu räumen! Das war mündlich nicht möglich, und es war ihm lieb, daß ihm die Umstände eine briefliche Erklärung aufnötigten und die mündliche ausschlossen.

Es war ihm gar nicht bange vor diesem Brief; sollte es doch kein Brief voll diplomatischer Reserven, voll studierter Kunstgriffe werden, sondern eine gewissenhafte Beichte all seiner Skrupel und Bedenklichkeiten, ein Ausströmen des lange unterdrückten und niedergehaltenen Gefühls. Nichts, nichts wollte er ihr verheimlichen, nichts vertuschen und bemänteln, nichts färben und fälschen; er wollte sich geben, wie er war und er hatte das stolze Vertrauen, daß sie ihn so, wie er war, inniger lieben würde, als hätte er ihr ein gefälliges Phantasiebild vorgeführt. Wie er sich diese stille Martha dachte, ließ sie sich überhaupt nicht täuschen und durchschaute mit scharfem Blick jeden Versuch, ihr für die lebenswarme Wirklichkeit einen schönen Schein zu geben. Es kam ihm, als er im Geiste diesen lösenden und bindenden Brief sich entwarf, der Einfall, zu prüfen, ob sich nicht alle Phasen seiner Neigung für Martha in dem Heftchen spiegelten, das seine in M. entstandenen Gedichte enthielt; es zog ihn mit Allgewalt zu diesen Versen, und als er das kleine Heft durchblätterte, lagerten sich bald tiefe Schatten auf seinem Gesicht, und leise zuckte es um die Mundwinkel, bald huschte ein Lächeln, ein fast übermütiges Lächeln über seine Züge. Was hatte er da nicht alles zusammengezweifelt und zusammengegrübelt und wie thöricht war er doch oft gewesen, welche unnötigen Schmerzen hatte er sich so recht geflissentlich bereitet — Sich allein? Wer wußte denn, ob nicht auch Martha gelitten hatte — durch seine Schuld? Möglich, daß sie ihn, wußte sie erst alles, einen Kleinmütigen schalt, daß sie ihn neckte und ihm liebevolle Vorwürfe machte. Nun, er wollte alles ruhig über sich ergehen lassen und ihr seine Zweifel abbitten, und mußte sie ihm dann nicht gern und willig vergeben, wenn sie alles reiflich erwog und sich in seine Lage dachte? Und er schloß in dieser Nacht kein Auge, denn ein liebes Traumbild wich nicht aus seiner Seele. Er saß vor Martha auf einem Taburett und sie hob sein von tiefer Schamröte gefärbtes Gesicht am Kinn in die Höhe und strich ihm die Locke aus der Stirn und hob scherzhaft drohend den Zeigefinger und sagte leise und innig: „Und das alles hast du von deiner armen Martha denken können, du schlimmer, argwöhnischer, ungerechter — lieber Mann? Wenn ich das gewußt hätte! Ich hätte dann doch vielleicht Mittel und Wege gefunden, dich vor deinen Zweifeln zu retten und wir hätten nicht so lange Verstecken miteinander gespielt und einander nicht so lange und so bitter gequält!“

„Morgen schreibe ich! Den wichtigsten Brief meines Lebens!“ Das war der Gedanke, mit dem Wolfgang einschlief, als der Wintertag bereits graute. Wie freute er sich auf diesen Brief!

Martha würde wohl Mühe gehabt haben, sich am nächsten Morgen mit gleicher Klarheit Rechenschaft über ihre Gedanken in jener Nacht abzulegen, wie dies Wolfgang gekonnt hätte. Es stürmte und wogte in ihr von Glück, von unaussprechlichem Glück, das sie nicht zu fassen vermochte; sie wagte es nicht, das Wort auszusprechen, das vor ihren Ohren sang und klang, das süße Wort: „Er liebt mich!“ War es ihr doch, als müßte ihr das Herz zerspringen vor Jubel, wenn sie die scheue, glückselige Ahnung in Worte faßte: „Ist es denn möglich, kann es denn sein?“ Hundert und hundertmal wiederholte sie sich die Frage und schauerte noch in der Erinnerung zusammen unter der leisen Berührung von Wolfgangs Hand, und alle die öden, freudlosen Jahre ihrer Jugend waren wie ausgelöscht und vergessen. Was nun kam — sie hatte nicht den Mut, es auszudenken, aber so, wie es gewesen war, so konnte es doch nimmer wieder werden, und ein Jugendgefühl, wie sie es noch nie empfunden, durchströmte ihre Adern, und sie lächelte träumerisch bei dem Gedanken, daß sie vor Jahren, als sich an ihren Schläfen die ersten weißen Härchen zeigten, in müder Resignation ihrer Jugend Lebewohl gesagt hatte. Nun wußte sie, daß ihr mindestens ein heißer Spätsommer und ein milder, sonniger Herbst beschieden war, und mit überstimmender Zärtlichkeit flüsterte sie Wolfgangs Namen und fragte:

„Morgen, morgen! Was wird dieses „Morgen“ bringen?“ Das Glück, das für sich zu begehren und zu hoffen sie längst verlernt? Sollte sie dies Jahr zu Weihnachten die Glücklichste im ganzen Hause sein? Und sie hatte doch kaum daran gedacht, daß das liebe Fest so nahe war, hatte sie sich in diesen Tagen doch immer doppelt einsam und verlassen gefühlt.

Es kam Wolfgang am nächsten Tage hart an, daß die Nähe des Jahresschlusses ihn zwang, sich mit mancherlei Vorbereitungen auf die Inventur zu beschäftigen und länger als sonst im Comptoir auszuhalten. Das übrige Personal hatte sich längst entfernt und ihn bei seinen Büchern allein gelassen; er stand eben im Begriff, sie zuzuschlagen und nach Hause zu gehen, um an Martha zu schreiben (er hatte sich bei Frau Meiling Thee bestellt und gedachte, notfalls die ganze Nacht schreibend zu verbringen), als der Kommerzienrat, ganz wider seine Gewohnheit, noch einmal ins Comptoir zurückkam; er hatte angeblich seine Pultschlüssel stecken lassen und wollte sie holen. Mit einer Kordialität, die ihn eine gewisse Ueberwindung kostete, brachte er Wolfgang eine Handvoll echt Importierter und meinte freundlich:

„Nehmen Sie, Herr Hammer — hochfeines Kraut! Herrnhuter Fabrikat — so ziemlich das beste, was es giebt. Aber Sie sind ja Kenner und bei einer reellen Havanna arbeitet es sich noch einmal so gut. Warum lassen Sie sich übrigens nicht helfen? Sie brauchen nicht alles allein zu machen.“

Wolfgang war ziemlich überrascht, — was fiel nur seinem Chef ein? Ruhig erwiderte er:

„Ehe ich jemandem weitläufige Erklärungen gebe und ihn dann auch noch kontrolliere, nehme ich die Arbeit lieber selber vor; ich komme dabei rascher zu stande und bin meiner Sache sicherer.“

, Herr Reischach klopfte ihm wohlwollend auf die Schulter und sagte: „Immer der Alte! Immer: „Selbst ist der Mann!“ Man trifft solche Grundsätze selten, und ich ehre und achte sie. Sie wissen, ich mache nicht viel Worte, aber ich habe mich schon oft über Sie gefreut und ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß Sie bei mir einen Stein im Brette haben. Es verschlägt nichts, daß Sie nebenbei auch ein kleiner Tausendsassa sind, der den Mädchen die Köpfe verdreht und allerlei seltsame Geschichten anrichtet.“

Wolfgang ward betreten; dieser Ton berührte ihn unangenehm, und er konnte nicht einmal absehen, wo das hinaus sollte.

„In diesem Augenblick verstehe ich Sie nicht, Herr Kommerzienrat; Sie müssen wohl oder übel falsch berichtet worden sein, denn ich wüßte nicht, auf welche thatsächliche Unterlage sich diese scherzhafte Anspielung stützen könnte.“

„Nun seh einmal einer an, wie unschuldig er sich stellen kann! Als ob er kein Wässerchen getrübt hätte, und doch weiß ich sehr genau, daß ich nicht zu viel gesagt habe und daß man gegen eine, die man wohl kennen wird, entschieden liebenswürdiger gewesen ist, als nötig gewesen wäre. Ich kenne diese eine sehr genau und weiß, daß das Malheur ziemlich groß ist.“

Ein jäher Verdacht stieg in Wolfgang auf; er errötete tief und das Wort starb ihm auf der Lippe.

Der Kommerzienrat faßte das eine Ende seines blonden Schnurrbarts, wirbelte es vertraulich-scherzend um den Finger und sagte heiter:

„Nun, besinnen Sie sich? Habe ich den wunden Punkt getroffen? Ja, ja, es ist nichts so fein gesponnen u. s. w. Das wird auch bei Ihnen wahr, und Sie sind doch nicht vorsichtig genug gewesen. Nun, handelte es sich nicht gerade um Martha Hoyer, so hätte mir die Geschichte ja entgehen können, so aber — das mußte doch herauskommen, früher oder später.“

Wolfgang war sichtlich bestürzt, aber der Kommerzienrat deutete diese Bestürzung falsch und fuhr begütigend und beruhigend fort: „Nun, .Sie können schon zugeben, daß ich recht habe, der Kopf geht deswegen nicht herunter, und was will ich denn weiter thun, als Ja und Amen sagen, da die Affaire schon so weit gediehen ist, daß sich die arme Martha die Augen aus dem Kopfe weinen würde, wenn sie ihren schmucken Wolfgang Hammer nicht bekäme. Man hat doch auch kein Kieselherz und am Ende habe ich Martha nicht einmal etwas zu sagen.“

Eine fahle Blässe hatte sich auf Wolfgangs Zügen gelagert und düster und gepreßt fragte er:

„Darf ich mir zunächst die Frage erlauben, ob Fräulein Hoyer selbst es gewesen ist, die Ihnen Andeutungen gemacht hat, aus denen Sie diese Schlüsse ziehen?“

„Andeutungen! Schlüsse!“ erwiderte der Kommerzienrat mit etwas gezwungenem Lächeln; ganz wohl war ihm doch nicht, und er hatte geglaubt, die Sache werde leichter ins Reine kommen. „Eine ganze Geschichte, Herr Hammer, hat man mir schließlich gebeichtet, eine sehr pikante Geschichte - und wer sonst, als Fräulein Hoyer selber?“

„Und Sie sind also, was mir, verzeihen Sie, zunächst doch das Wichtigste ist, ermächtigt, mir zu sagen, daß meine Werbung um sie bei ihr eine günstige Aufnahme fände?“

„Können Sie denn immer noch nicht daran glauben, daß Sie so erstaunliches Glück haben? Soll ich es Ihnen etwa Schwarz auf Weiß geben? Daran, daß sich ein nicht mehr ganz junges Mädchen in einen charmanten jungen Mann mit einem so prächtigen Schnurrbart verliebt, ist doch am Ende nichts wunderbares, und Sie haben, denke ich, ehrlich das Ihrige gethan, um sie verliebt zu machen. Warum halten Sie es für nötig, mir gegenüber zu thun, als seien Sie wie aus den Wolken gefallen?“

„Glauben Sie mir, Herr Kommerzienrat, ich war, was auch zwischen Fräulein Hoyer und mir vorgefallen sein mag — und das ist herzlich wenig — auf diese Wendung nicht gefaßt!“ lautete die Antwort, deren letzte Worte einen fast stählernen Klang angenommen hatten, der den Kommerzienrat aufs äußerste befremdete.

Aber, ich bitte Sie, Herr Hammer, wozu nun alle die Umstände? Sie werden mir doch nicht einreden, daß Sie mit keiner Silbe an eine Verheiratung gedacht hätten. Es ist doch eine gute Partie, eine verdammt gute Partie, die Sie da machen, und ich bin der letzte, der es Ihnen verdenkt, daß Sie Ihren Vorteil geschickt wahrnahmen. Ein junger Mensch muß Glück haben, das war immer mein Wahlspruch, und die einfachste Art, zu einem Kapital zu kommen, ist eben doch die, es zu erheiraten, wenn man selbst ein Auge dabei zudrücken muß. Von der Liebe allein lebt man nicht, und eine schöne Schüssel kann man nicht essen. Ich verdenke es Ihnen ganz gewiß nicht, daß Sie resolut zugegriffen haben, und ich würde einen jungen Mann, dem sich eine so brillante Gelegenheit bietet und der sie nicht benützt, für verzweifelt unpraktisch halten. Sie sind mir jedenfalls viel lieber als ein Offizier der sein Vermögen verjubelt hat, bis an den Hals in Schulden steckt und sich dann unter des Landes Töchtern nach den schwersten umsieht. Es freut mich um so mehr, daß Sie so verständig und praktisch handeln, als ich gefürchtet hatte, Sie seien in vieler Beziehung auch ein Schwärmer und paßten nicht in die Welt.“

Es war ein düster-forschender Blick, den Wolfgang auf den Kommerzienrat heftete, indem er erwiderte:

„Ich bedaure, gestehen zu müssen, daß die günstige Meinung, die Sie von mir hegen, nicht ganz begründet ist; ganz so praktisch, als Sie glauben, denke und fühle ich doch nicht, und es will mir nicht einleuchten, daß diese Angelegenheit zwischen uns erörtert werden mußte, bevor zwischen Fräulein Hoyer und mir bindende Erklärungen ausgetauscht worden waren.“

Der Kommerzienrat lachte überlegen. „Aber, bester Herr Hammer, das ist in der That lustig. Sollten Sie denn wirklich nicht einsehen, daß es ganz etwas anderes ist, ob man ein blutarmes Mädchen heiratet, oder ob man im Begriff steht, eine glänzende Partie zu machen? Im ersteren Falle kann sich ja alles in der romantischsten Weise abwickeln; hier sind doch so mancherlei äußerst materielle Nebenumstände ins Auge zu fassen und zu regeln, und es ist nicht bloß praktisch, sondern sogar eine Forderung des Zartgefühls, daß diese Dinge erledigt sind, bevor es zur Erklärung kommt. Sie werden begreifen, daß eine ziemlich poetisch angelegte Dame, wie es Fräulein Hoyer ist, den Wunsch hegt, sich die ersten Tage oder gar Stunden des Liebesglücks nicht durch solche Erörterungen zu trüben und zu verderben? Da besinnt man sich denn auf so unpoetische und unromantische Personen, wie es Väter und Onkel sind, oder sonstige männliche Stützen, und betraut sie mit der Mission, diese leidige Seite der Angelegenheit in diskreter Weise zu regeln, damit man nachher ungestört schwärmen kann.“

Der Kommerzienrat nahm Wolfgangs ironisch-bitteres: „Fräulein Hoyer hätte allerdings keinen diskreteren Vermittler finden können!“ für bare Münze und fuhr zuversichtlich fort:

„Eine solche Vermittlung war um so unerläßlicher, als in unserem Falle noch einige kleine Bedingungen zu stellen waren, an deren Annahme sie selbstverständlich nicht zweifelt, die stellen zu müssen ihr aber sehr peinlich ist, so peinlich, daß sie ausdrücklich fordert, daß über dieselben auch für alle Zukunft beiderseits unbedingtes Stillschweigen beobachtet wird und daß sie nie auch nur andeutungsweise berührt werden, — wiederum ein Beweis von weiblichem Zartgefühls den Sie gewiß bewunderungswürdig finden werden.“

„Darf ich bitten, mich über diese Bedingungen offen und unverkürzt und mit einemmal zu unterrichten, obgleich sie meinen Entschluß schwerlich irgendwie beeinflussen werden?“

„Das glaub ich auch, Herr Hammer,“ lachte der Kommerzienrat. Eigentlich ist es selbstverständlich, daß diese Wünsche Fräulein Hoyers erfüllt werden würden, auch wenn sie dieselben nicht ausgesprochen hätte, und ich war der Meinung, daß sie gar nicht nötig hätte, Sie durch ein Versprechen zu binden. Der Uebergang aus einer Lebensstellung und einem Gesellschaftskreise in wesentlich verschiedene bringt unwillkürlich nicht bloß eine Aenderung der Lebensweise und der Liebhabereien, sondern selbst einen Wechsel der Anschauungen mit sich, und ich halte Sie für viel zu einsichtig und taktvoll, als daß sich nicht alles ganz von selbst nach den Wünschen der Braut und Frau gestaltet hätte. Aber sie legte Gewicht auf diese kleinen Bedingungen, glaubte sogar, daß sie ein kleines Opfer von Ihnen fordere und bestand darauf, daß ich diese Seite der Angelegenheit mit Ihnen bespräche. Nun, ich denke, Sie werden Ihrer zukünftigen Frau mit Vergnügen beruhigende Zusicherungen geben.“

„Und an welche Bedingungen — Sie entschuldigen meine Ungeduld — glaubt Fräulein Hoyer die Gewährung ihrer Hand knüpfen zu müssen?“

„Sie würde keine ruhige Stunde haben, wenn Sie noch länger der Feuerwehr angehörten; gewiß ist diese Thätigkeit bei Ihrem Eifer und Ihrer Kühnheit mit ernsten Gefahren verbunden, — ich glaube nicht, daß ich nötig habe, Sie an den fast tragischen Vorfall in diesem Frühjahr zu erinnern.“

„Und die übrigen Kleinigkeiten?“ drängte Wolfgang.

„Fräulein Hoyer findet, es sei nicht zulässig, daß ihr Mann in einem Bildungsverein für Arbeiter, vor Leuten aus den untersten Schichten, vor Krethi und Plethi, Vorträge halte, — als ob sie später Lust und Zeit haben würden, sich mit solchen Dingen abzugeben! Als ob Sie sich nicht lieber Ihrer Frau und den gesellschaftlichen Verpflichtungen widmen würden, die Ihnen aus Ihren neuen Verhältnissen erwachsen werden! Aber so sind nun die Frauen, sie wollen immer ganz sicher gehen.“

Es war eine Starrheit über Wolfgang gekommen, die der Kommerzienrat für Gleichgültigkeit hielt; so fuhr er denn in leichtem Tone fort:

„Durch irgend eine Klatscherei hat Fräulein Hoyer Kenntnis davon erhalten, daß Sie aus falschverstandener Humanität der Bewegung unter den Arbeitern Vorschub geleistet haben, so daß Sie in den Verdacht gekommen sind, Sympathien für die verabscheuungswürdigen Bestrebungen der Partei zu hegen, die alles Bestehende umstürzen will. Sie können sich denken, welchen Eindruck diese Einflüsterungen auf sie gemacht haben; sie verabscheut selbstverständlich diese Partei von Grund ihrer Seele, und da ich nicht in Abrede stellen konnte, daß allerdings verschiedene Ihrer Handlungen, wenngleich gewiß aus ganz anderen Motiven hervorgegangen, Sie dem Verdacht aussetzen, derartige Sympathien zu hegen, so ist es ihr am Ende nicht zu verargen, wenn sie verlangt, daß Sie überhaupt jeden Verkehr mit den Arbeitern abbrechen, der einem solchen, für sie furchtbar peinlichen Gerücht neue Nahrung geben könnte. Ich habe ihr vorgestellt, daß Sie viel zu vernünftig seien, um derartige hirnverbrannte Ideen zu teilen, und daß überdies, wenn Sie nur erst ein Kapitalist geworden seien, Ihr eigenes Interesse Sie vor allen derartigen schwärmerischen Extravaganzen behüten würde, aber sie war nicht von ihrer fast abergläubischen Furcht zu kurieren und behauptet, sie könne Ihnen nur dann die Hand reichen, wenn sie volle Beruhigung über diesen Punkt hätte. Die Wohlthätigkeit, die eine Pflicht des Reichtums ist — noblesse oblige — werde sie nach wie vor üben, Sie sollten sich principiell jeden Umgangs mit den Leuten enthalten, der nach dem Vorausgegangenen falsch gedeutet[WS 6] werden könnte. Ich denke, als verständiger Mann werden Sie sich lächelnd auch über diesen Punkt beruhigen, aber Sie sehen wohl ein, daß sie nicht selbst darüber mit Ihnen reden mochte.“

Es entstand eine fatale, beklemmende Pause. Wolfgang antwortete nicht, sondern starrte finster und wie betäubt vor sich hin, während er die spitze, scharfe Klinge des Radiermessers mechanisch wieder und wieder in die Ledermappe stieß, die als Unterlage auf seinem Pulte lag. Als nun der Kommerzienrat, um die verlegene Situation zu beendigen, mit erzwungener Jovilaität sagte:

„So nun wären die wichtigsten Bedingungen heraus und Sie lachen wohl mit mir über diese Frauenzimmer-Bedenklichkeiten. Jedenfalls wissen Sie nun, unter welchen Bedingungen Sie sich morgen das „Ja“ einer zärtlich-besorgten Braut holen, obgleich diese Bedingungen selbstverständlich mit keinem Wort berührt werden. Hahaha, Liebesleute, die über so trockene und nüchterne Dinge sich unterhalten, als wenn sie nichts besseres zu thun hätten und als wenn es nicht viel genußreicher wäre, sich ans „Du“ zu gewöhnen! Wann gedenken Sie zu kommen? Es wäre doch gut, wenn man es vorher wüßte, so daß es sich so einrichten läßt, daß Sie Fräulein Hoyer allein treffen. Halten Sie es denn bis zum Abend aus? Man war doch auch einmal dreißig Jahre und weiß noch, wie man da die Minuten gezählt hat!“

Der Kommerzienrat war seiner Sache jetzt vollkommen sicher, und so war er denn[WS 7] doppelt betreten über den harten, düsteren, einen gewaltsamen Entschluß verratenden Blick, den Wolfgang, wie aus langem Brüten aufwachend, zu ihm aufschlug, über die Fahlheit und Regungslosigkeit seiner Züge, über den trotzigen Ausdruck der fest aufeinander gepreßten Lippen. Es war, als habe Wolfgangs Stimme, trotz seines gewaltsamen Ringens nach Fassung, Selbstbeherrschung, allen Klang verloren, als er erwiderte:

„Ich bin nie so ungeduldig gewesen und werde es diesmal bestimmt nicht sein. Alles, was Sie mir heute mitgeteilt haben, ist so überraschend und überwältigend über mich gekommen, ich war, was Sie auch glauben mögen, so wenig gefaßt auf solche Eröffnungen, ich habe bisher so wenig daran gedacht, meine Blicke zu Fräulein Hoyer zu erheben, daß ich erst wieder zu mir selber kommen muß. Fräulein Hoyer gegenüber erklären Sie die Verzögerung wohl damit, daß sie mir ja Bedingungen gestellt habe, von denen sie selbst glaubt, daß es mir ein Opfer kosten werde, sie zu erfüllen, und eventuell können Sie ihr ja auch sagen, daß man, wenn man in meiner Lage gewesen sei, Zeit brauche, sich an den Gedanken eines solchen Glücks zu gewöhnen. Auf keinen Fall aber thue ich einen Schritt, ohne ihn erwogen zu haben, und ich muß mir also eine Bedenkzeit ausbitten.“

Es war dem Kommerzienrat nicht entgangen, daß ein Widerspruch zwischen den Worten des jungen Mannes und seiner ganzen Haltung, sowie dem Klang seiner Stimme bestand, es war ihm sogar, als klinge etwas wie bitterster Hohn gerade durch die verbindlichsten Stellen, und das Verlangen einer Bedenkzeit ein so unerhörtes, ja beinahe lächerliches, daß er sich nur mühsam in die veränderte Lage fand. Die Geschichte war ihm entschieden nicht geheuer, aber was sollte man mit einem so sonderbaren Menschen anfangen? So fragte er denn beinahe kleinlaut:

„Und wie lange wollen Sie die Entscheidung aufschieben?“

„Binnen hier und spätestens drei Wochen erhalten Sie meine Erklärung; sie ist mir schon jetzt nicht zweifelhaft, indessen möchte ich erst mit mir selber ins Reine kommen, und ich glaube, die eigentümlichen Umstände rechtfertigen das Verlangen, dessen Ungewöhnlichkeit ich vollständig einsehe.“

Das klang schon wieder viel unbedenklicher, und die Menschenkenntnis des Kommerzienrats neigte überhaupt, nachdem die erste Bestürzung überwunden war, zu der Annahme, daß Wolfgang nur ein wenig Komödie spiele. Man mutete ihm im Grunde doch einen Abfall von seinen Ueberzeugungen zu, und war es denn nicht am Ende verzeihlich, obwohl herzlich überflüssig, daß er aus Scham und Stolz sich ein wenig sperrte und zierte, daß er sich stellte, als koste ihn der Entschluß, der ja wohl feststand, ernste Ueberwindung? Er konnte glauben, das einzige Aequivalent, das er für das Vermögen Martha Hoyers zu bieten hatte, durch ein scheinbares Zaudern und Schwanken wertvoller machen zu müssen, und diese harmlose Spiegelfechterei konnte man ihm ja am Ende gönnen. Daran, daß er lange vor Ablauf der erbetenen Frist sich beeilen würde, die Beute, nach der er aus Anstandsgefühl nicht sofort greifen mochte, einzuheimsen, konnte doch vernünftigerweise nicht gezweifelt werden, und so nahm denn der Kommerzienrat keinen Anstand, dem jungen Manne für seinen unvermeidlichen Rückzug die gewünschte goldene Brücke zu bauen. Je fester er davon überzeugt war, daß Wolfgang nur aus rein geschäftsmäßigen Erwägungen sich das alternde reiche Mädchen gekapert habe, was er ja für einen kleinen Meisterstreich hielt, dem er seine Bewunderung nicht versagen konnte, je mehr die kaum geahnte Geriebenheit Wolfgangs ihm imponierte, für desto schlauer hielt er es, ihm die Konzessionen, zu denen die kommerzienrätliche Schlauheit ihn zwang, nicht unnötig zu erschweren, und so sagte er denn launig:

„Gut denn, obgleich ich natürlich für die etwaigen Folgen nicht aufkommen kann. Ich werde mir Mühe geben, Fräulein Hoyer Ihre sonderbare Bedingung in unverfänglichem Lichte darzustellen, und ich hoffe, daß mir das gelingen wird, aber je früher Sie Ihre Skrupel über Bord werfen, desto besser wird es jedenfalls sein.“

„Es ist mir so außerordentlich viel an diesem Aufschub gelegen, daß ich Ihnen für Ihre Güte gar nicht dankbar genug sein kann, und Sie können sich darauf verlassen, Herr Kommerzienrat, daß ich eine Antwort geben werde, die an Klarheit und Unzweideutigkeit nichts zu wünschen übrig läßt und deren Form vielleicht auch Sie überraschen wird. Ich bin mir über das Wie? noch nicht ganz klar, das eben soll sich in der Zwischenzeit finden. Sie können Fräulein Hoyer sagen, daß ich auch in diesem Falle ganz ich selber sein und daß sie mich bis auf den kleinsten Zug wiedererkennen würde.“

Wolfgang hatte das mit Zusammenfassung aller seelischen Kraft in einem möglichst verbindlichen und freundlichen Tone gesagt, indessen gebot er doch lange nicht über einen hinreichenden Fonds an Verstellungsgabe, und einen anderen, als gerade den Kommerzienrat, der jeden für einen Tollhäusler gehalten hätte, der sich ein so brillantes Geschäft entgehen ließ, würde diese mysteriöse Erklärung eher beunruhigt, als in Sicherheit gewiegt haben. Dieser deutete jedoch die Worte in seinem Sinne, und mit einem fast verschmitzten:

„Nun denn — gute Nacht, Herr Hammer, und wenn Ihnen ein alter Praktikus einen Rat geben darf, so machen Sie die Geschichte kurz!“ Verließ er das Comptoir.

Wolfgang sah ihm düster nach, bis die schweren Tritte verhallt waren, und wer ihm in die Augen gesehen hätte, der würde für die nächste Zukunft wenig Gutes geweissagt haben. Er sank dann wie gelähmt in seinen Sessel, die Arme suchten auf dem Pult eine Stütze und, beide Hände vor der fiebernden Stirn, saß er lange, lange mit geschlossenen Augen. Er wußte, was er zu thun hatte, und schon während der alle seine Träume vernichtenden Unterhaltung hatte er einen Entschluß gefaßt, der ihn mit einer Art von wilder Freude erfüllte, aber so ungeheuer jäh war die Enttäuschung gewesen, daß er sich erst jedes gewechselte Wort wieder ins Gedächtnis zurückrufen mußte. Und während dieses Sinnens zernagte er sich die Lippe, und eine schwere Thräne, aber eine Thräne des Zorns und der Scham, rollte über seine Wange, und er wischte sie hastig mit der Hand fort, als der Lehrling ins Zimmer trat und sich schüchtern erkundigte, ob er noch lange zu arbeiten gedächte.

Er fuhr aus seinem Sinnen und Brüten auf, gab ein einsilbiges: „Ich gehe sofort“ zurück und verließ hastig, als würden ihm im Freien andere Gedanken kommen, das Comptoir. Sollte er noch auf ein paar Stunden ins Freie laufen? Der Schnee knirschte, die Sterne funkelten und flimmerten am tiefblauen, wolkenlosen Dezemberhimmel, und er liebte diese Nächte, aber er war wie zerbrochen und ging heim.

In seinem Zimmer war es, so traulich und warm; die Lampe mit dem grünen Schirm verbreitete ein gedämpftes, mildes Licht, die Theemaschine summte, und als er vor der Thür stand, hatte, ihn Prouds freudiges, leises Winseln begrüßt. Er klopfte das treue Tier auf den Kopf und sagte in einer Anwandlung grimmigen Humors:

„Ich kann dir nicht helfen, Proud, du mußt dich wieder einmal reisefertig machen. Gehst du wieder mit nach England? Frau Meiling und ihre Schinkenknochen werden dir freilich lange noch das Herz schwer machen und bei deinem Herrn ist auch nicht alles, wie es sein soll, aber das wird verwunden und der Kopf geht dabei nicht herunter.“

Aber er zuckte doch leicht zusammen, als sein Blick auf den Schreibtisch fiel — da hatte er sich ja schon am Mittag Briefpapier zurechtgelegt, und nun blieb sein erster Liebesbrief, der im Kopfe längst fertig war, doch ungeschrieben. Oder vielmehr — der Gedanke hatte durch den Kontrast etwas schmerzlich Pathetisches für ihn — auf den Bogen, auf dem er ein Bild von seinen inneren Kämpfen und seinem Sehnen und Zweifeln hatte entwerfen wollen, wollte er sich den eigenen Ausweisungsbefehl schreiben.

Jedenfalls kam er damit rascher zustande — derartige Befehle pflegen sich einer lakonischen Kürze zu befleißigen. Die drollige Formel österreichischer Ausweisungsbefehle, wonach man „aus den im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern“ aus Gründen der öffentlichen Ordnung „abgeschafft“ wird, kam ihm in den Sinn, und er hatte für einen Moment den Einfall, einen solchen Befehl parodistisch auf seine Lage anzuwenden, aber mit dem Scherzen wollte es doch nicht so recht gehen, und so schrieb er denn kurz und knapp, wenn auch mit zuweilen versagenwollender Hand:

Alter Junge!

Die (zweifelhafte) Herrlichkeit hier hüben ist doch nur von kurzer Dauer gewesen. Ich habe eine bittere Lektion bekommen, eine gallbittere, und werde mich in wenig Tagen eigenhändig in die Luft sprengen. Es wird mir Ueberwindung genug kosten, auch solange noch auszuhalten, aber es ist eben doch noch so manches glatt zu machen, und da heißt es denn, die Zähne aufeinanderbeißen und still halten. Was passiert ist, kannst Du Dir in der Hauptsache an den Fingern abzählen; das Stück Poet in mir hat mir einen ganz ungeheuerlichen Possen gespielt, und bei dem Ausbrennen einer Wunde geht es denn nicht ohne Zuckungen ab. Ich werde Dir ja den bösen Roman in ein paar Wochen ausführlich mündlich erzählen, und für's erste genügt es, wenn Du weißt, daß ich bald wiederkomme, ohne weitere Anmeldung. Das Schreiben wird mir verzweifelt sauer, und wüßtest Du, was mir heute passiert ist, so bekämst Du vielleicht einen gelinden Respekt davor, daß ich überhaupt noch wie ein Mensch schreiben kann, von dem sich voraussetzen läßt, daß er seine fünf Sinne trotz alledem noch so leidlich beisammen hat. Nur das Eine laß Dir noch sagen, daß ich nicht, was Dich ja wurmen würde, eine sentimentale Abschiedsscene aufführen werde; ich bin vielmehr ganz in der Stimmung, der zu sein, der das Tischtuch zerschneidet, und mir einen glänzenden Abgang zu sichern, nachdem ich vorher noch einmal nach Herzenslust um mich gehauen habe. Daß ich's kann und daß die Milch meiner Denkungsart sich zwar nicht in gärend Drachengift verwandelt, aber immerhin unter bestimmten Voraussetzungen bedenklich sauer wird, weißt Du ja. Also hab' nur keine Bange; ich bin sträflich sentimental gewesen, ich habe eine Dummheit begangen, die nicht aufhört, eine Dummheit zu sein, weil sie sich hochpoetisch herausgeputzt hatte, ich bin dafür über die Gebühr malträtiert worden, aber ich werde ihnen zeigen, daß sie sich trotzdem immer noch in mir verrechnet hatten und dafür sorgen, daß sie sich bedenklich hinter den Ohren kratzen, so oft sie meiner gedenken.

Grüß mir inzwischen die See, meine alte Liebe, und laß ein Bett aufschlagen für

Deinen Wolfgang.

Es war ein schmerzliches Zucken der Lippen, mit dem unser junger Freund den fertigen Brief überlas. Dieser Brief befriedigte ihn nur sehr wenig. Einerseits fand er denselben matt und farblos und unvermögend, dem Freunde auch nur einen entfernten Begriff von dem herben, bitteren Groll zu geben, der ihm bis herauf in die Kehle schwoll, von dem widrigen Geschmack, den er auf der Zunge hatte, von dem brennenden Vergeltungsverlangen, das ihn verzehrte; andererseits fühlte er sich viel elender, als diese Zeilen verrieten, und er war geneigt, sich einen Komödianten zu nennen, und sich ein hohles Prahlen mit einer Festigkeit vorzuwerfen, von der sein Herz doch nichts wußte, wenn er sie auch, verzweifelnd fast, anstrebte. Der Gedanke an den Entschluß, der während der qualvollen Unterredung in ihm gereist war, behütete ihn vor dem widerstandslosen Versinken in die empörte Flut des Gefühls, und er klammerte sich krampfhaft an diesen Gedanken, aber es war doch ein wildes, schneidendes Weh, das er empfand, und das rote Herzblut der Schmerzen sickerte immer wieder durch den dürftigen Notverband der Bitterkeit und des sarkastischen Spotts über die eigene thörichte Schwäche. Er schlug sich vor die Stirn und fragte sich, ob er darum dreißig Jahre alt geworden sei, um eine blonde, blöde Jugendeselei zu begehen, die andere in ihrem achtzehnten Jahre abmachen, ob Raison darin sei, sich in ein paar dunkle, sprechende Augen zu verlieben und aus Rand und Band zu geraten, wenn sich hinterher ganz naturgemäß herausstellt, daß diese schönen Augen einem in weiblichen und kleinstädtischen Vorurteilen verknöcherten Mädchen angehören; er warf sich vor, durch seinen Idealisierungsdrang an allem selber schuld zu sein und sich durch ein alltägliches Geschöpf solange systematisch herausgeputzt zu haben, bis er sich berechtigt glaubte, sie anzubeten; er stellte sich vor, daß er es ja in der Hand habe, der engherzigen Kleinstädterin den Nachweis zu liefern, daß man es doch noch anders anfangen müsse, um einen so wilden, scheuen Vogel wie ihn einzufangen; er weidete sich im voraus an dem Bilde, das der Herr Kommerzienrat und seine vorsichtige Klientin in dem Augenblick darbieten würden, in dem er alle ihre klugen Pläne zu schanden machte — aber warum wollte nur das alles nicht so recht anschlagen, warum zuckte das arme Herz fort und fort? Er zürnte sich selber, er schalt und verhöhnte sich, er rief den Stolz zu Hilfe, der ihn schon über so vieles, hinweggehoben und emporgetragen hatte und von dem er hoffte, er werde sich gegen die unwürdige Schwäche empören, aber es blieb doch bei einer Halbheit, und alle Erbitterung und Entrüstung konnte nicht verhindern, daß er die Hände vor die Augen schlug und in hilflosem Weh stammelte: „Also auch sie, auch sie!“

So ward er hin und her geworfen zwischen dem leidenschaftlichen Grimm über die ihm angethane Schmach, über den rohen, brutalen Stoß, den man gegen sein Herz geführt, und zwischen der herzbrechenden Traurigkeit über die rettungslose Zertrümmerung und Verwüstung seiner schönen Welt, über den blutigen Hohn, der sein Lohn war für seine aufrichtige, uneigennützige Liebe, und als der Morgen des Wintertages durch die Scheiben hereindämmerte, saß er noch immer am Tisch, den Kopf in die Hand gestützt und mit müden, erloschenen Augen vor sich hinstarrend. Die Lampe, deren Docht das Oel verzehrt hatte, glomm nur noch in mattem, unsicheren Schein und war nahe am Verlöschen, als er sich endlich noch für ein paar Stunden auf sein Lager warf. Er war so müde, daß er kaum noch eines klaren Gedankens fähig war, und doch wollten die schweren, schmerzenden Lider sich nicht schließen — und wie sehnte er sich nach Ruhe, nach Schlummer, nach noch so kurzem Vergessen! Am liebsten wäre er gar nicht wieder aufgewacht; was sollte er auch in einer Welt, die für all die rosigen Träume einer poetisch angelegten Natur nur trostlose Enttäuschungen hatte? Er hatte keine Anlage zum Pessimismus, aber in dieser schmerzensreichen Nacht legte er sich doch mit bleichen Lippen die Frage vor, ob die weichherzigen Träumer, die ohne ihre Illusionen nicht leben können, nicht vor Ekel und Abscheu sterben würden, wüßten sie, wie denn eigentlich die Welt und die Menschen sind, die sie durch gefärbte Gläser sehen müssen, um sie erträglich zu finden. War die Welt nicht für jeden einzelnen eine andere, war sie nicht vielleicht für jeden eben nur die Welt, die in seinem Auge sich spiegelte, und hing nicht alles von der Konstruktion dieses Auges ab? Und er spann den Faden dieses Gedankens, der ihm kam, als er sich wieder erhob, in trübem Sinnen immer weiter, und als er langsam und mit schleppendem Schritt ins Comptoir ging, war alles in ihm wie ausgebrannt, und ein leises Frösteln ließ seine Zähne aufeinander schlagen. Frau Meiling, an der er im Hausflur vorüberkam, fragte erschrocken:

„Aber, um Gotteswillen, Herr Hammer, wie sehen Sie aus? Sie sind ganz gewiß krank; wollen Sie sich nicht wieder zu Bett legen, soll ich nicht den Arzt holen? Was in aller Welt ist Ihnen denn nur zugestoßen?“

„Nicht, nichts, Frau Meiling!“ lautete die müde Antwort. „Und mit dem Zubettgehen und Doktorn wird nun vollends nichts. Ich bin ein wenig übernächtig, das ist alles, und Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen.“

Dadurch ließ sich die gute Frau freilich nicht täuschen; sie sah ihrem Mietsmann besorgt nach, schüttelte das graue Haupt und murmelte: „Er hat gewiß wieder die ganze Nacht geschrieben, und das kann unmöglich gut sein. Was er nur immer zu schreiben haben mag? Es wäre ihm viel zuträglicher, sich bei Zeiten aufs Ohr zu legen und ordentlich zu schlafen; er arbeitet doch den Tag über genug und könnte sich nachher Ruhe gönnen.“

Als Wolfgang abends heim kam, fing sie ihn ab und sah ihm forschend ins Gesicht. Er bemerkte es und sagte scherzend, wie schwer ihm auch das Scherzen fiel:

„Nun, sehe ich wieder manierlich aus? Es war nur eine kleine Staupe, die man beim Arbeiten am schnellsten und leichtesten überwindet.“

Aber die gutherzige Alte ließ sich kein X für ein U machen; Wolfgangs fahle Blässe, der erloschene Blick seiner Augen und die Schatten unter ihnen entgingen ihrem Scharfblick nicht und sie hörte es auch dem Klange seiner Stimme an, daß nicht alles war, wie es sein sollte. Sie hörte ihn noch lange mit schweren, ungleichmäßigen Schritten oben im Zimmer auf und ab gehen, und auch das beunruhigte sie. Was er nur haben mochte? Aber sie wußte längst, daß sie nicht fragen durfte, und es ließ sich so hoffen, daß die Geschichte auch wieder vorübergehen würde. Vielleicht war er schon am nächsten Morgen wieder ganz der Alte und wünschte ihr mit einem Scherzwort einen guten Morgen — er war ja nie krank gewesen.

Diesmal war er aber doch krank, wenn auch in anderer Weise, als die gute Frau Meiling meinte. Er blieb still, gedrückt und einsilbig ging schweigend ab und zu und hatte für so manche Frage der alten, braven Frau nur ein mattes, zerstreutes, melancholisches Lächeln. Manchen Tag kam er ihr so sanft vor, wie nie zuvor, am nächsten Tage schien er von einer nervösen, fiebernden Unruhe beherrscht zu werden, und hatte ungeduldige, fast harte Accente in seiner Stimme. Sie wurde fast irre an ihm, und wenn sie nicht so heillosen Respekt vor ihm gehabt hätte, würde sie am Ende die Frage riskiert haben, ob ihm ein Mädchen zu schaffen mache, und wer denn eigentlich die unbegreifliche Thörin sei, die ihm das Herz so schwer mache, statt mit beiden Händen zuzugreifen. Sie hörte da und dort herum, ohne jedoch nur die leiseste Spur aufzufinden, und Wolfgang kam jeden Abend mit ungewöhnlicher Pünktlichkeit heim, so daß sich nicht einmal vermuten ließ, er mache irgendwo Fensterparade. So blieb das beunruhigende Rätsel ungelöst; die Tage gingen eintönig dahin, und auch in den späteren Abendstunden hielt sich Wolfgang still zu Hause; der Gewohnheit der einsamen Spaziergänge schien er ganz und gar entsagt zu haben.

Solange er in Deutschland gelebt hatte, war ihm das Fehlen alles Familienzusammenhangs nie so fühlbar gewesen, als in den Tagen vor dem Weihnachtsabend; sich einen Abend nach seinem Sinne durch Anschluß an eine Familie zu verschaffen, war nicht seine Art, während es ihm ernstlich widerstrebte, diesen Abend im Kreise von Schicksalsgenossen im Wirtshause zu verleben. So hatte er sich denn immer ein Fichtenbäumchen besorgt, und mit einem halben Lächeln über diese echt deutsche Gefühlsweichheit sein Zimmer mit Kerzenschimmer und Nadelduft erfüllt -und sich eine Weihnachtsfreude dadurch bereitet, daß er die Lektüre eines Buches begann, das er sich lange ausgespart hatte. Er war dieser Gewohnheit in der Fremde erst recht treu geblieben, kam doch hier noch eine Regung von Heimweh hinzu, das ihm am Christabend doppelt schwer aus die Seele gefallen wäre. Nun erlebte er wieder einen Weihnachtsabend in der Heimat, aber diesmal fehlte in seinem Zimmer der weißgedeckte Tisch und das grüne Bäumchen. Er hatte flüchtig den Gedanken gehabt, sich auch dies Jahr nach einer Fichte umzusehen, aber ebenso rasch hatte er ihn wieder verworfen; es war ihm alles zuviel, alles gleichgültig, und dann wollte er sich auch nicht weich machen. Er mußte hart sein, wenn er seine Rolle bis zum letzten Wort streng und folgerichtig durchführen wollte, und so beschränkte er sich darauf, Frau Meiling ein Geschenk zu machen, das die alte Frau um so tiefer rührte, als sie nicht gewagt hatte, ihrerseits an ein Geschenk zu denken. Außerdem hatte er einigen armen Arbeiterfamilien anonym durch die Post kleine Geldgeschenke gemacht — dazu, den Leuten durch Brennmaterial oder Lebensmittel, die er erst hätte einkaufen müssen, eine Freude zu machen, war er doch zu müde gewesen — und als er nach Einbruch der Dunkelheit einen Gang durch die Stadt machte und dabei auf ein kleines Mädchen traf, das, die blaugefrorenen Händchen unter der Schürze, vor einem Spielwarenladen stand und die ausgestellten Herrlichkeiten anstaunte, ging er mit ihr, die ihm betroffen folgte, hinein, forderte sie auf, sich eine Puppe auszusuchen, und schüttete, als sie dies gethan, den Inhalt seines Portemonnaies in ihr gedrucktes Kattunschürzchen und schickte sie mit einem freundlichen:

„Nun lauf aber Kleine, und schenk das Geld der Mutter!“ heim.

Er selber aber ging langsam nach Hause und dachte, zwischen Bitterkeit und Wehmut schwankend: „Wenn Dir nun in ein paar Tagen ein plumper, roher Mensch Deine liebe, schöne Puppe aus der Hand schlägt, daß ihr Porzellankopf auf dem Pflaster in Stücke und Splitter zerschellt, die sich nimmer wieder kitten lassen, bist Du dann nicht vielleicht trauriger als ich und ist, was ich ertragen muß, denn so erheblich härter? Ist es nicht im wesentlichen genau dasselbe Malheur?“

Silvester-Punschlaune und Neujahrs-Katzenjammer waren nie nach seinem Geschmack gewesen; er hatte auch den Jahreswechsel stets still für sich begangen und die lärmenden, ausgelassenen Gesellschaften, die sich an diesem Abend zusammenfinden, gemieden. Aber er war doch immer ans Fenster getreten und hatte auf den Schlag der mitternächtigen Stunde gelauscht und seinen Freunden im Geiste ein kräftig-herzliches „Prosit!“ zugerufen; diesmal zündete er sich nicht einmal Licht an und starrte, Prouds Kopf auf seinem Knie, in die knisternde Glut und auf das irre, hastige, zuckende Spiel der roten Lichter, die das Feuer an die Wand warf, und der Schlag der Mitternachsstunde, das Krachen von Schüssen und das Schreien und Lärmen auf den Straßen schreckte ihn aus tiefem, schweren Sinnen auf. Auf dem Tische lag das Heftchen mit all den Liedern, denen die thörichte Neigung zu Martha Hoyer das Leben gegeben hatte; er hatte die Eindrücke des vergangenen Jahres symbolisch von sich abschütteln wollen, indem er dieses Heft den Flammen übergab, aber nun — und das war die Frucht seines Sinnens — stand er langsam auf und schloß das arme, kleine Heft wieder in den Schreibtisch. Was hatten schließlich die kleinen Lieder verbrochen, womit hatten sie es verdient, den Flammentod zu erleiden? War die Neigung, von der sie redeten und flüsterten, wie trostlos sie auch enttäuscht und zum Traum eines Poetenherzens verflüchtigt ward, nicht echt und tief und schön gewesen? Er brauchte sie ja nie wieder anzusehen, aber mußten sie darum vernichtet werden? Vielleicht erhielten sie in späteren Jahren erhöhten Wert, als die einzigen glaubwürdigen und unangreifbaren Zeugen, die über eine verworrene Periode seines Lebens Auskunft geben könnten und die er dann am Ende gar mit verwundertem, beinahe ungläubigem Kopfschütteln anhörte, ohne sich ihren Aussagen verschließen zu können. Sie mußten also aufbewahrt werden. Die Erinnerung ist eine arge und systematische Betrügerin, die uns ihre gefälschten und entstellten Berichte so lange wiederholt, bis wir ihr schließlich Glauben schenken, und wenigstens über den großen Herzensirrtum seines Lebens sollte sie ihm nichts vorflunkern können; mit dem kleinen Heft in der Hand konnte er ihr jede Fälschung nachweisen.

Wolfgang wußte längst, daß wir viel weniger Irrtümer und Fehlgriffe zu beklagen hätten, wenn wir uns nur daran gewöhnen könnten, nicht immer unseren ersten Impulsen und den Aufwallungen der Leidenschaft zu gehorchen; nie aber wurde ihm ein schlagenderer Beweis für die Unzuverlässigkeit dieser ersten Regungen geliefert, als in den Wochen, die der unseligen Scene im Comptoir folgten. Wie viele Wandlungen machten sein Empfinden und seine Entschlüsse durch, wie entfernte er sich mit jedem Tage weiter von seinem Ausgangspunkt, wie wenig glich, was er jetzt für klug und gerecht hielt, dem, was er in den ersten Tagen für selbstverständlich und unvermeidlich gehalten hatte!

In einem Punkte freilich war er sich gleich geblieben, ja, die Entschlüsse, die sich ihm damals mit Blitzesschnelle aufdrängten und ihn mit einer wilden Freude, mit einer düsteren Genugthuung erfüllten, waren noch fester, eiserner und unerbittlicher geworden. Hätte er überhaupt die seelische Marter dieser sich träge hinschleppenden Tage ertragen, wenn er nicht beide Hände auf das regellos pochende Herz hätte pressen, wenn er ihm nicht hätte sagen können: „Warte nur, Du sollst Deine Rache haben und auch nicht um das Tüpfelchen über dem i sollst Du geprellt werden!“ Er wußte es nicht, aber so oft ihm die Worte des Kommerzienrats vor den Ohren klangen, knirschte er: „Ihr sollt an mich denken!“ Der eitle, innerlich rohe Glückspilz wußte freilich nicht, wie tödlich, wie unauslöschlich er ihn beleidigt hatte — was sind solchen Menschen Ueberzeugungen, Grundsätze und Gefühle? Aber einmal wenigstens sollte ihm bewiesen werden, daß es doch noch Menschen giebt, deren Heiligstes diese Ueberzeugungen, Grundsätze und Empfindungen sind und die es als eine ihnen angethane, blutige Beschimpfung auffassen, wenn man ihnen dieses Heiligste für schnödes Gold abschachern will, die aber auch das Zeug dazu besitzen, für diese Beschimpfung Rache zu nehmen und nebenbei ihre Stunde abzuwarten verstehen. Jeder Tag, der ihn der Stunde näher brachte, in der er dem Kommerzienrat indirekt, aber darum nicht weniger entschieden, sagen wollte, daß er sich kläglich geirrt und verrechnet habe, weil er diesen ideellen Faktor aus der Rechnung weggelassen hatte, wälzte einen Teil der Last, die ihm den Atem raubte, von seiner Brust und er drückte, die Faust ballend, die Fingernägel ins Fleisch und wiederholte sich wieder und wieder: „Geduld!“

Anders war es mit seinem Empfinden, soweit dasselbe Martha anging. Hatte er anfänglich auch ihr aufs bitterste gegrollt und ihr die heftigsten Vorwürfe gemacht, so war er mit jedem Tage milder geworden. Er hätte freilich nur die Achseln gezuckt und die Lippen verächtlich aufgeworfen, hätte ihm jemand von einer Aussöhnung, von einem Vergessen, Verschmerzen und Verwinden der namenlosen Kränkung gesprochen, die auch sie ihm zugefügt; zwischen ihnen war alles unwiderruflich aus und in seiner Seele klang es „Gewogen, gewogen und zu leicht befunden!“ Er vertrug an der, die er lieben sollte, keine Kleinlichkeit, keine Beschränktheit und Engherzigkeit, keinen Mangel an Zartgefühl, und in dem Augenblick, wo er diese Gebrechen an ihr entdeckte, verlor sie zwar nicht ihre sonstigen Vorzüge, aber es kam ein greller Mißton in die Melodie, der sie für ihn zerstörte und ihr allen Reiz und Wert nahm. Sie war vielleicht noch immer ein ganz liebes Geschöpf, aber sie war nicht mehr eine Geliebte für ihn, an der kein Fehl und Makel sein dürfte; sie hätte das, was sie gethan, nimmermehr thun dürfen, wenn er nicht aufhören sollte, sie zu lieben. Wie ein Glas, in das ein Sprung gekommen ist, kein helles Läuten mehr von sich giebt, sondern nur noch einen dumpfen Klang, so machte dieser eine Beweis dafür, daß sie doch nicht in jeder Beziehung war, was er geträumt, alles rettungslos zunichte. Aber war es denn nun gerecht, ihr zu grollen? Durfte er mit so strengem Maße messen? Was konnte sie dafür, daß er sie über die Gebühr idealisiert hatte und daß sie nun seinem Traumbilde nicht entsprach? Konnte sie, in engen, ungünstigen Verhältnissen und einer korrumpierenden Umgebung aufgewachsen, anders sein, als sie war?

Im Einklange damit hatte er anfänglich gemeint, es ihr gegenüber nicht bei der Antwort bewenden lassen zu dürfen, die er dem Kommerzienrat gab und die ja auch ihr galt; er hatte ihr in schonungslosen Worten auseinandersetzen wollen, daß und warum er ihre Bedingungen verwerfen müsse und ihr — „leichten Herzens“ natürlich und mit „kühlem Achselzucken“, wenn auch „beschämt über seinen Mangel an Scharfblick“ – entsage. Jemehr ihn alle die bitteren, unbarmherzigen Worte, die er ihr sagen, zu müssen glaubte, quälten, desto mehr steifte er sich darauf, ihr diesen Brief zu schreiben; er schalt sich wegen der Schwäche, die ihm immer und immer wieder vorstellte: „Warum sie zur Zertrümmerung aller ihrer Illusionen, an denen Du doch mit schuld bist, auch noch geflissentlich und kalten Blutes kränken, warum Deiner rechtmäßigen Rache auch noch Sarkasmen und Demütigungen hinzuzufügen?“ Dennoch siegte diese Regung; es war genug, wenn er einen Schritt that, der ihr sagte: „Ich bin so weit davon entfernt, Dich des Preises wert zu finden, den Du forderst, daß ich meine Schiffe hinter mir verbrenne und eine unübersteigliche Mauer zwischen uns aufrichte?“ War es nicht sogar noch stolzer, edler und eindringlicher, wenn er sie gar keines direkten Wortes würdigte? Und dennoch kam er noch später auf den Gedanken, ihr zu schreiben, wieder zurück, nur wollte er ihr so schreiben, wie es ihm wirklich ums Herz war; er wollte ihr nichts schenken und erlassen, er wollte aber auch nicht mit einer Ruhe prahlen, die sie doch vielleicht als eine vorgebundene Maske erkannt hätte, er wollte wahr sein bis zum letzten Augenblick; erhielt er doch nur dadurch ein Recht, über das an ihm Verübte zu Gericht zu sitzen, konnte er doch nur auf diese Weise sein Handeln in den Augen Marthas aus einem bloß trotzigen, eigensinnigen und hochfahrenden zu einem stolzen, berechtigten, ja notwendigen machen. Zudem – strafte er sie nicht viel empfindlicher, wenn er ihr sagte, was sie ihm gewesen war und was sie an ihm verlor, raubte er ihr nicht so jede Möglichkeit, ihr eigenes Verfahren sich selber gegenüber zu beschönigen und ihm falsche Motive anzudichten, die sie nur als erwiesen anzusehen brauchte, um sich über das Scheitern ihres Plans zu trösten, und gereichte ihr die volle Kenntnis seiner Beweggründe nicht hoffentlich zugleich zur Warnung und zur Lehre, vorausgesetzt, daß sie noch einmal die Aufmerksamkeit eines so kritischen und sensitiven Träumers auf sich zog, wie er es war.

So fand denn einer der ersten Abende der zweiten Woche des neuen Jahres Wolfgang an seinem Schreibtisch; er stützte oft den Kopf in die Hand und blickte nachdenklich vor sich hin, aber er strich und änderte kein Wort in dem Abschiedsbrief, den er an Martha richtete und der folgendermaßen lautete:

Mein Fräulein!

In dem Augenblick, in welchem diese Zeilen Ihnen übergeben werden, habe ich M. bereits verlassen, um nie wieder hierher zurückzukehren, und in welchen Winkel der Welt mein Schicksal mich verschlagen wird, vermag ich in diesem Augenblick selbst nicht zu sagen; ich würde es aber auch nicht sagen mögen, selbst wenn ich es sagen könnte.

Sie nennen diese Zeilen vielleicht überflüssig; habe ich Ihnen denn, wenn Sie dieselben lesen, nicht bereits die denkbar klarste Antwort auf die Eröffnungen gegeben, die Sie mir unter der Hand machen ließen, habe ich nicht die Bedingungen, die Sie stellen zu müssen, die Sie stellen zu dürfen glaubten, kurz und schroff von der Hand gewiesen? Was will ich also noch von Ihnen?

Ich habe auch eine Zeitlang gemeint, daß jene Antwort vollauf genüge. Aber ich bin nach und nach auf andere Gedanken gekommen. Ein solche indirekte Erklärung ließe doch einzelne, vielleicht sogar wichtige Punkte dunkel, und es liegt mir daran, daß Sie den, der auf immer von Ihnen geht, so sehen, wie er ist; ich bin sogar geneigt, zu glauben, daß ich damit eine letzte Pflicht gegen Sie erfülle, nicht bloß eine Pflicht gegen mich selbst.

Ich würde mir nachträglich, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, die Behandlung verdienen, die ich erlitten habe, wäre ich im stande, Ihnen wider die Wahrheit und aus falschem Stolz zu sagen, daß ich kühl und ruhig, mit einem philosophischen Achselzucken und einem leichten Aufwerfen der Lippe, Ihnen und alle den Träumen, die an Sie sich knüpften, Lebewohl sage. Ich bleibe, der ich bin, auch wenn ich Ihnen, trotz alles Geschehenen, das mich wahrlich wie ein Blitz aus heiterm Himmel traf, freimütig bekenne, daß ich seit dem Abend, an welchem ein fast komischer Zufall unsere Bekanntschaft vermittelte, im Banne Ihres Wesens stand, daß ich Sie geliebt habe, obgleich der durch allerlei kleine Vorkommnisse verschärfte Gedanke an Ihren Reichtum das überwallende Gefühl immer wieder zurückdrängte, und daß ich, nach dem Abend im Schneesturm, im Begriff stand, Ihnen alle meine Zweifel und Bedenken, alle meine Qual und Unschlüssigkeit zu gestehen und Sie dann zu fragen, ob Sie mein Weib werden wollten, als die Eröffnungen, welche Sie mir durch den allerunglücklichsten Mittelsmann von der Welt vorbeugend zugehen ließen, alles zerstörten und zertrümmerten.

Rettungslos und für immer zertrümmerten! Je inniger ich Sie geliebt, desto bitterer und vernichtender war die Enttäuschung. Ich hatte in Ihnen die Verkörperung all meiner stillen Poetenträume gesehen, ich hatte mich nach Ihnen gesehnt, weil ich meinte, Sie würden meine stille, nachdenkliche, ernste Art und meine Liebe zur Poesie und zur Natur verstehen und sich an mich anschmiegen und ein sanfter Widerhall meiner selbst sein — und Sie ziehen einen kalten, illusionslosen, nüchternen Praktiker in das zarte Geheimnis dieser Neigung und fordern von mir als Vorbedingung einer günstigen Aufnahme meiner Bewerbung den Verzicht auf die Thätigkeit als Feuerwehrmann, den Verzicht auf meine Lehrerthätigkeit im Bildungsverein, den Verrat an allen meinen Ueberzeugungen und Idealen!

Es laufen so viele durch Gold und andere, feinere Formen der Bestechung gewonnene Renegaten in der Welt herum, daß ich den Plan, einen jungen Mann mit radikalen Anschauungen auf diesem Wege unschädlich zu machen, im allgemeinen „verflucht gescheit“ nennen muß. In diesem besonderen Falle war er freilich doch nur „herzlich dumm“. Es giebt Zumutungen, die einem echten Manne die Schamröte in die Wangen treiben und die innigste Liebe in Kälte, wo nicht Haß und Verachtung verwandeln können; es schmerzt mich, daß Sie nicht wußten und fühlten, daß auch mir meine Ueberzeugungen höher stehen, als eine Neigung meines Herzens. „Wodurch“ — ich habe es hundertmal vorwurfsvoll gefragt — „hast Du den Verdacht erweckt, Du könntest Deiner Pflicht und Deiner Ehre vergessen?“ Und ich habe keine Antwort auf diese Frage gehabt und habe auch heute noch keine.

Sind die Menschen, denen Sie bisher auf Ihren Lebenswegen begegneten, denn alle armselige, schwung- und energielose Krämernaturen gewesen, sind Sie niemals wenigstens einem begegnet, auf dessen Stirn und in dessen Augen geschrieben stand, daß er für eine Idee kämpfen und zu leiden und notfalls zu sterben wisse? Wie klein muß ich Ihnen erschienen sein — ebenso klein und verächtlich, als Sie mir groß und edel erschienen.

Wem es zur Ueberzeugungssache geworden ist, daß des Mannes Ehre darin besteht, sich selber unter allen, auch unter den erschwerendsten Umständen und im Kampfe wider seines Herzens süßeste Regungen treu zu bleiben, der kann nicht schwanken; auch mir war mein Weg vom ersten Moment an scharf und klar vorgezeichnet, und ich habe nicht einmal erwogen, ob ich Sie nicht bestimmen könnte, Ihre Bedingungen zurückzunehmen. Wollten Sie es selber thun — was wäre mir damit geholfen? Wie ich nur aus dem Ganzen und Vollen leben kann, so kann ich auch nur aus dem Ganzen und Vollen lieben, und das — geht eben nicht mehr. Ich würde nicht zu vergessen vermögen, was Sie mir angesonnen haben, ich würde das volle Vertrauen nicht wieder finden und meiner Neigung schönste Blüte ist verwelkt. Aber glauben Sie mir: daß es so ist, daß ich Sie kleiner gefunden habe, als ich Sie mir geträumt, ist der herbste und bitterste Schmerz meines Lebens. Ich habe mir die redlichste Mühe gegeben, mir diese Wendung zu erklären und Sie zu entschuldigen, ich habe die anfängliche Bitterkeit überwunden und bin jetzt soweit, daß mir alle die harten Worte, die ich Ihnen sagen mußte, vielleicht weher thun, als sie Ihnen thun können. Sie mußten gesprochen werden, aber sie würden einem Manne, ja selbst jedem anderen Menschen gegenüber viel schärfer und härter ausgefallen sein, und selbst in der milden Form, die ich endlich gefunden habe, wollen sie mir noch grausam erscheinen — grausam, weil sie an Sie gerichtet sind. Es ist mir bitter leid um Sie, und ich habe dieses brennende Mitleid bisher nur unverschuldeter Not gegenüber empfunden, die ich nicht zu lindern vermochte.

Ich liefere Ihnen einen Beweis für die Wahrheit dieser Worte und gehorche zugleich einem plötzlichen Impuls, indem ich eine kleine poetische Geschichte meiner Neigung zu Ihnen, die ich erst vernichten und dann mindestens für mich behalten wollte, diesen Zeilen beifüge und indem ich den rehbraunen Handschuh behalte, der ein Unterpfand unserer Freundschaft war. Ich habe viele Tage geglaubt, ihn zurücksenden zu müssen — darf ich ihn als Andenken behalten, wie ich Ihnen als Andenken meine Verse überlasse? Sie kommen ja wohl bei dem Tausche nicht zu kurz, und es ist doch immer ein milder, versöhnlicher Zug in dem trüben, schmerzlichen Bilde, über das wir nun einen dichten, grauen Schleier fallen lassen wollen.

So ist denn alles, alles aus, und wir dürfen uns nie Wiedersehen. Die Lebensbahnen, die monatelang in eine zusammenlaufen zu wollen schienen, trennen sich für immer — ob wir beide jetzt schon so recht wissen, wie traurig das ist? Lassen Sie mich hoffen, daß Sie nie in bitterer, nutzloser Reue an dieses Jahr Ihres Lebens zurückdenken, es wäre keine Genugthuung für mich, das denken zu müssen. Was aus mir wird, wohin ich gehe und wie ich innerlich über den Schlag, der mein Herz getroffen, hinauskomme, darüber habe ich zunächst nur Vermutungen. Ich will nicht mit der Versicherung schließen, daß ich nie wieder lieben werde, denn ich weiß, daß die Zeit, die alles heilende, solche Schwüre fast immer Lügen straft, aber ich kann Ihnen, was vielleicht ebensoviel ist, sagen, daß ich mir nicht denken kann, es werde mir je wieder Mut kommen, zu träumen, wie ich hier geträumt, seitdem mein Blick zum erstenmal dem Ihrigen begegnet war. Wie aber auch mein Geschick sich wenden möge — eins wenigstens dürfen Sie als sicher annehmen. Ich habe dem Schmerz der Enttäuschung meinen Tribut gezahlt, ich habe mir die Erklärungen abgerungen, die ich Ihnen nicht erlassen konnte, aber nun tritt die milde, melancholische Empfindung in ihr Recht; sie wird die herrschende bleiben, und ich werde keine Rückfälle in die alte Bitterkeit erleben. Ich werde ja oft genug an Sie denken müssen, im stillen Walde, in dunkler Nacht, auf öder Haide, aus nebelfeuchter Düne, aber ich werde Ihnen nicht nachtragen, was Sie, ohne die volle Tragweite Ihres Schrittes ermessen zu können, mir zugefügt haben.

Und mild, wie man der Toten sonst gedenkt Gedenk' ich Dein.

Lassen Sie das schwermütige Dichterwort auch meinen ernsten, weichen Scheidegruß sein!

Wolfgang Hammer.

So war der Brief geworden, so blieb er auch. Er war noch milder ausgefallen, als unser junger Freund sich ihn gedacht hatte, aber er war in dieser Form ein treuer Spiegel seines Empfindens, und es war ja nur wahr, wenn schließlich sein innerstes Empfinden zum Durchbruch gelangte: flutete es doch unter der starren Decke vorwurfsvollen Grolls still und stetig dahin, wie die Wasser des Stroms unter ihrem Panzer von Eis. Warum sollte er dieses Briefes sich schämen, warum ihn je bereuen?

Es entstand aber nun eine weitere Frage. Auf welchem Wege sollte er die Blätter in Marthas Hände bringen, welcher Weg bot unbedingte Sicherheit? Er konnte den Brief am Tage nach seiner Abreise auf irgend einer Station der Post überweisen, er konnte durch Rekommandation dafür sorgen, daß derselbe ungefährdet an seine Adresse gelangte, aber er konnte, wenn er sich für diesen einfachsten Ausweg entschied, nicht verhüten, daß wenigstens die Thatsache, daß er an Martha geschrieben hatte, im Hause bekannt ward. Der Kommerzienrat ließ alle Geschäfts- und Privatbriefe von der Post abholen, auch die Briefe an seine Damen gingen durch seine Hände, und das durfte bei diesem Briefe nicht geschehen. Es war sowohl ein tiefer Widerwille dagegen, die Neugierde seines Chefs wachzurufen, als eine letzte zarte Rücksichtnahme auf Martha, die ihn bestimmten, diesen Weg zu verwerfen.

Da besann er sich auf Anna. Sie war ihm einige Tage vorher begegnet und hatte ihm erzählt, daß Frau von Larisch sie bei ihrer Abreise zurückgelassen habe, da Fräulein Emmy sie gebeten habe, ihr das Mädchen, an das sie sich selber gewöhnt hätte, zu lassen; Frau von Larisch sei ziemlich bereitwillig darauf eingegangen, und sie selber sei eigentlich recht einverstanden damit gewesen, in M. zu bleiben. Sie hatte das mit einem gewissen Stocken der Stimme und erst nach einigem Zaudern gesagt, aber Wolfgang war wenig in der Stimmung gewesen, darauf zu achten und Schlüsse daraus zu ziehen. Es hatte keine Schwierigkeiten, der Kleinen durch Frau Meiling, die mit den Verwandten des Mädchens bekannt war, am nächsten Tage ein paar Zeilen zuzustellen, durch die er sie um einen Besuch bat: er habe „seine kleine, treue Bundesgenossin“ um einen letzten Dienst zu bitten.

Anna fand sich, halb erwartungsvoll, halb bestürzt an demselben Abend bei ihm ein und Wolfgang empfing sie mit einem freundlichen: „Das ist hübsch — auf Sie kann man sich wenigstens verlassen.“

Aber die Kleine kam ihm durch ein unruhiges: „Warum haben Sie „letzten“ Dienst geschrieben? Sie wollen doch nicht etwa fort?“ zuvor.

„Wie scharfsinnig Sie sind! Sie haben es erraten — ich muß. Aber zuvor habe ich noch eine Bitte an Sie, die Sie mir nicht abschlagen dürfen.“

„Mit dem „nicht dürfen“ werden Sie wohl mehr recht haben, als mit dem „fort müssen.“

„Als wenn ich mich so leicht zwingen ließe! Warten Sie nur noch ein paar Tage, dann werden Sie selber sagen, daß ich gar keine Wahl hatte, und wenn Sie mir eine kleine Freude machen wollen, so bringen Sie mir noch eine Photographie, ich möchte doch ein Bild von Ihnen haben, schon weil Sie beim Krawall so klug und tapfer gewesen sind.“

„Ach Gott, Herr Hammer, ich habe ja keine, und wenn ich mich erst schnell noch wollte abnehmen lassen, so geht das auch wieder nicht; ich bekomme mein neues Kleid erst Ende nächster Woche. Doch ich kann Ihnen das Bild ja nachschicken; aber ist es denn nur wirklich wahr, wollen und müssen Sie wirklich fort?“

Wolfgang mußte über die Toilettensorgen der Kleinen lächeln, aber schnell wieder ernst werdend erwiderte er:

„Nun ich kann Ihnen eine Adresse geben; mein Freund“ (und er kritzelte dessen Adresse auf ein Blättchen Papier) „weiß mich dann schon zu finden, denn wohin ich verschlagen werde, darüber habe ich selber kaum eine Vermutung. Ich reise am Sonnabend abend ab, und meine Bitte geht nun dahin, diesen Brief unter vier Augen an seine Adresse gelangen zu lassen, nachdem Sie gewiß wissen, daß ich seit vierundzwanzig Stunden fort bin. Vielleicht sehen wir uns auf dem Bahnhof noch einmal - ja? Das wäre jedenfalls das sicherste.“

Die Kleine nickte nur, es schwoll ihr wie von verschluckten Thränen in die Kehle, und sie hätte kein Wort über die Lippen gebracht; der Gedanke, daß ihr Lebensretter so plötzlich fort wolle, und daß sie ihn vielleicht nie wiedersehe, machte sie sehr traurig. Dennoch hatte sie einen Blick auf die Adresse des ziemlich umfangreichen Briefes geworfen, den ihr Wolfgang einhändigte, und es entging ihr nicht, daß der junge Mann unter dem überraschten Blick, den sie ihm unwillkürlich zuwarf, leicht errötete und sich abwendete. — „An Fräulein Martha?“ fragte sie und versuchte durch den Ton dieser Frage anzudeuten, daß der Brief wohl sehr willkommen sein werde.

Wolfgang nahm alle Kraft zusammen und sagte leichthin:

„An dieselbe. Ich habe eine Rechnung mit ihr ins Gleiche zu bringen, und ehe man abreist, macht man gern alle alten Schulden glatt.“

„Aber ich kann ihr den Brief ja gleich heute geben.“

„Das eben soll nicht sein und das dürfen Sie um keinen Preis thun. Vierundzwanzig Stunden nach meiner Abreise keine Minute früher. Eben weil ich überzeugt war, daß Sie sich mit der peinlichsten Genauigkeit an meine Vorschrift halten würden, habe ich mich an Sie gewendet; können oder wollen Sie mir nicht mit Hand und Mund versprechen, den Brief solange als gar nicht vorhanden anzusehen, so geben Sie mir ihn lieber wieder. Ich habe ganz bestimmte, sehr ernste und gute Gründe, zu wünschen, daß es so gehalten werde, und wenn Sie mich im Stiche lassen, so muß ich mich eben der Post anvertrauen oder auf einen anderen Ausweg sinnen.“

„Nein, Herr Hammer, den Kummer werden Sie mir doch nicht machen!? Hier ist meine Hand; ich hüte den Brief, wie meinen Augapfel, und erst vierundzwanzig Stunden und eine Minute, nachdem ich Sie mit eigenen Augen habe davonfahren sehen, soll er an seine Adresse gelangen. Wissen Sie denn aber auch, daß Fräulein Martha seit einer Reihe von Tagen schon das Zimmer hütet und immer allein sein will? Sie hat sich, scheint es, stark erkältet, aber — sie kommt mir auch sehr traurig vor, und wenn sie mit jemanden spricht, ist es immer, als dächte sie an etwas ganz anderes und als müßte sie sich jedes Wort erst abkaufen. Und kein Mensch hat eine Ahnung, was ihr fehlt, und wenn Fräulein Emmy sie danach fragt, so versucht sie, zu lächeln und sagt, ihr fehle weiter nichts, als Ruhe, aber ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie unbeschreiblich traurig dieses Lächeln ist. Mir giebt es jedesmal einen Stich ins Herz, und sie ist so gut und hat mich immer behandelt, als wäre ich nicht eine Untergebene, sondern eine Bekannte; sie befiehlt nie, immer bittet sie. Aber ich ginge auch durchs Feuer für sie — gerade wie für Sie.“

Wolfgang hatte in dem Moment, in welchem Anna die Krankheit Marthas erwähnte, ihre Hand, die er lebhaft ergriffen hatte, um sie herzhaft zu schütteln, fahren lassen. Er versuchte vergebens, die Herrschaft über sich zu behaupten und es klang sehr gezwungen, als er endlich sagte:

„Unwohl? Das thut mir leid. Ich glaube übrigens auch, daß sie gut und freundlich ist, und das ist mir Ihretwegen besonders lieb. Mit Fräulein Reischach haben Sie wohl keine Not, und da sind Sie schließlich hier besser aufgehoben, als bei Frau von Larisch in Berlin.“

„Aber. Herr Hammer, Sie sollten Fräulein Martha gar nicht mit Fräulein Emmy und Frau von Larisch zusammen nennen; Sie kennen sie gewiß nur ganz oberflächlich.“

„Doch nicht so ganz oberflächlich, aber das sind Nebensachen und Sie können nur über Fräulein Hoyer kaum etwas neues sagen. Die Hauptsache ist, daß Sie meinen Brief pünktlich besorgen und so, daß niemand sonst davon erfährt.“

„Gewiß und wahrhaftig, Herr Hammer, ich halte Wort — glauben Sie das nicht? Ich habe auch eine Bitte, eine recht dreiste Bitte ich getraue mich gar nicht recht, sie auszusprechen. Würden Sie mir denn — aber nein, ich fürchte. Sie werden böse!“

„Nun, Kleine, so unerhört wird Ihr Anliegen doch nicht sein?“

„Ach, ich hätte so gern — ein Bild von Ihnen, ein Andenken an meinen Retter. Ist das keine zu dreiste Bitte?“

„O nein. Dort liegt mein Album; suchen Sie sich das Bild heraus, das Ihnen am besten gefällt.“

Anna wurde ganz rot vor Freude, und dann zeigte sie mit dem Finger schüchtern und fragend auf die Photographie des Jägeroffiziers, der die Mütze mit den gebogenen Spielhahnfedern keck aufs Ohr gesetzt hatte und recht kühn und verwegen in die Welt sah.

Wolfgang amüsierte die Wahl. Er fragte:

„Aber warum gerade das Bild? Das stammt ja aus alter Zeit. Sie finden mehrere von jüngerem Datum.“

„Weil Sie hier so aussehen, wie ich Sie immer sehen möchte, frisch und froh. Jetzt sehen Sie viel nachdenklicher und ernster aus und heute — geradezu traurig. Ich möchte fast denken, es fiele Ihnen schwer, von hier wegzugehen, doch wenn das wäre, dann brauchten Sie ja nur nicht zu gehen. Aber was ich da gesagt habe, war gewiß recht dumm.“

„Das möchte ich nicht behaupten, vor Ihnen muß man sich ja beinahe in acht nehmen! Aber hier haben Sie das Bild; wenn ich eins in Feuerwehruniform hätte, bekämen Sie es extra.“

„Ach ja, daran habe ich noch gar nicht gedacht; was wird denn aus der Feuerwehr, wenn Sie fortgehen? Wissen die es schon?“

„Daß ich fortgehe, weiß noch niemand und den Tag und die Stunde wird überhaupt niemand erfahren, Sie dürfen also auch keiner Seele etwas davon sagen — hören Sie? Meine kleine Bundesgenossin hat vor allen etwas voraus und kann schon ein wenig stolz darauf sein.“

„Das bin ich gewiß, und um Ihr Bild lasse ich mir einen hübschen Rahmen machen und hänge es in meine Kammer, und ein frisches Kränzlein soll es auch immer haben.“

„Thun Sie das, denn sonst wird, vielleicht meine alte, brave Frau Meiling ausgenommen, doch niemand meiner gedenken, das heißt, die Männer nehme ich aus, aber die bekränzen ihre Bilder nicht.“

Die Kleine schüttelte bestimmt den Kopf.

„Das ist aber ganz gewiß eine Einbildung von Ihnen. Ich weiß, daß eine Dame wenigstens mich um dieses Bild beneiden würde, wenn sie es zu sehen bekäme, und am Ende werde ich es vor ihr verstecken müssen.“

„Ich will nicht wissen, wen Sie meinen, aber ich nehme Ihnen das Bild wieder weg, wenn Sie es der Gefahr aussetzen, von dieser Dame gesehen zu werden. Das darf nicht sein.“

„Nun, die paar Wochen kann es ja im Kasten kampieren, wenn Sie so wollen; aber, nicht wahr, nun nehmen Sie mir das Bild auch nicht wieder weg?“

„Die paar Wochen? Wie meinen Sie das?“

„Das kann ich Ihnen nun leider nicht sagen, aber — bloß jetzt nicht. Erfahren werden Sie es noch, am Sonnabend abend auf dem Bahnhof.“

„Nun, das ist mir aber hübsch! Geheimnisse, vor mir, der Ihnen einen so ernsten Auftrag anvertraut?“

„Sie sagen ernst? Ist die Besorgung eines Briefes etwas so ernstes?“

„Unter Umständen — ja; zum Beispiel wenn der Brief sehr ernste Fragen betrifft. Und ist es denn nicht schon ernst zu nehmen, wenn ich Ihnen zumute, drei Tage lang einen versiegelten Brief zu hüten? Sie sind zwar meine kleine Verbündete, aber doch immerhin ein Mädchen, und ich bin vielleicht doch unvorsichtig, wenn ich mich auf Sie verlasse.“

Wolfgang war aus dem leichten scherzenden Ton plötzlich wieder in seinen ernstesten verfallen, und die Kleine erwiderte, ebenfalls im Tone des aufrichtigsten Ernstes:

„Gott weiß, Herr Hammer, was für eine Bewandtnis es mit dem Briefe hat, aber Sie sind gewiß nicht unvorsichtig, wenn Sie fest auf mich vertrauen; ich beiße mir eher den kleinen Finger ab, ehe ich nur im kleinsten gegen Ihren Befehl verstoße, und wenn er nicht gewissenhaft ausgeführt wird, so wage ich es auch nicht, Ihnen je wieder unter die Augen zu treten, und ich muß doch am Sonnabend noch einmal auf dem Bahnhof sein, um Ihnen Lebewohl zu sagen —“

„Und mich in Ihr Geheimnis einzuweihen, über das ich nicht nachdenke, weil ich mich überraschen lassen will.“

„Ach ja, denken Sie nicht darüber nach, sonst kämen Sie am Ende auf das Richtige und ich möchte Ihnen doch noch eine kleine Abschiedsfreude bereiten.“

„Das wird einen doppelten Wert für mich haben, ich gehe ja schweren Herzens und kann einen kleinen Lichtstrahl der Freude brauchen.“

„Sie gehen schweren Herzens, aber Sie gehen doch; was gäbe ich darum, wenn ich Ihnen helfen könnte!“

Diesmal können Sie's freilich nicht, und wie das alles zusammenhängt hängt, das ist mein Geheimnis; ich muß es allerdings unaufgeklärt mit fortnehmen, obwohl ich schließlich Ihnen noch am ersten sagen könnte, wie es mir hier ergangen ist. Sie würden mich, denke ich, verstehen und Sie würden zu schweigen wissen. Aber nun, leben Sie Wohl, bis Sonnabend, sonst zerbricht sich Frau Meiling schließlich den Kopf darüber, was wir solange zu verhandeln haben, denn wie ich mit meiner kleinen Bundesgenossin stehe, das kann sie sich doch nicht denken, und sie weiß ja nicht einmal, daß ich fort muß.“

„Sie werden ihr gewiß an allen Ecken und Enden fehlen — die alte Frau dauert mich.“

„Halten Sie es denn für ein so besonderes Vergnügen, sich für mich zu plagen?“

„Das können Sie sich nun nicht denken; aber sehen Sie, ich habe mir schon gewünscht, Frau Meiling möchte einmal krank werden, denn dann hätte ich mir's sicher nicht nehmen lassen, ihr an die Hand zu gehen und ihr die Sorge für Sie abzunehmen.“

„Ja, wissen Sie denn, ob ich mit dem Tausch zufrieden gewesen wäre?“

„Ich denke doch, und wenn Sie selber erst nicht gewollt hätten, würden Sie mir es denn verwehrt haben, wenn ich Sie recht darum gebeten hätte?“

„Wenn Sie freilich ein Paar so bittende Augen dazu gemacht hätten, wie jetzt, wäre mir das Verbieten wohl recht sauer geworden. Wenn die beiden Alfrede diese Augen gesehen hätten!“

„Aber ein klein wenig schlimm sind Sie doch — nun, am Sonnabend! Und über Ihren Brief — hier ist er! — breite ich alle Hände!“

Wolfgang reichte ihr die Hand hin — sie drückte sie stumm und huschte zur Thür hinaus und die Treppe hinab.

*          *          *

In der letzten Woche des alten und in der ersten des neuen Jahres hatte sich in dem sonst so stillen Städtchen ein ungewohntes, reges politisches Leben entwickelt. Die Spalten des dreimal wöchentlich erscheinenden Wochenblatts füllten sich mit Ausrufen und Annoncen, die sich auf die bevorstehende Reichstagswahl bezogen, und die Konservativen und Nationalliberalen, denen die Kulturkampf-Begeisterung als Bindemittel diente, setzten Himmel und Hölle in Bewegung, um die Wahl eines Centrumsmannes zu hintertreiben. Dieser Preßkrieg, der die regelmäßige Einnahme für Annoncen vervierfachte, war so recht nach dem Sinne des Verlegers des Wochenblatts, und schmunzelnd sah er die eingelaufenen Annoncen durch und schied die offiziellen Erlasse der Wahlkomitees von dem Geplänkel der Franktireurs, die auf eigene Faust und Verantwortung zu handeln schienen, häufig aber nur fremde, hochoffizielle Bolzen verschossen. Für unseren Freund Krone war freilich dieser ganze Krieg bei weitem nicht so amüsant; jedes plumpe und durchsichtige, jedes hinterlistige und heimtückische Manöver beider Parteien erfüllte ihn mit stummem Ingrimm, der sich in drastischen Verwünschungen Luft machte; nach seiner Meinung war es eine Schmach, derartiges Geschreibsel durch die Presse laufen lassen zu müssen.

Beide Parteien hatten wiederholt Versammlungen veranstaltet und ihre Anhänger bearbeitet, die Schwankenden angespornt, die Lässigen an der Ambition gepackt; den letzten Trumpf aber spielte man durch eine am Vorabend der Wahl zu veranstaltende große Versammlung aus, in welcher die beiderseitigen Führer, der Rektor Storck und ein junger Kaplan, sich entgegentreten wollten. Diese Versammlung fand in dem großen Saale des Preußischen Adlers statt und man konnte voraussehen, daß alle, die sich nur irgendwie für Politik interessierten, sich zu dieser Versammlung drängen würden, von der vorausgesehen werden konnte, daß sie entscheidend sein würde. Mit gutem Bedacht hatte man sie, obwohl sie gleich bei Beginn der Wahlcampagne vereinbart worden war, auf den letzten Tag verlegt; beide Parteien versprachen sich von dem Aufeinanderplatzen der Geister, zu dem diese Versammlung führen mußte, ein Warmwerden auch der Halben und Lauen, dessen Früchte sie am Wahltage ernten wollten.

Von dem Kandidaten, den die Sozialdemokraten ziemlich in letzter Stunde aufgestellt hatten und für den sie lediglich durch Verteilen von Aufrufen und Wahlzetteln in den Häusern thätig waren, war nur nebenher die Rede. Es war keine offizielle und eingestandenermaßen eine aussichtslose Kandidatur, durch welche man lediglich eine ungefähre Zählung der bereits gewonnenen Stimmen herbeiführen wollte; man hatte weder einen Redner, von dessen Auftreten sich ein Erfolg versprechen ließ, noch überhaupt jemanden, der sich hätte entschließen können, offen Farbe zu bekennen; die auswärtigen rednerischen Kräfte waren in den Wahlkreisen, die einen Erfolg versprachen, bis zur äußersten Anspannung in Anspruch genommen, kurz, auf dieses Mittel der Agitation hatte man verzichten müssen. Dennoch strömten natürlich auch die der sozialistischen Kandidatur geneigten Arbeiter und Kleinbürger, sowie Leute aus den umliegenden Dörfern nach dem Saale des Preußischen Adlers, der schon vor der für die Eröffnung festgesetzten Zeit zum Brechen gefüllt war.

Auch Wolfgang hatte sich nach dem Saale begeben; er fand die Mitte desselben von den „Intelligenzen“ des Orts und wohlhäbigen Gewerbetreibenden eingenommen; die durch ihren stupiden oder fanatischen Gesichtsausdruck sich sofort verratenden Ultramontanen bildeten eine kompakte Masse, deren Haltung eine ziemlich düstere und verbissene war. Die Arbeiter hielten sich fast scheu im Hintergrund und drückten sich an den Wänden hin oder sie hatten sich auf die Galerien postiert, wo sie weniger leicht gesehen und kontrolliert werden konnten.

Wolfgang machte, die Hände auf dem Rücken ineinandergelegt, eine Runde auf der Galerie, die noch einige Bewegung gestattete; man machte ihm überall zuvorkommend Platz, nickte ihm freundlich zu und flüsterte sich wohl auch eine bedauernde Bemerkung ins Ohr. Bei diesem Rundgange stieß Wolfgang auch auf Krone; er schüttelte ihm herzlich die Hand und sagte:

„Nun, sind Sie auch da? Ich hatte mir's allerdings denken können; ein alter Politikus darf bei solchen Gelegenheiten nicht fehlen, wenn er auch weiß, daß er wider den Strich gebürstet werden wird.“

„Freilich muß ich mir die Komödie mit ansehen; ich dachte schon, ich würde keinen Platz finden, denn ich habe bis zum letzten Augenblick zu Hause Stimmzettel geschrieben. Unsere sind ja auf den ersten Blick am Format und an der Farbe kenntlich; da habe ich denn Schreibpapier genommen, das täuschend so aussieht, wie das Papier der Bismarck-Zettel, und habe sie nach dem Format derselben zugeschnitten und sie mit dem richtigen Namen versehen, und mit diesen Zetteln helfe ich Bekannten aus, die sonst nicht wagen würden, nach ihrer Ueberzeugung zu stimmen. Sie machen doch dasselbe Manöver?“

„Man sollte das eigentlich immer thun, schon um den Herren das Konzept zu verderben und sie an der Nase herumzuführen, doch vielleicht paßt mir's diesmal, dumm-ehrlich zu sein. Wir sehen uns, denke ich, noch einmal.“

Er stieß später auch auf die beiden Alfrede; der Dicke schimpfte über die „wahnsinnige“ Hitze auf der Galerie und klagte über Ohrensausen, und als Wolfgang lächelnd sagte:

„Aha, Sie brauchen einen Vorwand, sich aus dem Staube zu machen, um in der Konditorei mit der neuen Mamsell zu plaudern, statt hier heftige Debatten über den Syllabus und die Maigesetze mit anzuhören?“ erwiderte er mit dem freundlichsten Gesicht der Welt und leisem Augenzwinkern:

„Aber doch ein Kapitalmädel, nicht wahr? Ein reizendes, naives Kind! Uebrigens habe ich aus Rügenwalde Gans in Gelé, Gänsebrüste und deliziöses Gänseschmalz bezogen: nächste Woche giebt's ein kleines Souper, das sich gewaschen hat.“

Der Lange meinte mit komischem Pathos: „Herrgott, Mensch, sind wir denn nicht in einer Wahlversammlung und sind nicht die Augen Europas erwartungsvoll auf uns gerichtet?“

Als aber Wolfgang fragte: „Nun, und wie denken Sie den Erwartungen Europas zu entsprechen, alter wissenschaftlicher Materialist?“, da bekam er ein ziemlich kleinlautes:

„Ja, das ist eine schlimme Geschichte. Nationalliberal kann ich nicht mehr, sozialistisch mag ich noch nicht stimmen und einen Fortschrittler, den man anständigerweise als Uebergang wählen könnte, haben sie nicht ausgestellt!“ zur Antwort.

Wolfgang lächelte, grüßte mit einer Handbewegung und setzte seinen Rundgang fort, um sich dann in den Saal hinabzubegeben. Er hatte seinen Chef, der Kassierer des nationalliberalen Wahlkomitees war, entdeckt und in seinem Auge blitzte es wie eine Flamme auf, nur für eine Sekunde, aber wer den halb düstern, halb ironischen Blick aufgefangen hätte, mit dem er, die Arme auf der Brüstung, das Meer von Köpfen überflog, dem wäre er sicherlich aufgefallen. Mit einiger Mühe drängte er sich bis zu dem Platze Herrn Reischachs durch; er wartete eine Pause in der eifrigen Unterhaltung zwischen diesem und dem Landrat von Wertowsky ab, begrüßte dann beide Herren und sagte halb gedämpft aber ruhig und fast heiter zu seinem Chef:

„Wahrscheinlich melde ich mich im Laufe des Abends auch einmal zum Wort, Herr Kommerzienrat; ich habe verschiedenes auf dem Herzen, das herunter muß!“

Herr Reischach sah ihn überrascht an; der Einfall befremdete ihn. Als aber Wolfgang noch leiser und mit bedeutungsvollem Blick, hinzufügte:

„Haben Sie vergessen, daß ich Ihnen noch eine Antwort schuldig bin? Ich möchte sie heute und auf diese Weise geben,“ neigte er zustimmend und mit schlauem Blick leicht das Haupt und sagte, nunmehr auf der Höhe der Situation und aufs angenehmste überrascht, mit aller Freundlichkeit, deren er fähig war:

„Sehr wohl, Herr Hammer; fein, sehr fein ausgedacht; Sie sind und bleiben ein Tausendsasa, und jetzt verstehe ich auch, warum sie nicht gleich antworteten. Seh einmal einer, daran hatte selbst ich nicht gedacht. Nun, da wird sich eine gewisse Martha aber freuen!“

Wolfgang zog sich nach einer leichten Verbeugung gegen beide Herren zurück, und der Kommerzienrat wendete sich aufgeräumt an Herrn von Wertowsky:

„Eben hat sich ein Freiwilliger gemeldet, — ist entschieden zu brauchen. Kann es noch zu etwas bringen, — benimmt sich äußerst geschickt. Wissen Sie noch, Herr Landrat, was wir drüben im Extrazimmer besprochen haben, gerade seinetwegen? Nun, das Vögelchen wird nachher pfeifen, — ist durch gutes Futter kirre gemacht — hahaha! — werden sich über die veränderte Tonart wundern! Man muß die Menschen zu nehmen wissen; nun, das lernt sich nach und nach, und diesmal hab ich die Geschichte äußerst fein eingefädelt, ohne ruhmredig sein zu wollen.“

Der Landrat horchte auf. „Sie meinen, Ihr Herr Hammer wird für uns ins Zeug gehen? Das wäre aber doch wunderbar, und wenn Sie das fertig gebracht haben, so sind Sie ein Hexenmeister und ich muß Ihnen mein Kompliment machen.“

Die Glocke des Einberufers schnitt dem Kommerzienrat das Wort ab. Man wählte mit eben ausreichender Majorität einen in der Wolle gefärbten Nationalliberalen zum Vorsitzenden und der Rektor bestieg die Tribüne, um das Gefecht einzuleiten. Es fehlte seiner wohlpräparierten Rede weder an provozierenden Ausfällen gegen die „Papstknechte“, durch die er heftige Proteste der Ultramontanen hervorrief, noch an Seitenhieben gegen „die Verteidiger der Pariser Petroleumshelden“, und das geräuschvolle, aber etwas forcierte Bravo der Partei, die sich im Centrum des Saals zur Phalanx formiert hatte, vermochte das Murren im Hintergrund und auf den Galerien nicht ganz zu übertäuben.

Der junge Kaplan, der dem Rektor folgte, entwickelte Geschmeidigkeit, Klugheit und Geschick. Das von der Blässe des Seminars überzogene, im Profil einer Fuchsschnauze ähnelnde Gesicht färbte sich nach und nach mit leichter Röte, und die malitiöse Schärfe, mit welcher der Redner jede Blöße benutzte, die sein Vorredner sich gegeben hatte, that bessere Wirkung, als das zuweilen angestrebte, aber etwas zu kanzelhaft ausfallende Pathos. Der geriebene Kaplan griff die Sozialdemokratie nur ihrer irreligiösen Richtung wegen an, gestand ihr im übrigen eine bedingte Berechtigung zu und putzte seine Rede mit allerlei demokratisch klingenden Phrasen auf, vindizierte aber der katholischen Kirche das Recht und die Absicht, sich zur Vertreterin des notleidenden Volkes aufzuwerfen.

Machten diese Ausführungen auch keinen Eindruck auf die protestantischen Arbeiter, so gingen sie doch an den katholischen, auch an den nichtultramontanen, keineswegs spurlos vorüber, und diese Wahrnehmung war ein neuer Sporn für den Rektor, der sich auf die Tribüne schwang, um zu replizieren. Er hatte aber kein besonderes Glück; in seinem Uebereifer ward er, wie einst Wolfgang gegenüber, hitzig und unvorsichtig und stellte gewagte Behauptungen auf, verhedderte sich in bedenklicher Weise und hatte sehr wenig ausgerichtet, als er verwirrt und ratlos abbrach. Das Zünglein der Waage neigte sich nach der Seite des gewandten Kaplans und man beeilte sich, die übrigen verfügbaren Rednerkräfte ins Feuer zu führen; sie stellten das Gleichgewicht notdürftig wieder her, doch hatte man am Komiteetisch allgemein das Gefühl, daß hier mit ein paar mühsam hervorgezwungenen holperigen Phrasen nichts genutzt werde und daß man nur durch eine feurige, schwungvolle Rede das moralische Uebergewicht erlangen könne. Woher aber diesen Redner nehmen? In dieser peinlichen Verlegenheit suchte der Kommerzienrat, der selber keine drei Sätze hätte hervorstoßen können, mit den Augen nach Wolfgang; der Gesuchte lehnte mit verschränkten Armen an der Ballustrade und schien das dringende, mahnende, aufmunternde Nicken seines Chefs lange nicht zu bemerken; endlich nickte er bedeutungsvoll und ernst zurück, und als der Kaplan wiederum die Tribüne bestieg, um mit einem siegesgewissen Lächeln jedem seiner Gegner einen wohlgezielten Stoß zu versetzen und sie nacheinander in den Sand zu legen, da meldete sich auch Wolfgang, der sich inzwischen nach und nach zu dem Vorsitzenden durchgedrängt hatte, zum Wort.

Sein späteres Erscheinen auf der Tribüne rief unverkennbar eine gewisse Bewegung hervor. Hüben wie drüben war man gespannt auf die Ausführungen dieses Redners, an den kein Mensch gedacht hatte, und Herr Reischach tippte den Landrat, der sich mit dem Klemmer bewaffnete, mit einem schlauen Lächeln auf die Schulter und flüsterte leise:

„Geben Sie acht, Herr Landrat, Sie werden gleich ein blaues Wunder erleben. Die Periode des theoretischen Radikalismus ist vorüber, man fängt an, mit realen Thatsachen zu rechnen und — man wird sich natürlich auch sehr gut dabei stehen. Hahaha! Habe mich lange nicht so amüsiert wie heute!“

Der Angeredete antwortete nicht; sein Blick haftete an dem jungen Manne, der sich fest und sicher auf die Tribüne gepflanzt hatte und mit einem kaum merklichen Nicken zu den beiden Alfreden und Krone hinaufgrüßte. Letzterer war, als er Wolfgangs Namen nennen hörte, aufgesprungen und hatte sich vor an die Ballustrade gedrängt; die beiden Chemiker hatten sich überrascht angesehen und der Dicke hatte höchst betreten gesagt:

„Ja, zum Teufel, Bruder, was ist denn das? Herr Hammer wird doch keine Dummheit begehen und aus der ganzen drolligen Spiegelfechterei bitterbösen Ernst machen?“

Aber er bekam keine Antwort mehr, denn Wolfgang hatte eben, kalt und ruhig und nur eine Idee bleicher als sonst, begonnen:

Meine Herren!

Wer von mir eine lange Rede erwartet, irrt sich. Ich habe nur eine kurze Erklärung abzugeben. Diese Erklärung ist in erster Linie an die zahlreichste Wählerklasse gerichtet, an die Männer des vierten Standes, an das arbeitende Volk. Dieser Stand, der an sich eine politische Partei ist, hat unter der Hand einen eigenen Kandidaten aufgestellt, wenn auch ohne Hoffnung auf einen Sieg. Ich beklage, daß örtliche Verhältnisse es der Partei nicht gestatteten, diese Kandidatur hier nachdrücklich zu verfechten. Sie hätte nicht mit der Laterne nach Gründen zu suchen gebraucht, wie dies nun seit länger als zwei Stunden seitens der Redner zweier anderer Parteien geschehen ist. Dieselben haben uns ein zugleich lächerliches und betrübsames Spiel vorgeführt. Ein lächerliches Schauspiel, denn diese beiden Parteien werden durch kein weltbewegendes Princip getrennt, sie sind im Grunde nur eine Partei, und wenn sie sich auch jetzt den Anschein geben, als wollten sie sich den Pelz waschen, so sind sie doch immer ängstlich darauf bedacht, ihn ja nicht etwa naß zu machen. Ein betrübsames Schauspiel, denn überall da, wo eine geschlossene Arbeiterpartei besteht und eine Macht geworden, ist ihnen sofort das Handwerk gelegt und sie rinnen, wie zwei Tropfen Quecksilber in einen, in eine zusammen.

Wäre die Arbeiterbewegung hier schon so stark, wie es anderwärts der Fall ist, so würde man die Komödie, deren Zeugen wir gewesen sind, nicht vor uns aufführen, man würde sich gegen die Arbeiter vereinigen. Früher oder später wird der sogenannte „Kulturkampf“, der doch nur ein Rang- und Etikettenstreit ist, ohnedies durch einen mehr oder minder faulen Frieden beendigt und dann werden diese Leiden sogenannten Parteien ein Bündnis schließen, das seine Spitze gegen die Arbeiter kehrt. Ist es möglich, zu verkennen, daß die Arbeiter einen Selbstmord begehen, wenn sie die Kämpfer für einen Streit stellen, der ihre Interessen nicht berührt und am allerwenigsten fördert? Ist es möglich, zu verkennen, daß Vernunft und Interesse ihnen vorschreiben und gebieten, diesen Parteien fernerhin nicht mehr Heeresfolge zu leisten, sich nicht länger durch schöne Worte ködern und kirren zu lassen und eine eigene Partei zu bilden, der es sehr not thut, rasch zu erstarken, da sie in wenig Jahren gegen eine Koalition aller anderen Parteien zu kämpfen haben wird? Jetzt giebt es neben den Schwarzen noch Hellgraue und Dunkelgraue, später wird das reine Weiß gegen das tiefe, dunkle Schwarz stehen. Beschleunigt die unvermeidliche und notwendige Scheidung, indem ihr euch schon jetzt von den Parteien lossagt, denen ihr nur wohlfeiles Stimmvieh geliefert habt, indem ihr euch fest und trotzig auf die eigenen Füße stellt! Es giebt eine deutsche Arbeiterpartei: was liegt näher für einen Arbeiter, als mit dieser Partei zu gehen, die seine Interessen auf ihre Fahne geschrieben hat? Ich sollte denken, hier gäbe es kein Schwanken und Ueberlegen, hier genüge das Walten des dunkelsten Klasseninstinkts.

In alle Hütten der durch die gleiche Lage, durch ihre Klassenlage Verbundenen hat in den letzten Tagen der Ausruf und der Stimmzettel für den Arbeiterkandidaten seinen Weg gefunden. Lest den Aufruf, er sagt euch mehr als genug. Laßt euch auch nicht irre und bange machen. Würden alle die gedruckten Lügen, die der Angst vor der Arbeiterbewegung ihr Entstehen verdanken, auf einen Haufen geschichtet, der Berg würde bis in die Wolken reichen, und was könnte ich in der kurzen Spanne Zeit, die ich noch vor mir habe, mehr thun, als ein paar der ärgsten von diesen zehntausend Lügen und Fälschungen in ihr armseliges Nichts aufzulösen? Die übrigen neuntausendneunhundertachtundneunzig müßtet ihr doch als unantastbar ansehen, um vor ihnen zu Kreuze zu kriechen. Glaubt gar nichts, laßt euch auf keinen Streit über Einzelheiten ein, über die hundertfache Meinungsverschiedenheiten obwalten können, haltet euch an das Fundament und das wirft euch kein Professoren-, kein Pfaffen- und kein Schulmeisterwitz über den Haufen!

Durch wenige, sehr einfache und unzweideutige Fragen läßt sich die Lage für jedermann klären. Ist euer Dasein ein menschenwürdiges? Nein! Haben eure Mühen und euer Fleiß ein besseres Los verdient? Ja. Giebt es eine Partei, die menschenwürdigere Zustände herbeiführen will? Ja. Was haben wir zu thun? Uns ihr anzuschließen, mit ihr zu stimmen; mag uns auch manches, woran sich vorläufig noch die Gelehrten die Zähne ausbeißen, nicht klar sein, mag ihr Kandidat Hinz oder Kunz, Peter oder Paul heißen. Eure Abstimmung ist einfach ein Protest, ein Schrei nach Recht, der den neuesten Ergebnissen der strengwissenschaftlichen Forschung einen seltsam zwingenden Nachdruck verleiht, weiter nichts. Und wollt ihr nicht einmal gegen die Fortdauer der jetzigen Zustände Protest erheben? Habt ihr doch bisher nur deshalb den anderen Parteien eure Stimmen zur Verfügung gestellt, weil sie euch vor den Wahlen, um eure Stimmen zu gewinnen, eine Besserung eurer Lage versprachen. Und haben sie ihre Versprechungen erfüllt, haben sie später etwas für euch gethan? Ich möchte den sehen, der nicht mit dem Fuße stampfte und die Faust ballte. Versucht es einmal mit eurer eigenen Partei; bei ihr werdet ihr wenigstens den guten Willen finden, und wird das erst allgemein eingesehen, so findet sich die Macht ganz von selbst.

Sagt nicht, daß doch alles vergebens sei und daß ihr doch nicht siegen werdet. Diesmal nicht, aber was verschlägt das? Jede Stimme, die für einen Arbeiterkandidaten abgegeben wird, ist ein Einzelprotest, und auch diese Einzelproteste machen addiert einen Eindruck; jede Stimme mehr, gleichviel in welchem Winkel Deutschlands sie abgegeben wird, ist ein Gewinn. Darum gebe auch ich morgen meine Stimme dem Kandidaten der Arbeiterpartei.

Ich glaube, ihr kennt mich so ungefähr und habt Beweise dafür, daß ich ein Herz für euch habe. Ich glaube, euer Vertrauen zu besitzen Und an dieses Vertrauen wende ich mich. Wenn meine Stimme für euch Gewicht hat, so hört auf mich; wenn ihr in mir einen treuen und uneigennützigen Berater seht, so befolgt meinen Rat und habt den Mut, eine eigene Meinung zu haben und das Neue nicht schon deshalb zu verwerfen, weil es neu ist. Die Entwicklung geht unaufhaltsam vor sich und bei der nächsten Wahl würdet ihr ganz von selbst jeden auslachen, der euch zumutete, für einen klerikalen oder für einen liberalen Kandidaten zu stimmen. Aber warum so lange warten? Es ist ehrenvoller für euch, schon diesmal in die Reihen der kämpfenden Brüder zu treten. Seht mich als ihren Sendboten an, — wollt ihr, könnt ihr die Unterstützung verweigern, die man durch mich von euch begehrt? Ich weiß, das werdet ihr nicht thun. Auch ihr stimmt morgen für den Kandidaten der Arbeiterpartei.

Ich habe zum ersten und zum letzten Male zu euch gesprochen; für Worte, wie ich sie an euch gerichtet, giebt es keine Duldung und kein Verzeihen. Behaltet mich, der immer euer Freund war, in gutem Andenken und laßt mich in meiner neuen Heimat recht bald hören, daß ich heute nicht vergebens gesprochen habe, daß meine Worte auf fruchtbaren Boden gefallen sind. Daß die Bewegung, für die ich euch gewinnen wollte, mit jedem Tage neue Anhänger gewinnen, daß sie sich mit einer für ihre Gegner beängstigenden Schnelligkeit ausbreiten wird, sagt sich jeder, der die Verhältnisse aufmerksam beobachtet und sich nicht absichtlich verblendet. Aber es wird mir eine besondere Freude sein, zu hören, daß auch dieser Kreis, daß auch dieses stille Thal seine Bataillone zu dem großen Arbeiterheere stellt, das gegen die Burgen der Vorrechte marschiert und sie stürmen und brechen wird, früher oder später, aber sicher und gewiß!

Ich bin, auch was euch betrifft, guten Muts. Ich weiß, in euch allen lebt ein guter und tüchtiger Geist, und dieser Geist, den sie freilich Rebellion nennen und der Feindschaft gegen Staat und Gesellschaft und der wildesten Gelüste zeihen, er wird morgen kräftig seine Schwingen entfalten und nie wieder gestatten, daß man sie binde — durch List oder Gewalt!“ —

Als Wolfgang die Tribüne verließ, wußte er, daß er vollständig gesiegt hatte. Die heftigen, leidenschaftlichen Proteste, welche seine Worte anfänglich hervorriefen, waren nach und nach vor dem stürmischen Beifall verstummt, der aus dem Hintergrunde des Saals und von den Galerien ertönte und sich fast nach jedem Satze in fortwährender Steigerung wiederholte. Die Arbeiter drängten nach vorn und füllten jeden Zwischenraum zwischen den Tischen der Gegner, denen diese Invasion eine gewisse Reserve aufnötigte. Wolfgangs Blick schweifte während der Rede öfters hinüber nach dem Komiteetisch, — er konnte zufrieden sein. Man war dort im ersten Moment wie niedergedonnert und verharrte minutenlang in rat- und wortloser Bestürzung. Der Kommerzienrat sah geradezu stupid aus und ein Erdbeben hätte ihn nicht fassungsloser machen können; es vervollständigte seine Verzweiflung, daß der Landrat, der den Klemmer fallen ließ, ziemlich übellaunig sagte:

„Mir scheint, statt meiner erleben Sie ein blaues Wunder. Ich fürchte. Sie haben sehr unglücklich operiert, denn dieses Resultat haben Sie doch sicherlich nicht herbeiführen wollen. Sie sind wohl etwas zu zuversichtlich gewesen und haben die Eigenart des jungen Mannes nicht mit in Rechnung gezogen. Hätte ich das voraussehen können, so würde ich Sie um Mitteilung ihres Feldzugsplans gebeten haben, statt mich auf Ihre Gewandtheit zu verlassen.“

Herr Reischach wußte nichts zu erwidern; es drehte sich alles um ihn im Kreise und wie gelähmt ließ er alles weitere über sich ergehen. Die Beifallssalven der Arbeiter dröhnten ihm in den Ohren; verworren und unklar nur vernahm er die von den übrigen Komiteemitgliedern flüsternd gewechselten, bestürzten und ratlosen Bemerkungen; der Sinn von Wolfgangs Rede ging zuletzt an seiner hilflosen Betäubung fast spurlos vorüber, er vernahm nur noch den Klang der hellen, sonoren Stimme, die spielend bis in die entlegenste Ecke des weiten Saales drang, und Wolfgangs grollende Begeisterung und der Schwung und das Feuer, die mehr und mehr jedes Wort charakterisierten, hatten selbst für ihn etwas unwillkürlich Berauschendes. Das Blut drängte ihm so stürmisch nach dem Kopfe, daß er den Sprecher nur wie durch einen rötlichen Nebel sah; — was war dieser Hammer für ein rätselhafter, unheimlicher Mensch, und wer sollte ihn widerlegen und aus dem Felde schlagen? So hatte er noch nie reden hören, und auch später blieb er dabei, es den Arbeitern nicht verdenken zu können, wenn sie sich von Wolfgangs Worten beherrschen und fortreißen ließen. Als Wolfgang die Tribüne unter betäubendem, minutenlangem Jubelruf verließ, stürzte Krone, der sich von der Galerie in den Saal begeben hatte, nach derselben — er hatte sich beim Vorsitzenden, der vollständig den Kopf verloren hatte, zum Wort gemeldet. Seine Wangen glühten, seine grauen Augen blitzten; Wolfgangs besorgtes, abmahnendes: „Lassen Sie das, Krone; wozu wollen Sie auch noch in den Abgrund springen?“ beantwortete er nur durch ein energisches Kopfschütteln und ein aufgeregtes: „Ich muß!“ und faßte aus der Tribüne Posto. Er kam aber nicht sogleich zum Sprechen; die Wogen gingen noch hoch und die Klingel des Vorsitzenden machte vergebens verzweifelte Anstrengungen, die Ruhe wiederherzustellen.

Wolfgang verfügte sich, mit leichtgeröteten Wangen, im übrigen aber ruhig und sicher, an den Komiteetisch, warf einen etwas ironischen Blick auf den Rektor, dessen Gesicht eine graugrünliche Färbung angenommen hatte, dessen blasse Lippen zitterten und der sich ratlos und nervös mit der Hand durch den Haarbusch fuhr, und trat zum Kommerzienrat, der am liebsten zornig aufgebraust wäre, aber keine Worte fand und den jungen Mann wie geistesabwesend und ziemlich albern anstarrte. Mit der kühlen, gelassenen Artigkeit, die unter Umständen am meisten imponiert und brutale Naturen ihrer Waffen beraubt, sagte er: „Ich habe Ihnen meine Antwort gegeben, Herr Kommerzienrat, und ich glaube, sie ist deutlich ausgefallen. Sie sehen es wohl mit mir als selbstverständlich an, daß diese Stunde unser Verhältnis löst, und ich komme Ihnen zuvor, indem ich Ihnen erkläre, daß ich den Fuß nicht wieder in das Comptoir setzen werde, Meine Bücher und Skripturen sind vollständig in Ordnung, nicht bloß bis auf den Tag, sondern bis auf die Stunde und Minute; sollte dennoch irgend eine Aufklärung gewünscht werden, so bitte ich, dieselbe bis morgen abend zu fordern, da ich solange hier bleibe, um meiner Wählerpflicht zu genügen und das Resultat der Wahl abzuwarten. Ob Sie mir ein Zeugnis ausstellen wollen, stelle ich in Ihr Belieben; ich bedarf desselben nicht und will Ihnen nicht zumuten, sich noch weiter mit einem Manne zu befassen, der Ihnen eine so verdrießliche Lektion erteilt hat, wenn Sie auch zugeben werden, daß Sie ihn gereizt hatten.“

Der Kommerzienrat nickte steif und kalt und erklärte so sein Einverständnis; es erschien ihm in diesem Moment unmöglich, eine andere Form der Erwiderung zu finden und dennoch seiner Würde nichts zu vergeben. Erst einige Tage später besann er sich auf allerlei stolze, strafende, geringschätzige, niederschmetternde Redewendungen, die eine gebührende Abfertigung dieser „unverschämten, herausfordernden Dreistigkeit“ gewesen wären.

Mit einer förmlichen Verbeugung gegen Herrn Reischach und den Landrat, der ihn kalt und fremd fixierte, hatte sich Wolfgang zurückgezogen.

Inzwischen war denn Krone endlich zum Wort gelangt. Aber seine Stimme erwies sich unfähig, das noch immer anhaltende dumpfe Summen eifrig redender Stimmen zu übertönen. Von all den massiven Wahrheiten, die er an Wolfgangs bahnbrechende Rede hatte knüpfen wollen, blieben ihm sieben Achtel in der Kehle stecken und auf das zur Aussprache gelangende Achtel hörte fast niemand. Es blieb also bei einem in unregelmäßigen Zwischenräumen hervorgestoßenen:

„Freunde! Bürger! Wer von all den Rednern, die heute gesprochen haben, die Wahrheit vertreten hat, darüber kann Wohl kein Zweifel sein — das muß sich jeder sagen. Die ewigen Ideen lassen sich nicht unterdrücken, — sie erheben immer wieder siegreich ihr Haupt, — die Gewalt kann Ihnen nichts anhaben, — aller Lug und Trug muß endlich entlarvt werden, — alle Redekünste leiden zuletzt doch kläglich Schiffbruch. Die Wahrheit kann überschrieen werden, — sie bohrt sich aber immer wieder durch oder vielmehr, sie verschafft ihrer Stimme immer wieder Gehör. Wir haben Reden genug gehört — jeder weiß, was er zu thun hat, — ich stelle den Antrag auf Schluß.“

Der gute Krone wußte weder, daß seine vieldeutigen und in allen Farben schillernden Worte allen Parteien genehm sein und sogar den Verdacht erwecken konnten, als habe er gegen Wolfgang Front machen wollen, noch wußte er, daß er mit seinem Antrag, der doch nur bezweckte, zu verhindern, daß die Rede Wolfgangs etwa abgeschwächt und ihr Eindruck verwischt werde, den Gegnern einen großen Gefallen erwies. Sein Antrag ward widerspruchslos mit unzweifelhafter Majorität angenommen; die Ultramontanen stimmten die Piushymne an, und als er die Tribüne fast unbeachtet verließ, kam ihm die Ahnung, daß er doch eigentlich etwas anderes gesagt hätte, als ursprünglich in seiner Absicht lag.

Der Saal leerte sich rasch und es blieb nur eine kleine Gruppe zurück; die entschiedensten Sozialisten drückten Wolfgang dankbar die Hand, bestürmten ihn mit Fragen über die von ihm gefaßten Entschlüsse und sprachen sanguinische Hoffnungen auf den Erfolg des Abends aus. Wolfgang lehnte sehr ernst jeden Dank ab und versicherte, daß er ohne starke persönliche Motive diese Rede schwerlich gehalten haben würde; er warnte achselzuckend vor voreiligen Illusionen und verabschiedete sich dann herzlich von allen, ohne Tag und Stunde seiner Abreise zu verraten.

Am Ausgang des Saales stieß er auf Krone; dieser streckte ihm die Hand entgegen und sagte fast kläglich und kleinlaut:

„Herr Hammer, ich glaube, ich thue am besten, wenn ich Ihnen gar nichts sage; schließlich kommt doch wieder alles ganz anders heraus, als es gemeint war. Der Teufel soll mich lotweise holen, wenn ich je wieder eine Rede halte. Denken Sie sich, eben gingen zwei Schwarze vorbei, die steif und fest glaubten, ich hätte für sie gesprochen; sie hielten sich an die Wort: „Die ewigen Ideen ließen sich nicht unterdrücken und die Gewalt könne ihnen nichts anhaben.“ Und im nächsten Augenblick sagte ein feister Fleischermeister zu einem aufgedunsenen Bäcker, der neben ihm herwatschelte: „Reden kann er, das muß wahr sein, aber der Schriftsetzer hatte recht: die Redekünste leiden zuletzt doch elend Schiffbruch. Was die Teiler uns Vorreden, ist doch nur Lug und Trug und mit dem Bravoschreien machen sie uns noch lange nicht bange.“ Soll man sich da nicht alle Haare einzeln ausraufen? Ich habe das Redenhalten längst verschworen gehabt und nun falle ich doch wieder so jämmerlich hinein und —“

„Lassen Sie sich's doch lieb sein, daß niemand so recht weiß, daß Sie für mich gesprochen oder vielmehr haben sprechen wollen. Sie können doch nicht so ohne weiteres Ihre Siebensachen in einen Koffer packen und auf und davon fahren — nach England oder Ostindien, nach dem Kap der guten Hoffnung oder nach der Pfefferküste — was kümmert's mich?“

„Nun ja, da haben wir die Bescherung; das habe ich mir doch gleich gedacht!“ sagte hinter ihnen ein Schmollton eine helle Tenorstimme und der lange Alfred legte seine Hand auf Wolfgangs Schulter. Nun hat die Freude am längsten gedauert! meinte auch der Dicke, der übrigens sehr wütend auf Sie war und ganz aufgebracht davongelaufen ist. Schließlich hat er sich indessen mit der Erwägung getröstet, daß Frau Meiling ihren Garten vielleicht an uns vermiete.“

„Das sieht ihm ähnlich. Grüßen Sie ihn von mir, denn morgen geht, unter uns gesagt, die Reise fort. Sie müssen nun sehen, wie Sie den Bildungsverein weiter durchschleppen, -— ich rechne auf Sie.“

„Das können Sie. Uebrigens war das vorhin eine famose Pauke, wenn sie auch sehr ungemütliche Folgen hat. Ich könnte blutige Thränen weinen, daß Sie so Knall und Fall abschwärmen, denn nun wird es wieder schauderhaft langweilig in diesem gottverlassenen Neste, aber ich sehe schon ein, daß es alles nichts helfen konnte. Es muß ein wahres Fest sein, endlich einmal seine Meinung offen heraus sagen zu können. Ich bin ja bis jetzt nur ein halber Roter, aber es wird mir schon jetzt sauer, mit meiner Meinung hinter dem Berge halten zu müssen, und es sind doch nicht alle Leute so dumm, wie die beiden Commis-voyageurs, die neulich behaupten wollten, ich sei ein Sozialist, aber ganz still wurden und sich möglichst dumm ansahen, als ich mich dagegen verwahre und behauptete, Kollektivist zu sein, von der Partei hatten sie in ihrem Leben noch nichts gehört, und ich war nun sofort wieder „lieb Kind“ bei ihnen. Das ist doch „niedlich?“

Wolfgang hörte nur mit halbem Ohr auf dieses Geplauder, und als der Sonettendichter Alfred herzlich sagte:

„Nun trinken wir aber noch eine Flasche Wein zusammen — zum Abschied?“ lehnte er es bestimmt ab und erwiderte ernst:

„Ich brauche nun Ruhe und Alleinsein, um mir den ganzen wüsten Spuk aus der Seele fortzuschaffen. Wir sehen uns ja morgen nacht eine Viertelstunde vor Abgang des Schnellzugs auf der Bahn noch einmal; jetzt muß ich schon bitten, mich mir selber zu überlassen; ich will noch ein paar Stunden hinaus in die Nacht und auf die Berge laufen und Abschied nehmen. Das wird mir besser thun, als hinter gefüllten Römern zu sitzen.“

Krone nickte, als sei dieser Vorsatz ganz nach seinem Sinne; Alfred aber meinte:

„Einem anderen würde ich das nicht glauben, Sie freilich sind über den Verdacht erhaben, als umschlössen die Mauern dieses Städtchens ein zartes Liebchen, von dem Sie einen thränenreichen Abschied nehmen wollten. In diesem Falle ließe ich Sie übrigens weit lieber gehen und fände Ihre Weigerung wenigstens begreiflich.“

Man war in eine der Gassen gekommen, die aus dem Städtchen ins Freie führten, Wolfgang drückte den beiden die Hand mit einem fast gleichgültig klingenden: „Morgen also, vielleicht schon im Wahllokal!“ und schritt langsam hinaus in die Nacht. Auch Krone und der junge Chemiker trennten sich, beide schweigsam, beide in Gedanken mit dem Scheidenden beschäftigt. Der junge Tag, der letzte, den Wolfgang in M. verleben sollte, war bereits angebrochen, als er todmüde ins Städtchen zurückkam; dürfen wir uns darüber wundern, daß ihn[WS 8] seine Schritte schließlich doch noch, und zwar ganz unwillkürlich, in den Hohlweg geführt hatten, wo das kleine Idyll sich anspann, das nun so traurig endete? Gerade in dem Moment, in dem er diesen, Hohlweg durchschritt, trat aus zerrissenem, dunklem Gewölk die Mondesscheibe und ihr blasses Licht ließ das Brombeergestrüpp im Schnee erkennen; — ob sie, die seine Hoffnungen so bitter enttäuscht hatte, wohl im Sommer wieder diesen Weg ging, ob ihr Blick an den weißen Blüten haftete, die dann zwischen den gezackten Blättern schimmerten; ob sie seiner gedachte und traurig die schmale, weiße Hand vor die Augen legte?

Es war der Schlummer der äußersten Erschöpfung, der sich in dieser Nacht bleischwer auf Wolfgangs Lider legte; er hatte seine Schuldigkeit gethan, der Bruch war vollzogen, und was nun noch kam, war nur ein kleines Nachspiel, das ihn innerlich kaum noch berührte.

*          *          *

Zu derselben Zeit, da Wolfgang die Tribüne bestieg, hatte Martha die kleine Anna, die ihr merkwürdig aufgeregt und zerstreut hatte vorkommen wollen, entlassen; das junge Mädchen machte sich, als habe sie noch etwas auf dem Herzen, auch nach dieser freundlichen Weisung noch im Zimmer zu schaffen, als aber Martha fragte: „Wollen Sie noch etwas, Anna?“ bekam sie ein hastiges und befangen klingendes: „Nein, Fräulein, Nein!“ zur Antwort und sah sich im, nächsten Augenblick allein.

Sie hütete noch immer das Zimmer; obgleich ihr Unwohlsein fast gänzlich gehoben war, bedurfte sie der Einsamkeit und Stille, und der Gedanke an Emmys Geplauder und des Kommerzienrats banales Geschwätz war ihr unerträglich. Immer und immer wieder fragte sie sich, warum ihr Wolfgang nach der Begegnung im Schneesturm kein Lebenszeichen gegeben habe, und dieses quälende Rätsel, das wie Reif auf die Blüten ihres Liebesglücks gefallen war, verfolgte sie bis in Schlummer und Traum.

Sie ging jetzt langsam, mit unsteten, unhörbaren Schritten im Zimmer auf und ab, nachdem sie das Buch, nachdem sie gegriffen, um ihren traurigen Gedanken zu entfliehen, wieder weggelegt hatte; sie hatte sehr bald die Entdeckung zu machen gehabt, daß sie nur mechanisch die Zeilen überflogen und die Seiten umgewendet hatte, und daß sie kein Wort von dem wußte, was ihre Augen gelesen. Als sie dann ihr Taschentuch von dem Spiegeltischchen wegnahm, fiel ihr Blick auf das Myrthenbäumchen im Fenster, das sie sich aus einem kleinen Reis gezogen und das sie ebenso sehr liebte, wie die Passiflora daneben, die jetzt freilich fast blätterlos war. Was war aber das? Stak nicht zwischen den beiden sich fast berührenden Aeschen ein Brief? Sie nahm ihn zögernd und von einer jähen Ahnung überfallen, heraus, und alles Blut schoß ihr zum Herzen, als sie gewahrte, daß der Brief verschlossen und daß er an sie adressiert war; und wem konnte diese feste, zierliche Handschrift gehören, als Wolfgang Hammer? Sie hatte nie eine Zeile von ihm gesehen, aber so mußte er, so konnte nur er schreiben.

Es überfiel sie ein Zittern. So nahe der Entscheidung, fehlte ihr plötzlich der Mut, sich Gewißheit zu schaffen; sie sank mit dem Briefe, den ihre Hände so fest umschlossen, als müßte sie ihn gegen die ganze Welt verteidigen, in einen Stuhl; ihr Atem flog, und lange, lange betrachtete sie das Siegel; es zeigte einen auffliegenden Falken und unter ihm die vieldeutigen Worte: „Nevermore! Nevermind! Neverthless“! (Niemals! Achte es nicht! Trotz alledem!) Endlich zog sie eine Nadel aus dem reichen, schwarzen Haar, das von neidischen Jugendfreundinnen oft genug bewundert worden war, und öffnete, ohne das Siegel zu verletzten, vorsichtig das Couvert. Der Kommerzienrat hatte das Dekret über die Verleihung des roten Adlers nicht mit halb der ehrerbietigen Scheu auseinandergefaltet, mit der sie den Brief auseinanderschlug; wieviel hatte ihr Wolfgang zu sagen, wie lieb mußte sie ihm sein! Sie warf einen forschenden Blick in das Heftchen und als sie sah, daß es ihr ausschließlich Verse brachte, preßte sie es, überwältigt von nicht zu fassendem Glück, samt dem Briefe an ihre Brust, und dann rückte eine zitternde Hand den silbernen Leuchter mit der brennenden Kerze näher heran, und ihre verschleierten Augen versuchten, den Inhalt des Briefes zu entziffern. Aber im nächsten Augenblick schon zuckte sie zusammen und schlug die Hände vor's Gesicht. Er war fort? Und wie sollte sie das folgende verstehen? Wäre die Adresse nicht gewesen, sie hätte nicht geglaubt, daß der Brief an sie gerichtet sein könne; das alles war ja unverständlich, geheimnisvoll, unbegreiflich. Sie las und las, ganze halbe Seiten mit einem Blick umfassend, und als sie geendet, als sie wußte, wie glücklich sie hätte sein können und wie elend sie war, daß er sie geliebt hatte und daß sie beide das Opfer eines unseligen Mißverständnisses oder einer nicht auszudenkenden Intrigue wurden, da brach sie in konvulsivisches Schluchzen und in heftige, unstillbare Thränen aus. Ihr Gesicht sank auf die grausamen, beseligenden Blätter, und als sie — es war wohl zu gleicher Zeit, als Wolfgang den Preußischen Adler verließ — es wieder erhob, da war die zierliche Schrift von ihren Thränen verwischt und verwüstet, als wäre ein warmer Regen auf sie gefallen. Sie stützte den Kopf in die Hand und versuchte, Ordnung in das Chaos der sie bestürmenden Gedanken zu bringen, sie las wieder und wieder und mit unheimlicher Schnelligkeit verdrängte eine Hypothese die andere. Aber es war alles umsonst; sie war so betäubt, daß sie nur das Eine klar erkannte: er liebt mich, aber er verwirft mich; ich habe seine Achtung verloren, aber er hat mich geliebt. Er ist fort und ich werde ihn nie wiedersehen; er ist mir verloren und ich bin doch unschuldig. Sie glaubte sterben zu müssen und doch sang und klang es vor ihren Ohren: „Er liebt mich! Er glaubt sich aufs tödlichste beleidigt, und doch schreibt er so sanft und mild und gut, doch ist sein letztes Wort Verzeihung!“ Gaben ihr vielleicht die Verse Aufschluß? Sie griff nach ihnen, und wie sie las, traten ihr immer wieder die Thränen in die Augen, immer wieder zuckten die Lippen, und immer wieder mußte sie das liebe, kleine Buch weglegen, um es nicht ebenfalls zu verderben, wie den Brief. Aber sie begriff auch hier nur, das eine: ein schwarzer Schatten hatte von Anbeginn zwischen ihnen gestanden und mit den Worten:

Meine Lippen schmachten nach einem Kuß —
Ob Wind und Meer mir die Seele heilt?

brach das Buch ab und ließ das Rätsel ungelöst. Es flirrte und dunkelte vor ihren Augen; ihre Gedanken verwirrten sich und ihr Herz pochte, als wolle es zerspringen. Da kam der scharfe, grelle Pfiff der Lokomotive durch die Stille und Klarheit der Winternacht zu ihr; sie zuckte zusammen und sprang auf — vielleicht trug ihn dieser Zug in die öde, fremde Ferne, aus der nie wieder ein Wort von ihm zu ihr kam; vielleicht konnte sie ihn noch ereilen, ihm noch sagen, daß sie nichts, nichts gethan, was sie seiner unwürdig mache; ihn noch bitten, ihr dieses bange, herzbrechende Wirrsal zu lichten, ihr zu erklären, was in aller Welt er mit seinen grausamen Worten meinen könne; war es denn nicht Aberwitz, daß sie —- durch einen Dritten ihm Bedingungen, solche Bedingungen gestellt haben sollte? Aber, ach Gott! er war ja schon fort, es war zu spät —- und ihr hatte man nichts gesagt!

Sie war, ohne es zu wissen, vor den Spiegel getreten. — War das totblasse Gesicht, das sie aus dem Glase mit seltsam leuchtenden Augen ansah, das ihre? Sie löste das Haar und ließ es fessellos über das weiße Nachtgewand herabfallen und flüsterte, ohne es zu wissen: „Und Dich hat Wolfgang geliebt? Das ist ein so großes Wunder, daß es in Trauer und Thränen enden muß!" Und dann kehrte sie sich hastig um und kniete vor dem geflochtenen Lehnstuhl nieder und bedeckte den Brief und das kleine Buch mit Küssen und preßte ihre Lippen auf ihre Hand, als wäre es die des Geliebten, und bat mit brechender Stimme: „Vergieb mir alles Weh, das ich Dir zugefügt habe, das aus der Liebe zu mir Dir erwachsen ist; ich werde es ja nimmer wieder gut machen können, wenn ich auch mit einem Lächeln den letzten Tropfen Herzblut für Dich hingeben könnte!"

Dann barg sie Brief und Buch auf ihrem zuckenden Herzen und warf sich auf ihr Lager; sie verschlang die Finger ihrer Hände vor den Augen und preßte die Zähne in die Unterlippe und schloß unter den Händen die Augen, und dann lag sie wieder mit schweratmender Brust und leicht geöffnetem Munde und starrte in die flackernde Flamme der Kerze auf dem Tisch und wußte und fühlte nur noch eins: daß es eine große Wohlthat für sie wäre, sterben zu können. Aber wenn dann ihre Hand zufällig die Briefblätter berührte, daß sie leise knisterten, flüsterte sie träumerisch: „Und er hat mich doch geliebt, und sollte ich die ganze Welt auswandern, irgendwo muß ich ihn doch finden und er muß mir sagen, daß ich schuldlos bin!"

Wenn alles in uns flutet und stürmt, haben wir eine verhängnisvolle Neigung, das Nächstliegende zu übersehen; Wolfgangs Brief hatte Martha in eine so fieberhafte Aufregung versetzt, daß sie erst gegen Morgen sich die Frage vorlegte, wie dieser Brief wohl auf ihr Fensterbrett und zwischen ihre Blumentöpfe gekommen sei. Anna war zuletzt bei ihr gewesen — dazu kam des jungen Mädchens befangenes und unsicheres Wesen, das ihr wieder einfiel — und war es nicht sehr denkbar, daß er gerade sie zur Ueberbringerin sich ausersehen hatte, sie früher als jede andere Mittelsperson? Innere Unruhe, erwartungsvolle Spannung und ein letzter matter Schimmer von Hoffnung, von der Kleinen doch vielleicht etwas über sein Reiseziel zu erfahren, trieben sie im Zimmer hin und her und die Minuten dehnten sich zu Ewigkeiten. Endlich wurde es rege im Hause; sie konnte Dorette klingeln und sie ersuchen, Anna so bald als möglich zu ihr zu schicken.

Die Kleine schrak zusammen, als ihr dieser Wunsch hinterbracht ward ; eilfertig und mit brennenden Wangen flog sie die Stufen hinauf; zagend öffnete sie die Thür und ein einziger forschender Blick in Marthas Gesicht reichte hin, sie mit der bittersten Reue über die Eigenmächtigkeit zu erfüllen, mit der sie augenscheinlich großes Unheil angerichtet hatte. Die Thränen schossen ihr in die Augen, als Martha hastig und erregt fragte:

„Haben Sie mir gestern Abend einen Brief aufs Fensterbrett gelegt?“ und mit gesenktem Blick und stockender, kaum hörbarer Stimme bejahte sie die Frage und sagte fast demütig und in bittendem Tone:

„Ach, verzeihen Sie mir, Fräulein Hoyer, ich habe es so gut gemeint und es ist mir so sauer geworden —“

„Von wem haben Sie ihn bekommen?“ forschte Martha weiter, ohne die Worte zu beachten.

„Von Herrn Hammer. Er ließ mich am Mittwoch zu sich kommen, sagte mir, daß er fort müsse und bat mich, Ihnen den Brief zuzustellen, nachdem er abgereist sei.“

„Seit Mittwoch! Zwei volle Tage schon! Ach, Anna, warum mußten Sie so gewissenhaft sein! Warum haben Sie nur den Brief nicht einen Tag früher gebracht! Sie hätten mir und wohl auch ihm einen großen Dienst erwiesen; er müßte Ihnen verzeihen und ich würde selber für Sie bitten. Nun ist er fort und es ist zu spät.“

Die Kleine hatte bei den ersten Worten in frohem Schreck aufgehorcht und der Wechsel zwischen Verzweiflung und Reue und Glück und Triumph war ein so jäher und überwältigender, daß sie sich vor glückseligem Uebermut kaum zu fassen wußte und lachend und weinend herausstieß:

„Aber Fräulein, so ist es ja gar nicht, er ist ja noch gar nicht fort — er reist ja erst heute Nacht — ich habe Ihnen den Brief ja früher gegeben, als ich sollte und durfte, weil ich mir dachte, es könnte so besser sein — für ihn und für Sie! So habe ich es also doch gut gemacht und Ihnen nicht wehe gethan, und er wird mir zu guterletzt noch danken müssen?“

Martha suchte mit der einen Hand eine Stütze an dem Spiegeltischchen und legte die andere vor die Augen — die Wandlung war ja für sie noch in ganz anderem Sinne überwältigend wie für die kleine Anna, der die hellen Freudenthränen über die Wangen stürzten, dann aber kam es wie ein Jauchzen über ihre Lippen, wie ein Jubelruf, und sie legte ihren Arm um den Hals Annas und küßte sie auf die Stirn.

„Freilich haben Sie es gut gemacht, freilich sind Sie klug gewesen, freilich wäre ich jetzt ohne Sie sehr, sehr unglücklich — viel unglücklicher, als Sie sich denken können !“ sagte sie leise und herzlich, und ihre weiße Hand glitt schmeichelnd über das in glücklicher Verschämtheit gesenkte Köpfchen. Anna hatte einen scheuen Blick zu Martha erhoben — wie leuchteten jetzt diese dunklen Augen, deren trostloser, zerstreuter Ausdruck sie wenige Minuten vorher noch so tödlich erschreckt und ihr allen Mut genommen, der ihr wenige Minuten vorher noch zum bittersten Selbstvorwurf gereicht hatte! Sie schauerte zusammen unter der liebkosenden Berührung der weichen Hand, die sie am liebsten an ihre Lippen gezogen hätte, und sagte, ihre Bewegung mühsam niederkämpfend:

„Wie glücklich mich das macht! — Ich hätte keine ruhige Stunde wieder gehabt, wenn es schlimm abgelaufen wäre, und ich habe die beiden letzten Nächte vor Herzklopfen kein Auge geschlossen. Hundertmal habe ich mir gesagt: „Du darfst nicht!“ und immer wieder sagte mir dann eine Stimme: „Du mußt!“ Und wie habe ich mich vor Ihrer ersten Frage gefürchtet! — Als Sie mich vorhin Heraufrufen ließen, war es mir gerade, als müßte ich vor's öffentliche Gericht! Nein, das war ganz schrecklich, Fräulein — aber jetzt möchte ich die ganze Welt umarmen!“

Martha erwiderte mit einem gerührten Lächeln:

„Wissen Sie denn aber auch, daß Sie sich eine schlaflose und mir eine traurige Nacht hätten sparen können, wenn Sie mir gestern Abend offenherzig gesagt hätten, daß Sie den Brief eigentlich erst abgeben dürften, wenn Herr Hammer fort sei, daß Sie ihn mir aber früher brächten und das; er erst heute Nacht reise?“

„Ach ja, das wollte ich auch erst thun, aber ich hatte nicht den Mut dazu; die Worte blieben mir in der Kehle stecken und so bin ich schließlich mit schwerem Herzen gegangen, ohne Ihnen eine Silbe gesagt zu haben.“

„Nun, werden Sie mir nicht wieder betrübt — die Nacht, die hinter mir liegt, ist ein geringer Preis für alles Liebe und Gute, das in dem Briefe steht, und alles, was noch dunkel bleibt, muß sich nun klären; wäre Ihr tapferer Retter freilich schon fort gewesen, so war es zu spät und dann war der Brief recht sehr traurig für mich.“

Anna nickte nur — Marthas Worte waren ja einigermaßen dunkel für sie, aber sie glaubte sich nicht berechtigt, zu fragen. Sie sagte ablenkend:

„Es ist gewiß ein recht schöner Brief gewesen, den ich einer anderen als Ihnen gar nicht gönnen würde. Aber Sie hätten nur sehen sollen, wie traurig und ernst Herr Hammer am Mittwoch war; er wollte sich freilich nichts merken lassen, er that, als wäre ihm alles gleichgültig, aber ich hätte kein Mädchen sein müssen, wenn ich nicht gefühlt hätte, daß es nicht richtig mit ihm war und daß es eine geheimnisvolle Bewandtnis damit hatte, daß Sie den Brief, der ihm so wichtig zu sein schien, erst haben sollten, wenn er fort war. Ich habe absichtlich von Ihnen gesprochen; er zuckte mit keiner Wimper, aber ich sah es ihm an den Augen an, daß ihm das Herz schwer war. Ich habe ihm hoch und heilig versprechen müssen, den Brief nicht früher abzugeben, keine Minute früher, und ich habe es ernst gemeint und war stolz darauf, daß er sich auf mich verließ. Aber als ich dann allein war, da kamen mir so allerlei Gedanken und ließen mich nicht wieder los und ängstigten und quälten mich und zuletzt konnte ich nicht anders ich mußte Ihnen den Brief eher geben. Er brannte mir wie Feuer in den Händen, so oft ich ihn aus meiner Kommode nahm und die Adresse betrachtete — in meinem Herzen und in meinem Kopfe ist noch nie eine solche Verwirrung gewesen, wie in diesen paar Tagen. Ich kam nicht über den Gedanken weg, daß er Sie lieben müsse, recht ernsthaft und ehrlich lieben, und das weiß doch auch ich, daß zwischen zwei Menschen, die sich lieben und nicht zusammenkommen können, so leicht ein Mißverständnis entsteht, das gar keinen ordentlichen, vernünftigen Grund hat und doch immer größer und größer wird, bis sie schließlich denken, sie können sich gar nie wieder versöhnen. Und dann machen sie schließlich einen recht thörichten Streich und der eine läuft fort in die weite Welt oder heiratet eine andere, wenn es ihm auch das Herz zerbrechen will — und es ist ja nicht immer eine kleine Anna, die mit ihrem einfachen Verstand klüger ist, als der grundgescheidte, gelehrte Herr, der anderen helfen kann, sich selber aber nicht! Und ist das nicht auch hübsch? Sehen Sie, jetzt möchte ich mir vor Uebermut die Hände reiben, wie ein ausgelassenes Schulmädchen.“

Martha hatte der Kleinen, die sich ganz in Eifer geredet hatte und deren Augen von innerster Befriedigung blitzten, nachdenklich und lächelnd zugehört und wiederholt mit dem Kopfe zugenickt. Nun sagte sie ernst:

„Sie mögen so unrecht nicht haben und Sie geben auch nur in mancher Hinsicht eine beherzigenswerte Lehre. Was in dem Briefe steht, giebt Ihnen recht, was Herrn Hammer betrifft, und Ihnen darf ich schon sagen, daß Sie erraten haben, was er dachte und fühlte. Aber nun sagen Sie mir — an mich mußten Sie doch auch denken; haben Sie mich denn auch erraten? Ich bin ja immer verschlossen genannt worden und nun sagen Sie mir am Ende, daß ich mein Geheimnis doch nicht sorgfältig genug gehütet habe.“

Anna lächelte sehr überlegen und fast ein wenig übermütig.

„Aber Fräulein, von Ihnen wußte ich ja, was ich von Herrn Hammer nur vermutete — nicht wahr. Sie sind nicht böse, wenn ich das sage?“ (Martha verneinte mit leichtem Kopfschütteln.) „Denken Sie noch an die dunkle Rose aus Herrn Hammers Garten, die Sie sich von dem kleinen Mädchen geben ließen? Ich habe es wohl gemerkt, daß Sie sie zu Hause in ein Buch legten und dann habe ich Sie einmal in Pyrmont ohne Absicht dabei überrascht, als Sie die Rose aus dem Buche nahmen und sie küßten, und nun wußte ich gleich Bescheid. Es freute mich so sehr, daß Sie Herrn Hammer lieb hatten, denn eine bessere Frau konnte er doch auf der ganzen Welt nicht finden, und darum habe ich Ihnen auch, als man so viele Worte über den Schiffer machte, der ein Kind aus dem Rhein zog, recht absichtlich alles erzählt, was ich von dem Krawall in der Fabrik wußte und was ich eigentlich auch für mich behalten sollte. Damals haben Sie gerade so leuchtende Augen gehabt, wie heute, und mir jedes Wort vom Munde genommen und mir so herzlich gedankt, daß ich mir eben auch in aller Stille meinen Vers darauf gemacht habe. Und dann sind Sie auf der Reise so traurig gewesen. Sie wurden so froh, als es wieder heim ging, und das habe ich mir alles zurecht gelegt und gemerkt.“

Martha errötete leicht, aber sie war nicht in der Stimmung, sich jetzt ihrer scheuen, hoffnungslosen Liebe zu schämen. Sie sagte einfach: „Auch das mag alles richtig sein, und hoffentlich können nicht alle so scharf beobachten; es haben wohl auch nur Sie so viel Interesse an mir genommen.“

„Glauben Sie das nur nicht. Fräulein Martha; ich habe mehrmals von Frau v. Larisch und Fräulein Reischach Andeutungen gehört, die bewiesen, daß Sie auch ungefähr wußten, wie es Ihnen Herr Hammer angethan hatte.“

Martha hatte den Kopf in die Hand gestützt; dann erwiderte sie entschlossen:

„Das soll jetzt hoffentlich alles gleichgültig sein und jedenfalls soll es mich nicht anfechten. Aber nun, Anna, lassen Sie mich allein; ich habe noch vieles vor, das Sie wohl auch freuen wird, und das will überlegt sein. Und über alles, was Sie wissen, halten Sie reinen Mund — gegen jedermann. Diesmal müssen Sie allerdings gewissenhaft sein, sonst könnte uns schließlich doch noch alles fehl gehen.“

Anna legte mit einer anmutig-übermütigen Uebertreibung und einem strahlenden Blick die Linke vor den Mund, die Rechte auf die Brust und neigte zum Zeichen des Gehorsams den Kopf; Martha konnte in diesem Blicke lesen, daß Anna diesmal ihr Versprechen unbedingt halten würde, und die Kleine hatte in der That das Gefühl, als werde erst eine blinde Unterwerfung unter Marthas Wunsch ihren Ungehorsam Wolfgang gegenüber zu einem segensreichen machen. Davon, was Martha nun thun würde, hatte sie freilich kaum eine Vorstellung, als sie mit glühenden Wangen aus dem Zimmer huschte und, ein Liedchen summend, die Treppe hinablief, aber sie verließ sich unbedingt auf die einsam Zurückbleibende und war überzeugt, daß diese es verstehen werde, alles zu einem guten Ende zu führen.

Mit dem Erwachen des Tages war es auch in Marthas Seele heller geworden; als der Sturm der ersten Erregung vorüber war, ward sie eher wieder eines scharfen Nachdenkens fähig, vermochte sie eher wieder die Verhältnisse kühl und gelassen zu überdenken und fragte sich bald mit einem gewissen Staunen, wie es nur möglich gewesen sei, Wolfgangs Andeutungen so gar rätselhaft zu finden. Es schien ihr jetzt fast selbstverständlich. daß der Kommerzienrat der „Mittelsmann“ gewesen war, von dem Wolfgang mit so viel Geringschätzung und Bitterkeit sprach, und erwog sie, was ihr einst der Rektor über Wolfgangs politische Thätigkeit gesagt hatte, so brauchte sie nur noch die Annahme, daß Frau v. Larisch eines Tages aus Uebermut oder Langeweile in ihrer leichten, spöttischen, vexierenden Weise Herrn Reischach mit den Vermutungen bekannt gemacht habe, die sie ja nach Annas Angaben wirklich hegte, um sich das weitere im großen und ganzen erklären zu können. Sie kannte den Kommerzienrat und wußte genau, wieviel er sich auf seine Weltklugheit einbildete, wie tief er von der dünkelhaften Ueberzeugung durchdrungen war, ein schlauer Diplomat zu sein und alles fertig bringen zu können, sie hatte sich schon mehr als einmal in die Notwendigkeit versetzt gesehen, Plänen, die er für ihre Zukunft geschmiedet und die er ihr mit großer Selbstgefälligkeit und Siegeszuversicht auseinandergesetzt hatte, aufs, entschiedenste und kategorischste zu widersprechen, und bei seiner Vorliebe für krumme Wege war es ziemlich naheliegend, daß er versucht hatte, die ihm gewordene Kenntnis in seinem politischen Interesse auszubeuten —, auf eine Lüge, das wußte sie, kam es ihm dabei nicht an, und eine edle, zarte, uneigennützige Denkungsweise oder den Stolz einer Ueberzeugung setzte er bei niemandem voraus — war es da ein Wunder, wenn er den reizbaren, empfindlichen und stolzen Wolfgang aufs tödlichste und plumpste verletzt hatte?

Sie zweifelte nicht, daß die Auskunft, die ihr Wolfgang vor seiner Abreise noch geben mußte, ihre Vermutung im wesentlichen bestätigen würde: wenn dem aber so war, wenn ihr Liebes- und Lebensglück einer erbärmlichen, plumpen Intrigue Herrn Reischachs zum Opfer gefallen war, dann war allerdings ihres Bleibens in seinem Hause nicht länger, ja sie beschloß sogar, unter Zurücklassung eines lakonischen, schriftlichen Abschieds dieses Haus zu verlassen und fürs erste ein Asyl bei einem Schullehrer in einem kleinen Dörfchen am Fuße des Riesengebirges zu suchen, dessen Frau eine große Liebe und Anhänglichkeit für sie hegte und von der sie — das war sicher — auch ohne vorherige Anmeldung mit offenen Armen aufgenommen ward. Sie ging sofort, entschieden aber ohne Hast, daran, sich auf die Abreise vorzubereiten; sie konnte eine Strecke weit denselben Zug benutzen, der Wolfgang in die Ferne führen sollte, und dieser Gedanke hatte einen wehmütigen Reiz für sie. Es war nur das Nötigste, was sie in einen Koffer packte, den sie durch Annas Vermittlung unbemerkt im voraus nach der Bahn bringen ließ; mit Geldmitteln war sie für längere Zeit versehen, da sie die Gewohnheit hatte, sich bei Beginn jedes Vierteljahres vom Kommerzienrat eine bestimmte Summe auszahlen zu lassen. Der Boden brannte ihr unter den Füßen; ihre Augen schwammen in Thränen, aber ihre Lippen preßten sich fest aufeinander und sie empfand es als eine unnennbare Wohlthat, daß sie in ihrem Zimmer bleiben konnte und nicht hinunter zu gehen brauchte. Der Anblick des Kommerzienrats wäre ihr unerträglich gewesen und sie würde Mühe gehabt haben, ihm gegenüber ruhig und gelassen zu bleiben. Sie ließ den Frühkaffee, den ihr Dorette heraufbrachte, unberührt; es war ihr, als könne sie in diesem Hause nichts wieder über die Lippen bringen, als müsse hier alles einen faulen, dumpfigen, widrigen Geschmack haben. Und konnte man überhaupt an Essen und Trinken denken, wenn man einen Brief, wie den Wolfgangs, wenn man Verse, wie die seinen vor sich liegen hatte, mit der Aussicht, sich einen endlos langen Tag hindurch an diesen bittersüßen, kummervoll-innigen Worten zu berauschen?

*          *          *

Während Martha so mit der Entschiedenheit des in ihren besten und heiligsten Empfindungen beleidigten Weibes einen Entschluß faßte, der ihr nicht einmal einen Kampf kostete, saß der Kommerzienrat mit seiner Tochter am Frühstückstisch.

Er war ungewöhnlich einsilbig und verstimmt und suchte ersichtlich nach einem Ableiter für seine üble Laune. Aber Emmy war nicht gewöhnt, sich von dem Herrn Papa und seinen gelegentlichen Anwandlungen schlimmen Humors einschüchtern zu lassen und sie unterdrückte die Frage nicht, die ihr schon seit einigen Tagen auf den Lippen schwebte.

„Was ich Dich schon lange einmal fragen wollte, Papa: Wie steht es mit Herrn Hammer und Martha? Du wolltest doch dafür sorgen, daß er endlich mit der Sprache herausginge und sich ein Herz fasse, und ich hatte eigentlich im stillen gedacht, Du würdest es so einrichten, daß wir Martha ihren geliebten Wolfgang zu Weihnachten bescherten; das wäre doch ganz reizend gewesen.“

Der Kommerzienrat schob die Tasse mit einer so heftigen und unmutigen Bewegung zurück, daß das Geschirr schwankte und klirrte und Emmy ihn höchst betreten und vorwurfsvoll ansah.

„Das fehlte gerade noch, daß Du nun auch noch kommst und mir mit solchen Geschichten den Kopf warm machst! Schlag Dir den Gedanken aus dem Sinne — daraus wird nichts!“

„Wird nichts? Ja, Papa, wie soll ich denn das verstehen? Warum trittst Du so plötzlich zurück? Du warst doch erst ganz einverstanden?“

„Das war ich allerdings, aber zu einer Verlobung gehören bekanntlich immer zwei, und dieser Herr Hammer, den ich in der zartesten Weise ermutigt hatte, sich um Martha zu bewerben, hat sie gestern abend, förmlich öffentlich, in der beleidigendsten Weise — ausgeschlagen. Es scheint, daß mein Fräulein Tochter sich denn doch ganz merkwürdig getäuscht hat, und es war nicht sehr überlegt von mir, mich auf ihre Vermutungen und Einbildungen zu verlassen.“

Es war vielleicht das erste Mal, daß er seiner Tochter gegenüber so bitter ward, und dieser Umstand und die unbegreifliche Neuigkeit versetzten Emmy in eine sprachlose Bestürzung. Sie wurde ganz blaß und stammelte endlich:

„Ja, aber Papa, das ist doch gar nicht möglich — da muß irgend ein unglückseliges Mißverständnis —“

„Mißverständnis! Ich sage Dir, Emmy, dieser Herr Hammer weiß ganz genau, was er will. Das ist ein fanatischer Mensch, den der Teufel reitet; er hat nicht bloß Martha ausgeschlagen, weil sie zur guten Gesellschaft gehört, die er aufs grimmigste haßt, er hat auch gestern abend eine skandalöse Rede gehalten und für den infamen Sozialdemokraten gesprochen , der in unserem Wahlkreis aufgestellt worden ist — wahrhaft empörend!“

„Das hat mir doch gleich geahnt, daß da wieder Eure abscheuliche Politik im Spiele ist! Aber dann ist es auch nicht so schlimm, wie Du es machst; es wird und muß sich noch alles aufklären und ausgleichen, und vielleicht hast Du nur — vielleicht solltest Du das weitere einmal mir überlassen — in Herzenssachen ist ein Mädchen doch —“

„Willst Du etwa damit andeuten, daß ich nicht diskret und zartfühlend genug zu Werke gegangen bin? Du schienst so etwas durchblicken lassen zu wollen. Weibliche Einbildungen — Romanideen — Gartenlauben-Redensarten — weiter nichts!“, fuhr der Kommerzienrat ärgerlich auf.

„Aber Papa, Du bist ja heute so ungnädig, wie ich Dich noch gar nicht gesehen habe!“ erwiderte Emmy, ein wenig die Hände faltend. „Du schnurrst mich ja an, als hätte ich Herrn Hammer heiraten wollen.“

Der Kommerzienrat mußte trotz seines kochenden Unmuts lächeln. „Du bist ein Kind, Emmy — wie kannst Du nur so etwas aussprechen? Nun, lassen wir die fatale Geschichte — der Mensch ist es nicht wert, daß ich mich seinetwegen erbose, und Du wirst ihn um so leichter vergessen, als ich ihn natürlich Knall und Fall fortgejagt habe — gleich in der Versammlung. Wahrscheinlich ist er jetzt schon über alle Berge — hier hat er sich unmöglich gemacht, das wird er wohl selber einsehen, und soviel wird er ja noch haben, um wieder hinüber nach England oder nach Amerika zu kommen.“

Nach einer kleinen Pause setzte er möglichst freundlichst hinzu:

„Was Martha anlangt, so thun wir wohl am besten, Rücksicht auf ihren leidenden Zustand zu nehmen und ihr erst in einigen Tagen in schonender Weise Mitteilung von dem Vorgefallenen zu machen. Daß Du mir Andeutungen gegeben hattest und daß ich infolgedessen mit diesem Hammer über sie gesprochen habe, braucht sie natürlich nicht zu wissen; wir brauchen ihr ja nur zu sagen, was sich in der Versammlung zugetragen hat -— das genügt.“

Emmy erwiderte hastig und fast erschrocken:

„Selbstverständlich, Papa. Ich bitte Dich um Gottes willen, keine Silbe über unser Gespräch zu verlieren; Martha würde es mir nie verzeihen, mich in ihre Angelegenheit gemischt zu haben, und ich glaube, auch Du würdest gar nicht gut dabei fortkommen. In manchen Dingen ist sie sehr streng und besteht auf ihrem Kopf. Ich glaube, sie bräche für immer mit uns, verlaß Dich darauf, Papa!“

Dem Kommerzienrat fielen allerlei alte Geschichten ein; er nickte zustimmend und etwas bedenklich mit dem Kopfe, und Emmy rief dem Fortgehenden noch nach:

„Ich muß nachher doch einmal nachsehen, wie es Martha geht, aber ich werde meinen Besuch möglichst abkürzen, und wenn sie, was ich nicht hoffen will, bereits etwas über die unglückliche Versammlung gehört hat, so weiß ich von allem kein Wort.“

Als sie eine Stunde später zögernd und befangen Marthas Zimmer betrat, fand sie diese mit Schreiben beschäftigt und sehr schweigsam und konnte sich also, was ihr sehr lieb war, nach kurzer Zeit mit der Ankündigung zurückziehen, daß sie nach Tische zu einer befreundeten Familie über Land fahren und erst spät abends zurückkommen würde.

Die ewig Muntere und Gutgelaunte hatte aber doch einen innerlich unruhigen Tag. Vielleicht war es ihre Pflicht, Martha einen Wink zu geben; aber dann hätte sie eingestehen müssen, daß sie in der ganzen Intrigue eine Rolle gespielt, und ihr Schuldbewusstsein wog eben doch schwerer als das Mitleid mit Martha. Zudem konnte sie ja irren — was ging sie auch am Ende der ganze Handel an und welche Verpflichtung hatte sie, Martha den Besitz eines Gatten zu verschaffen, dessen Neigung doch eigentlich ihr gehörte? Vielleicht hatte Wolfgang Martha nur deshalb ausgeschlagen, weil er seine unglückliche Liebe zu ihr nicht durch einen Ehebund entweihen wollte. Ueberdies kamen ihr diese Vermittlungsgedanken erst, als sie mehrere Stunden von M. entfernt war — sie konnte also gar nicht beichten und war recht sehr zufrieden damit, einen so guten Entschuldigungsgrund zu haben, der sie auch für die Zukunft gegen gelegentliche kleine Gewissensbisse schützte.

*          *          *

Wolfgang hatte am selben Morgen der alten Frau Meiling eröffnet, daß er mit dem Nachtzug abreisen würde. Sie fragte, wohin es gehen solle und wann er zurückkäme, da sie nur an eine kleine Geschäfts- oder Vergnügungsreise dachte; wie war sie also betreten, als er ganz ernsthaft erwiderte:

„So ist's nicht gemeint, Frau Meiling — ich reise für immer ab und muß Sie leider wieder allein lassen.“

Aber sie glaubte noch immer halb und halb an einen Scherz und konnte nicht begreifen, wie das so über Nacht gekommen sein sollte, als aber Wolfgang mit gelassenem Achselzucken ihre Hilfe beim Einpacken seiner kleinen Junggesellenwirtschaft erbat und nicht ins Geschäft ging, sondern anfing, die Bilder von den Wänden zu nehmen und den Schreibtisch aufzuräumen, als ihr gleichzeitig von verschiedenen Nachbarinnen geschäftig erzählt wurde, was sich am Abend vorher in der Wahlversammlung zugetragen, da gingen ihr die alten Augen über und bekümmert murmelte sie vor sich hin:

„Ja, ja, die Politik! Hätte er sich lieber verliebt, dann wäre es ihm gewiß nicht eingefallen, sich in solche Händel zu mischen. Ja, die Männer, die Männer! Mein Alter war ja 1848 auch ganz rabiat und wenig hätte gefehlt, so hätten sie ihn mir weggeholt und etliche Jahre eingesperrt, und doch war er sonst ein ruhiger, verträglicher Mann, der um des lieben Friedens willen manche Fünf gerade sein ließ.“

Wolfgangs Abreise ging ihr sehr nahe; er war ihr lieb geworden wie ein eigener Sohn und sie hatte immer geglaubt und gehofft, er werde ihr Haus nur als glücklicher Bräutigam verlassen. Nun nahm das alles ein Ende mit Schrecken und jeder Hammerschlag in Wolfgangs Zimmer that ihr weh. Sie half ihm mit zitternden Händen, so gut es gehen wollte, aber immer wieder nahm sie die Küche zum Vorwand, um ihn zu verlassen, d. h. um ihm ihre mütterlichen Thränen zu verbergen. Er hatte sie gebeten, ihm mittags einen Teller Gemüse zu geben, da er nicht noch einmal in den Gasthof gehen mochte, um sich da wie ein Wundertier angaffen zu lassen, und sie hatte, um ihm eine letzte Liebe zu erweisen, nach einem Fisch geschickt und aus dem Keller die letzte Büchse eingesetzter Pflaumen geholt, die er so sehr gelobt hatte, als sie ihm voll Hausfrauenstolz einmal eine Probe davon gegeben hatte.

Im Laufe des Vormittags ging Wolfgang einmal fort, um seinen Stimmzettel abzugeben. Es entstand ein Geflüster und Gezischel im Wahllokal, als er eintrat und die Herren an der Urne, die er ja alle kannte, erwiderten seinen gelassenen Gruß mit kühler, fremder Höflichkeit. Dafür nickten ihm aber die Arbeiter und Kleinbürger teilnahmsvoll und bewundernd zu, er empfing manchen offenen und manchen verstohlenen, aber darum nicht minder herzlichen Händedruck und er hatte manchen gutgemeinten, wenn auch nicht glatt stilisierten Abschiedsgruß zu erwidern.

Als er wieder heimkam, hörte er Frau Meiling vor ihrer Thür in ungewöhnlich aufgeregtem Tone zu einer Nachbarin sagen: „Ihr Alter hat's gesagt? Na, der sollte doch ja schweigen, denn der versteht von solchen Dingen gerade so viel, wie der Esel vom Lautenschlagen, und darauf, daß Herr Hammer doch recht gehabt hat, können Sie sich verlassen — Sie und Ihr Alter. Das fehlte noch, daß ich ihn am letzten Tage in meinem Hause schlecht machen ließe! Er ist ein so braver und wackerer junger Herr, daß es wohl ordentlicher auf der Welt zugehen würde, wenn alle so viel wüßten wie er, und wenn er nur die Hälfte so wäre!“ In ihrem Eifer hatte sie es gar nicht beachtet, daß Wolfgang von rückwärts auf sie zutrat, bis er ihr leise auf die Achsel klopfte und scherzend sagte:

„Na, na. Frau Meiling, was ist denn das? Jetzt fangen Sie auch noch an, auf offener Straße politische Reden zu halten? Am Ende gehen Sie nun auch mit in die Volksversammlungen?“

Die wackere Alte retirierte zwar in die Küche, meinte aber: „Wenn Sie's auch gehört haben, das schadet nichts — ich leide es nun einmal nicht, daß sie auf Sie hineinhacken, wie die Sperlinge auf einen Kanarienvogel, weil der singen kann und sie nur piepen.“

Wolfgang stieg hinauf in sein Zimmer; es sah da schon seltsam öde und unwirtlich aus, und Proud hatte sich neben eine bereits zugenagelte Kiste gelegt, als müßte er sie bewachen.

Es war mancherlei zu ordnen und zu regeln, namentlich in den Angelegenheiten der Feuerwehr, und die Zeit verging ihm um so schneller, als sich verschiedene Arbeiter, mit denen er vor und seit Gründung des sozialdemokratischen Vereins öfters persönlich verkehrt hatte, bei ihm einstellten, um zu erforschen, wann er die Stadt verlassen würde; es hatte sich ziemlich rasch herumgesprochen, daß er sofort mit dem Kommerzienrat gebrochen hatte und mutmaßlich schon in den nächsten Tagen abreisen werde, er wollte jedoch nicht Gegenstand irgendwelcher Ovation werden und erklärte daher, daß er wahrscheinlich am folgenden Mittag reisen würde, nahm aber im voraus Abschied und bat, alle etwaigen Fragen dahin zu beantworten, daß er seine Abreise in aller Stille zu bewerkstelligen wünsche und daß man ihm einen persönlichen Gefallen erweise, wenn man seine Abreise ganz ignoriere.

Die „Henkermahlzeit“, wie Wolfgang mit einem matten Versuche zu scherzen sein Tafeln mit seiner alten wackeren Wirtin nannte, wurde von dieser durch eine Flasche Wein, die von ihrer silbernen Hochzeit her noch in einer Kellerecke stand, auf die Höhe eines Abschiedsmahls emporgehoben. Die alte Frau war tief gerührt darüber, daß Wolfgang ihr anbot, unter seinen Bildern eins als ein Andenken auszuwählen, das sie immer an sie erinnern solle, und daß er ihr von freien Stücken versprach, ihr zu schreiben, sobald er in England „oder irgendwo“ festen Fuß gefaßt hätte. Es war ihr, als gehe ihr einziger Sohn in die Fremde und selbst Proud wurde an diesem letzten Tage in unverantwortlicher Weise verwöhnt.

Nach Tische ging Wolfgang an die Ordnung seiner Schreibereien; es war da vieles auszuscheiden, was das Mitnehmen nicht lohnte. In einem Fach des Sekretärs fand er den grünen Seidenfaden, mit dem einst die Maiblümchen zusammengebunden waren; jetzt, wo er wußte, daß Frau von Larisch es gewesen war, die ihm diese zarte Aufmerksamkeit erwiesen hatte, war der Faden wertlos geworden und Wolfgang warf ihn halb verächtlich fort, mit einem Aufwerfen der Lippen, das auf eine schmerzliche Bitterkeit schließen ließ. Um so länger verweilte er bei dem rehbraunen Handschuh, ja, dieser Handschuh gab sogar seinen Gedanken eine ganz bestimmte Richtung und fast unwillkürlich flossen seine Gedanken in die Versform. Es dunkelte bereits, als er die Verse aufschrieb, die gewissermaßen seinen Abschiedsgruß bildeten und den Strich, den er nachdenklich unter diesem wehmütigen Kapitel im Buche seines Lebens zog, um es für immer abzuschließen.

Die Verse lauteten:

Es kam zu mir in linden Frühlingstagen
Der liebe Traum, den treulich ich gehegt;
Jetzt, wo der Sturm die weiße Fläche fegt,
Muß ich für immer traurig ihm entsagen.
Er narrte lange mich und ist zerronnen,
Als ich nach ihm gegriffen mit der Hand,
Und mit dem schönen, leeren Trugbild schwand
Was heimlich ich gedichtet und gesonnen.

Vorbei! Ich sollte zürnen wohl und fluchen,
Dem trügerischen, wesenlosen Bild,
Doch immer wieder ward ich weich und mild
Und immer blieb's bei zaudernden Versuchen.
Mir ist, als stünd' ich ernst an einem Grabe,
Im Auge Thränen, weh das Herz und wund,
Und ein: „Leb' wohl, leb' wohl!“ von bleichem Mund
Ist alles, was für meinen Traum ich habe.

Er war so schön — ihm muß ich wohl verzeihen.
Ob auch für dich es ein Verzeihen giebt?
Was spricht für dich? Daß es dem Traum beliebt,
Dir launisch Würde, Wert und Reiz zu leihen?
Du warst kein Stern, nur eines Irrlichts Flimmer,
Und von gemachten Blumen war dein Kranz;
Was mich gelockt, war ein geborgter Glanz,
Der bloße Widerschein von fremdem Schimmer.

Vorbei! Ich sollte zürnen dir und grollen,
Doch immer wieder ward mein Auge naß,
Sah ich im Geiste traurig dich und blaß,
Und immer blieb's bei halbem, lauem Wollen.
Mit fester Hand greif' ich zum Wanderstabe;
Du bist mein Schicksal und du treibst mich fort,
Doch ein „Leb' wohl!“, ein mildes Abschiedswort,
Ist alles, alles, was ich für dich habe.

Er änderte und versetzte noch da und dort ein Wort, als ein kleiner Knabe ins Zimmer trat und ihm einen zusammengebrochenen Zettel übergab. Dicht ans Fenster tretend, entzifferte er mit Mühe die im Wahllokal hastig hingeworfenen Bleistiftzeilen, die ihm meldeten, daß der sozialdemokratische Kandidat die Mehrheit erlangt und fast drei Vierteile der Stimmenzahl erhalten habe, in die seine beiden Gegenkandidaten sich teilten, der Ultramontane hatte noch einige Stimmen mehr erlangt, als der Reichsfreund. Die Resultate der Wahl in den übrigen den Wahlkreis bildenden Ortschaften machten diesen lokalen Sieg selbstverständlich wieder zunichte, aber das kam ja nicht weiter in Frage und hob die moralische Wirkung jenes unerwarteten Siegs nicht auf. Ein triumphierendes, stolzes Lächeln trat auf die Lippen des Einsamen und er murmelte vor sich hin: „Also doch! Das übertrifft die kühnsten Erwartungen und bürgt für die Zukunft! Brave Leute — die Wahrheit hatte nur noch nicht den Weg zu Euch gefunden; so konnten sie Euch wohl gängeln, wie es ihnen beliebte!“ Aber seine Gedanken hafteten doch nicht lange an diesem Wahlsieg und seinen mutmaßlichen Folgen, und bald versank er wieder in sein Träumen und Sinnen. Er drückte die heiße Stirn gegen die kühlen Scheiben und sah hinaus in das lautlose, wirre Flockengewimmel, das seit kurzem die Luft erfüllte. Er hatte kein Licht anzünden mögen und tiefe Dunkelheit herrschte in dem Zimmer, das sein Fuß wohl nie wieder betreten sollte. Von Zeit zu Zeit kam, gedämpft und halb erstickt durch den Schneefall, das Krachen eines außerhalb der Stadt gelösten Böllers oder eines in den Straßen zur Feier des Wahlsiegs entzündeten „Kanonenschlags“, oder das Jauchzen und das „Hurra!“ eines kleinen Trupps von Arbeitern an sein Ohr, die ihrem Jubel Luft machten. Ihm war bei alledem so eigen zu Mute, als ginge es ihn nicht das mindeste an und als müsse er fragen, was denn eigentlich geschehen sei, welchem Ereignis dieser geräuschvolle Jubel gelte, und zwischen dem Abend vorher und der Gegenwart lag es für ihn wie eine lange, lange Zeit; er fühlte sich versucht, ungläubig mit dem Kopfe zu schütteln, als er sich daran erinnerte, daß er ja vor noch nicht vierundzwanzig Stunden auf der Tribüne gestanden und mit dem Aufgebot aller Beredtsamkeit dazu beigetragen hatte[WS 9], daß dieser Sieg erkämpft ward.

In dieser dumpfen Träumerei hatte er ganz überhört, daß die Thür leise geöffnet worden war, und er fuhr fast erschrocken auf, als Proud sich mit seinem tiefen Murren aufrichtete, aber nur, um im nächsten Moment alle Zeichen der Freude zu geben und sich vertraulich der dunkeln weiblichen Gestalt zu nähern, die auf der Schwelle erschienen war und sich mit einem kaum hörbaren „Guten Abend!“ in unverkennbarer Befangenheit zu dem prächtigen Tiere herabbeugte und ihm den glatten Kopf streichelte.

Wolfgang schrak zusammen – halb in Unmut, halb in Freude; trotz der Dunkelheit glaubte er die Gestalt Marthas zu erkennen, und selbst an dem fast gehauchten „Guten Abend“ ihre Stimme. Hastig zündete er Licht an, und als das kleine Flämmchen des schwedischen Hölzchens aufzuckte, entfuhr ihm ein unwillkürliches, staunendes, aber merklich kühl klingendes :

„Sie – Fräulein Hoyer?“

„Ich selbst. Sie zwingen mich ja, zu Ihnen zu kommen. Ich dachte erst, es werde eine schriftliche Auseinandersetzung genügen, aber ich bin anderer Ansicht geworden.“ Das klang schon ziemlich fest, wenn auch die Stimme noch ein wenig bebte, aber es klang zugleich so sanft, daß es Wolfgang blutsauer wurde, die ihm schüchtern entgegengestreckte Hand nicht herzlich zu drücken. Er schlug die Augen nieder und schien die Hand nicht zu sehen, die ihm angeboten wurde.

„Sie können mir Ihre Hand immer geben – ich hoffe, in einer Viertelstunde geben Sie mir diese Hand freiwillig,“ fuhr Martha sanft und fast wehmütig fort.

„Sie kommen zu mir, um – “

„Um zu fragen, seit wann Wolfgang Hammer einen Menschen auf eine ungeheuerliche Anklage hin verurteilt, ohne ihm Gelegenheit gegeben zu haben, sich zu verteidigen.“

„Ich verstehe Sie nicht, wenigstens nicht so recht, Fräulein Hoyer.“

„Warum wollen Sie mir ausweichen? Kennen Sie diesen Brief nicht?“

Eine heiße Blutwelle schoß Wolfgang bis in die Schläfen; er stampfte unwillkürlich mit dem Fuße und seine Hand streckte sich hastig nach dem Briefe aus.

Martha zog denselben ängstlich und mit einer fast demütigen Bewegung zurück.

„Nein, nein, den Brief dürfen Sie mir nicht wieder nehmen und Sie sollten auch Anna nicht zürnen, daß sie ihn mir zu früh gegeben hat; sie hat Sie durch diese Eigenmächtigkeit davor behütet, eine Ungerechtigkeit zu begehen, eine Härte, die Ihrer unwürdig ist und die Sie gewiß noch bereut hätten. Alle meine Vorstellungen von Ihrem Charakter würden Schiffbruch leiden, wenn Sie im stande wären ihr zu zürnen, weil sie Ihnen Gelegenheit giebt, ein begangenes Unrecht wieder gut zu machen.“

Wolfgang biß sich aus die Lippen und erwiderte bitter: „In der That, es ist sehr hart und sehr ungerecht, sich nicht ungestraft aufs tödlichste beleidigen und beschimpfen zu lassen; in der That, ich habe ein großes Unrecht begangen, und man wird mir beweisen, daß ich verpflichtet bin, zu widerrufen und Abbitte zu leisten.“

„Wenn Sie aber nun gar nicht beleidigt und beschimpft wären, wenigstens von der nicht, von der Sie zu glauben vermochten, sie sei einer solchen Handlungsweise fähig? Wenn ich Ihnen nun beteuerte, daß ich diesen Teil Ihres Briefes gar nicht verstehe, daß ich nicht weiß, welche Mittelsperson Sie meinen können und daß ich zu Ihnen komme, um zu erfahren, wer diese Mittelsperson ist?“

Der sanfte, traurige Ton, in dem diese Worte gesprochen wurden, die Abwesenheit auch nur eines Schattens von Vorwurf entwaffneten Wolfgang. Angstvoll und erregt fragte er:

„Sie haben nicht mit Herrn Reischach gesprochen. Sie haben ihm keine Vollmacht gegeben, mit mir zu reden, Sie haben mir keine — Bedingungen durch ihn gestellt?“

„Ich habe also das Richtige erraten: über meinen Kopf hinweg hat man eine gewissenlose Intrigue angesponnen und sich nicht gescheut, mich im Parteiinteresse in diese Intrigue zu verflechten! Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen versichere, daß es mir nie möglich gewesen wäre, Bedingungen zu stellen, daß Bedingungen solcher Art zum Ueberfluß gegen alle meine Ueberzeugungen oder vielmehr gegen mein ganzes Gefühl streiten, daß ich mich nimmermehr einer Mittelsperson bedient hätte und daß endlich Herr Reischach der letzte Mensch auf der weiten Erde gewesen wäre, den ich mir zum Mittelsmann ausersehen hätte? Oder wenn Sie mir nicht glauben, stellen Sie mich ihm gegenüber und ich werde ihm ins Gesicht sagen, daß er gelogen hat und daß ich ihn verachte und verabscheue.“

Wolfgangs Lippen zitterten und seine Augen wurden feucht; mit gepreßter, klangloser Stimme erwiderte er:

„Ich verdiente Ihre Verachtung, wenn ich im stande wäre, der ersten Beleidigung die zweite hinzuzufügen. Ich glaube Ihnen — jedes Wort, jede Silbe!“

Martha atmete tief auf und ein sonniger Schimmer glitt über ihr bleiches, übernächtiges Gesicht. Sie sah, wie Wolfgang, in dessen Zügen es arbeitete, nach Worten rang, und sie sagte rasch:

„Und nun keine Selbstvorwürfe, Sie würden mich dadurch nur beschämen. Sie haben mir Unrecht gethan, aber einer mit solcher Sicherheit und Bestimmtheit auftretenden Lüge gegenüber waren Sie wehrlos, mußten Sie glauben; Sie kannten mich ja nicht, konnten nicht wissen, daß, man mir das Allerunmöglichste angedichtet hatte und daß ich nur ein einziges Mal in meinem Leben mich auf einen politischen Disput eingelassen habe, um Sie nämlich in Schutz zu nehmen. Ich kann Ihnen noch mehr sagen: nach meinem Gefühl hätte ich, wäre ich wirklich einer solchen Handlungsweise fähig gewesen, alle Ihre Vorwürfe nicht bloß verdient, sondern Ihr Brief wäre sogar unverdient mild, versöhnlich und gütig gewesen. Ich durfte mich nicht beklagen, wenn Sie viel schärfer, bitterer und schonungsloser gewesen wären.“

Wolfgang hatte während dieser Unterredung mit verschränkten Armen am Tisch gelehnt, seine Augen hatten an Marthas Lippen gehangen und jedes Wort von denselben weggenommen, und nun überfiel ihn eine brennende Beschämung, das; er die Thränen nicht mehr instinktiv dadurch zu verbergen suchte, daß er die Augen mit der Linken bedeckte und das Gesicht auf die Sofalehne legte. Und doch konnte er das Schluchzen, mit dem er verzweifelt kämpfte, nicht ganz unterdrücken. Dieser stumme Schmerz war von einer überwältigenden Beredsamkeit, und Martha kniete erschrocken und ratlos neben ihm nieder. Im Innersten erschüttert, bemächtigte sie sich seiner schlaff niederhängenden Rechten und, ohne zu wissen, was sie that, preßten sich ihre Lippen auf diese Hand. Es ängstigte sie, ihn so hilflos zu sehen, und in ihrem fast demütigen : „Sehen Sie mich wieder an, es thut mir weh, Sie leiden zu sehen“ lag soviel leidenschaftliche Innigkeit, daß Wolfgang wie aus einer schweren Betäubung erwachte und sich langsam wieder aufrichtete. Martha trat einen Schritt zurück; seine Augen hatten allen Glanz verloren und ein düsterer, starrer Gram hatte dem erblaßten Gesicht seinen Stempel aufgeprägt. Er war nahe daran, zu taumeln, als er wieder aufstand, so schwer lag es ihm in allen Gliedern ; aber er raffte sich doch zusammen und sagte langsam und traurig:

„Verzeihen Sie mir, Sie sind ja gütig und sanft, und mit der Zeit werden Sie lernen, mir zu vergeben, was ich durch meinen Verdacht an Ihnen gesündigt habe. Ich selber werde es mir nie verzeihen, und es wäre nur eine verdiente Strafe, wenn ich jetzt doppelt trostlos von hier scheiden müßte; aber lassen Sie mir den Trost, zu wissen, daß Sie meiner freundlich und ohne Groll gedenken. Ein unseliges Geschick hat sein Schlimmstes an uns gethan; erst mußte ich glauben, mich in Ihnen getäuscht zu haben, und nun habe ich Sie so über alle Möglichkeit der Sühne hinaus beleidigt, daß ich nicht mehr den Mut habe, um einen letzten Druck der Hand zu bitten, die ich vor einer Viertelstunde zurückstieß.“

Martha aber reichte ihm nicht bloß die Hand, die er hastig ergriff und auf die er, sich tief niederbeugend, mit zuckenden Lippen einen Kuß hauchte, ohne verhindern zu können, daß zugleich ein schwerer, heißer Thränentropfen auf diese Hand fiel; sie sagte warm und beinahe heiter:

„Warum sprechen Sie noch von Sühne, mein Freund? Haben Sie denn nicht alles längst wieder gut gemacht durch den lieben, guten, schönen Brief, den Sie mir geschrieben haben und den ich schon fast auswendig weiß? Sie sollten mir lieber eine Frage beantworten, die mir gar sehr am Herzen liegt, die Frage: Gilt er noch? in allem, was mich so reich und glücklich gemacht hat?“ Wolfgang hatte sich mit einer jähen Bewegung wieder aufgerichtet einen Moment sah er wie geblendet in die strahlenden Augen, bis Thränen sie verschleierten, dann legte sich sein Arm um ihren Nacken, er zog sie an sich, und mit einem einzigen jubelnden, halberstickten: „Martha!“ preßte er seine Lippen auf ihren Mund und schloß ihr dann mit diesen Lippen sanft die Lider und küßte sie wieder und wieder auf Stirn und Scheitel. Und erst nach langer, langer Zeit war er wieder soweit Herr seiner selbst, daß er ihr antworten konnte: „Er gilt noch, Martha — bis in den Tod!“

Die beiden glücklichen Menschen waren so völlig in ein gegenseitiges Anschauen versunken, daß es wohl eines sehr starken Geräusches bedurft hätte, um sie aus dieser Versunkenheit aufzuschrecken. Es gelangte nicht zu ihrer Wahrnehmung, daß Frau Meiling, der es durch einen glücklichen Zufall ganz entgangen war, daß Martha ihr Haus betreten hatte, ahnungslos die Treppe heraufgekommen war und die Thüre leise geöffnet hatte. Der Anblick, der sich ihr bot, war wohl geeignet, sie an eine Vision glauben zu machen; Martha sah, Wolfgangs Linke unter ihrem Kinn, mit leuchtenden Augen zu ihm empor, und seine Rechte strich sanft von ihrer Stirn über das reiche schwarze Haar, bis sie mit einer plötzlichen Bewegung das Gesicht an seiner Schulter barg. Das war wohl zuviel für die alte Frau, die den Atem angehalten hatte; sie schlich sich, die Thür leise wieder anlehnend, die Treppe hinab und sank in ihrer Küche auf einen Sessel; sie mußte sich den alten Kopf mit beiden Händen halten und lachte und weinte in einem Atem.

Als droben der erste Sturm des Glücks vorüber war, sagte Wolfgang fast übermütig:

„Nun laß uns aber mal vernünftig sein, Martha; wir müssen notwendig großen Kriegsrat halten, denn was soll nun werden? Ich möchte nichts beschließen, ohne den Rat meines klugen Mädchens gehört zu haben.“

„Weißt Du auch, Wolfgang, daß mir jetzt alles weitere über alle Beschreibung und alle Begriffe gleichgültig ist und daß ich lächelnd alles gutheißen werde, was Dir angemessen erscheint?“

„Wohl, Herz, aber so übers Knie wollen wir unsere Entschlüsse doch nicht brechen, und dann möchte ich doch auch wissen, ob Du gar keine Vermutung darüber hast, wer wohl den Herrn Kommerzienrat auf seinen sublimen Einfall gebracht hat. Ueberdies solltest Du Dich einmal auf diesen altehrwürdigen Divan setzen, auf dessen Lehne mein Kopf so oft gelegen hat, wenn ich mit geschlossenen Augen Verse ersann, die — an Dich gerichtet waren.“

Martha nickte ihm lächelnd zu und nahm in der Sofaecke Platz, Wolfgang rückte einen Stuhl so dicht als möglich daneben, hielt Marthas Hand zwischen seinen beiden Händen und nun kam es zu jenem wirren, aus lauter Sprüngen zusammengesetzten, mit so manchem glücklichen: „Weißt Du noch?“ durchflochtenen Geplauder, das für Dritte so unsterblich langweilig, für die beiden Beteiligten so namenlos süß ist.

Man einigte sich in der Vermutung, daß wohl Frau von Larisch dem Kommerzienrat, vielleicht ganz gelegentlich und beiläufig, einen Wink gegeben haben möge; Martha stützte sich dabei auf die Andeutungen Annas, Wolfgang dachte an das Rendezvous im Walde; man schüttelte den Kopf über das grobe kommerzienrätliche Manöver, und Wolfgang warf plötzlich die Frage auf, ob er seine Abreise nicht verschieben und am nächsten Morgen bei Herrn Reischach vorrücken solle, um ihm energisch die Wahrheit zu sagen und ihm seine ganze Verachtung ins Gesicht zu werfen. Martha schüttelte nachdenklich den Kopf.

„Ja, verdient hätte er es, doppelt und dreifach, aber magst Du noch hierbleiben, wenn ich fortreise? Und mich entführt ja der Nachtzug, mein Gepäck liegt schon auf dem Bahnhof. Das hat die kleine kluge Anna besorgt, der Du nun wohl Dein freundlichstes Gesicht machen wirst - ja?“

„Gewiß, sie hat ja nun uns gerettet; aber wohin willst Du denn so plötzlich und was hast Du vor, Martha?“

„Hast Du auch bedacht, Wolfgang, ob ich nach den Enthüllungen, die Du mir gegeben hast, auch nur für Stunden in das Haus Herrn Reischachs zurückkehren kann? Ich glaube, ich müßte ersticken und mag und kann mich nicht der Gefahr aussetzen, diesen — Menschen wieder-zusehen. Er und ich — wir sind für immer geschiedene Leute und ich reise heute Nacht zu einer mütterlichen Freundin, die mir einstweilen gern ein Asyl unter ihrem Dache gewährt; es sei denn —“

Sie stockte und eine milde Röte färbte ihr Gesicht und Hals. In Wolfgangs Augen zuckte ein Strahl stolzester Freude und trunkenster Bewunderung auf und mühsam stieß er hervor:

„Es sei denn —? sprich weiter, Martha, vollende! Nicht ich, Du sollst den Satz vollenden!“

In dem Blick, mit dem Martha sein Drängen erwiderte, lag der vollste Ausdruck schrankenloser Hingabe, weltvergessender Innigkeit und gläubigsten Vertrauens. Leise und einfach erwiderte sie ihm: „Ja, ich will vollenden, mein Freund. Es sei denn — Du nimmst mich gleich mit.“

Wolfgang riß die Lächelnde und Weinende an sich, die unter seinen Küssen träumerisch fortfuhr:

„Wir haben ja beide kein Heim mehr — gehören wir nicht von Stund an zusammen und ist das Leben so lang, daß wir uns auch nur um eine Stunde des Glücks und des Beisammenseins mutwillig bringen dürften?“

„Aber hast Du auch bedacht, Martha, wie man im ganzen Städtchen über Dich sprechen wird und wie die Lästermäuler gierig über Dich herfallen werden?“

„Ich glaube das sogar noch etwas besser und genauer zu wissen, als Du, mein vorsichtiger Freund, aber sieh, auch das ist mir so gleichgültig, ich kann Dir nicht sagen, wie gleichgültig. Wenn Du mich nur achtest, was frage ich nach den übrigen Menschen? Mögen sie doch reden, wenn Du nur weißt, daß ich schuldlos bin. Die Selbstachtung, die auf dem Urteil der Menge beruht, ist ein Kartenhaus auf glattem Tisch, das jedes Lüftchen umbläst; ich will die meine aus Stein auf Felsengrund bauen — auf Dein Herz! Dann trotzt sie jedem Sturm.“

„Du wagst, Martha; nennst Du es stolz oder gar eitel, wenn ich Dir ganz leise sage, daß der Gewinn das Wagnis wohl wert ist? Setze ruhig Dein alles auf den einen Wurf — Du gewinnst!“

„Das habe ich vom ersten Augenblick an gewußt, wenn ich auch nicht glauben konnte, daß Du mich jemals lieben würdest; nur Deine Freundin wollte ich sein, ich glaube freilich, daß ich Dich immer geliebt habe.“

„Nun, das wollen wir unterwegs überlegen, Martha; der Weg nach —“

„Nein, Wolfgang, sage mir nicht, wohin Du mich führst, ich will auch das nicht wissen; Du kannst Dir nicht denken, wie süß es ist, alle Fesseln zu zerreißen und die alte Welt hinter sich versinken zu sehen und nur das Eine zu wissen, daß in der neuen, wie fern sie auch sei, das Glück wohnt.“

„Wohl, Lieb, ich begreife auch das; nun mache Dich aber auf eine weite, weite Reise gefaßt, und wenn wir am Strande unserer neuen Welt landen, werden wir gar nicht mehr viel übrig haben. Aber nicht wahr, das ficht Dich nicht an? Ich habe auch eine tapfere, standhafte Frau, die sich in alles fügt und schickt? Wir finden wackere Freunde vor, und ich werde bald wieder so viel haben, daß ich Dir ein kleines, behagliches Heim schaffen kann.

„Ich verstehe Dich, aber — es scheint, Du weißt noch gar nicht, was für ein sorgsames Hausmütterchen ich abgeben werde. Sieh, so ganz arm komme ich doch nicht zu Dir; ich wußte ja nicht, daß Du mich mitnahmst, hatte mich vielmehr auf ein längeres Verweilen bei meiner guten Luise einzurichten, und ihr konnte und wollte ich selbstverständlich in keiner Weise zur Last fallen. So kann es wohl sein, daß ich mehr habe, als Du; aber das soll unsere Reserve sein, fürs erste will ich ganz von Dir abhängen. Sind wir erst in unserer neuen Welt, so kannst Du ja einmal nachsehen, wieviel ich in meinem kleinen Portefeuille habe; später, meinetwegen über Jahr und Tag, wird Herr Reischach freilich ausliefern müssen, was ich ihm jetzt recht gern noch lassen will.“

Ueber Wolfgangs Gesicht glitt ein Schatten; seufzend sagte er: „Ich weiß freilich auch nicht, was anders werden soll, aber ich mag nichts damit zu schaffen haben und nichts davon wissen. Verwende die Zinsen zu wohlthätigen und humanen Zwecken, wir aber wollen unser eigenes, kleines Budget haben, und solange mir Kopf und Hände den Dienst nicht versagen, soll es Dir gewiß an nichts fehlen.“

„Glaubst Du, ich wüßte das nicht, Wolfgang? Aber haben die Engländer nicht ein Sprichwort, das ungefähr besagt, die Mildthätigkeit beginne für jeden einzelnen bei ihm selber? Sollst Du noch länger in der Tretmühle eines Berufs gehen, der Dich doch unmöglich befriedigen kann, oder sollst Du diese Dienstbarkeit mit einer anderen vertauschen und für Geld schreiben? Nein, das darfst Du gar nicht. Du wirst auch ohne Beruf immer fleißig sein und Du sollst frei Deinen Neigungen und Ueberzeugungen leben. Wirst Du nicht, die Anschauungen, die Du für die richtigen hältst, mit Wort und Feder ganz anders vertreten können, wenn Du in der Lage bist, überall eingehende Studien zu machen? — So ungefähr denke ich mir Deine Zukunft; Du wirst so unendlich mehr nützen und Dir selbst ein ganz anderes Genügen bereiten können.“

Wolfgang hatte erst den Kopf geschüttelt, nun aber sagte er rasch und froh, fest und entschieden:

„Wohlan, das ist die beste Rache! Dieses Geld, in das sich der Schweiß und das Mark einer verkommenden Arbeitergeneration verwandelt hat, soll die große Emancipationsarbeit des Arbeiterstandes unterstützen, und ich will mir durch dasselbe die Freiheit von äußeren Fesseln nur erkaufen, um freiwillig in den Dienst dieser großen .Kulturbewegung zu treten, die allerlei Geister, jeder an seinem Platze, zu verwenden vermag. Aber — da fällt mir ein, daß wir doch vielleicht eine kleine Rache an unserm Herrn Kommerzienrat nehmen könnten.“

Er nahm ein Blatt, schrieb mit einem Lächeln die folgenden Worte:

10. 1. 74.

„Ihre heute erfolgte Verlobung und ihre gleichzeitig erfolgte Abreise nach .... beehren sich Ihnen anzuzeigen“ — und schob es dann Martha hin, die mit zustimmendem Nicken ihren Namen darunter setzte; dann fügte er den seinigen hinzu, füllte die Lücke durch „London“ aus und adressierte ein Couvert an Herrn Kommerzienrat Reischach, Ritter etc.

„Die paar Worte sind einstweilig genug, —- und nun ist das Abschiedsgedicht an Dich, das ich heute abend ersonnen habe, doch nicht das letzte gewesen, was ich in diesen Räumen schrieb.“

„Gieb mir die Verse, Wolfgang, oder lies sie mir vor!“

„Ich will sie Dir vorlesen; schwer genug wird es mir werden, aber ich habe schon eine solche Strafe verdient, und mitten in meinem Glück verlangt mich nach einer solchen Sühne!“

Als er geendet, küßte ihn Martha auf die Stirn und sagte leise: „Armer Freund, wie traurig mußt Du gewesen sein und wie mußt Du gelitten haben! Aber nun ist ja alles, alles überstanden.“

„Und wir müssen nun auch gehen, da ich Dich doch erst noch einmal zu Frau Meiling führen muß, und Krone und Anna und wohl noch einige andere auf dem Bahnhof sein werden; wir wollen sehen, daß wir ihnen zuvorkommen können.“

Frau Meiling kam denn auch auf Wolfgangs ersten Ruf, und als ihr junger Mieter ihr in heiterstem Ton und doch mit bewegter Stimme seine Braut vorstellte, die er „der Kürze halber und da er sich doch nicht wieder von ihr trennen könne,“ gleich mitnehme, da kugelten der Alten die Freudenthränen über die Wangen und sie brachte es zu keinem vorschriftsmäßigen Glückwunsch, sondern drückte den beiden nur krampfhaft die Hände.

Als die beiden auf dem Bahnhof ankamen, hatte Martha den heimlichen Besuch bei Wolfgang, der ihr einst durch Frau v. Larisch aufgezwungen worden war, gebeichtet, und diese Beichte war mit einem dankbaren Händedruck beantwortet worden. Sie betraten dabei den noch verödeten Perron, in dem der Zug aber bereits hielt, und Wolfgang sagte nachdenklich:

„Von Deiner Leontine kann und muß ich Dir da auch noch wunderliche Geschichten erzählen: mach Dich nur immerhin auf Briefe, Maiblümchen, sogar auf ein Rendezvous im Walde gefaßt, es hat sich auch noch eine dritte Dame einigermaßen für mich interessiert und mir einen anonymen Brief geschrieben.“

Martha lachte, indem sie im Coupé Platz nahm:

„Am Ende gar Emmy? Wie komisch das wäre! Aber Scherz beiseite: kann nicht sie es gewesen sein, die Herrn Reischach auf seine Pläne gebracht hat? Nun, wir reisen ja in die weite Welt und da kannst Du in aller Ausführlichkeit erzählen.“

Wolfgang löste eben am Schalter die Billets, als Krone, den breitkrämpigen Hut tief ins Gesicht gedrückt, eilfertig die Stufen emporgesprungen kam; unser Freund schob seinen Arm unter den des wackeren Jüngers Gutenbergs und ging langsam mit ihm im Perron auf und ab. Er hatte aber bald bemerkt, daß Krone zerstreut und befangen war und mit irgend einem Entschluß kämpfte, und so sagte er denn scherzend:

„Krone, Sie haben etwas auf dem Herzen und wissen nicht, wie Sie es anbringen sollen; heraus damit, sonst kommen uns schließlich noch andere über den Hals.“

„Ach, es ist rein nichts — eine Kleinigkeit; ich wollte Sie nur bitten — nehmen Sie hier den Brief, aber machen Sie ihn erst in ein Paar Tagen auf!“ stieß der so Ueberrumpelte, sichtlich sehr ärgerlich über sich selbst, in hilfloser Verwirrung heraus, und wollte Wolfgang dabei ein ziemlich großes, selbstgeschnittenes, sorgsam mit Gummi zugeklebtes Couvert aufdringen. „Es ist nur so ein Einfall von mir, aber Sie dürfen mir den Spaß nicht verderben.“

Wolfgang würde, wäre Krone dabei ruhig und unbefangen geblieben, den Brief, um Weitläufigkeiten zu vermeiden, achtlos in seine Brusttasche versenkt haben; diese Verlegenheit und dieses tiefe Erröten machten ihn stutzig und eine Ahnung blitzte in ihm auf. Er drohte scherzend mit dem Finger:

„Mein lieber Krone, ich fürchte sehr, Sie wollen sich in der letzten Viertelstunde untreu werden, das heißt, mich überlisten und mir ein X für ein U machen. Die Hand aufs Herz — Sie wollen mir da Geld mitgeben, weil Sie mich für halb und halb gemaßregelt ansehen und fürchten, ich könnte drüben in Verlegenheit kommen. Sie haben sich das sehr hübsch ausgedacht und alles sehr fein eingefädelt, aber Sie sind zum Diplomaten verdorben und werden in Ihrem ganzen Leben kein Schauspieler.“

„Das ist ja eben das Unglück; Sie sollen die paar Thaler als einen Vorschuß ansehen, — können es ja später wieder bezahlen, — ich hab mit meiner Alten drüber gesprochen, — sie ist sonst ein bissel zähe und mißtrauisch, aber diesmal war sie gleich dabei, — und nun nehmen Sie's und sagen Sie kein Wort mehr ich bitte Sie inständigst.“

Wolfgang drückte ihm herzlich die Hand und erwiderte, eigentümlich bewegt und doch auch wieder voll Uebermut:

„Ich danke Ihnen und werde Ihnen diesen Zug nie vergessen; ich würde mich auch keine Minute zieren und das Geld von Ihnen ganz einfach annehmen, aber sehen Sie, erstens sind meine Finanzen noch ganz leidlich bestellt, zweitens habe ich drüben alte Freunde, die reicher sind als Sie, und drittens nehme ich eine reiche Frau mit, kann also gar nicht in Not kommen. Ja, ja, machen Sie nur große Augen, ich entführe dem Herrn Kommerzienrat eine von seinen Damen, ein Husarenstreich, der Ihnen gewiß zu ganz besonderer Genugthuung gereichen wird. Erst spiele ich ihm in der Wahlversammlung den ärgsten Possen und nun gehe ich ihm auch noch mit Fräulein Hoyer durch —- und das ist der Humor davon.“

Er klopfte an das Fenster des Coupes, Martha ließ dasselbe nieder und Wolfgang stellte vor:

„Hier, Martha, hast Du meinen Steiger Krone, das treueste, bravste Herz in der ganzen Stadt und einen der prächtigsten Menschen, die ich je kennen gelernt habe; gieb ihm die Hand, er hat es zwanzigfach um Dich verdient.“

Krone brachte es zu keiner Antwort, er konnte nur immer wieder die Hand seines Hauptmanns schütteln und sich beschämt mit der Hand über die feuchten Augen fahren. Es war ihm fast willkommen, daß in diesem, bei seiner Weichheit für ihn so überaus kritischen Moment die kleine Anna am Arme des jungen Schlossermeisters, dem einst die beiden Alfrede so sehr im Wege waren, auf Wolfgang zukam; er trat diskret zurück, in die nächste Ecke, um nicht zu stören, und hörte Anna hastig und erwartungsvoll fragen:

„Haben Sie Fräulein Hoyer nicht gesehen? Es ist möglich, daß sie mit diesem Zuge ebenfalls abreist; ich habe ihr Gepäck heimlich zur Bahn gebracht.“

Wolfgang lächelte. „Ja, Sie wollten mir aber doch eine Ueberraschung bereiten?“

„Ach, das hat Zeit, das ist nicht so wichtig; wenn ich nur wüßte ob Fräulein Hoyer hier ist, — Sie müßten sie doch gesehen haben.“

„Freilich habe ich sie gesehen; wir reisen sogar in einem Coupé, wie dies bei einem Brautpaar wohl selbstverständlich ist.“

„Verlobt?! Mit Fräulein Hoyer?“ jauchzte die Kleine. „Und sie fährt gleich mit? Da steht aber morgen früh bei uns das Haus auf dem Kopfe!“

„Und daran sind eigentlich Sie schuld, denn wenn Sie gehalten hätten, was Sie mir mit Hand und Mund versprochen haben, passierte die ganze Geschichte nicht. Aber ich danke Ihnen für diesen Wortbruch er hat mein Glück geschaffen, und daß Sie den Brief früher abgaben, als Sie durften, war der klügste Streich Ihres ganzen Lebens.“

„Und nun sollen Sie auch gleich den dümmsten erfahren: ich habe mich hier mit diesem eifersüchtigen, immer rußigen und als Mann wohl zuweilen recht brummigen Menschen verlobt, in der Hoffnung, daß er sich noch bessern wird; gutmütig ist er, man kann es also am Ende darauf ankommen lassen.“ Der herzliche Blick auf den zukünftigen Gatten, mit dem sie die neckenden Worte begleitete, strafte sie zur Genüge Lügen.

Man war vor dem Coupé stehen geblieben, Martha nahm die lebhaften Glückwünsche der kleinen Ueberglücklichen entgegen und erwiderte sie freundlich, und Wolfgang sagte ernst:

„Nun sind wir ganz quitt, meine kleine Anna; ich hoffe, Ihr Bräutigam wird Rücksicht darauf nehmen, daß wir einander doch näher stehen, und nicht scheel sehen, wenn ich von Ihnen Abschied nehme, als wären Sie meine Schwester.“ Und er gab ihr die Hand und küßte sie auf die Stirn.

Das rauhe: „Zurücktreten!“ des Schaffners, der den Zug entlang eilte und die Thüren zuschlug, riß die kleine Gruppe auseinander; Wolfgang sprang in den Wagen und grüßte die Zurückbleibenden noch einmal mit Hand und Augen, das letzte, hastige Läuten schallte durch die Halle, da schoß der lange Alfred, die Stirn mit dem Taschentuch trocknend, aus der Vorhalle in den Perron und rief schon von weitem:

„Gott sei getrommelt und gepfiffen, daß Sie noch da sind! Wäre ich zu spät gekommen, ich hatte es mir nie vergeben. Aber eine höchst dringende Abhaltung – „

„Hätte mich beinahe verhindert, Ihnen in Fräulein Hoyer meine Braut vorzustellen!“ schnitt Wolfgang in bester Laune den Redefluß ab.

Eine Verbeugung Marthas, die neben ihm ans Fenster getreten war, eine verdutzte Reverenz des Sonettendichters, ein Händedruck Wolfgangs — und der Zug kam langsam ins Rollen. Alfred hatte Hut und Taschentuch noch immer in der Hand, als die kleine Anna am Arme des jungen Schlossers auf den aus einer Verblüfftheit in die andere Fallenden zutrat und mit einem ein ganz klein wenig spöttischen Knix und einem mühsam unterdrückten Kichern vorstellte:

„Mein Bräutigam, Ferdinand —“

Die weiteren Worte gingen in dem schrillen Pfiff der Lokomotive unter, Krone aber, der wieder vorgetreten war, schwenkte mit aller Macht seinen breitkrämpigen Filzhut und rief mit wahrer Stentorstimme den Scheidenden nach:

„Es lebe die soziale Republik!“

Ende.

  1. Dem Seeräuber gegenüber anderthalber.
  2. Man kommt immer auf seine erste Liebe zurück.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: kostatiere
  2. Vorlage: sie die
  3. Vorlage: adoptierten
  4. Vorlage: auseindersprengte
  5. Vorlage: adoptierten
  6. Vorlage: gedeute
  7. Vorlage: den
  8. Vorlage: ihm
  9. Vorlage: habe