Eine Rennthierjagd auf dem Dovrefjeld

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Autor: Alfred Brehm
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Titel: Eine Rennthierjagd auf dem Dovrefjeld
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 6, S. 88–91
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Kurzbeschreibung:
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[88]
Aus dem Norden.
Von Brehm.
III. Eine Rennthierjagd auf dem Dovrefjeld.

Bei meinem ersten Aufenthalte in Fogstuen wurde ich mit einem norwegischen Jäger bekannt und befreundet. Fogstuen ist eine einsame Wechselstelle für Post- und Reisepferde. Der Hof liegt etwa 2000 Fuß über dem Meere und gegen drei Meilen vom Sneehätten entfernt. Ringsherum dehnt sich ein vortreffliches Jagdgebiet meilenweit aus, und deshalb ist gerade dieser Ort besonders zum Aufenthalte für Jäger geeignet. Erik Svensen, der Jäger, von welchem ich reden will, lebt hier bereits seit einer Reihe von Jahren. Er ist ein ganz prächtiger alter Kerl, und dem edlen Waidwerk mit Leib und Seele ergeben. Einen zünftigen Unterricht im Jagdhandwerk hat er allerdings nicht genossen und auch keine Forstschule besucht; er ist vielmehr Alles, was er ist, durch sich selbst geworden. Um so eigenthümlicher ist seine Jagd. Alle Künste, alle Liste, alle Schleichwege gelten bei ihm; Erik ist ein Raubthier in Menschengestalt oder ein Indianer des Ostens. Die meisten jagdbaren Thiere berückt er durch Nachahmung ihrer Lockstimme und versteht diese Kunst so meisterhaft, daß man dreist behaupten kann: er spricht die Sprache der Thiere. Außerdem aber kennt er auch andere Kniffe und Pfiffe und ist nie um ein neues Mittel zum Zweck verlegen. Er sucht sein Wild in den verborgensten Schlupfwinkeln auf, kriecht und läuft mit ihm um die Wette, folgt ihm meilenweit oder lauert wie ein Luchs stundenlang an einer und derselben Stelle oder gebraucht Schlinge und Falle, Köder und Gift, wie es eben gehn will. Seine Orts- und Sachkenntniß, seine Erfahrung und Schlauheit sind eben so bewunderungswürdig, wie seine Ausdauer und seine Abhärtung. Er kennt alle Plätze auf dem ganzen Gebirge, welche ergiebig sind; kennt alle jagdbaren Thiere und ihr Leben und Wesen von Grund auf, wandelt in leichten Schuhen durch Sumpf und Moor oder über Schneefelder und schüttelt sich den Schnee ebenso gelassen aus seinen Kleidern, wie er das Wasser aus seinen Schuhen gießt, welches diese in der ersten Viertelstunde seiner Jagd regelmäßig erfüllt. Die Worte Erkältung oder Ermüdung sind diesem Naturmenschen blos dem Namen nach bekannt: er selbst, obgleich nun bereits 60 Jahr alt, ist nie krank gewesen und beschämt noch heute Jeden, welcher es ihm gleich thun will.

Es versteht sich von selbst, daß mich Erik tagelang an Fogstuen fesselte und in kurzer Zeit so viel von meinem Herzen gewann, als solcher Graubart überhaupt gewinnen konnte. Trotz meiner gänzlichen Unkenntniß der Landessprache verständigten wir uns bald beide vortrefflich und wurden so nur immer mehr befreundet. Wir jagten tagtäglich und allnächtlich zusammen, zumeist zwar nur auf Schneehühner, dafür aber auch in der anziehendsten Weise – ich will später ausführlich davon reden. Allein unser Erik verstand auch die hohe Jagd.

Ich hatte in Christiania durch norwegische Jäger von der außerordentlichen Schwierigkeit der Rennthierjagd gehört und brannte deshalb darauf, eine solche Jagd wenigstens zu versuchen.

„Giebt es hier Rennthiere, Erik?“ fragte ich, diesmal durch freundliche Vermittlung meines jungen Reisegefährten Berghaus, welcher fertig norwegisch spricht.

„Rennthiere giebt es auf dem ganzen Gebirge in Menge,“ antwortete er.

„So laß uns eine Jagd darauf machen, Alter!“

„Ja, es geht aber nicht!“

„Warum nicht?“

„Weil er Strafe zahlen muß.“

„Wer?“

„Nun, Er!“

„Und wenn ich diese Strafen nun zahlen wollte?“

„Dann können wir auch Rennthiere jagen!“

Wir gingen also, stiegen etwa anderthalbtausend Fuß höher im Gebirge hinauf, wateten durch angeschwollene Waldbäche oder durch Schneefelder, kletterten über die abscheulichsten Geröllhalden, welche es irgendwo geben kann, hinweg, wurden naß vom Kopf bis zum Fuße und fanden endlich frische Fährten „einiger sehr alten und großen Thiere, welche heute hier gewesen waren.“ Mühsam folgten wir denselben auf Pfaden, welche meiner Beschreibung spotten, und sahen endlich drei Rennthiere auf einem Schneefelde unter uns gelagert. Der alte besonnene Erik wurde zu meiner Verwunderung vom Jagdfieber geschüttelt, wie ein Jägerlehrling; ich nahm ruhig die Büchse, zielte sicher, sah im Geiste den „Bock“ stürzen, sowie auch den Lehusmand sein Strafbuch aufweisen – und mußte zu meiner bitteren Täuschung erfahren, daß mir das sonst so sichere Gewehr drei Mal versagte! Freund B., der mir es geliehen, hatte mir ganz entschieden einen Waidmann gesetzt! [89] Erik heulte vor Kummer, ich fluchte, und die Rennthiere trabten wohlgemuth von dannen.

„Nun, Strafe wird Er diesmal nicht bezahlen,“ knurrte der alte Jäger mürrisch vor sich hin, „aber ich weiß schon, das geht immer so, wenn man in der Hegezeit jagen will, Er muß wieder kommen, hierher, im August; dann wollen wir jagen!“

Und ich kam wieder, nachdem ich mich im ganzen Nordlande und in Finnmarken vergebens nach wilden Rennthieren und solchen Jägern erkundigt hatte. Sobald das Regenwetter, welches mich bei meiner Ankunft begrüßte, nachgelassen hatte, machten wir uns auf den Weg nach dem Fjeld. Ich muß hier aber wohl erst „unsere Jagdgründe“ kurz beschreiben.

Man würde sich sehr irren, wenn man sich unter dem Dovrefjeld ein Gebirge denken wollte, wie wir es in den Alpen vor uns haben. Alle Gebirge des Festlandes von Norwegen haben so ziemlich dasselbe Gepräge: sie steigen ziemlich sanft auf und sind oben abgerundet, ja hin und wieder hochflächenartig geebnet; daher wohl eben der Name „Fjeld“. Schroffe Abstürze und unersteigliche Stellungen, himmelhohe senkrechte Felsenwände, scharf auslaufende Grathe und Hörner sind selten und kommen nach meinen bisherigen Erfahrungen nur am Meere und ganz in dessen Nähe, auf dem Dovrefjeld aber nur unmittelbar am Sneehätten vor. Das Wasser ist in Norwegen zu mächtig, und hat alle Gebirge gerundet. Namentlich im Winter übt es, indem es zwischen die lockere Schichtung des Thonschiefers eindringt und dann gefriert, seine Sprengkraft im großartigsten Maßstabe. Daher findet man, daß alle Bergesgipfel mit einer dicken Lage von Geröll – losgesprengten Felsstücken – überdeckt sind, und bemerkt bei genauerer Prüfung, daß auch die unteren Wände der Berge eben nichts Anderes als solche Geröllmassen sind, welche aber mit Erde überdeckt wurden. Diese bildete sich theils durch Verwitterung des Gesteins, theils durch Ausschwemmung und endlich durch Vermoderung der ziemlich üppigen Pflanzendecke. Bis zu 3000 Fuß über Meer sind – regelmäßig – alle Gebirge und so auch das Dovrefjeld bewaldet, in der Tiefe mit Nadelbäumen, oben mit Birkenwäldern und Birkengestrüpp. Plötzlich, aber scharf abgeschnitten, endet der Wald, und die Bergeshäupter zeigen sich nunmehr in ihrem ganz eigenthümlichen Wesen. Schlangengleich und ängstlich sich an die Erde festklammernd kriechen die Zwergbirke, der Wachholder und krüppelhafte Weiden, Beerengesträuche, Flechten und Moose auf dem Boden dahin, und letztere werden bald so vorherrschend, daß sie dem Gebirge selbst auf weite Entfernung hin, die gelbliche Färbung verleihen, welche den nordischen Höhen so eigenthümlich ist. Kommen, wie gewöhnlich, nun noch einzelne Schneefelder oder Gletscher dazu, so gewinnt das Gebirge für das Auge ungemein; denn es glänzt dann förmlich in seinen bunten lebendigen Farben: auf dem Dunkel der Waldungen, aus welchen einzelne grüne Stellen hervorleuchten, liegt das lichtere Grün der Birken, über diesem das eigene Gelb der moosigen Flächen und auf diesen endlich die krystallene Schnee- oder Eiskrone, welche noch in weitester Ferne blendend hervortritt. Die noch nicht bemoosten Halden sind ganz dunkel und gleichsam Schatten im Bilde. Mit der Grenze der Birken beginnt erst das eigentliche Hochgebirge, ein Wirrsal von Thälern, zwischen denen sich einzelne runde Berge wie von einer Ebene aus erheben. Auf allen diesen Bergen finden sich nur Zwergbirken, Beerengestrüpp, Moose, Flechten und zwischen denn Gestein der Halden einzelne Gräser, Blumen und saftige Pflänzchen, mit Ausnahme des Mooses alles dürftig, klein und nicht dicht stehend. Hier ist das eigentliche Gebiet der Rennthiere.

Es ist kein Wunder, daß die meisten Reisenden behaupten, die Thiere kämen nur vereinzelt und selten vor; denn bis in ihr Reich dringt eben blos ein leidenschaftlicher Jäger oder ein echter Naturforscher, dem es auf Beschwerden und Entbehrungen nicht ankommt. Für die gewöhnliche Reisemenschheit sind jene Höhen durchaus nicht geeignet; es giebt für sie keine Packesel zum Reiten oder Lasttragen; es giebt dort oben keine Wirthshäuser oder Sennhütten mit allerliebsten Sennerinnen und citherschlagenden Gebirgsbuben etc., sondern blos Beschwerden und Mühsale. Eine Lustwandelung in jenen Höhen verlangt tüchtige Wasserstiefeln und abgehärtete Füße für dieselben, einen breiten Rücken, um sein Zeug selbst zu tragen, und vor allem eine gesunde Brust, welche bei stundenlangem Auf- und Niedersteigen ohne Beschwerde ihre Dienste thut. Das wollte ich zu Nutz und Frommen sehr neugieriger Reisemenschen bemerkt haben.

Am 15. August wanderten wir Beide, Erik und ich, aus dem Hofe heraus und stiegen rüstig, aber mit jenen langsamen und gleichmäßigen Schritten echter Gebirgskinder die Höhen hinan.

„Hat Er seinen Kikkert (Fernrohr) mit, Herr?“ fragte der Alte.

„Ja, Erik.“

„Ist Seine Büchse auch ordentlich geladen, daß sie nicht wieder versagt?“

„Ja, Alter, hab’ keine Angst!“

„Nun, dann werden wir auch Rennthiere schießen.“

Und weiter und weiter aufwärts ging die Reise. Es stäubte dann und wann naßkalt aus uns hernieder, aber der Sneehätten strahlte bereits im hellsten Sonnenschein, und auf den Gebirgen im Nordwesten lag die Sonne in wahrhaft blendendem Glanze. Nach anderthalb Stunden hatten wir die ersten Höhen erstiegen und kletterten jetzt über eine der erwähnten Geröllhalden hin. Man dürfte sich schwerlich eine Vorstellung davon machen, wie schwierig solche Wanderung ist. An Gefahr ist allerdings dabei kaum zu denken, allein Beschwerden giebt es genug. Die Halde besteht nämlich nur aus wirr durch- und übereinander liegenden Schieferplatten, welche, wenn man über sie weggeht, entweder in Bewegung gerathen oder aber so scharfkantige Ecken, Spitzen und Kanten hervorstrecken, daß jeder Schritt durch die Stiefelsohlen hindurch fühlbar wird. Die außerordentliche Glätte der Platten, über welche das Wasser herabläuft, vermehrt nur die Schwierigkeit des Weges, und das beständige Durchwaten der glattgescheuerten Rinnsale erfordert wirklich ängstliche Vorsicht, wenn man es vermeiden will, sich unfreiwillig im kalten Gebirgswasser zu baden, und dabei Arme und Beine blutig zu schlagen. Unser Pirschgang ging eben nicht rasch vorwärts.

Wirklich erhaben war die Aussicht, welche wir genossen, aber wahrhaft beängstigend die Stille und Oede der Höhe. Das Auge weidete sich an der herrlichen Gebirgswelt, an Hunderten von Bergen und Gipfeln, welche Inseln gleich hell und licht aus dem Dunkel der Tiefe traten; es konnte schwelgen im Anschauen der so prächtig gefärbten Massen mit ihren silbernen Schneedächern; aber das Ohr lauschte lange vergeblich nach einer befreundeten Stimme. Nur einmal schwirrte fast lautlos ein Volk Alpenschneehühner vor uns auf, es war aber schon wenige Minuten später wieder zwischen den dunkeln Steinen verschwunden. Endlich begegneten wir aber doch einigen andern Vögeln. Drei Bussarde wiegten sich in der Höhe; einige Regenpfeifer ließen ihre kläglichen Stimmen erschallen, und ein Schneeammer zeugte durch sein Erscheinen von der Höhe, in welcher wir uns befanden. Lautlos schritten wir weiter, auf und nieder, über die Rücken der Berge hin, an dem einen hinauf, an dem andern hinab; noch wollte unser Wild sich nicht zeigen. Endlich sagte der Alte:

„Hier hat ein Thier heute sich geäßt; schau Er her, diese Pflanzen sind frisch abgebissen, und hier liegt ein Stengel daneben, noch saftig und unverwelkt.“

Das war ein Zeichen, auf welches ich freilich nicht geachtet hätte. Nach einigen Schritten mehr fand nun aber auch ich Spuren der hier vorübergegangenen Rennthiere auf. Eine feuchte schlammige Stelle zeigte die Fährte eines alten Thieres so scharf und so frisch, daß gar kein Zweifel übrig bleiben konnte: in der Nähe mußten Rennthiere liegen. Nun wurde gesucht mit Augen und Fernrohr, aber vergebens. Hundert Male glaubte ich mein Wild zu sehen: immer waren es Steine, welche mir entweder die Gestalt des Leibes oder recht tückisch sogar die der Geweihe eines Rennthieres vorspiegelten. Doch dort in weiter Ferne lagen Rennthiere: diese Formen waren zu regelmäßig, als daß sie Steinen angehören sollten.

„Alter, da sind sie!“

„Wo? Dort! Ja richtig!“

Und wieder schüttelte das Jagdfieber den alten Knaben, aber nur einen Augenblick. Langsam und äußerst vorsichtig gingen wir weiter; deutlicher traten die Umrisse hervor, und das Fernrohr gab endlich volle Gewißheit. Sofort begann der Alte seine Vorsichtsmaßregeln anzuwenden. Zuerst sank er äußerst langsam und gleichmäßig zusammen und forderte mich auf ein Gleiches zu thun; „denn,“ sagte er, „jede rasche Bewegung verscheucht die Thiere augenblicklich.“ Nun wurde der Wind geprüft. Ich that es, indem ich meinen Finger näßte und ihn dann empor hielt, um durch das [90] einseitige Gefühl der Kälte die Richtung des Winden zu erfahren; Erik rupfte Rennthiermoos aus und warf kleine Flocken davon in die Höhe, welche der Wind dann mit sich trieb. Hierauf machten wir uns auf den Weg, suchten, tief gebückt dahin gehend, den Thieren so bald als möglich aus dem Gesicht und der Witterung zu kommen und begannen unter dem Winde an sie heranzuschleichen. Plötzlich blieb der Alte stehen, warf von Neuem Moos empor, fluchte und sagte: „Wir werden diesmal kein Thier mehr zu sehen bekommen; der Wind hat sich gedreht!“ Es war wie er sagte: ein unregelmäßiger Windstoß hatte uns getäuscht. Und wirklich hatten die scheuen Thiere bereits Witterung bekommen; denn als wir auf großen Umwegen und nun richtig unter dem Winde zur Stelle kamen, war diese leer und von den sieben Rennthieren keine Spur mehr zu bemerken.

„So wollt’ ich doch gleich, daß der Sneehätten einfiele!“ knurrte Erik höchst verdrießlich; doch tröstete er sich und mich rasch genug durch die Versicherung, daß das ganze Fjeld voller Rennthiere sei. Wir schritten also weiter, besuchten noch fünf „gute Stätten“, erstiegen noch zwei hohe Berge, fanden andere Fährten und abgeäßte Pflanzen – sahen aber keine Rennthiere. Die Wanderung hatte nunmehr bereits sieben Stunden gewährt, und wir Beide waren müde.

„Es wird Zeit, Alter, daß wir uns nach einer Nachtherberge umsehen!“

„Gut, wir können zu dem nächsten „Säter“ (Sennhütte) gehen, wenn es Ihm beliebt!“

„Wie weit ist dieser wohl von hier?“

„Etwa eine halbe (norwegische) Meile.“

Wenn dies richtig gemessen war, hatten wir also noch 9000 Ellen abzuschreiten. Erik hatte die Entfernung aber unterschätzt, und so wanderten wir denn noch anderthalb Stunden lang fort, ehe wir den „Säter“ erblickten. Und wo lag er?! Vor uns that sich ein echtes Alpenthal auf, von steilen, schroffen Wänden eingefaßt, grün und freundlich heraufschimmernd wie eine Oase aus dem Sande der Wüste. Brausende und schäumende Waldbäche stürzten sich frohlockend hinab in die Tiefe und sammelten sich dort zu einem Flüßchen, welches mit jeder Viertelmeile neuen Zulauf und Zuwachs erhielt. Blendend glänzte und leuchtete es zu uns herauf, recht einladend tönte sein Rauschen in unser Ohr; mir aber ging es wie Eulenspiegel: ich trauerte über die tausend Fuß, welche wir hinabsteigen sollten, weil ich sehr lebhaft daran gedachte, welchen Schweiß es kosten würde, morgen dieselbe Höhe, auf welcher wir standen, wieder zu gewinnen. Allein der knurrende Magen und die müden Glieder verlangten ihr Recht; und so kletterten wir denn, so gut oder so schlecht als es gehen wollte, zur Tiefe nieder, hatten, Dank einigen etwas unwillkürlichen Eilmärschen und Eilfahrten ohne Fußbewegung, nach drei Viertelstunden die Thalsohle erreicht und befanden uns unmittelbar vor dem Säter.

Ich würde nun sehr gern von unserer sehr merkwürdigen Nachtherberge und ihren Bewohnern berichten – und dies würde auch unbedingt zum Jagdbilde gehören – allein der mir gemessene Raum verbietet dies. So kann ich eben nur sagen, daß wir aßen, tranken, schliefen und am andern Morgen wieder die Höhe hinaufstiegen.

Nach zweistündigem Steigen waren wir wieder in unseren Jagdgründen angekommen und begannen unsere Suche von Neuem. Aber eine Viertelmeile nach der andern mußte abgeschritten, ein Berg nach dem andern erstiegen werden, ehe wir wieder Spuren unseres Wildes auffanden. Doch schien es, als sollten wir diesmal für unsere Ausdauer belohnt werden. Von einem Hügel aus blickten wir forschend über eine vor uns liegende Thalmulde hin – und siehe da! – am anderen Rande äßte sich behaglich ein ganzes, starkes Rudel Rennthiere! Mit Winken und Zeichen theilte ich Erik die erfreuliche Entdeckung mit, und wieder sank er feierlich in sich zusammen, prüfte den Wind, entledigte sich seines Ranzens und alles unnöthigen Gepäckes und begann nun auf dem Bauche fortzukriechen. Ich folgte ihm in derselben Weise und gelangte mit ihm zu einigen Steinen, hinter denen wir uns verbergen konnten. Von dort aus beobachteten wir das Rudel und das Jagdgebiet sorgfältig, ehe wir unsere Kriecherei fortsetzten. Es war ein prachtvolles Schauspiel, welches das Rudel mir bot, und ich brachte das Fernrohr gar nicht vom Auge, um mir keine Bewegung der edlen Thiere eingehen zu lassen. Achtzehn Stück des schönen Wildes hatten sich zusammengerudelt. Einige äßten sich, andere hatten sich niedergethan, andere gingen scheinbar unbeschäftigt auf und nieder. Mit einem Male aber kam Leben und Schrecken über Alle. Sie stoben fort und jagten trottend durch Sumpf und Moor hindurch gerade auf uns los. Eine fieberhafte Spannung hatte sich unser bemächtigt, ließ aber nur zu schnell nach, als wir bemerkten, daß sie halbwegs stehen blieben, sich wieder sammelten und von Neuem sich zu äßen begannen. Mir war die Warnung, welche sie erhalten haben mußten, ganz unbegreiflich, und ich forschte lange vergeblich nach der Ursache derselben. Von uns konnten sie keine Witterung bekommen haben, denn wir lagen unter dem Winde; – woher war also der plötzliche Schrecken gekommen?

Endlich entdeckte ich die Ursache. Noch ein Jäger war in unser Gebiet eingedrungen, und ihm also verdankten wir die ärgerliche Störung. Ich bemerkte den zudringlichen Gesellen zuerst und hätte große Lust gehabt, ihm eine Kugel zuzusenden, wäre er nur näher gewesen. Allein er hielt sich zu seinem Glücke außer aller Schußweite und hockte ruhig hinter einem Steine, das Rudel mit derselben Spannung und Theilnahme betrachtend wie wir. Von uns schien er gar keine Ahnung zu haben; er jagte also ganz auf eigne Hand. Ich betrachtete ihn sehr aufmerksam und glaubte schon einen ebenbürtigen Gegner in ihm zu entdecken, mit welchem ich recht sehr gern einen ehrlichen und ehrenwerthen Strauß ausgefochten hätte, als mich eine Bewegung, welche er machte, über meinen Irrthum belehrte. Anstatt eines Bären, wie ich gehofft, hatte ich es nämlich blos mit einem Vielfraß zu thun. Das Thier war so groß, wie ich es früher nirgends gesehen hatte, und im Sitzen dem wehrhaftem Freund Petz täuschend ähnlich. Bei seiner ersten Bewegung aber konnte er nicht mehr verkannt werden. Sein Gang ist nämlich so ausgeprägt und merkwürdig, wie bei keinem andern mir bekannten Säugerthier. Der Vielfraß läuft mit sehr stark bogenförmigen Sätzen, einem Marder entfernt ähnlich, allein mit weit mehr gebogenem Rücken und in viel größeren Wölbungen; er schlägt beinahe lauter Purzelbäume. Dieser Gang, die dabei hervortretende Leibesgröße und die dicke, buschige Lunte waren Zeichen genug, um meinen Jagdgegner genau zu erkennen und zu würdigen. Ich würde den seltnen Vielfraß natürlich weit lieber erlegt haben, als ein Rennthier, hätte er es nur dazu kommen lassen. Noch ehe ich mich ihm auf anderthalb Büchsenschußweiten genähert hatte, mußte ihm eine Ahnung seiner unsicheren Lage gekommen sein; er verließ seine Warte plötzlich, trabte, trottelte oder kugelte dem Gebirge zu, fing unterwegs flugs einen Lemming, verspeiste ihn im Weiterlaufen, sah sich noch einmal nach mir und wahrscheinlich betrübt nach den Rennthieren um und verschwand im Geklüft des Bergrückens.

Die Rennthiere schienen sich inzwischen wieder beruhigt zu haben. Sie äßten sich wie zuvor. Wir krochen mit äußerster Vorsicht weiter, einige Male auch durch Wasserpfützen hindurch, weil wir nicht ausweichen konnten. Noch hatten wir etwa zweihundert Ellen zurückzulegen. Da wurde das Leitthier von Neuem unruhig – und dahin stob wieder das ganze Rudel. Ein anderweitiger Versuch, uns zu nähern, endigte wie dieser. Die Mulde war gar zu flach und bot nirgends irgend welche Deckung. Das vorsichtige Wild hatte uns zwar bemerkt, glücklicherweise aber nicht erkannt und glaubte sich geborgen, wenn es einige hundert Schritte weiter gezogen war. Ich fragte Erik, ob es nicht möglich sein sollte, die Rennthiere mir zuzutreiben; er aber verneinte diese Frage so bestimmt, daß ich aus meiner Ansicht nicht weiter beharren mochte. Nach längerer Berathschlagung schien es uns Beiden am gerathensten anzustehen oder vielmehr anzuliegen. Wir wählten also zwei Stellen, welche wir für passend hielten, und deckten uns hier hinter Steinen so gut als möglich. Drei, sage drei Stunden lagen wir nun auf derselben Stelle, fast ohne uns zu rühren. Alle Glieder wurden steif, und die Lage auf dem feuchten Moose wurde zuletzt äußerst unbehaglich. Es war eine wirkliche Qual, das Wild fortwährend in größter Nähe vor sich zu sehen, ohne ihm beikommen zu können. Ein Stück um das andere that sich nieder. Die alten Thiere spielten mit den Kälbern; einige äßten sich, zogen hin und her, sicherten von Zeit zu Zeit und bewegten sich gelassen weiter, immer auf derselben Stelle. Aber wir hielten aus, bis Leben und Bewegung in die Thiere kam. Langsam aber stetig zogen sie auf uns zu, leider mehr nach Erik’s als nach meinem Anstand hin; zuweilen bemächtigte sich das Jagdfieber meiner und schüttelte die Büchse hin und her, wenn ich versuchsweise anschlug. Jetzt brauchten [91] die Thiere mir blos noch hundert Schritte näher zu kommen, – da krachte Erik’s Büchse. Das Rudel schreckte, zog ängstlich hin und her, sicherte und wurde endlich flüchtig. Ein Stück lahmte und trennte sich von den andern. Es war stark aber nicht tödtlich verwundet und suchte so gut als möglich zu entrinnen. Zu meiner Freude kam es dabei mir gerecht; ich schoß und sah es im Feuer Zusammenstürzen. Auf diesen zweiten Knall zog das flüchtige Rudel quer durch Sumpf und Moor dem höheren Gebirge zu und war alsbald unseren Blicken entschwunden.

Jetzt sprangen wir freudig empor und reckten und dehnten die gleichsam gelähmten Glieder; dann eilten wir nach der erlegten Beute hin. Erik’s Kugel hatte den Vorderlauf zerschlagen; die meinige war genau auf das Blatt gekommen. Wir weideten das Wild aus, schnitten uns den Vorderlauf ab, wühlten in der Halde eine Grube aus, legten das Thier in dieselbe und deckten es sorgfältig mit Steinen zu, um unseren früheren Mitjäger nicht zu versuchen. Nun nahmen wir einen kräftigen Imbiß ein und traten hierauf unseren Rückweg an. Nach fast vierstündiger Wanderung erreichten wir todtmüde Fogstuen.

Am andern Morgen zog Erik mit einem Pferde aus, um die Jagdbeute heimzuschaffen. Er sah das Kalb des Altthieres auf dem Sterbefelde seiner Mutter, von dem übrigen Rudel aber keine Spur mehr.

Ich war noch am folgenden Tage gliedersteif, gleichwohl aber zog es mich wieder in die Berge. Deshalb gingen wir gegen Abend von Neuem auf die so anziehende Jagd. Drei Tage lang mühten wir uns ohne Erfolg; allein nur das Regenwetter, welches eintrat, konnte uns zurücktreiben. Wir durchwanderten viele Meilen und drangen bis in das innerste Gebirge vor. Dabei sahen wir über hundert Rennthiere in verschiedenen Rudeln, und ich konnte so ganz nach Wunsch beobachten. Aber ich denke, daß es besser sein wird, wenn ich das Ergebniß meiner Erfahrungen erst später, bei Gelegenheit der Beschreibung des Rennthieres, berichte.