Eine Schlangenprozession

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Textdaten
Autor: Walther Kabel
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Titel: Eine Schlangenprozession
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aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1914, Vierter Band, Seite 224–226
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart, Berlin, Leipzig
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[224] Eine Schlangenprozession. – Cocullo ist ein kleines, in den Abruzzen gelegenes Bergstädtchen. Dort begeht man alljährlich am 4. August zu Ehren des heiligen Dominikus von Foligno eine in ihrer Art wohl einzig dastehende kirchliche Feier. Nach einer Legende verlieh der genannte Heilige dem Orte die besondere Gnade, daß jeder, der von einem tollen Hunde oder [225] einer giftigen Schlange gebissen war und dann schnell nach dem kleinen Kirchlein von Cocullo wallfahrtete, sofort geheilt wurde. In dankbarer Erinnerung an diesen Gnadenbeweis wird noch heute die Schlangenprozession veranstaltet.

In den Abruzzen gibt es außer einigen ungiftigen Schlangen auch zwei unserer heimischen Kreuzotter verwandte Arten, die infolge der Gefährlichkeit ihres Bisses überaus gefürchtet sind und wegen ihres häufigen Vorkommens geradezu eine Landplage bilden. In der zweiten Hälfte des Juli stellen die jungen Leute von Cocullo diesen giftigen Reptilien mit größtem Eifer nach, um möglichst viele lebend einzufangen. Immer zu zweien durchstreifen sie die Schluchten der Berge. Sobald irgendwo eine Otter entdeckt ist, hindert der eine sie am Entschlüpfen, während der andere sie mit einem an der Spitze gegabelten Stock fest an den Boden zu klemmen versucht. Ist dies geglückt, so drückt der erste mit einem ebensolchen Stock dem Reptil den Kopf nieder und hält ihm gleichzeitig seinen Filzhut dicht vor den Rachen. Wütend schnappt das gefangene Tier nach der Krempe. Kaum hat die Otter aber ihre Zähne in den dicken, festen Stoff eingehauen, so reißt der Schlangenfänger den Hut mit kurzem Ruck zurück und bricht ihr dabei die nach hinten gekrümmten Giftzähne aus. Gelingt das nicht beim ersten Male, so wird das Experiment wiederholt. Die Schlange ist nun unschädlich gemacht und wandert zu den übrigen in einen ledernen Sack.

Auf diese Weise fangen manche Burschen bis zu einem halben Dutzend Ottern an einem Tage. Die Schlangen werden dann in einen Behälter getan und bis zum Prozessionstage aufbewahrt. Ältere Leute aus Cocullo und dessen Umgegend, die nicht mehr imstande sind, selbst auf die Schlangenjagd zu gehen, kaufen sich einige Ottern, um an dem Feste der Sitte gemäß teilnehmen zu können. Die jungen Mädchen wieder lassen sich von ihren Verehrern diese gesuchte Ware schenken, und es gilt unter den Schönen des Bergstädtchens als ein Zeichen besonderer Beliebtheit, wenn man recht viele der züngelnden Reptilien besitzt.

Bei der Prozession, die sich von der Kirche zunächst durch [226] die Straßen der Stadt bewegt und dann zu dem alten Gotteshause zurückkehrt, trägt jeder Teilnehmer dem Heiligen zu Ehren eine Schlange. Ist der Zug wieder in die Kirche gelangt, vor deren rechtem Seitenaltar die Statue des heiligen Dominikus in einer springbrunnenartigen Vertiefung steht, so werden die Ottern in diesen steinernen Behälter gelegt, oder man hängt sie an die Statue des Heiligen, der dann mit den sich hin und her ringelnden Reptilien bald über und über bedeckt ist. Hierauf spricht der Priester den Segen über die versammelte Gemeinde. Damit ist die seltsame Feier beendet. Die Schlangen werden getötet und vielfach in getrocknetem Zustande als Schutzmittel gegen Blitzschlag und anderes Unheil an den Gebäuden angenagelt.

Daß dieser eigenartige Brauch auch seine praktische Seite hat, ist leicht einzusehen. Denn nach dem Tage der Schlangenprozession dürfte es schwer halten, in der Nähe von Cocullo irgendwo noch ein giftiges Reptil zu finden. Die Gegend ist von ihnen für den Rest des Jahres gründlich gesäubert.

W. K.