Eine andere Stätte, von wo Licht ausging

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Autor: Hermann Richter
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Titel: Eine andere Stätte, von wo Licht ausging
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aus: Die Gartenlaube, Heft 20, S. 314–318
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Das mutmaßliche Geburtshaus von Kolumbus
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[314]
Eine andere Stätte, von wo Licht ausging.
Von Prof. Richter in Dresden.

Eine Stätte, von wo Licht ausging, habe ich unsern freundlichen Lesern vor Kurzem vorgeführt (Gartenlaube 1863. Nr. 47. 48.). Diese Benennung gebührt in noch weit höherem Maße derjenigen Stätte, an welche ich Sie heute, wenigstens in der Einbildung, führen will. Bevor wir jedoch deren Bedeutsamkeit besprechen, will ich erst erzählen, wie es zuging, daß ich dieselbe entdeckte.

Es war am 14. August 1855 Nachmittags, als wir, Freund Jaksch und ich, in offenem Einspännerchen aus der stolzen Hafenstadt Genua gen Westen rollten, um auf die genußreichste Art jene wundervolle Straße längs der Ufer des mittelländischen Meeres am Fuße der Seealpen hin zu bereisen, welche dem Baugenie Napoleon’s alle Ehre macht und zugleich mit Recht als einer der reizendsten Striche der ganzen Erde, als das „goldne Ufer“ Oberitaliens berühmt ist. Ueber Voltri und Arenza waren wir in ein Oertchen Namens Cogoletto gelangt. Hier hielt unser Kutscher plötzlich auf der Straße still, sprang mit italienischer Ungenirtheit vom Bocke, indem er uns in ein paar Worten andeutete, daß er hier etwas zu thun habe, – und verschwand, uns und das Pferd auf dem Pflaster stehen lassend. In dieser Lage fiel uns an der nächsten Ecke ein Kaffeehausschild in die Augen. Wir gingen dahin, bestellten bei der Wirthin einen „Cafè nero“ (schwarzen Kaffee) und begaben uns dann, ohne in die rußige niedrige Stube einzutreten, durch den Thorweg (s. das Bild) hinunter an das Meer, dessen klare blaue Wellen wir hinter dem Häuschen am Strande plätschern hörten. Von dieser Seite aus sah das Gebäude freilich noch dürftiger aus, als von der Vorderseite, welche ich dem Leser durch die gütige Vermittelung unseres Landsmannes, des Malers und Photographen Herrn Alfred Noack in Genua, hier im Holzschnitt zeige. Eine Holzgallerie mit einem Hüttchen daran, behangen mit alter Wäsche, darunter ein großer Misthaufen und ein kleines Gärtchen mit ein paar Büschen, – letzteres durch eine niedrige Steinmauer von dem flachen Strande getrennt, welcher, nur ein paar Schritte breit, die heranwandernden Schaumlinien des Meeres in Empfang nahm. Aber die Aussicht von da ist reizend und erhaben! Der ganze Golf von Savona, Genua und Spezzia, eingefaßt von lachenden Städten, Dörfern und Landhäusern, im Hintergrund durch die zackige Alpenkette geschlossen, und jede Woge im Glanz der Nachmittagssonne flinkernd!

Durch das Haus in die düstre Wirthsstube zurückgekehrt, fanden wir einen Kaffee, der dem Namen Nero nur zu sehr Ehre machte, mag man dabei an den Römertyrannen oder an den Kettenhund denken: eine trübe schwarze Brühe. Aber die Wirthin beeiferte sich, diesen Mangel durch ihre von uns nur halb verstandene Unterhaltung in Genueser Italienisch zu ersetzen. Sie erzählte uns in der Kürze ihre ganze Familiengeschichte, wie ihr Schwiegersohn gegen die Oesterreicher gefochten und nach Amerika habe flüchten müssen, ihr die Tochter und die Kinderchen zur Versorgung zurücklassend. Dann sprang sie plötzlich auf ein andres Thema über und betonte wiederholt „la casa di Colombo.“ Wir begriffen nicht, was die Alte wollte. Aber der eben eintretende Kutscher (der Brave hatte inzwischen für ein frischeres und besseres Pferd gesorgt) machte dem Mißverständniß ein Ende, indem er mit den Worten „si, si, questa é la casa di Colombo“ („ja, ja, dies ist das Haus des Columbus“) uns einlud, ihm auf die Straße hinaus zu folgen, wo wir auf zwei über der Thür angebrachten [315] Marmortafeln, einer älteren vom Jahre 1650 und einer neueren von 1826, die amtliche Versicherung lasen, daß hier das Geburtshaus des großen Entdeckers von Amerika stehe.[1]

Nun erwarte ich freilich, daß die Kritiker über mich herfallen und erklären werden, daß Columbus’ Geburtsstätte nicht geschichtlich nachzuweisen stehe, daß sich um diese Ehre so viel Orte streiten, wie um Homer’s Geburtsstadt, daß insbesondere Genua selbst darauf Anspruch mache, indem sich der große Admiral selbst immer nur einen gebornen Genueser genannt hat, sodann Piacenza, Cuccaro, Finale, Oneglia, Savona und Boggiasco. Was Alles ausführlich zu lesen ist in Washington Irving’s berühmter Geschichte des Lebens und der Reisen des Christoph Columbus (im fünften Anhang des letzten, 4., Bandes). Hierauf erwidere ich, daß Columbus gewiß mit Recht, auf seine freistaatliche Abstammung stolz, sich einen Genueser genannt haben wird, weshalb er nicht in der Hauptstadt selbst, sondern nur im Staate Genua geboren zu sein brauchte. Vor Allem aber bestimmt mich der Umstand, daß keine andere Stadt uns so wie Cogoletto einen bestimmten, sicht- und greifbaren Punkt als Columbus’ Geburtshütte aufweist und daß kein Platz der Welt geeigneter war, die Wiege und Jugendzeit des Mannes aufzunehmen, dessen Ahnungen und Combinationen über tausend Meilen hinüber eine neue Welt finden sollten. Ich kann mir recht gut vorstellen, wie der phantasiereiche Knabe in diesem Fleckchen, zwischen Meer und Gebirge eingeklemmt, jenseits des Ersteren unbekannte südliche Welten, jenseits der Letzteren wunderbare nordische Länder geahnt und geträumt haben mag; wie er, in den das Gärtchen bespritzenden Meereswogen herumwatend, schwimmend und kahnend, frühzeitig jene Vertrautheit mit dem salzigen Elemente erworben haben mag, welche ihn später zu einer noch heute ungewöhnlichen Kühnheit im Befahren des unendlichen Oceans sowohl als der gefährlichsten Korallenriffe und Inselklippen des westindischen Meerbusens befähigte? Denn man darf nicht übersehen, daß diese vermessene und dabei doch umsichtvolle Kühnheit, dieses innige Vertrautsein mit dem Seeleben und seinen Gefahren eine der ersten Vorbedingungen war, welche ein Mann besitzen mußte, der mit Vorbedacht und Entschluß darauf ausging, die unbekannte Hälfte des Erdballs zu umschiffen.

Hinweg also mit den Zweifeln! Sei’s hier oder in der Nähe, wir stehen auf einer Stätte, würdig zur Erinnerungsfeier an denjenigen Mann, dem die europäische Menschheit mehr vielleicht als manchem Anderen ihre Erlösung aus schauderhafter Verdummung und ihren Uebergang zu einem System ununterbrochenen geistigen Fortschreitens auf der Bahn thatsächlichen Forschens und kühner Entdeckungen verdankt. Diese Bedeutung des Columbus klar zu machen, ist der Zweck unseres heutigen Artikels.

Die Geschichte des Columbus und seiner Reisen ist wohl den meisten unserer Leser aus Campe’s vielgelesener Kinderschrift oder aus dem erwähnten classischen Werke W. Irving’s bekannt genug. Für unsern Zweck genügt es, an folgende Umstände zu erinnern. Columbus widmete sich frühzeitig mathematisch-geographischen und andern dem Seefahrer nöthigen Studien und war von Jugend an Seefahrten gewöhnt. An der Seite zweier, ebenfalls als Schiffsbefehlshaber berühmter Verwandter nahm er schon als junger Mann an den für jene Zeit sehr kühnen und großartigen Entdeckungsreisen Theil, welche von den Portugiesen längs der westafrikanischen Küste nach den canarischen Inseln und dem grünen Vorgebirge hin ausgedehnt wurden. Er reiste aber auch nach Norden, bis nach Island und hatte demnach den längsten Strich der damals bekannten Welt, ziemlich 50 Breitengrade, also etwa den 7. Theil des Erdumfanges beschifft. Theils auf diesen Reisen, theils bei seinem Aufenthalt in Portugal, wo er sich verheirathet und niedergelassen hatte, aus den Nachrichten zahlreicher anderer Seefahrer und Erdkundiger, sammelte er jene Summe von Thatsachen, aus denen sich in immer steigender Gewißheit die Schlußfolgerung ergab, daß im Westen von Europa ein großes Festland liegen müsse, von welchem her die Wellen nicht selten Baumstämme, tropische Früchte, menschliche Schnitzwerke und sogar die Leichen einer neuen Menschenrace an die Küsten der westeuropäischen Länder anschwemmen.

Die Art und Weise, wie Columbus diese Thatsachen sammelte, bewahrheitete, zusammenstellte und zu haltbaren Schlußfolgerungen verwendete, entspricht ganz der Art, wie es die Naturforscher heutzutage beim Aufsuchen neuer Wahrheiten machen, dem sogen. Inductionsverfahren. Daher kam aber auch jene Macht der Ueberzeugung, welche unsern Columbus veranlaßte, in jedem Mißgeschick und unter unaufhörlichem Kampf mit unverständigen oder flachen Menschen sein Project 18 Jahre lang festzuhalten und von einer Regierung zur andern zu wandern, um zur Ausführung desselben ein paar elende Schiffe und eine verhältnißmäßig unbedeutende Summe – welcher er sein gesammtes eigenes Vermögen zulegen mußte – bewilligt zu erhalten. Es ist bekannt, daß ihm hierzu schließlich mehr das Vertrauen der Königin Isabella verholfen hat, welche mit weiblichem Takt den ehrlichen Mann in Columbus erkannte und ihm zeitlebens eine treue Beschützerin blieb, als die Intelligenz der Gelehrten und Staatsmänner, denen sein Plan und dessen Gründe zur Prüfung vorgelegt wurden. Im Gegentheil! Die noch erhaltenen Verhandlungen dieses zu Salamanca im Dominikanerkloster St. Stephan von Professoren der Astronomie, Geographie, Mathematik und anderer Wissenschaften, so wie von verschiedenen kirchlichen Würdenträgern und gelehrten Mönchen abgehaltenen Rathes beweisen nur allzukläglich, bis zu welchem Grad der Verdüsterung und Verkehrtheit die Köpfe in jener Zeit „durch mönchischen Aberglauben und Falschwisserei“ gerathen waren.

Die echte Gelehrsamkeit hatte in Spanien bisher so wenig Fortschritte gemacht, daß diese vermeintlichen Weltweisen nicht einmal die ersten Gründe begriffen, worauf Columbus seine Muthmaßungen und Hoffnungen stützte. Gleich an der Schwelle der Untersuchung wurde Columbus statt geographischer Einwürfe mit Stellen aus der Bibel und mit den darauf bezüglichen Auslegungen der Commentatoren und Kirchenväter angegriffen. Mathematische Beweise wurden aus der Kirchenlehre widerlegt. Dem einfachen Satze, daß die Erde eine Kugel ist, wurden die bildlichen Ausdrücke der Bibel entgegengehalten, wonach der Himmel mit einem ausgespannten Teller (in den Psalmen) oder einem Zelte (bei Paulus) verglichen wird. Daß es Gegenfüßler (Antipoden) gebe, ward mit Lactantius für absurd erklärt. Einige behaupteten, der Umfang der Erde sei so groß, daß eine solche Seefahrt drei Jahre dauern müßte. (Columbus rechnete nur 7–800 Seemeilen.) Andere behaupteten, daß ein Schiff, wenn es dorthin gefahren sei, wegen der Kugelgestalt der Erde nicht wieder zurückkommen könne, weil es dann bergauf segeln müsse! (Als ob dies nicht auch von der Hinfahrt gelten müßte!) Noch Andere behaupteten, daß es unterm Aequalor so heiß sei, daß Alles verbrennen müsse. Und doch waren die Portugiesen damals schon seit Jahren in den Aequatorländern herumgeschifft, und Columbus mit ihnen!

Die Mehrzahl zeigte sich schon im Voraus gegen dieses Project eines unbekannten Abenteurers eingenommen. Sie sagten, es sei Vermessenheit, wenn Jemand klüger sein wolle, als alle gelehrten Leute vor ihm. Wenn es wirklich solche Länder gäbe, so würden sie durch den Scharfsinn früherer Jahrhunderte schon längst entdeckt worden sein. Es sei eine starke Anmaßung von solch einem gemeinen Mann, gegenüber von Männern in hohen Aemtern und Würden zu glauben, daß ihm große neue Entdeckungen vorbehalten seien.

Und doch, lieber Leser, dürfen wir uns beim Vernehmen dieses Unsinns, welchem nur das Eine entgegenzuhalten war: „Versucht es doch, anstatt darüber zu disputiren!“ wir dürfen uns wahrlich nicht zu sehr unserer heutigen Weisheit rühmen. Noch vor dreißig Jahren sind gegen den Entwurf der ersten größern deutschen Eisenbahn, der von Leipzig nach Dresden, nicht minder lächerliche Bedenken und Vorausurtheile vorgebracht worden, wie beim hohen Rath zu Salamanca, etwa die Bibelsprüche und Kirchenvater abgerechnet. Denn der mittelalterliche Geist der Autoritätsgläubigkeit und Vorauswisserei ist heutzutage noch lange nicht vollständig aus den Köpfen der Leute verschwunden. Noch heute giebt es Länder, [316] wo man einem neuen Erfinder mit demselben Apparat von Klügeleien und Düfteleien (Sophismen) entgegentritt. Noch leben Männer, denen man es seiner Zeit zum Verbrechen angerechnet hat, daß sie neue Bahnen suchten und die Aussprüche ihrer ehrwürdigen Lehrer nicht als entscheidend anerkennen wollten, oder denen man Stillschweigen geboten, weil sie hergebrachten wissenschaftlichen Ansichten, die von oben her beschützt wurden, zu widersprechen wagten.

Dieser mittelalterliche Geist war nun aber zu Columbus’ Zeit gerade mächtiger als je. Soeben waren die Araber, die letzten Träger der Wissenschaft, welche theils altgriechische Kenntnisse fortgepflanzt, theils selbständige Forschungen, besonders auf naturwissenschaftlichem Felde, gepflegt hatten, aus Europa vertrieben, unterjocht und zersplittert worden. Die Inquisition bereitete sich vor, ein Paar Jahrhunderte lang den Glaubenssieg durch fanatische Menschenquälerei zu feiern. Staat und Kirche waren fest verbunden, jede ketzerische Abweichung von den obrigkeitlich oder kirchlich befohlenen Gedankengängen zu unterdrücken und bitter zu bestrafen. Ein schwerer Druck, ein dicker Nebel lastete auf allen denjenigen Geistesanlagen des Menschengeschlechtes, durch welche wir befähigt werden, vorwärts, aufwärts, dem Göttlichen zu, uns zu entwickeln. Und sie drohten, immer schwerer, immer dicker zu werden. Es läßt sich nicht denken, wie dies von selbst im Laufe der Dinge hätte besser werden sollen. Durch Erörterungen allein wird die Masse nicht frei; sie begreift erst Thatsachen. Allerdings war damals die Buchdruckerkunst schon erfunden; sie machte es möglich, daß vieles ehedem Verborgene zur allgemeinen Kenntniß gelangte. Aber die Buchdruckerpresse ist leicht zu unterdrücken, wie wir noch heutzutage merken; sie wäre in jenen Zeiten noch leichter und vielleicht für immer zum Schweigen zu bringen gewesen, wenn die verbündeten politischen und kirchlichen Machthaber des gesammten Europa’s ernstlich gewollt hätten. Und wo nicht, so blieb es immer noch möglich, wie heutzutage, sie in ausgedehntem Maße zur Verdunkelung der Menschengeister zu benutzen. Noch heutzutage ist die Masse der Schriften, welche die Köpfe verdummen und die Denkkräfte verweichlichen, wie manche Romane es thun, überwiegend größer, als die Zahl der wahrhaft aufklärenden und die geistige Spannkraft erhöhenden. Zudem ist die Zahl der Lesenden immer eine geringe und war dazumal verschwindend klein. Die große Mehrzahl des Volkes lebte in bodenloser Unwissenheit und Abergläubigkeit, zwischen knechtischer Arbeit und rohem Sinnesgenuß getheilt. Seine Weisheit und Frömmigkeit bestand in auswendig gelerntem Wortkram, hirnverwirrenden Glaubenssätzen und kindischer Furcht vor Geistern und Höllenmächten, womit sie von ihren klerikalen Zwingherren geängstigt wurden. Zauberglaube, Hexenverfolgung und Ketzervertilgung waren an der Tagesordnung; letztere gehörten zu den öffentlichen Festlichkeiten. Vernunft und Natur, beide waren proscribirt, verpönt und gefürchtet zugleich.

Die höheren Stände waren ebenfalls großentheils aller eigentlichen Bildung fremd. Ihr Hauptinteresse war entweder Jagd- und Kriegeslust, welche den Menschen zum Raubthier herabziehen, oder Lied und Liebe, die der Mensch mit dem Finkengeschlecht gemeinsam hat. Aber von jenen Geisteskräften, welche den Menschen vom Thiere unterscheiden und zu der stolzen Hoffnung berechtigen, daß mit dem Menschengeschlecht eine neue zukünftige Reihe vollkommnerer Geschöpfe beginne – von diesen höheren Geistesfähigkeiten wurde keine für würdig gehalten. Die Gelehrten endlich, aller Ursprünglichkeit und Schöpferkraft bar, klammerten sich an die überlieferten Sätze längst verstorbener Schriftsteller und an die von der Kirche amtlich vorgeschriebenen Glaubenslehren. Auslegung (Commentiren) und Zergliederung solcher alter Sätze galt für Gelehrsamkeit, Spitzfindigkeit und Wortklauberei für Scharfsinn, Schulweisheit (Scholastik) für Kenntniß. Man bildete sich ein, Etwas zu wissen, wenn man nacherzählte, was die Leute vor Jahrhunderten zu wissen gemeint hatten. Selbstständig zu untersuchen, ob solche Autoritäten Recht hatten, ob der Kern der Sache wahr oder unwahr sei, kühn in die noch unbekannten Thatsachen hineinzugreifen, um ein paar neue Wahrheiten zu erhaschen: das wagte Niemand, das wäre Vermessenheit gewesen. Die oben berichtete Geschichte des Rathes zu Salamanca, wo schließlich die unstudirten Dominikaner noch am meisten für die Sache des gesunden Menschenverstandes, d. h. des Columbus, Partei nahmen, giebt uns ein deutliches Bild, wie es in den Köpfen jener Gelehrten aussah.

In diese Finsterniß nun fiel zuerst ein erleuchtender Morgensonnenstrahl durch die oben erwähnten Entdeckungsreisen der Portugiesen längs der Westküste von Afrika, die Entdeckung der Canarien, Madeira’s, Teneriffa’s und des grünen Vorgebirges. „Das Gerücht von diesen Seereisen verbreitete sich bald in ganz Europa. Die Menschen, welche lange Zeit gewohnt waren, die Wirksamkeit und Kenntniß des menschlichen Geistes in ihren bisherigen Kreis einzuschränken, erstaunten, als sie den Kreis der Schifffahrt so plötzlich erweitert und eine Aussicht eröffnet sahen auf Reisen in Weltgegenden, von deren Dasein man in den vorausgegangenen Zeiten nichts gewußt hatte. Die Gelehrten und Denker machten Schlüsse und Theorien über diese unerwarteten Entdeckungen. Das Volk staunte. Muthige Abenteurer eilten aus allen Ländern Europa’s herbei, ihre Dienste anzubieten,“ schreibt Robertson in seiner Geschichte von Amerika.

Eine kleine naturwissenschaftliche Entdeckung gab diesem neuen Triebe das Mittel zum Hinausschweifen in den Ocean. Dies war die Entdeckung der Eigenschaft des freischwebenden Magnetes, sich mit der Axe quer gegen den Erdumlauf, also mit den beiden Spitzen gegen beide Pole zu stellen, die Erfindung der Magnetnadel, welche sich rasch unter den Schifffahrern verbreitete. Erst diese machte es möglich, bei Nacht und Nebel in’s weite Meer hineinzusteuern, während bis dahin die Schiffer sich immer ängstlich am Lande hin drücken mußten, um nicht bei fehlendem Stern- und Sonnenschein Gefahr zu laufen, alle Richtung zu verlieren und die Hoffnung auf Heimkehr einzubüßen. Jetzt vertraute man sich kühn, und die Columbusse unter den Kühnsten, dieser zitternden stählernen Wegweiserin an, und sie war es denn auch, welche unsern Helden – nicht ohne einige Schelmereien der Abweichung vom richtigen Pol – glücklich in das gelobte Land brachte.

Die Art und Weise, wie Columbus diese kühne Erstlingsweltreise ausgeführt hat, ist mustergültig für jeden Entdecker in jeder Wissenschaft. Er maß Alles am Himmel und in den Tiefen; er hielt genaue Rechnung über jede zurückgelegte Seemeile (sogar doppelt, eine echte für sich und eine verminderte für sein zaghaftes Schiffsvolk); er beobachtete alle sich darbietenden Erscheinungen in der todten und lebenden Natur und schrieb die Beobachtungen sofort mit der Farbe des frischen Eindruckes in seine Tagebücher nieder.

Er controlirte scharf alle neu dargebotenen Thatsachen, z. B. die heranschwimmenden Pflanzen, die auf das Schiff flatternden oder vorbeiziehenden Vögel, um zu prüfen, in wie weit sie das Vorhandensein eines westlichen Festlandes bestätigten, das heißt die Summe der beweisenden Umstände für einen solchen Inductionsschluß vermehrten. Und so wurde am 11. Octbr. 1492 diese wundervolle neue Welt entdeckt; nicht durch den blinden Zufall, nicht durch die Laune eines Wagehalses, sondern durch die langjährige Arbeit eines Forschers, welcher von richtigem Grundsätzen ausgehend die Thatsachen reden lehrte und an dem, was sie ihm mitgetheilt, mit unerschütterlicher Festigkeit und Folgerichtigkeit festhielt, bis er seine Aufgabe gelöst hatte. Freilich, „die Ausführbarkeit einer solchen Fahrt war eines jener natürlichen Geheimnisse, welche in der bloßen Speculation für unausführbar gelten, aber, einmal ausgeführt, die allereinfachsten Dinge von der Welt sind.“ Columbus war sich dessen recht wohl bewußt, wie die bekannte Geschichte vom Ei beweist. Denn als einige Zeit nachher ein naseweiser Höfling meinte: „wenn Columbus nicht gewesen wäre, würde wohl ein Anderer die neue Welt gefunden haben!“ – da forderte Columbus ihn und die übrige Gesellschaft auf, ein Ei auf die Spitze zu stellen, so daß es stehen bleibe. Und als dies keiner vermochte, löste er die Aufgabe durch Zerklopfen der Schale. „Nichts leichter als das!“

Die nächste Wirkung von Columbus’ Entdeckungen war Bewunderung und Entzücken in der ganzen civilisirten Welt. Jedermann betrachtete es als ein Ereigniß, bei welchem er selbst mehr oder minder betheiligt sei und welches ein neues schrankenloses Feld der Untersuchung und des Erwerbes eröffne. Pomponius Lätus, ein Gelehrter jener Zeit, schreibt von sich, er sei vor Entzücken in die Höhe gesprungen und habe Freudenthränen geweint. Peter Martyr, ein anderer Gelehrter, schrieb, er fühle eine wahre Glückseligkeit des Geistes, sich mit den zurückgekehrten Entdeckern zu unterhalten. Es sei ihm zu Muthe, wie einem Armen, dem sich reiche Schatzkammern öffnen. Die Seele fühle sich erhoben, wenn sie solche glorreiche Erfolge betrachte. „Alles, was man bisher für groß und glänzend gehalten hatte, verschwand und verdunkelte [317] sich beim Vergleich mit so wunderbaren und unerwarteten Begebenheiten. Die Aussichten erweiterten sich, und erweckten den menschlichen Geist zu größerer Thätigkeit. Er strebte den Gegenständen, die sich ihm vorhielten, eifrig nach und spannte seine wirksamen Kräfte an, um eine neue Laufbahn zu betreten.“

Zunächst waren es natürlicherweise die Habgier und Herrschsucht, dann Bigotterie und Bekehrungseifer, welche durch die Entdeckung jener neuen, goldreichen und von schwächlichen Indianerstämmen bewohnten Länder geweckt wurden. Diese niedrigen Motive hatten aber, wie es so oft in der Weltgeschichte ergeht, höhere, geistige Errungenschaften zur Folge. Der alte Autoritätsglaube, der Beherrscher des Mittelalters, stürzte zusammen, und zwar durch die Macht des wirklich Erlebten, welche überall sicherer und durchgreifender auf die Massen wirkt, als Belehren und Zureden. Diese Aufklärung war durch keine Macht des Herrscher- und Priesterthums mehr zu unterdrücken. Die Leute erstaunten über ihre bisherige Unwissenheit; sie lernten deren Quellen mißachten; sie begannen sich auf ihre eigenen Sinne und ihren gesunden Menschenverstand mehr als auf fremde Zureden zu verlassen; sie erwarben den Muth, selbständig auf der Entdeckungsbahn vorwärts zu gehen, neue Thatsachen aufzusuchen und Untersuchungen über die Gültigkeit alles bisher Geglaubten zu unternehmen.

Diese dem 15. Jahrhundert und seinen Entdeckungen entstammende Geistesrichtung fand ihren wissenschaftlichen Ausdruck in dem philosophischen System des berühmten englischen Staatsmannes Baco von Verulam, der von 1561 bis 1626 lebte. Baco lehrte die Menschen, sich von Vorurtheil und Autoritätsglauben gründlich frei zu machen. Er zeigte, daß die bisherigen Philosophien hauptsächlich auf Hirngespinsten beruhten, die der Mensch in sich bildete und an die Stelle realen Wissens setzte. Er lehrte, wie man der Einbildungskraft Zaum und Zügel anlegen müsse und statt dessen an der Hand nüchterner Beobachtung zu Erfahrungen, an der Hand unausgesetzter Versuche zu Entdeckungen gelangen könne. Er gab sorgfältig die Verfahrungsweisen und Vorsichtsmaßregeln an, welche man befolgen muß, um nicht in Irrthümer zu verfallen, sondern wirklich haltbare Wahrheiten zu finden. Fortan sollte jeder Forscher, in jedem Gebiete des menschlichen Wissens, ein Entdecker, ein Columbus in seinem Fache werden. Nur auf diesem Wege ist es möglich, daß das Menschengeschlecht wirkliches Wissen und geistige Fortschritte erziele.

Columbus’ Geburtshaus in Cogoletto.

Diese Philosophie, welche am kürzesten mit dem deutschen Sprüchwort: „probiren geht über studiren!“ bezeichnet werden kann, ist nach und nach die herrschende unserer Zeit geworden, zuerst in den Naturwissenschaften, dann in der Heilkunst, endlich auch in den die Natur des Menschen und dessen sociales Treiben behandelnden Wissenszweigen, wo sie, wie z. B. in der Volkswirthschaft, als statistische und numerische Methode bekannt ist. Ueberall setzt sie in diesen Wissenschaften an die Stelle des früheren aus dem Gehirn der Gelehrten herausgesponnenen Wissens die nackten Thatsachen und das, was die Thatsachen bei richtiger Behandlung von selbst aussprechen. Sie setzt den Fortschritt darein, neue Thatsachen aufzusuchen, die alten zu beglaubigen, beide zusammenzustellen und zu zwingen, daß sie neue Wahrheiten oder doch Wahrscheinlichkeiten kundgeben. Dieses gesammte, besonders von den neueren Naturwissenschaften durch eine Menge neuentdeckter Instrumente und Verfahrungsweisen geförderte System des wissenschaftlichen Fortschrittes hat seinen Ausgang von Baco’s Philosophie. Und ein Baco wäre nicht möglich gewesen ohne einen vorherigen Columbus. So feiere denn die neue Zeit jene Hütte als eine Stätte, von wo Licht ausging!

Daneben dürfen wir nicht gering anschlagen die Unsumme neuer Thatsachen, welche mit und in Folge der Entdeckung Amerikas bis auf heute den Schatz des menschlichen Wissens vermehrt haben. Welche unerhörten Bereicherungen erhielten nicht die Naturwissenschaften, die Sternen- und Erdkunde, die physikalische Erdkunde vor allen (Columbus selbst entdeckte zuerst die Abweichung der Magnetnadel), die Gesteins-, Pflanzen- und Thierkunde, die Schifffahrtskunst; welche Bereicherungen der Verkehr mit edlen Metallen, Kostbarkeiten, Lebensmitteln (Cacao, Zucker etc.), Kleidungsstoffen (Baumwolle, Pelzwerk etc.); welchen Anstoß der Landbau in den verschiedensten Zonen (Zucker-, Mais-, Tabaks-Erzeugung etc.)! Vor allem aber wichtig wurde es, daß der neue Erdtheil eine Fluth der unternehmendsten und thatkräftigsten Persönlichkeiten aus Europa zu sich hinüber lockte, um dort nützlich zu schaffen oder als Saat einer reichen Zukunft zu Grunde zu gehen. Zunächst strömten allerdings hauptsächlich wilde Abenteurer hinüber, dann herrschsüchtige [318] Staats- und Kirchenbeamte; bald aber folgten auch friedliche Colonisten, Arbeiter und Kaufleute. Nicht lange, so wurde Amerika die Zuflucht aller, welche Freiheit suchten, zuerst in religiösen, dann in politischen Dingen. Und die Freiheit wurzelte dort drüben zeitiger als im alten Lande ein, und kam von dort als Rückfracht zurück. Bis heute hat jeder Schritt, den Amerika zu seiner Befreiung gethan, einen Rückschlag auf entsprechende Theile Europas ausgeübt: Nordamerika auf England, Frankreich, selbst Deutschland, Südamerika auf Spanien und Portugal. „Mit dem Bekanntwerden Amerikas beginnt wirklich eine neue Periode der Menschen-, Völker- und Staatengeschichte. Denn wie der enge Wohnkreis wurde auch der menschliche Gedankenkreis dadurch zu einer höheren Stufe der Ideenwelt erhoben. Nun erst wurde Gesammtentwicklung aller Kräfte und Anlagen des Menschengeschlechtes durch die vollständige Kenntniß seines ganzen Erziehungshauses, des Erdballs, möglich,“ so schreibt Carl Ritter in seiner allgemeinen Erdkunde.

Am merkwürdigsten aber ist es, daß der oben geschilderte Columbus’sche Geist in den Amerikanern, wenigstens in den Bürgern der Vereinigten Staaten Nordamerikas, vollständig verkörpert, zu Fleisch und Blut geworden ist. Dies ist der den echten Yankee überall kennzeichnende Grundsatz des „go ahead“, des Drauflosgehens. Wo der Europäer, und vor Allem der gute Deutsche, sich erst noch lange, lange bedenkt und das Für oder Wider einer Sache grübelnd abwägt: da hat sie der echte Amerikaner schon längst angepackt und in’s Werk gesetzt; denn Probiren geht ihm über Studiren, und Zeit gewonnen heißt ihm Geld gewonnen. Neue Erfindungen, halbreife Pläne, bloße Einfälle ergreift der echte Yankee mit einer Raschheit und führt sie mit einer Entschiedenheit aus, wobei einem ehrlichen Deutschen ganz schwindelig zu Muthe wird. So kommt es freilich zu vielen Fehlschlägen; aber „dabei lernt man was!“ So geschieht es aber auch andrerseits, daß keine Nation der Erde in gleich kurzer Zeit gleich viele große und schwierige Werke durchgeführt, gleich viele Erfindungen und Entdeckungen verwirklicht, gleich viele und bedeutende Verbesserungen in allen sachlichen und technischen Zweigen vollbracht hat, wie das energische und fortschrittstüchtige Volk der nordamerikanischen Freistaaten.

Und wenn dieses kühne Volk einst, hoffentlich bald, seine jetzige, mit derselben go-ahead-Manier ergriffene Aufgabe beendet haben wird, dem Sclavenhalterthnum ein Ende zu machen und den Schandfleck der Leibeigenschaft und Sclavenzüchterei von der Union abzuwaschen; wenn die Sterne Uncle Sam’s, wieder alle auf einem Banner vereinigt, stolzer als jetzt in die alte Welt herüber leuchten werden: dann möge sich Amerika desjenigen Mannes erinnern, dem es nicht nur seine Entdeckung, sondern auch seine Fortschritts principiell zu verdanken hat. Dann möge sich neben der bescheidenen Hütte zu Cogoletto ein Riesenthurm erheben, welcher, weithin über den Golf von Genua sichtbar, ein Sternenbanner flaggend, in alle Welt hinausrufe: „Hier ist das Haus des Columbus!“


  1. Für die Sprachkundigen unserer Leser setzen wir die Inschriften des Columbus-Häuschens her:

    Hospes, siste gradum: fuit hic lux prima Columbo,
    Orbo viro majori: heu, nimis arcta domus.

    („Wandrer, hemme Deinen Schritt: hier sah Colum das erste Licht,
    ein Mann, größer als der Erdkreis; – ach, ein enges Häuschen.“)
    Unus erat mundus; duo sunt, sit iste: fuere.
    („Es gab nur eine Welt. Zwei sind es, sprach Er: sie waren.“)
    Con generoso ardir, dell’ area all’ ondo
    Ubbidiento, il vol Colomba prento
    Corre, s’aggira terron scopre e fronde
    D’olivo in segno al gran Noë ne rende.
    L’imita in cio’ Colombo nè s’asconde
    E da sua patria il mar soleando fende.
    Terreno altin scoprendo diede fondo
    Offerendo all’ Ispano un nuovo mondo.