Eine bekannte und doch unbekannte Krankheit

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Autor: unbekannt
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Titel: Eine bekannte und doch unbekannte Krankheit
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27, S. 364
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[364] Eine bekannte und doch unbekannte Krankheit. Es giebt eine Krankheit, die zwar hauptsächlich im Gemüth liegt, aber den Körper ebenfalls oft bedeutend angreift, und vorzugsweise Männer von feinem Gefühl und bedeutender Geistesthätigkeit in den mittleren Jahren befällt. Wir haben im Grunde keinen Namen für sie, ja die Leser haben vielleicht die Sache, die ihnen sicherlich bekannt ist, noch nie als Krankheit bezeichnen hören. Wir möchten sie die Vierzig-Jahre-Krankheit nennen. Wenn nämlich der gebildete Mann durch unablässigen Mühen, Sorgen und Denken jene Hochebene des Lebens erreicht hat, wie man die gewonnene feste Stellung in Amt und Geschäft wohl nennen kann, verliert der Trieb und Drang, der ihn bis dahin vorwärts brachte, allmälig seine Gewalt. Man vergönnt sich gelegentlich Zeit, zu Athem zu kommen und sich umzuschauen – rückwärts nach dem steilen Pfade, den man emporgeklommen und auf die neue nach vorn sich ausbreitende gleichförmige Fläche. Da fragt das Herz oder der Geist gar oft: „Und das war Alles? Darum habe ich mich so lange und so anstrengend gemüht? Der staubige, gleichförmige Weg vor mir der alleinige Lohn für mein Streben? Der Haufen Geld oder Aktien das einzige Resultat aller Anstrengungen, aller Hoffnungen der Jugend?“ Weltschmerz und Lebensüberdruß, Verstimmung, Ungeduld und Unruhe erfüllen das Herz und wirken störend auf den Körper ein, die Welt erscheint farb- und reizlos, alle Illusionen schwinden und der gewählte Beruf erregt Ekel. Dann und wann trägt wohl auch die Frau die Schuld dieser trüben Stimmung, indem sie mit Nichtachtung aller Ideale, die dem feinfühlenden Manne in der Brust leben, nur die schaffende, ja leider oft nur die grollende und schmollende Hausfrau zeigt, und damit eine Welt der Illusionen zerstört, für deren Verwirklichung der Mann lange mit Liebe und großem Fleiße gearbeitet. Zertretene Hoffnungen und nicht erfüllte Erwartungen machen ihn endlich wortarm und mißtrauisch, er zieht sich in sich selbst zurück und erscheint lieblos, wo er so gern durch freundliche Sorgfalt, durch sanftes Anschmiegen der Frau sich die düstern Stirnfalten glätten ließ und wieder der frohe, heitere Gesell von ehedem würde. Mit jedem Tage wird sein Wesen gemüthskarger, zugeknöpfter – sein Glück ist trotz Geld und Ehren ein armes, nicht beneidenswerthes.

Die Engländer sagen von einem solchen Kranken, er habe den Spleen, und in diesem nehmen sich bekanntlich gar manche das Leben; wir Deutsche erklären ihn mit Spott für einen Hypochondristen, statt ihn aufzurichten und für seine Genesung besorgt zu sein. Diese, meinen Viele, sei nur möglich durch ein Herausreißen aus Geschäft, aus Heimath und allen gewohnten Verhältnissen etc., durch eine größere Reife, welche durch allerlei neue Erscheinungen erfrische und kräftige, über den todten Punkt, wie man bei Maschinen sagt, hinweghebe, dem Herzen die Zeit gebe, für die weitere Wendung des Lebens sich zu sammeln, mit neuen Zwecken und Ansichten einen frischen Anlauf zu nehmen, und sich damit eine zweite Jugend zu schaffen, die dann ungeschwächt aushalte bis an’s – Ende. Möglich, daß eine solche Kur heilsam wird, obwohl wir oft genug das Gegentheil erfahren, aber wir meinen, daß ein kräftiges Schaffen und milde Freundes- und Frauenhand das Herausreißen aus den gewohnten Verhältnissen überflüssig und den Kranken auch mitten in seinen bisherigen Kreisen gesund machen können. Das unbefriedigte Gemüth dürfte in den meisten Fällen der alleinige Grund der „Vierzig-Jahre-Krankheit“ sein.