Entstehung der Arten/Fünfzehntes Kapitel

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Vierzehntes Kapitel Entstehung der Arten (1860)
von Charles Darwin, übersetzt von Heinrich Georg Bronn

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Fünfzehntes Kapitel.


Schlusswort des Übersetzers.


Eindruck und Wesen des Buches. — Stellung des Übersetzers zu demselben. — Zusammenfassung der Theorie des Verfassers. — Einreden des Übersetzers. — Aussicht auf künftigen Erfolg.

     Und nun, lieber Leser, der Du mit Aufmerksamkeit dem Gedanken-Gange dieses wunderbaren Buches bis zu Ende gefolgt bist, dessen Übersetzung wir Dir hier vorlegen, wie sieht es in Deinem Kopfe aus? Du besinnst Dich, was es noch unberührt gelassen von Deinen bisherigen Ansichten über die wichtigsten Natur-Erscheinungen, was noch fest stehe von Deinen bisher festgestandenen Überzeugungen? Es sind nicht etwa teleskopische Entdeckungen, nicht neue Elementar-Stoffe, nicht die anatomischen Enthüllungen eines 10,000fältig vergrössernden Mikroskops, die der Verfasser gegen unsre bisherigen Vorstellungen auftreten lässt; es sind neue Gesichtspunkte, unter welchen ein gediegener Naturforscher in geistreicher und scharfsinniger Weise alte Thatsachen betrachtet, die er seit zwanzig Jahren gesammelt und gesichtet, über die er seit zwanzig Jahren unablässig gesonnen und gebrütet hat. Tief in seinen Gegenstand versenkt, von der Wahrheit der gewonnenen Resultate unerschütterlich überzeugt, trägt er sie mit so bewältigender Klarheit vor, beleuchtet er sie mit so viel Geist, vertheidigt er sie mit so scharfer Logik, zieht er so wichtige Schlüsse daraus, dass wir, was auch unsre bisherige Überzeugung gewesen seyn mag, uns eben so wenig ihrem Eindrucke entziehen, als unsre Anerkennung der Aufrichtigkeit versagen können, womit er selbst alle Einreden, die man ihm entgegen-halten kann, herbeisucht und nach ihrem Gewichte anerkennt. Er gesteht zu, dass sich gegen fast alle seine Gründe Gegengründe anführen lassen, und behält sich die ausführlichere Erörterung der Einzelnheiten in einem Umfangreicheren Werke vor, da es sich hier nur um eine Gesammt-Darstellung seiner Theorie handelte.

     Auf diese Weise ausgerüstet kann ein Werk nicht verfehlen die grösste Aufmerksamkeit zu erregen, das sich zur Aufgabe [496] gesetzt, die dunkelsten Tiefen der Natur zu beleuchten, das bisher unlösbar geschienene Problem, das grösste Räthsel für die Naturforschung zu lösen und einen Gedanken, ein Grund-Gesetz in Werden und Seyn der ganzen Organismen-Welt nachzuweisen, das dieselbe in Zeit und Raum eben so beherrscht, wie die Schwerkraft in den Himmelskörpern und die Wahlverwandtschaft in aller Materie waltet, und auf welches alle andern Gesetze zurückführbar sind, die man bisher für sie aufgestellt hat. Es ist das Entwickelungs-Gesetz durch Natürliche Züchtung, das in der ganzen organischen Natur eben so wie im Systeme und im Individuum durch Zeit und Raum herrscht.

     Die bisherigen Versuche, jenes Problem ganz oder theilweise zu lösen, waren Einfälle ohne alle Begründung und nicht fähig eine Prüfung nach dem heutigen Stand der Wissenschaft auszuhalten, ja nur zu veranlassen[1]. Gleichwohl hat jeder Naturforscher gefühlt, dass die Annahme einer jedesmaligen persönlichen Thätigkeit des Schöpfers, um die unzähligen Pflanzen- und Thier-Arten in’s Daseyn zu rufen und ihren Existenz-Bedingungen anzupassen, im Widerspruch ist mit allen Erscheinungen in der unorganischen Natur, welche durch einige wenige unabänderliche Gesetze geregelt werden[2], durch Kräfte, die der Materie selbst eingeprägt sind. Da wir es auf Hrn. Darwin’s Wunsch übernommen haben, sein Werk in’s Deutsche zu übertragen, so glauben wir dem Leser einige Rechenschaft von unsrer eigenen bisherigen Ansicht über mehre der durch den Vrf. erörterten Fragen im Einzelnen und über seine Theorie im Ganzen so wie von dem Einflusse schuldig zu seyn, welchen dieselbe auf unsre eigene Vorstellungs-Weise hinterlassen hat. Wir leisten diese Rechenschaft um so lieber, als, was wir auch immer gegen diese neue Theorie einzuwenden haben mögen, Diess unsre hohe Achtung und Bewunderung für ihren Begründer, unsere Dankbarkeit für seine zahlreichen Belehrungen und unsre zuversichtliche Hoffnung auf glänzende Erfolge seiner Bestrebungen nicht schmälern kann[3]. [497]

     Wir haben an Curvier’s Definition festhaltend die Art als Inbegriff aller Individuen von einerlei Abkunft und derjenigen, welche ihnen eben so ähnlich als sie unter sich sind, betrachtet[4]. Wir haben die Arten im Ganzen für beständig in ihren Charakteren, doch der Abartung in Folge äusserer oder unbekannter Einflüsse für fähig gehalten[5], die Abarten oder Varietäten aber für fähig unter angemessenen Verhältnissen wieder zu dem älterlichen Typus zurückzukehren; doch werde Diess der bestehenden Erfahrung gemäss um so schwerer halten, je länger die Abart unter fortwährendem Einflusse derselben äusseren Bedingungen, denen sie ihre Entstehung verdankte, schon als solche fortgepflanzt worden seye[6]. Das Maass der möglichen Abänderung einer Art wurde als ein beschränktes vorausgesetzt und nach den vorhandenen Erfahrungen in der geschichtlichen Zeit taxirt, ohne jedoch das mögliche Maximum dieser Grenzen zu bestimmen. Successiv auftretende Arten-Formen nehmen wir daher als selbstständig an[7]. Eine Generatio aequivoca der Arten haben wir nach den bisher bestehenden Erfahrungen nicht anerkannt[8]; und daher in Ermangelung einer andern Arten-bildenden Natur-Kraft (da Bastarde keine neuen Arten gründen) nöthig gefunden, uns einstweilen noch auf eine Schöpfung zu berufen[9], jedoch mit der ausdrücklichen Bemerkung, dass solche Annahme einer persönlichen Thätigkeit des Schöpfers mit dem übrigen Walten in der Natur im Widerspruch stehe[10]. Wir haben die Leistungen dieser Schöpfungs-Kraft, welcher Art sie nun seyn möge[11], näher [498] charakterisirt und darauf hingewiesen, dass sie neben den unvollkommenen auch immer höher vervollkommnete Organismen vervorgebracht habe, wovon die neu auftretenden Formen immer in festen verwandtschaftlichen Beziehungen zu den untergegangenen und zu den jedesmaligen äusseren Lebens-Bedingungen gestanden, was auf ein nahes Verhältniss der schaffenden Kraft zu der erhaltenden und zu diesen äusseren Verhältnissen hinweise.

     Darwin’s Theorie lässt sich nun in folgender Weise zusammenfassen. Der Schöpfer hat einigen wenigen erschaffenen Pflanzen- und Thier-Formen, vielleicht auch nur einer einzigen, Leben eingeblasen, in Folge dessen diese Organismen im Stande waren zu wachsen und sich fortzupflanzen, aber auch bei jeder Fortpflanzung in verschiedener Richtung um ein Minimum zu variiren (»Fortpflanzung mit Abänderung«). Die Ursachen solchen Abändern’s sind zumal in Affektionen der Generations-Organe und nur geringentheils in unmittelbaren Einflüssen der äussern Lebens-Bedingungen zu suchen. Solche kleine Abweichungen vom älterlichen Typus können schädliche, gleichgültige und nützliche seyn. Waren sie es in noch so geringem Grade, so hatten die Individuen mit den ersten am wenigsten und die mit den letzten am meisten Aussicht die andern zu überleben und sich fortzupflanzen. Die überlebenden Individuen werden die ihnen nützlich gewordene Abweichung oft wieder auf ihre Nachkommen »vererbt« haben, und wenn diese nur nach 10 Generationen wieder einmal in gleicher Richtung und Stärke variirten, so war das Maass der Abänderung und somit ihre Aussicht die anderen Individuen zu überleben auf’s Neue vermehrt. Die Natur begünstigt also vorzugsweise die Fortpflanzung der mit jener nützlichen Abweichung versehenen Individuen auf Kosten der andern und häuft dieselbe bei späteren Nachkommen zu immer höherem Betrage an, etwa wie ein Viehzüchter bei Veredlung seiner Rassen verfährt (»Natürliche Züchtung«), um deren ihm selbst willkommene Eigenschaften zu steigern. So kann nach tausend, zehntausend oder hunderttausend Generationen in einzelnen Nachkommen der ersten Urform jene Abweichung eine 100-, 1000-, 10,000-fach gehäufte, es kann aus der anfänglich ganz unbemerkbaren Abänderung eine wirkliche [499] Abart, eine eigene Art, eine andere Sippe, ja zuletzt nach 1,000,000 und mehr Generationen eine andere Ordnung oder Klasse von Organismen entstehen; denn es liegt keine natürliche Ursache und kein logischer Grund vor anzunehmen, dass das Maass der langsamen Abänderung irgendwo eine Grenze finde. Eine Abänderung aber, die in einer Gegend, Lage, Gesellschaft u. s. w. nützlich ist, kann in der andern schädlich seyn, u. u. Es können mithin aus derselben Grundform unter verschiedenen äusseren Verhältnissen Abänderungen in ganz verschiedener Richtung entstehen, fortdauern und mit der Zeit allmählich ganz verschiedene Sippen, Familien und Klassen bilden (»Divergenz des Charakters«). Da die Nützlichkeit jeder Art von Abänderung von der Beschaffenheit der äusseren Lebens-Bedingungen abhängig ist, unter welchen sie nützlich erscheinen, und da die Abänderung selbst unter andern Bedingungen eine andere seyn muss, um dem Organismus zu nützen, so besteht diese Natürliche Züchtung in einer fortwährenden »Anpassung der vorhandenen Lebenformen an die äusseren Bedingungen« und Angewöhnung an dieselben. Diese sind Wohn-Elemente, Boden, Klima, Licht, Nahrung, vor allem Andern aber die Wechselbeziehungen der beisammen wohnenden Organismen zu einander, ihr Leben von einander, die Nothwendigkeit sich gegenseitig zu verdrängen und zu vertilgen, weil bei Weitem nicht alle, die geboren werden, auch neben einander fortleben können; daher der »Kampf um’s Daseyn« bei fortdauernder Vervielfältigung und Ausbreitung der vervollkommneten Sieger und fortwährende »Erlöschung« der wegen minderer Vollkommenheit Besiegten. Je mehr Lebenformen entstehen, desto manchfaltiger werden mithin wieder die Lebens-Bedingungen. Daher auch eine fortwährende Veränderung, Vervollkommnung und Vervielfältigung eines Theiles der Lebenformen (obwohl andere verschwinden) nicht als Zufall, sondern als nothwendige gesetzliche Erscheinung! Manche Organe mögen sich wohl auch in Folge der Art ihres »Gebrauches« weiter entwickeln und vervollkommnen, wie andere durch »Nichtgebrauch« allmählich zurückgehen und verkümmern (»rudimentäre Organe«), wenn sie etwa unter veränderten Lebens-Bedingungen [500] nicht mehr nöthig und vielleicht sogar schädlich sind. Wie die Natürliche Züchtung die ganzen Lebenformen allmählich differenzirt, um sie verschiedenen Lebens-Bedingungen anzupassen, so verfährt sie oft auch mit gleichartigen Organen, die in grösserer Anzahl an einerlei Individuen vorkommen. Wenn jedoch erbliche Abänderungen nur in einem gewissen Lebens-Alter auftreten oder erworben werden, so vererben sie sich auch nur auf dieses Lebens-Alter der Nachkommenschaft; diese bekommt mit fortschreitendem Alter neue Formen, durchläuft vom Embryo-Zustande an eine »Metamorphose«, während es andere Lebenformen gibt, welche lebenslänglich fast gleiche (»embryonische«) Gestalt beibehalten, daher die ursprüngliche Verwandtschaft der Wesen sich gewöhnlich durch Übereinstimmung im Embryo-Zustande am längsten verräth. Die allmähliche Entstehung so vieler immer manchfaltigerer und z. Th. immer vollkommenerer Lebenwesen durch Fortpflanzung mit Abänderung und unter gleichzeitigem Aussterben anderer lässt sich daher mit der Entwickelung eines Baumes vergleichen; die Urformen bilden den Stamm, die Ordnungen, Sippen und Arten die Äste und Zweige, und ein natürliches System kann nicht anders als in Form eines Stammbaumes dargestellt werden. Dieser Baum erstreckt sich gleichsam durch alle Gebirgs-Formationen aus der Tiefe herauf; da er aber in der Silur-Zeit schon in viele Äste auseinander gelaufen, so muss der eigentliche Stamm in noch viel älteren und tieferen Schichten stecken, die man noch nicht entdeckt oder erkannt hat, entweder weil sie durch metamorphische Prozesse verändert und sammt ihren organischen Resten unkenntlich geworden sind, oder weil sie unter dem Ozean liegen. Denn es könnte möglich seyn, dass seit der silurischen Periode das Weltmeer im Ganzen genommen in Senkung, wie unsere jetzigen Kontinente im Ganzen genommen fortwährend in Hebung begriffen wären. Im Übrigen erklärt sich die geographische Verbreitungs-Weise der Organismen, von zufälligen und gelegentlichen Verbreitungs-Mitteln einzelner Individuen abgesehen, hauptsächlich aus grossen klimatischen und geographischen Veränderungen (wie die Eis-Zeit), welche der Reihe nach alle Theile der Erd-Oberfläche [501] betroffen, ihre Bewohner in andere Gegenden gedrängt und ihnen die Wege bald hier und bald dort geebnet haben, so dass manche Bewohner gemässigter Zonen sogar den Äquator überschreiten und ihre Art in die andre Hemisphäre verpflanzen konnten.

     Die neue Hypothese gibt Thatsachen und Urtheile, um zu zeigen, wie sich die Erscheinungen im Allgemeinen verhalten haben können oder noch verhalten könnten, und es gelingt ihr Das oft in einem überraschenden Grade. Es sind ganze in langen Kapiteln abgehandelte Probleme, die sich mit deren Hülfe dann so einfach lösen, dass man fast keinen Augenblick darüber in Zweifel geräth, ob sich die Sache nicht auch anders verhalten könne, und man sich selbst aufrütteln muss, um sich zu erinnern, es handle sich vorerst nur um eine in ihren Grundbedingungen der Rechtfertigung noch durchaus bedürftigen Hypothese. Und in der That, wenn man dann über den Rand des Buches hinaus auf irgend ein andres Werk blickt, welches die Erscheinungen so schildert, wie sie in der Natur vorliegen, so fühlt man oft, dass die Anwendbarkeit der Dawin’schen Theorie auf die Wirklichkeit nicht so einfach und nicht so unmittelbar ist, als es geschienen, so lange man sich mit dem Verfasser ganz in seine Ansichten versenkt hatte, weil (begreiflich) die Verhältnisse überall nicht so einfach oder so geartet sind, wie er sie Beispiels-weise unterstellt. Wie sehr man sich daher auch von des Verfs. Theorie angezogen fühlen mag, weil sie, ihrem Grundgedanken nach einmal zugestanden, eine Menge einzelner unerklärter Erscheinungen auf die überraschendste Weise verkettet und als nothwendige erklärt, so muss man wohl erwägen, in wie ferne sie wirklich annehmbar seye. In dieser Beziehung wollen wir hier zum Schlusse noch einige erläuternde Betrachtungen mit unseren wesentlichsten Einreden dagegen folgen lassen, weil uns Diess angemessener und schicklicher erscheint, als die Übersetzung selbst überall mit Einwürfen zu begleiten. Eine nicht unerhebliche Anzahl noch andrer Gegenreden könnte leicht aus unsren früheren Schriften beigebracht werden, die wir hier übergehen, ohne sie jedoch für entkräftet zu halten. [502]

     Zuerst haben wir keine weitre positive Kenntniss von den natürlichen Grenzen der Veränderlichkeit der Arten überhaupt, als dass Varietäten aus ihnen entstehen, die unter denselben äusseren Bedingungen, unter welchen sie entstanden sind, auch um so ständiger werden können, je länger sie sich unter demselben Einflusse gleichbleibend fortpflanzen. Darin liegt allerdings schon ein grosses Zugeständniss, indem wir, sehr lange Zeiträume unterstellend, meistens nicht die Hoffnung hegen dürfen, eine solche während 1000 Generationen ständig fortgepflanzte Varietät jemals wieder auf ihren Urtypus wirklich zurückzuführen. Ja wir dürfen uns dieser Hoffnung um so weniger hingeben, als wir sehr oft die wahre Ursache der Entstehung einer solchen Varietät nicht einmal kennen und sogar dann, wenn wir sie kennen, meistens kaum im Stande seyn dürften, dasjenige Agens zu finden oder diejenige Reihe von Agentien zu enträthseln oder anzuwenden, welche dem ersten direkt entgegenwirken. Wir würden daher oft weder den positiven Beweis der Abstammung noch auch aus der Thatsache, dass sich eine Abart nicht mehr auf ihre Stamm-Form zurückbringen lässt, den Gegenbeweis liefern können, dass jene aus dieser nicht entstanden seye. Was daher auch immer für die Möglichkeit unbegrenzter Abänderung angeführt werden mag, so ist sie vorerst und wird sie wohl noch lange eine unerweisliche, aber allerdings auch unwiderlegliche Hypothese bleiben, eine Hypothese, gegen deren Annahme mithin aus diesem Gesichtspunkte logisch nichts einzuwenden ist, woferne sie sonst ihrer Bestimmung genügt.

     Ganz anders aber verhält es sich mit einer andern Erscheinung, und diese bildet unsres Bedünkens den ersten und erheblichsten Einwand gegen die neue Theorie, da er sie in ihren Grundlagen berührt, wie Hr. Darwin auch ganz wohl gefühlt hat und ihn daher gar vielfältig zu widerlegen sucht[12], dessen Bedeutung aber gerade darum um so schärfer hervortritt, weil aller auf diese Widerlegung verwendete Fleiss und Scharfsinn die beabsichtigte Wirkung bei Weitem nicht in genügendem Grade hervorzubringen [503] im Stande ist. Diese Erscheinung ist folgende. Da die entstehenden Varietäten nach Darwin in der Regel sich nicht durch äussre Einflüsse und nie in Folge eines eigenen innern in bestimmter Richtung beharrlich abweichenden Bildungs-Triebes entwickeln, sondern dadurch, dass von ganz zufälligen in allen möglichen Richtungen auseinanderlaufenden unmerkbar kleinen Abänderungen diejenigen, welche dem Organismus nützlich sind, am meisten Aussicht haben, die übrigen zu überleben und sich reichlicher als sie fortzupflanzen; — da eine jede dieser in verschiedenen Richtungen auseinanderlaufenden kleinsten Abänderungen wieder in allen Richtungen um ein Minimum abändern kann, — da nach des Vfs. eigner Annahme nur in 4—8—10 Generationen wieder einmal eine genau in gleiche Richtung mit einer der vorigen fällt und sie steigert oder durch Häufung verstärkt; — da unter so unmerkbar kleinen Abänderungen noch keine ein merkbar grosses Übergewicht über die andern im Rassen-Kampfe haben kann: — so werden die Abarten nicht als solche nett und fertig sich von der Stammform wie ein gestieltes Dikotyledonen-Blatt vom Stengel, sondern etwa wie der unregelmässig krausse Lappen einer Blätterflechte von der übrigen Flechten-Masse ablösen, welcher sich auch im weitren Verlaufe nie zu einem scharf und regelmässig contourirten Blatt entwickelt, sondern stets seine unsichere Gestalt beibehält, indem, wie lang er endlich auch werden mag, er immer wieder in ähnlicher Weise wuchert. Und diese Unsicherheit der Begrenzung wird um so bedeutender werden, da die neuen Abarten nicht auf einzelnen Merkmalen, sondern auf 2—3—4 von den alten abweichenden Charakteren beruhen, deren aber jeder für sich allein auftreten oder sich in verschiedener Weise und in verschiedenen Graden mit jedem andern verbinden kann, und da nach des Vfs. eigener Theorie Varietäten unter sich vorzugsweise fruchtbar sind und kräftige Nachkommenschaft liefern. Es müssten Formen-Gewirre entstehen noch weit ärger, als wir sie z. Th. in Folge anderer Ursachen in der Pflanzen-Welt wirklich in einigen Fällen kennen, bei Rubus, Salix, Rosa, Saxifraga. So müssten sie, wenn auch nicht ausnahmslos, doch vorherrschend überall vorkommen, obwohl sie jetzt im Pflanzen-Reiche selbst nur als [504] Ausnahmen erscheinen und im Thier-Reiche noch überhaupt kaum bekannt sind. Wählen wir daher zu bessrer Versinnlichung einige hypothetische Fälle aus diesen letzten aus. Wenn z. B. aus der Haus-Ratte eine Wander- oder Kanal-Ratte werden sollte (wir wählen diess Beispiel, weil in der That noch von unsern Augen diese letzte als die stärkere die erste allenthalben verdrängt), so müssten nicht nur alle Übergänge aus der minderen Grösse, aus der bläulich-grauen Farbe, aus den längeren Ohren und dem längeren Schwanze der ersten in die ansehnlichere Grösse, die oben braun-graue und unten weissliche Farbe, die kürzren Ohren und den kürzren Schwanz der letzten eintreten und, da sie sich nicht gegenseitig bedingen, wahrscheinlich alle sich mit allen andern Merkmalen und in allen mit allen Abstufungen (zum Theil sogar in überschüssigem Maasse) so lange verbinden, als nicht eine dieser Verbindungen ihrem Besitzer positiv schädlich oder entschieden nützlich würde. Da jede dieser vier Verschiedenheiten sich mit den drei andern verbinden kann, so entstehen hiedurch schon zehnerlei Verbindungen; und da jede derselben auf jeder Abstufung der Umänderung sich mit allen Abstufungen der Umänderung der drei andern zusammengesellen kann, so werden die Mittelformen zahllos seyn, und es ist in keiner Weise abzusehen, wie statt solcher zahlloser Abänderungen, Abstufungen und Kombinationen zuletzt gerade nur eine einzige feste und bestimmte Form der Wander-Ratte entstehen solle, zumal wir nicht wahrzunehmen vermögen, dass alle Abweichungen derselben von der Organisation der andern Art wesentlich zu ihrer grösseren Vollkommenheit beitragen, sondern mitunter für das Thier ganz[WS 1] gleichgültig seyn mögen, und da beide Arten keinesweges sich genau um dieselben Aufenthalts-Orte streiten. Geben wir aber zu, dass (aus uns unbekannten Ursachen) gerade nur die eine Kombination der Charaktere, wie sie in der Wander-Ratte vorkommt, derjenigen in der Haus-Ratte so überlegen seye, dass erste die letzte überall zu besiegen und zu verdrängen im Stande ist, wo sie mit ihr in Mitbewerbung tritt, so begreift man (trotz Allem, was Hr. Darwin dafür anführt) doch nicht, warum die der Wander-Ratte näher-stehenden schon weniger oder mehr verbesserten [505] und jedenfalls nur in viel unbedeutenderem Nachtheil befindlichen Abänderungen immer und fortwährend zuerst besiegt und verdrängt werden sollten, die blaugraue Ratte aber, welche am weitesten von dem verbesserten Vorbilde entfernt ist, zuletzt? Man begreift nicht, warum die neue Art zuerst zur vollständigen Ausbildung gelangen müsse, ehe sie die andre zu besiegen im Stande ist, da ja die überlegenere von ihnen doch fortwährend die begünstigteren und schon halb verbesserten Mittelformen verdrängen und in einer Weise vernichten soll, als ob ein Individuum das andre unausgesetzt mit positiven Waffen angriffe. Hr. Darwin wird uns in dem von den zwei Ratten-Arten entnommenen Beispiele etwa antworten, dass (obwohl thatsächlich eine die andre verdrängt und besiegt) sie nicht eine aus der andern, sondern dass beide aus einer bereits untergegangenen dritten Art entstanden sind, oder etwa dass sie sich unter Umständen aus einander entwickelt haben, die wir nicht kennen, daher wir auch nicht zu sagen im Stande seyen, in wieferne ihnen eine jede einzelne Eigenschaft nützlich gewesen seye oder nicht. Dieselben Antworten etwa würde uns Darwin ertheilen, wenn wir Haasen und Kaninchen zum Beispiele wählten; — und wenn wir fragten, warum wir die blinden Höhlen-Thiere nicht noch halb-blind im vordern Theile der Höhlen finden, durch welche sie in den hintern dunkelsten Theil eingedrungen, so würde er uns noch weiter sagen, dass diese durch spätre Mitbewerber dort ausgetilgt seyn können. Diese und ähnliche an und für sich unangreifbar allgemeine Antworten wird er jeder Einrede entgegen halten, aber wenn sie auch in manchen einzelnen Fällen begründet sind und in keinem Falle als absolut unpassend beseitigt oder wiederlegt werden können, so fühlt doch jeder, dass die Sache im Ganzen genommen nach der Darwin’schen Theorie sich ganz anders gestaltet haben würde und noch gestalten müsste, als es in Wirklichkeit der Fall ist. Er ist dadurch im Vortheil, dass er desshalb über gar keinen einzelnen Fall Rechenschaft zu geben braucht, weil man nicht über jeden einzelnen Fall Rechenschaft von ihm fordern kann!

     Den Mangel der Zwischenformen der Arten in den Erd-Schichten [506] erklärt Hr. Darwin unter Anderem aus der unvollständigen Erhaltung der einst vorhanden gewesenen Organismen-Formen im Fossil-Zustande und aus der Länge der Ruhe-Perioden zwischen den verschiedenen Formationen. Wenn wir aber eine Menge von Arten in identischen Formationen (wie Hr. Darwin selbst anerkennt) überall in zahlreichen und sogar in Tausenden von Exemplaren wieder finden, so können die Bedingungen der Erhaltung für die Zwischenformen unmöglich so ganz ungünstig gewesen seyn, dass gar nichts von ihnen übrig geblieben; Zwischenformen müssten sich um so eher finden, als im Fossil-Zustande eine Menge von Charakteren verloren gehen, mit deren Hülfe allein wir viele sonst ganz selbstständige[WS 2] lebende Arten von einander unterscheiden. Endlich, wie lange auch, in Jahren ausgedrückt, die Zwischenräume gewesen seyn mögen, welche zwischen der Absetzung verschiedener Formationen vergangen: geologisch oder relativ genommen sind sie nicht so unermesslich lang, als sie Hr. Darwin darstellt, indem nämlich die Veränderungen, welche von einer Formation zur andern in der Organismen-Welt vor sich gegangen, meistens gar nicht so viel grösser zu seyn pflegen als jene, die von einem Schichten-Stock zum andern oder von einer Schicht zur andern in derselben Formation stattfinden. So sind wenigstens von der Silur- bis zur Kohlen-Formation, und von der Trias bis zur heutigen Periode selbst auf Europäischem Gebiete keine sehr grosse Lücken mehr vorhanden, und hier und da scheint sogar eine ununterbrochene Bildungs-Reihe von Schichten zwei Formationen zu verbinden!

     Aber selbst wenn wir den einfachsten Fall annehmen, wenn wir uns unter denjenigen Abarten umsehen, welche sich heutzutage als solche in unsren Systemen aufgeführt finden, so ist auch da schon die Kette hinter ihnen abgeschnitten; auch da schon fehlen fast überall die Glieder, welche sie mit der Stamm-Art verbinden; denn wären diese noch vorhanden, so könnte keinen Augenblick mehr ein Streit darüber fortdauern, ob sie selbstständige Arten oder nur Abarten seyen, ein Streit, auf welchen sich Darwin so oft beruft! Und wenn Art und Abart als solche noch reichlich neben einander bestehen, wie könnten die Zwischenglieder [507] durch die Abart bereits ausgetilgt seyn? Hr. Darwin gibt uns auch hier eine vortreffliche Erklärung, wie Diess in einigen Fällen möglich gewesen seyn könne, indem er die Varietäten und Arten zuerst auf Inseln u. a. ringsum abgeschlossenen Gebieten entstehen lässt, wo alle divergirenden Stämme einer Spezies sich immer wieder mit einander kreutzen können und durch Vererbung eine gemeinsame Mittelform herzustellen im Stande sind. Aber dürfte diese Erklärungs-Weise wirklich als Regel und ihre Nichtanwendbarkeit nur als seltene Ausnahme zu betrachten seyn?? Muss es in allen Fällen so gewesen seyn, weil es in einzelnen Fällen so gewesen seyn kann?

     Doch verweilen wir bei dieser Erklärung; denn sie würde in der That vortrefflich seyn, wenn man annehmen dürfte, dass sich jede Art aus Individuen einer andern entwickelt habe, die auf beschränktem Raume gänzlich von allen ihren Art-Genossen abgeschlossen gewesen wären, so dass alle Nachkommen dieser Individuen unter neuen Existenz-Bedingungen sich jederzeit alle mit einander mischen, aber nie mehr mit ihren andern Verwandten in irgend eine Berührung kommen konnten, bis die neue Art vollendet war! Das treffendste thatsächliche Beispiel für einen solchen Fall liefert uns der Mensch selbst. Der Mensch war gewiss noch lange, nachdem er sich bereits über die ganze Erd-Oberfläche verbreitet hatte, nicht im Stande, sich in Masse von einem Welttheile zum andern zu bewegen. Beobachtungen in Neu-Orleans u. a. haben zur Berechnung geführt, dass schon etwa in der Diluvial-Zeit, vor 10,000—100,000 oder noch mehr Jahren, die jetzigen Menschen-Rassen vorhanden und in jetziger Weise vertheilt gewesen sind. Die Bewohner eines jeden Welttheils waren von den übrigen fast isolirt, aber unter sich mehr und weniger verbunden; sie erfüllten die oben geforderten Bedingungen so genügend, wie man es in keinem andern Falle zu finden und nachzuweisen erwarten darf, und so war eine ungestörte Divergenz des Charakters der Menschen-Spezies während einer Zeit-Periode möglich, welche anerkannter Maassen zur Bildung neuer Spezies, wenn auch noch nicht zur Umgestaltung der ganzen Flora und Fauna, genügend war. Und was ist die Folge jener Isolirung einzelner Menschen-Gruppen [508] während eines so langen Zeitraumes gewesen? Es sind eben so viele Rassen als getrennte Welttheile und eine Anzahl Mischlinge entstanden, die zuletzt sehr verschieden im Aussehen und noch verschiedener in ihrer geistigen Befähigung doch einander so nahe verwandt geblieben und so fruchtbar miteinander sind, dass Niemand an ihrer Art-Verwandtschaft miteinander zweifelt, obschon der Kampf um’s Daseyn binnen der drei oder vier Jahrhunderte, seit welchen die in verschiedenen Gegenden allmählich entwickelten Rassen miteinander in Berührung gekommen sind, bereits genügt hat, um einige derselben (und zwar nicht die ausgeprägtesten) dem Erlöschen nahe zu bringen. Wir dürfen wohl nicht hoffen einen andern thatsächlichen Beleg über das Abändern der Arten und die Divergenz des Charakters zu finden, der sich in der erweislichen Länge der Zeitdauer und Vollkommenheit der Isolirung der Rassen in allen verschiedenartigsten Lebens-Bedingungen, welche diese Erde einer nämlichen Spezies darzubieten im Stande ist, mit diesem vergleichen liesse.

     Gerne möchten wir zu Gunsten der Darwin’schen Theorie und zur Erklärung, warum nicht viele Arten durch Zwischenglieder in einander verfliessen, noch irgend ein inneres oder äusseres Prinzip entdecken, welches die Abänderungen jeder Art nur in einer Richtung weiter drängte, statt sie in allen Richtungen bloss zu gestatten. Das Problem würde dann ein einfachres werden; aber immer müssten wir wieder erwarten, auch in dieser einfachen Reihe die Kette der Zwischenglieder aufzufinden, und diese sind weder vorhanden, noch ist uns ein innres derartiges Prinzip irgendwo bekannt.

     Freilich liegen äussre solche Prinzipien vor. Es sind die Existenz-Bedingungen, welchen sich die Organismen anpassen müssen, und welche eine so grosse Rolle in diesem Buche spielen. Sie sind theils organische und theils unorganische, und die ersten nach Hrn. Darwin weitaus die zahlreichsten und wichtigsten und daher auch an und für sich geeignet, die manchfaltigsten Folgen zu veranlassen. Doch eben diese organischen Prinzipien haben für Darwin wieder den grossen Vortheil, dass, indem er sich auf ihre Manchfaltigkeit und auf den Kampf ums Daseyn überhaupt [509] beruft, er der Nothwendigkeit überhoben ist, Rechenschaft von ihrer Wirkungs-Weise im Einzelnen zu geben und nachzuweisen, welche spezielle Folgen diese oder jene spezielle organische Bedingungen auf die Struktur und Entwickelung der ihrem Einfluss unterliegenden Organismen überhaupt, oder auf einzelne insbesondere ausübt. Hr. Darwin beruft sich auf jeder Seite darauf, dass nur solche Abänderungen Aussicht auf Erhaltung haben, welche dem Individuum und somit der künftigen[WS 3] Spezies nützlich sind; und theoretisch muss man zugestehen, dass, woferne es eine natürliche Züchtung gebe, die Sache sich nicht anders verhalten könne. Aber wir müssen gestehen, doch in fast allen unseren aus angeblich innern Ursachen hervorgegangenen Varietäten gar nicht finden zu können, worin denn der Nutzen ihrer Abänderung bestehe; und wenn Hr. Darwin sich auf die Erfahrung beruft, dass ein grosser Theil der Britischen Flora der Neuseeländischen gegenüber so vervollkommnet sei, dass er sie verdränge, so hätten wir gehofft, doch auch nur in einzelnen Fällen nachgewiesen zu sehen, worin denn diese Überlegenheit beruhe. Hr. Darwin entzieht sich auch hier jeder Rechenschaft. Warum bekommt z. B. in diesem Kampfe ums Daseyn eine Pflanzen-Art ovale statt lanzettlicher und die andre lanzettliche statt ovaler Blätter? warum die eine einen Dolden-artigen und die andre einen Rispen-förmigen Blüthenstand? warum die eine fünf und die andre vier Staubgefässe, die eine eine geschlossene und die andre eine weit geöffnete Blüthe? Wozu nützt der einen Diess und der andern das Gegentheil? Warum bewirken die organischen Bedingungen Diess? Mit welchen Mitteln fangen sie es an? und wie müssen sie beschaffen seyn, um es zu können? Und wie kann die eine Art der andern dadurch überlegen werden? Wir gestehen, keinen Zusammenhang zwischen diesen Erscheinungen zu erkennen, und Hr. Darwin würde uns antworten, dass es möglicher Weise so oder so zugehen könne. Wir gestehen ferner, uns vergeblich um positive Beweise oder auch nur Belege in dieser Beziehung umgesehen zu haben, manche spezielle Fälle eigenthümlicher Art etwa ausgenommen; denn wir sind weit entfernt davon, allen solchen Einfluss überhaupt läugnen zu wollen. Wir [510] wollen sogar ein spezielleres Beispiel anführen. Brehm hat die meisten unsrer anerkannten deutschen Vögel-Arten nach den Proportionen des Kopfes, des Schnabels, der Füsse, der Flügel und zuweilen mit Zuhilfenahme der Färbung in je zwei bis vier Formen unterschieden und als wirkliche Arten bezeichnet, weil sie sich in der Regel nur je unter sich paaren, als solche fortpflanzen, gewöhnlich einen abweichenden Aufenthalts-Ort, oft andres Futter, demgemäss auch eine andre Lebens-Weise, zuweilen einen andern Gesang haben; doch ist es uns noch nicht gelungen, eine feste Beziehung bestimmter Körper-Proportionen zu bestimmten äussren Ursachen überhaupt zu erkennen; dieselben Beziehungen scheinen bei jeder Spezies von andrer Wirkung zu seyn. Und in der That hätte Hr. Darwin hier vielleicht die besten Belege für seine »beginnenden Spezies« finden können!

     Dagegen lässt sich ein Einfluss unorganischer äussrer Lebens-Bedingungen und zwar ein spezieller Einfluss spezieller Bedingungen in bestimmter Richtung nachweisen, wie wir ihn bei den organischen Bedingungen nachgewiesen zu sehen gewünscht hätten. Hr. Darwin gibt diesen Einfluss zu; er führt einige Beispiele davon an, erklärt aber wiederholt, dass er ein vergleichungsweise nur geringer seye. Anfangs möchte es scheinen, als ob Hr. Darwin diesen Einfluss unterschätze, indem sich eine grosse Menge von Erscheinungen aus ihm nachweisen lassen. Wir kennen Bedingungen, welche auf die Grösse der Pflanzen, auf ihre ein- oder mehr-jährige Dauer, auf ihren Strauch- oder Baum-Wuchs, auf ihre Blüthen-Bildung und Fruchtbarkeit, auf die Farbe ihrer Blüthen, auf ihre glatte oder behaarte Oberfläche, auf die häutige oder fleischige Beschaffenheit ihrer Blätter (wie Hr. Darwin selber anführt), zuweilen auch auf Monöcismus und Diöcismus, auf die aromatischen u. a. Absonderungen wirken; wir vermögen selbst diese Erscheinungen hervorzubringen. Und wir sehen, dass bei diesen Abänderungen die Übergänge nicht mangeln, indem wir im Stande sind fortwährend deren ganze Kette darzulegen und gerade desshalb wenig versucht sind in diesen Abweichungen neue Arten zu erblicken! Warum also fehlen die Übergänge bei den andern Abartungen, welche aus [511] der innern Neigung zur Variation hervorgehen? Allerdings gibt es auch manche ganz plötzlich auftretende Abänderungen ohne Übergänge zumal bei den schon vielfach abgeänderten Kultur-Pflanzen, wie z. B. die hängenden oder Trauer-Varietäten vieler Bäume, viele unsrer Obst-Sorten, wovon manche nicht das Erzeugniss langsamer Züchtung, sondern eines einzelnen ohne nachweisbaren Grund abändernden Saamen-Kornes sind, die sich aber eben desshalb auch in der Regel nicht beständig aus Saamen fortpflanzen.

     Auch von den Thieren wissen wir, dass Menge und Art des Futters und Beschaffenheit des Klimas auf Grösse und Farbe des Körpers, ja sogar (wie Hr. Darwin selbst vom Amerikanischen Wolf erwähnt) auf deren Gestalt und Sitten wirken können. Auch des Einflusses des Klimas auf das Gefieder der Vögel gedenkt er, doch ohne sich der Umfang-reichen Nachweisungen zu erinnern, welche Gloger in dieser Beziehung geliefert hat. Dass viele Säugthier-Arten in kalten Gegenden weiss werden und andre, welche solche nie verlassen, stets weiss bleiben, ist bekannt. Die Farbe der Schmetterlinge ändert oft mit dem Futter und die der Käfer u. a. Insekten je nach ihrem Aufenthalte in verschiedenen Gebirgs-Höhen ab. Die Grösse vieler Wasser-Konchylien steht mit dem Salz-Gehalt des Wassers in Zusammenhang; ihre Farbe mit dem Lichte, ihre glatte oder stachelige Beschaffenheit mit der schlammigen und felsigen Natur des See-Grundes; die Dichte des Pelzes mancher Säugthiere wechselt mit dem Klima und der Erhebung ihres Wohnortes über den Meeres-Spiegel, und die Instinkte einer Art ändern ausserordentlich unter neuen Lebens-Bedingungen ab. Es lässt sich nicht nur die Ursache, sondern auch der Zweck und die Nützlichkeit dieser Abänderung ermitteln, wir können in der Regel die Zwischenstufen nachweisen, die oft vom Grade und der Intensität der äussern Ursachen abhängen; wir können diese Abänderungen beliebig hervorbringen und sie durch entgegengesetzte Existenz-Bedingungen wieder in die Urform zurückführen. Aber vielleicht der wichtigste aller Belege für den Einfluss äussrer Existenz-Bedingungen ist in der Beobachtung in finden, dass Kröten an feuchten und doch des stehenden Wassers ganz entbehrenden Orten [512] im Stande sind, sich aus dem Ei unmittelbar zur reifen Form zu entwickeln, ohne dazwischen-fallende Kiemen-Bildung und also auch nothwendig ohne denjenigen übrigen Theil der Metamorphose und Lebens-Weise, welcher einen Aufenthalt im Wasser voraussetzt. Um den möglichen Übergang von den Fischen zu den Reptilien zu erläutern, zitirt Hr. Darwin den Lepidosiren; in diesen Kröten liegt er aber weit unmittelbarer vor in einer Weise, dass wohl jedermann zugeben wird, dass, wenn diese Bedingungen sich in allen Generationen der Kröte lange Zeit wiederholten, das Ausfallen der Metamorphose endlich zur Regel auch unter andern Verhältnissen werden könne.

     Aber bei der Leichtigkeit und Schnelligkeit, womit alle diese Abänderungen in Folge der äusseren Existenz-Bedingungen eintreten, muss man sich allerdings fragen, ob die aus dieser äussern Ursache entstandenen Abweichungen jemals ganz bleibend werden und sich fest vererben können? Diess ist nicht der Fall. Denn so leicht und schnell sie sogar an ganz alten Arten aus bekannten Ursachen entstehen, eben so leicht und sicher sind sie, im Gegensatz zu den aus innren aber freilich unbekannten (nach Darwin wahrscheinlich im Genital-Systeme zu suchenden) Ursachen entstandenen, durch eine der ersten entgegengesetzte Behandlung auch wieder auf die Urform zurückzuführen, woferne nicht etwa die Natürliche Züchtung sich ihrer bemächtigt und mit den äusseren Ursachen in gleicher Richtung thätig ist, um eine der Abänderungen rascher zur selbstständigen Form zu entwickeln. So lange Diess aber nicht der Fall, wird man wohl meistens darauf verzichten müssen, durch äussre Ursachen bleibende Abänderungen und »beginnende Arten« entstehen zu sehen, und wer nur die Wirkung äussrer Ursachen im Auge hat, mag allerdings mit Recht Hrn. Darwin entgegenhalten, dass aus Abänderungen keine festen Arten werden. Da nun überdiess die Zwischenstufen zwischen den Extremen solcher Abänderungen nur Bindeglieder zwischen nebeneinander bestehenden, und nicht zwischen auseinander entstehenden Formen sind, und da jede der ersten für ihr eignes Daseyn gewöhnlich keine andren Abstufungen voraussetzt, während diese letzten ohne andre Abstufungen meistens nicht vorhanden seyn [513] würden, so herrscht allerdings zwischen den durch äussre Ursachen und den durch Züchtung entstandenen Abänderungen ein solch wesentlicher Unterschied, dass wir uns daraus erklären zu müssen glauben, wesshalb Hr. Darwin auf die Abänderungen dieser Art so wenige Rücksicht nimmt, obwohl er selbst uns keine derartige bestimmte Rechenschaft darüber gibt?

     Wenn uns daher zur Zeit weder die äusseren Lebens-Bedingungen, noch der Prozess der Natürlichen Züchtung genügend erscheinen, um die Theorie Hrn. Darwins, so wie sie vorliegt, zu begründen, so wollen wir dagegen gerne zugestehen, dass alle bisherigen Beobachtungen ohne Ausnahme von dem Gesichtspunkte feststehender unabänderlicher Arten aus gemacht worden sind, und dass eine unbefangene Beurtheilung seiner Theorie vielleicht erst möglich seyn wird, wenn einige Menschen-Alter weiter unter fortwährender Prüfung der Frage von der Abänderung der Arten aus den zwei entgegengesetzten Gesichtspunkten verflossen seyn werden.

     Je mehr ein Naturforscher sich mit Detail-Studien über den Bau der natürlichen Wesen und über dessen wunderbare Zweckmässigkeit, über das Zusammenstimmen aller Einzelnheiten zu einem organischen Wesen, wovon kein Theilchen willkührlich geändert werden kann, ohne das Ganze zu gefährden, — über die Wiederholung derselben planmässigen Einrichtung in jedesmaliger andrer Weise bei 250,000 bekannten Organismen-Arten der jetzigen Schöpfung, — über die kulminirende Vollendung des Ganzen bei den vollkommensten dieser Organismen, — über die Entwickelung aller dieser Einrichtungen in einem Embryo der ihrer noch nicht bedarf, zu künftigen Zwecken, beschäftigt hat, um so schwerer wird es ihm anfangs werden, darin nichts weiter als die Folgen eines fortschreitenden Verbesserungs-Prozesses zu sehen, worin jeder neue weitre Fortschritt nach des Vfs. Theorie selbst jedesmal nur ein Zufall ist und erst durch Vererbung festgehalten werden kann. Doch darf man darin noch kein unbedingtes Hinderniss für diese Theorie erblicken.

     Eine andre Erscheinung, hinsichtlich welcher uns und Andre Hrn. Darwins Erklärungen nicht ganz befriedigt haben, bietet der Umstand dar, dass trotz der unausgesetzten Thätigkeit der Natürlichen [514] Züchtung und der fortdauernden Verbesserung der Organismen durch dieselben, noch immer die unvollkommensten aller unvollkommnen Organismen in so unermesslicher Menge vorhanden sind. Doch hat ein daraus zu entnehmender Einwand kein solches Gewicht, dass er für die Annahme oder Nichtannahme der neuen Theorie entscheidend wäre, und wir würden in dessen Folge nur etwa genöthigt seyn, eine noch fortwährende Entstehung neuer Urformen anzunehmen, welche sich mit dieser Theorie als verträglich oder sogar als nothwendige Folge derselben ergibt, obwohl Hr. Darwin die Generatio originaria nirgends in Anspruch nimmt. Endlich würde, wenn wir alle Organismen nur von einer Urform ableiten wollten, Diess jedenfalls von einer sehr niedren zelligen Form als Grundlage weitrer Entwickelung geschehen müssen, und es dürfte dann sehr schwer seyn zu begreifen, wodurch in einer von zwei äusserlich von einander nicht unterscheidbaren Zellen sich Empfindung und willkührliche Bewegung ausbilde und vererbe, und in der andern nicht?

     Indem Hr. Darwin alle jetzt lebenden und früher vorhanden gewesenen Lebenformen durch Abstammung mit fortwährenden leichten Abänderungen und Divergenz des Charakters von immer früheren und frühern Formen ableitet, glaubt er in einer Zeit, die wenigstens eben so weit vor der silurischen, wie diese vor der jetzigen Periode zurückliegt, nur noch acht bis zehn Stamm-Arten zu bedürfen, welchen der Schöpfer unmittelbar das Leben eingehaucht hätte. Wahrscheinlich hatte sich Hr. Darwin eine Stamm-Art zur Ableitung aller Arten eines jeden der Unterreiche oder Kreise unsrer Systeme gedacht, und wahrscheinlich wird diese Stamm-Art einer der tiefsten Stufen in jedem dieser Kreise entsprochen haben; doch drückt er sich nicht näher darüber aus. Die Entwickelung eines jeden so vielverzweigten Kreises aus einer Stamm-Art wäre dann vergleichbar der Entwickelung eines vielästigen Baumes aus einem Stamme: eine Annahme, welche wenigstens den Bildungs-Verhältnissen in der ganzen organischen Natur parallel liefe. Hr. Darwin fragt die Anhänger der alten Schöpfungs-Theorie, welche Millionen von Pflanzen- und Thier-Spezies zum Gegenstande von Millionen verschiedener [515] Schöpfungs-Akte eines persönlichen Schöpfers machen, der durch seine spätren Schöpfungen die an den frühern Formen begangnen Fehler verbessere: welche Vorstellung sie sich denn eigentlich von der Erschaffung der einzelnen Geschöpfe machen? (S. 487) — ob jede Art in einem oder in vielen Individuen, im Ei- oder im ausgewachsenen Zustande, ob die ersten Säugthiere mit oder ohne Nabel geschaffen worden seyen? Sie könnten Hrn. Darwin seine Frage zurückgeben, wenn er nach seiner Theorie auch nur 8—10 erschaffene Arten bedarf (S. 487); ja sie könnten noch weiter fragen: ob der ersten Flechte, dem ersten Farnen, der ersten Palme und dem ersten Veilchen, mit dem ersten Infusorium, dem ersten Seeigel, der ersten Raupe und dem ersten Frosch gleichzeitig oder nacheinander auf einem Fleck beisammen oder auf eben so vielen Punkten der ganzen Erd-Oberfläche zerstreut das Leben eingeblasen worden seye, und ob sie sogleich angefangen sich — so ferne sie sich gegenseitig erreichbar — in Ermanglung andrer Nahrung wechselseitig aufzufressen, oder auf welche Weise sie bis zu ihrer Vervielfältigung ihr Leben gefristet haben? Offenbar muss entweder ein ganzes Natur-System von Wesen auf einmal geschaffen worden seyn, oder sie müssen sich von einem tiefen Punkte an aufwärts ganz allmählich aber massenhaft entwickelt haben. Hr. Darwin hat es jedoch sogleich gefühlt, dass jene seine Annahme noch misslicher als die einer gleichzeitigen Erschaffung aller Wesen ist, die er bekämpft; daher er etwas später sich mit einer Ur-Pflanze und einem Ur-Thiere, ja sogar mit einem einzigen Ur-Organismus begnügen will, welchem der Schöpfer das Leben eingehaucht habe (S. 488). Die Bedürfnisse dieses einzigen erschaffnen Individuums, von welchem die ganze lebende Natur abstammt, müssen dann freilich sehr klein gewesen seyn; — es war zweifelsohne nur eine Fadenalge oder etwas der Art, die sich ihre Nahrung aus unorganischen Elementen selbst bereiten und sich selbst befruchten musste? Aus ihr und ihren Nachkommen konnten lange Zeit nur vegetabilische Formen entstehen, bis genug organische Materie vorhanden war, um auch Thiere selbst der unvollkommensten Stufe zu ernähren. [516]

     Aber immer ist noch ein persönlicher Schöpfungs-Akt für dieses organische Wesen nöthig, und wenn derselbe einmal erforderlich, so scheint es uns ganz gleichgültig, ob der erste Schöpfungs-Akt sich nur mit einer oder mit 10 oder mit 100,000 Arten befasst, und ob er Diess nur ein für allemal gethan oder von Zeit zu Zeit wiederholt hat. Es fragt sich nicht, wie viele Organismen-Arten derselbe ins Leben gerufen, sondern ob es überhaupt jemals nöthig seyn kann, dass dieser eingreife in die wundervollen Getriebe der Natur und statt eines bewegenden Natur-Gesetzes aushelfend wirke? Wenn Hr. Darwin die organische Schöpfung überhaupt angreift, so muss er nach unsrer Überzeugung auch auf die Erschaffung einer ersten Alge verzichten! Und in dieser Thatsache, dass die neue Theorie noch die unmittelbare Erschaffung wenn auch nur eines Dutzends, ja wenn auch nur einer einzigen Organismen-Art erheischt, erblicken wir einen zweiten wesentlichen Einwand gegen dieselbe, weil, Diess einmal zugestanden, nicht der entfernteste Grund mehr vorliegt, ihr die ungeheure und so schwer zu erfassende Ausdehnung anzueignen, die ihr Hr. Darwin gibt. — Wer eine organische Zelle oder Zellen Reihe, einen Algen-Faden u. dgl. betrachtet und damit den wunderbaren Bau eines höheren Säugthieres vergleicht mit allen seinen Gliedern, Organen und Organen-Systemen, seinen unbewussten und willkührlichen Verrichtungen, der wird freilich anfangs zu lächeln geneigt seyn über eine Theorie, welche aus einer Algen-Zelle wenn auch erst nach Verlauf von (wenigstens 20[13]) Millionen Jahren einen Affen durch Natürliche Züchtung hervorgehen lässt. Und doch, erlässt man uns jenen einen Schöpfungs-Akt an der Algen-Zelle, was wäre dann so gänzlich befremdend an der neuen Theorie? Sehen wir denn nicht diesen Prozess tausendfältig und unausgesetzt bei Organismen aller Art binnen wenigen Wochen durch gewöhnliche Zeugung sich vollenden, ohne eine andere Auskunft darüber geben zu können, als dass es durch »Vererbung« geschehe, [517] ein ganz dunkles Prinzip, das ebenfalls erst durch die Darwin’sche Theorie einige nähere Begründung wenigstens hinsichtlich seiner spezifischen Verschiedenheiten erlangt? daher an und für sich uns der Gedanke der Entstehung des Säugthieres aus einer ursprünglichen Protophyten- oder Protozoen-Zelle doch nicht so ganz und gar abentheuerlich erscheint. Und so läge auch für alle anderen Verheissungen dieser Theorie die Schwierigkeit nur etwa in der Länge der zur Lösung der einzelnen Aufgaben nöthigen Zeit, und daran ist wahrlich kein Mangel, sondern Überfluss, wo es sich darum handelt die Ewigkeit auszufüllen!

     Noch eine Bemerkung über das, in geologischem Sinne, gleichzeitige Erscheinen und Verschwinden identischer Lebenformen auf der ganzen Erd-Oberfläche. Die Darwin’sche Theorie leistet viel in dieser Beziehung! Sie zeigt uns, wie die Lebenwesen der gemässigten oder kalten Zone in Folge einer Eis-Zeit sogar den Äquator zu überschreiten vermochten! Aber welchen Grund haben wir zu glauben, dass es viele solcher Eiszeiten, dass es deren in allen Erd-Perioden gegeben, und insbesondere dass die die Verbreitung bewirkenden Ursachen in allen Perioden eine universelle Verbreitung der herrschenden Formen bis in den letzten Winkel der Erde vermittelt haben, ehe wieder irgendwo neue Formen entstanden, und dass nie ein Theil der Erde in dieser Hinsicht auf seine unabhängige Weise rascher oder langsamer als der andre fortgeschritten seye? Diese Erscheinung ist so befremdend, dass sie, so lange sie nicht als eine nothwendige nachgewiesen ist, trotz Darwin’s Erklärungs-Versuch die ganze Theorie bedroht.

     Aussicht auf Erfolg.) Unsere innigste Überzeugung ist, dass alle Bewegungen auch in der organischen Natur einem grossen Gesetze unterliegen, dass dieses Gesetz, allen organischen Erscheinungen entsprechend, ein Entwickelungs- und Fortbildungs-Gesetz seye, und dass das Gesetz, welches die heutige Lebenwelt beherrscht, auch ihr Entstehen bedingt und ihre ganze geologische Entwickelung geleitet habe.

     Wir haben bisher organische Wesen entstehen und vergehen [518] sehen; wir haben die bestehenden Arten sich erhalten und fortpflanzen, aber keine neuen Arten erscheinen sehen und keine Natur-Kraft gekannt, welche neue Arten in’s Daseyn ruft. Alle unsere Bemühungen sie zu finden, um von dem ersten Auftreten neuer Arten mit deren Hilfe Rechenschaft zu geben, waren vergeblich.

     Hilft aber die Darwin’sche Theorie diesem Mangel ab? Wir haben oben einige Einreden gegen sie vorgebracht, und unser persönliches Vermögen sie uns so, wie sie ist, anzueignen ist noch weit geringer, als jene Einreden vermuthen lassen. Aber sie leitet uns auf den einzigen möglichen Weg! Es ist vielleicht das befruchtete Ei, woraus sich die Wahrheit allmählich entwickeln wird; es ist vielleicht die Puppe, aus der sich das längst gesuchte Natur-Gesetz entfalten wird, nachdem es einen Theil der seinem unvollkommenen Zustande angehörigen Anhänge abgestreift und andere seiner Bestandtheile vollständiger ausgebildet haben wird. Oder wir haben das gesuchte Gesetz vielleicht bereits vor Augen, aber sehen es nur durch ein Kaleidoskop, dessen Facettirung wir erst studiren oder abschleifen müssen, um das Objekt nach seiner wahren Beschaffenheit beurtheilen zu können?

     Die Möglichkeit nach dieser Theorie alle Erscheinungen in der organischen Natur durch einen einzigen Gedanken zu verbinden, aus einem einzigen Gesichtspunkt zu betrachten, aus einer einzigen Ursache abzuleiten, eine Menge bisher vereinzelt gestandener Thatsachen den übrigen auf’s innigste anzuschliessen und als nothwendige Ergänzungen derselben darzulegen, die meisten Probleme auf’s Schlagendste zu erklären, ohne sie in Bezug auf die andern als unmöglich zu erweisen, geben ihr einen Stempel der Wahrheit und berechtigen zur Erwartung auch die für diese Theorie noch vorhandenen grossen Schwierigkeiten endlich zu überwinden. Diese glänzenden Leistungen der Theorie (ihre Wahrheit einmal zugestanden) sind es, die uns so mächtig zu ihr hinziehen, wie sehr wir auch des Wankens ihrer Grundlage uns bewusst sind. Denn die grösste Schwierigkeit für die Anerkennung dieser Theorie scheint allerdings zunächst im Grundgedanken selbst zu liegen, wenigstens nach seiner jetzigen Fassung: [519] in der Vorstellung einer fortwährenden Bildung von Varietäten, die sich von den Stamm-Arten abzweigen und endlich ablösen, ohne durch Mittelglieder unter einander verkettet zu bleiben, wie wir auch nach allen aus der Theorie geschöpften Erläuterungen doch noch erwarten zu müssen glauben, wenn diese Theorie richtig wäre. Möglich, dass fortgesetzte Forschung und Prüfung darüber noch Auskunft und Aufklärung gibt!

     Unser zweiter Einwand ist gegen die Annahme einiger oder auch nur einer ursprünglich erschaffenen Organismen-Spezies. Mit der Schöpfung müsste auch die eine wegfallen. So lange wir sie aber nicht entbehren können, so lange müssen wir daran zweifeln, in der Darwin’schen Theorie bereits den wahren Schlüssel der Erscheinungen gefunden zu haben.

     Auf welche Weise auch die eine erschaffene Spezies entbehrlich gemacht werden könne, darüber haben wir keine Vermuthung. Könnte durch unorganische chemische Prozesse aus unorganischer Materie organische werden, — könnte die organische Materie für sich die Form und Textur organischer Kern-Zellen annehmen, könnten diese Zellen sich weiter entwickeln und zu wachsen beginnen —, doch hier stehen wir auf der letzten, der alleräussersten Grenze zwischen unorganischer und organischer Welt. Organische Mischungen könnten aus unorganischen durch gewisse chemische Prozesse vielleicht entstehen; dass organisch gebildete Zellen und gar belebte Zellen sich aus solcher Mischung gestalten können, hat man früher geglaubt, aber neuere Forschungen haben diese Ansicht mehr und mehr unmöglich gemacht; doch sollen jetzt auf Veranlassung der Französischen Akademie fernere Versuche mit die Frage verlässig entscheidender Beweiskraft angestellt werden!

     Die Darwin’sche Theorie wird wohl nicht mehr ganz untergehen? Aber ungeachtet der ausgezeichneten Leistungen derselben stehen ihr noch so wesentliche Gründe entgegen, dass wir vorerst nicht vermögen sie anzunehmen, obwohl uns eingewendet werden kann, auch die gewöhnliche Schöpfungs-Theorie lasse Einreden und zwar noch gewichtigere aber freilich von ganz anderer Beschaffenheit zu. Denn, unnatürlich an sich, braucht die Theorie [520] der Schöpfung nicht mit natürlichen Erklärungen zu antworten. Sie kennt nur Wunder! Daher scheint es uns wenigstens konsequenter, auf dem alten naturwissenschaftlich haltlosen Standpunkte zu verharren in der Erwartung, dass eben in Folge des Streits der Meinungen sich eine haltbare Theorie entwickele, kläre und reife; – obwohl wir voraussehen, dass ein Theil unserer Naturforscher (und eine noch grössere Anzahl Nichtnaturforscher) der Darwin’schen Theorie, auch so wie sie ist, alsbald zufallen werden. Nur aus dem Widerstreite der Meinungen wird die Wahrheit hervorgehen und der Urheber dieser Theorie selbst zweifelsohne noch die grosse Befriedigung erleben, der Naturforschung einen neuen Weg geöffnet zu haben.



  1. Vgl. unsere Entwicklungs-Gesetze der organ. Welt S. 78.
  2. Entwicklungs-Gesetze der organ. Welt 77-80, 229.
  3. Wir glauben uns keiner Indiskretion schuldig zu machen, wenn wir der Übersetzung Einreden beifügen, da Hr. Darwin unsre abweichende Ansicht kannte, als er den Wunsch ausdrückte eine Übersetzung durch uns selbst oder unter unsrer Aufsicht veranstaltet zu sehen, und da er selbst die allseitige Diskussion seiner Theorie ausdrücklich wünscht.
  4. Geschichte der Natur, 1843, II, 63; Entwickelungs-Gesetze der organ. Welt, 1858, S. 228.
  5. Geschichte d. Nat. II. 65-133.
  6. Geschichte d. Nat. II, 180-196.
  7. Entwickelungs-Gesetze S. 79, 232.
  8. Geschichte d. Nat. II, 29-60; Entwickelungs-Gesetze 79.
  9. Entwickelungs-Ges. S. 235.
  10. Entwickelungs-Ges. 77-80.
  11. A. a. O. S. 80-82.
  12. Vgl. das sechste Kapitel, S. 181 u. a. m.
  13. Man hat die Dauer der Steinkohlen-Flora allein auf etwa 1 Million Jahre berechnet; setzt man dieselbe nun auch nur = 0,1 von der Dauer aller unsrer geologischen Schichten-Bildungen und diese nach Darwin gleich der Dauer der vor-silurischen Schichten, so ergibt sich obiges Resultat.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Im Original gänz
  2. Im Original selbsständige
  3. Im Original künfti-


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