Entstehung der Arten/Viertes Kapitel

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Drittes Kapitel Entstehung der Arten (1860)
von Charles Darwin, übersetzt von Heinrich Georg Bronn
Fünftes Kapitel

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Viertes Kapitel.


Natürliche Züchtung.


Natürliche Auswahl zur Nachzucht; — ihre Gewalt im Vergleich zu der des Menschen; — ihre Gewalt über Eigenschaften von geringer Wichtigkeit; — ihre Gewalt in jedem Alter und über beide Geschlechter. — Sexuelle Zuchtwahl. — Über die Allgemeinheit der Kreutzung zwischen Individuen der nämlichen Art. — Umstände günstig oder ungünstig für die Natürliche Züchtung, insbesondere Kreutzung, Isolation und Individuen-Zahl. — Langsame Wirkung. Erlöschung durch natürliche Züchtung verursacht. — Divergenz des Charakters, in Bezug auf die Verschiedenheit der Bewohner einer kleinen Fläche und auf Naturalisation. — Wirkung der Natürlichen Züchtung auf die Abkömmlinge gemeinsamer Ältern durch Divergenz des Charakters und durch Unterdrückung. — Erklärt die Gruppirung aller organischen Wesen.


     Wie mag wohl der Kampf um das Daseyn, welcher im letzten Kapitel allzukurz abgehandelt worden, in Bezug auf Variation wirken? Kann das Prinzip der Auswahl für die Nachzucht, welche in des Menschen Hand so viel leistet, in der Natur angewendet werden? Ich glaube, wir werden sehen, dass ihre Thätigkeit eine äusserst wirksame ist. Erwägen wir in Gedanken, mit welch’ endloser Anzahl neuer Eigenthümlichkeiten die Erzeugnisse unsrer Züchtung und, in minderem Grade, die der Natur variiren, und wie stark die Neigung zur Vererbung ist. Durch Zähmung und Kultivirung, kann man wohl sagen, wird die ganze Organisation in gewissem Grade bildsam. Erwägen wir ferner, wie unendlich verwickelt und wie genau anschliessend die gegenseitigen Beziehungen aller organischen Wesen zu einander und zu den natürlichen Lebens-Bedingungen sind. Kann man es denn bei Erwägung, wie viele für den Menschen nützliche Abänderungen unzweifelhaft vorkommen, für unwahrscheinlich halten, dass auch andre mehr und weniger einem jeden Wesen selbst in dem grossen und zusammengesetzten Kampfe ums Leben diensame Abänderungen im Laufe von Tausenden von Generationen zuweilen vorkommen werden? Wenn solche aber vorkommen, bleibt dann noch zu bezweifeln, dass (da offenbar viel mehr Individuen [86] geboren werden, als möglicher Weise fortleben können) diejenigen Einzelwesen, welche irgend einen wenn auch geringen Vortheil vor andern voraus besitzen, die meiste Wahrscheinlichkeit haben, die andern zu überdauern und wieder ihresgleichen hervorzubringen? Andrerseits werden wir gewiss fühlen, dass eine im geringsten Grade nachtheilige Abänderung in gleichem Verhältnisse mehr der Vertilgung ausgesetzt ist. Diese Erhaltung vortheilhafter und Zurücksetzung nachtheiliger Abänderungen ist es, was ich »Natürliche Auswahl oder Züchtung« nenne[1]. Abänderungen, welche weder vortheilhaft noch nachtheilig sind, werden von der Natürlichen Auswahl nicht berührt, und bleiben ein schwankendes Element, wie wir es vielleicht in den sogenannten polymorphen Arten sehen.

     Wir werden den wahrscheinlichen Verlauf der Natürlichen Zuchtwahl am besten verstehen, wenn wir den Fall annehmen, eine Gegend erfahre irgend eine physikalische Veränderung z. B. im Klima. Das Zahlen-Verhältniss seiner Bewohner wird dann unmittelbar ein andres werden, und ein oder die andre Art wird gänzlich erlöschen. Wir dürfen ferner aus dem innigen Abhängigkeits-Verhältnisse der Bewohner einer Gegend von einander schliessen, dass, ausser dem Klima-Wechsel an sich, die Änderung im Zahlen-Verhältnisse eines Theiles ihrer Bewohner auch sehr wesentlich auf die andern wirke. Hat diese Gegend offene Grenzen, so werden gewiss neue Formen einwandern und das Verhältniss eines Theiles der alten Bewohner zu einander ernstlich stören; denn erinnern wir uns, wie folgenreich die Einführung einer einzigen Baum- oder Säugthier-Art in den früher mitgetheilten Beispielen gewesen ist. Handelte es sich dagegen um eine Insel oder um ein so umschränktes Land, dass neue und besser angepasste Formen nicht eindringen können, so werden sich Lücken im Hausstande der Natur ergeben, welche sicherlich besser dadurch ausgefüllt werden, dass einige der ursprünglichen Bewohner eine angemessene Abänderung erfahren; denn, wäre das Land der Einwanderung geöffnet gewesen, so [87] würden sich wohl Eindringlinge dieser Stellen bemächtigt haben. In diesem Falle würde daher jede geringe Abänderung, die sich im Laufe der Zeit entwickelt hat und irgendwie die Individuen einer oder der andern Species durch bessre Anpassung an die geänderten Lebens-Bedingungen begünstigt, ihre Erhaltung zu gewärtigen haben und die Natürliche Auswahl wird freien Spielraum für ihr Verbesserungs-Werk finden.

     Wie in dem ersten Kapitel gezeigt worden, ist Grund zur Annahme vorhanden, dass eine solche Änderung in den Lebens-Bedingungen, welche insbesondere auf das Reproductiv-System wirkt, Variabilität verursacht oder sie erhöhet. In dem vorangehenden Falle ist eine Änderung der Lebens-Bedingungen unterstellt worden, und diese wird gewiss für die Natürliche Züchtung insofern günstig gewesen seyn, als mit ihr die Aussicht auf das Vorkommen nützlicher Abänderungen verbunden war; kommen nützliche Abänderungen nicht vor, so kann die Natur keine Auswahl zur Züchtung treffen. Nicht als ob dazu ein äusserstes Maass von Veränderlichkeit nöthig wäre; denn wenn der Mensch grosse Erfolge durch Häufung bloss individueller Verschiedenheiten in einer und derselben Rücksicht erzielen kann, so vermag es die Natur in noch weit höherm Grade, da ihr unvergleichlich längre Zeiträume für ihre Plane zu Gebot stehen. Auch glaube ich nicht, dass eben eine grosse klimatische oder andre Veränderung oder ein ungewöhnlicher Grad von Abschränkung gegen die Einwanderung nöthig ist, um neue und noch unausgefüllte Stellen zu schaffen, damit die Natürliche Zuchtwahl sie durch Abänderung und Verbesserung einiger variirender Bewohner der Gegend ausfüllen könne. Denn da alle Bewohner einer jeden Gegend mit gegenseitig genau abgewogenen Kräften in beständigem Kampfe mit einander liegen, so genügen oft schon äusserst geringe Modifikationen in der Bildung oder Lebensweise eines Bewohners, um ihm einen Vortheil über andre zu geben, und weitre Abänderungen in gleicher Richtung werden sein Übergewicht noch vergrössern. Es lässt sich keine Gegend bezeichnen, in welcher alle natürlichen Bewohner bereits so vollkommen an einander und an die äusseren Bedingungen des [88] Lebens angepasst wären, dass keine unter ihnen mehr einer Veredelung fähig wäre; denn in allen Gegenden sind die eingebornen Arten so weit von naturalisirten Erzeugnissen überwunden worden, dass diese Fremdlinge im Stande gewesen sind festen Besitz vom Lande zu nehmen. Und da die Fremdlinge überall einige der Eingeborenen aus dem Felde geschlagen haben, so darf man wohl daraus schliessen dass, wenn diese mit mehr Vorzügen ausgestattet gewesen wären, sie solchen Eindringlingen mehr Widerstand geleistet haben würden.

     Da nun der Mensch durch methodisch oder unbewusst ausgeführte Wahl zum Zwecke der Nachzucht so grosse Erfolge erzielen kann und gewiss erzielt hat, was muss nicht die Natur leisten können? Der Mensch kann absichtlich nur auf äusserliche und sichtbare Charaktere wirken; die Natur fragt nicht nach dem Aussehen, ausser wo es zu irgend einem Zwecke nützlich seyn kann. Sie kann auf jedes innere Organ, auf den geringsten Unterschied in der organischen Thätigkeit, auf die ganze Machinerie des Lebens wirken. Der Mensch wählt nur zu seinem eignen Nutzen; die Natur nur zum Nutzen des Wesens, das sie pflegt. Jeder von ihr ausgewählte Charakter wird daher in voller Thätigkeit erhalten und das Wesen in günstige Lebens-Bedingungen versetzt. Der Mensch dagegen hält die Eingebornen aus vielerlei Klimaten in derselben Gegend beisammen und entwickelt selten irgend einen Charakter in einer besonderen und ihm entsprechenden Weise fort. Er füttert eine lang- und eine kurz-schnäbelige Taube auf dieselbe Weise; er beschäftigt einen lang-rückenigen oder einen lang-beinigen Vierfüsser nicht in einer besondern Art; er setzt das lang- und das kurz-wollige Schaaf demselben Klima aus. Er veranlasst die kräftigeren Männchen nicht, um ihre Weibchen zu kämpfen. Er zerstört nicht mit Beharrlichkeit alle unvollkommenen Thiere, sondern schützt vielmehr alle diese Erzeugnisse, so viel in seiner Gewalt liegt, in jeder verschiedenen Jahreszeit. Oft beginnt er seine Auswahl mit einer halb-monströsen Form oder mindestens mit einer schon hinreichend vorragenden Abänderung, um sein Auge zu fesseln oder ihm offenbaren Nutzen zu versprechen. In der Natur dagegen kann schon die [89] geringste Abweichung in Bau und organischer Thätigkeit das bisherige genaue Gleichgewicht zwischen den ringenden Formen aufheben und hiedurch ihre Erhaltung bewirken. Wie flüchtig sind die Wünsche und die Anstrengungen des Menschen! wie kurz ist seine Zeit! wie dürftig sind mithin seine Erzeugnisse denjenigen gegenüber, welche die Natur im Verlaufe ganzer geologischer Perioden anhäuft! Dürfen wir uns daher wundern, wenn die Natur-Produkte einen weit »ächteren« Charakter als die des Menschen haben, wenn sie den verwickeltesten Lebens-Bedingungen weit besser angepasst sind und das Gepräge einer weit höheren Meisterschaft an sich tragen?

     Man kann sagen, die Natürliche Züchtung seye täglich und stündlich durch die ganze Welt beschäftigt, eine jede auch die geringste Abänderung ausfindig zu machen, sie zurückzuwerfen wenn sie schlecht, und sie zu erhalten und zu verbessern wenn sie gut ist. Stille und unmerkbar ist sie überall und allezeit, wo sich die Gelegenheit darbietet, mit der Vervollkommnung eines jeden organischen Wesens in Bezug auf dessen organische und unorganische Lebens-Bedingungen beschäftigt. Wir sehen nichts von diesen langsam fortschreitenden Veränderungen, bis die Hand der Zeit auf eine abgelaufene[WS 1] Welt-Periode hindeutet, und dann ist unsre Einsicht in die längst verflossenen Zeiten so unvollkommen, dass wir nur noch das Eine wahrnehmen, dass die Lebensformen jetzt ganz andre sind, als sie früher gewesen.

     Obwohl die Natürliche Züchtung nur durch und für das Gute eines jeden Wesens wirken kann, so werden doch wohl auch Eigenschaften und Bildungen dadurch berührt, denen wir nur eine untergeordnete Wichtigkeit beilegen möchten. Wenn Blätter-fressende Insekten grün, Rinden-fressende grau-gefleckt, das Alpen-Schneehuhn im Winter weiss, die Schottische Art Haiden-farbig, der Birkhahn mit der Farbe der Moorerde erscheinen, so haben wir zu vermuthen Grund, dass solche Farben den genannten Vögeln und Insekten nützlich sind und sie vor Gefahren schützen. Wald- und Schnee-Hühner würden sich, wenn sie nicht in irgend einer Zeit ihres Lebens der Zerstörung ausgesetzt wären, in endloser Anzahl vermehren. Man weiss, dass [90] die sehr von Raubvögeln leiden, welche ihre Beute mit dem Auge entdecken; daher man in manchen Gegenden von Europa auch nicht gerne weisse Tauben hält, weil diese der Entdeckung und Zerstörung am meisten ausgesetzt sind. So finde ich keinen Grund zu zweifeln, dass es hauptsächlich die Natürliche Züchtung ist, welche jeder Art von Wald- und Schnee-Hühnern die ihr eigenthümliche Farbe verleiht und, wenn solche einmal hergestellt ist, dieselbe fortwährend erhält. Auch müssen wir nicht glauben, dass die zufällige Zerstörung eines Thieres von abweichender Färbung nur wenig Wirkung habe, sondern vielmehr uns erinnern, wie wesentlich es ist aus einer weissen Schaaf-Heerde jedes Lämmchen zu beseitigen, das die geringste Spur von Schwarz an sich hat. Bei den Pflanzen rechnen die Botaniker den flaumigen Überzug der Früchte und die Farbe ihres Fleisches mit zu den mindest wichtigen Merkmalen; und doch vernehmen wir von einem ausgezeichneten Garten-Freunde, Downing, dass in den Vereinten Staaten nackthäutige Früchte viel mehr durch einen Rüsselkäfer leiden als die flaumigen, und dass die Purpur-farbene Pflaumen von einer gewissen Krankheit viel mehr leiden, als die gelben, während eine andre Krankheit die gelbfleischigen Pfirsiche viel mehr angreift, als die andersfarbigen. Wenn bei aller Hilfe der Kunst diese geringen Unterschiede zwischen den Varietäten schon einen grossen Unterschied in deren Behandlung erheischen, so werden sich gewiss im Zustande der Natur, wo die Bäume mit andern Bäumen und mit einer Menge von Feinden zu kämpfen haben, diejenigen Varietäten am sichersten behaupten, deren Früchte, mögen sie nun nackt oder behaart seyn, ein gelbes oder ein purpurnes Fleisch haben, am besten gedeihen.

     Was endlich eine Menge von kleinen Verschiedenheiten zwischen Spezies betrifft, welche, so weit unsre Unkenntnis zu urtheilen gestattet, ganz unwesentlich zu seyn scheinen, so dürfen wir nicht vergessen, dass auch Klima, Nahrung u. s. w. wohl einigen unmittelbaren Einfluss haben mögen. Weit nöthiger ist es aber noch im Gedächtniss zu behalten, dass es viele noch unbekannte Wechselbeziehungen des Wachsthums gibt, welche, [91] wenn ein Theil der Organisation durch Variation modifizirt und wenn diese Modifikationen durch Natürliche Züchtung zum Besten des organischen Wesens gehäuft werden, dann wieder andre Modifikationen oft von der unerwartetsten Art veranlassen.

     Wie die Abänderungen, welche im Kultur-Zustande zu irgend einer Zeit des Lebens hervorgetreten sind, auch beim Nachkömmling in der gleichen Lebens-Periode wieder zu erscheinen geneigt sind: in den Saamen vieler Küchen- und Acker-Gewächse, in den Raupen und Coccons der Seidenwurm-Varietäten, in den Eiern des Hof-Geflügels und in der Färbung des Dunenkleides seiner Jungen, in den Hörnern unsrer Schaafe und Rinder, wenn sie fast ausgewachsen, — so ist auch die Züchtung im Natur-Zustande fähig, in einem besondern Alter auf die organischen Wesen zu wirken, für diese Lebenszeit nützliche Abänderung zu häufen und sie in einem entsprechenden Alter zu vererben. Wenn es für eine Pflanze von Nutzen ist, ihre Saamen immer weiter und weiter mit dem Winde umherzustreuen, so ist für die Natur die Schwierigkeit diess Vermögen durch Züchtung zu bewirken nicht grösser, als sie für den Baumwollen-Pflanzer ist durch Züchtung die Baumwolle in den Fruchtkapseln seiner Pflanzen zu vermehren und zu verbessern. Natürliche Züchtung kann die Larve eines Insektes modifiziren und zu zwanzigerlei Bedürfnissen geeignet anpassen, welche ganz verschieden sind von jenen, die das reife Thier betreffen. Diese Abänderungen in der Larve werden zweifelsohne nach den Gesetzen der Wechselbeziehungen auch auf die Struktur des reifen Insektes wirken, und wahrscheinlich ist bei solchen Insekten, welche im reifen Zustande nur wenige Stunden zu leben und keine Nahrung zu sich zu nehmen haben, ein grosser Theil ihres Baues nur als ein korrelatives Ergebniss allmählicher Veränderungen in der Struktur ihrer Larven zu betrachten. So können aber wahrscheinlich auch umgekehrt gewisse Veränderungen im reifen Insekte oft die Struktur der Larve berühren, in allen Fällen aber nur unter der Bedingung, dass diejenige Modifikation, welche bloss die Folge einer Modifikation auf einer anderen Lebensstufe ist, [92] durchaus nicht nachtheiliger Art seye, weil sie dann das Erlöschen der Spezies zur Folge haben müsste.

     Natürliche Züchtung kann auch die Struktur des Jungen in Bezug zum Alten und die des Vaters derjenigen seiner Kinder gegenüber modifiziren. Bei Hausthieren passt sie die Struktur eines jeden Einzelwesens den Zwecken der Gemeinde an, vorausgesetzt, dass auch ein jedes Einzelne bei dem so bewirkten Wechsel gewinne. Was die natürliche Züchtung nicht bewirken kann, das ist: Umänderung der Struktur einer Spezies, ohne Ersatz, zu Gunsten einer anderen Spezies; und obwohl in naturhistorischen Werken Beispiele dafür angeführt werden, so ist doch keines darunter, das eine Prüfung aushielte. Selbst ein organisches Gebilde, das nur einmal im Leben eines Thieres gebraucht wird, kann, wenn es ihm von grosser Wichtigkeit ist, durch die Natürliche Zuchtwahl bis zu jedem Betrage modifizirt werden, wie die grossen Kinnladen einiger Insekten, welche nur zum Öffnen ihrer Coccons dienen, oder das zarte Spitzchen auf dem Ende des Schnabels junger Vögel, womit sie beim Ausschlüpfen die Ei-Schaale aufbrechen. Man hat versichert, dass von den besten kurzschnäbeligen Purzel-Tauben mehr im Eie zu Grunde gehen, als auszuschlüpfen im Stande sind, was Liebhaber mitunter veranlasst, bei Durchbrechung der Schaale mitzuwirken. Wenn demnach die Natur den Schnabel einer Taube zu deren eignem Nutzen im ausgewachsenen Zustande sehr zu verkürzen hätte, so würde dieser Prozess sehr langsam vor sich gehen, und müsste dabei zugleich eine sehr strenge Auswahl derjenigen jungen Vögeln im Eie stattfinden, welche den stärksten und härtesten Schnabel besitzen, weil alle mit weichem Schnabel unvermeidlich zu Grunde gehen würden; oder aber es müsste eine Auswahl der dünnsten und zerbrechlichsten Ei-Schaalen erfolgen, deren Dicke bekanntlich so wie jedes andre Gebilde variirt.

     Sexuelle Zuchtwahl. Wie im Kultur-Zustande Eigenthümlichkeiten oft an einem Geschlechte zum Vorschein kommen und sich erblich an dieses Geschlecht heften, so wird es wohl auch im Natur-Zustande geschehen, und, wenn Diess der Fall, so muss [93] die Natürliche Züchtung fähig seyn, ein Geschlecht in seinen funktionellen Beziehungen zum andern zu modifiziren, oder ganz verschiedene Gewohnheiten des Lebens in beiden Geschlechtern zu bewirken, wie es bei Insekten zuweilen der Fall ist, — und Diess veranlasst mich, einige Worte über das zu sagen, was ich Sexuelle Zuchtwahl nennen will. Sie hängt ab nicht von einem Kampfe um’s Daseyn, sondern von einem Kampfe zwischen den Männchen um den Besitz der Weibchen, dessen Folgen für den Besiegten nicht in Tod und erfolgloser Mitbewerbung, sondern in einer spärlicheren oder ganz ausfallenden Nachkommenschaft bestehen. Diese Geschlechtliche Auswahl ist daher minder verhängnissvoll, als die Natürliche. Im Allgemeinen werden die kräftigsten, die ihre Stelle in der Natur am besten ausfüllenden Männchen die meiste Nachkommenschaft hinterlassen. In manchen Fällen jedoch wird der Sieg nicht von der Stärke im Allgemeinen, sondern von besondern nur dem Männchen verliehenen Waffen abhängen. Ein Geweih-loser Hirsch und ein Sporn-loser Hahn haben wenig Aussicht Erben zu hinterlassen. Eine Sexuelle Züchtung, welche stets dem Sieger die Fortpflanzung ermöglichen sollte, müsste ihm unzähmbaren Muth, lange Spornen und starke Flügel verleihen, um mit dem gespornten Laufe kämpfen zu können; wie denn der Kampfhahn-Züchter seine Zucht durch sorgfältige Auswahl in dieser Beziehung sehr zu veredeln versteht. Wie weit hinab in der Stufenleiter der Natur dergleichen Kämpfe noch vorkommen, weiss ich nicht. Doch hat man männliche Alligatoren beschrieben, wie sie um den Besitz eines Weibchens kämpfen, brüllen und sich im Kreise drehen; männliche Salmen hat man Tage lang miteinander streiten sehen; männliche Hirschkäfer haben oft Wunden von den mächtigen Kiefern andrer Männchen. Doch ist der Kampf am heftigsten zwischen den Männchen polygamischer Thiere, und diese scheinen auch am gewöhnlichsten mit besondern Waffen dazu versehen zu seyn. Die Männchen der Raub-Säugethiere sind schon an sich wohl bewehrt; doch pflegen ihnen u. e. a. durch sexuelle Züchtung noch besondere Waffen verliehen zu werden, wie dem Löwen seine Mähne, dem Eber sein Hauzahn, dem männlichen Salmen seine Haken-förmige [94] Kinnlade; und der Schild mag für den Sieg eben so wichtig seyn, als das Schwert oder der Speer. Unter den Vögeln hat der Bewerbungs-Kampf oft einen friedlicheren Charakter. Alle, welche diesen Gegenstand behandelt haben, glauben, die eifrigste Rivalität finde unter den Sing-Vögeln statt, wo die Männchen durch Gesang die Weibchen anzuziehen suchen. Der Felshahn in Guiana (Rupicola), die Paradiesvögel u. e. a. schaaren sich zusammen, und ein Männchen um das andere entfaltet sein prächtiges Gefieder, um in theatralischen Stellungen vor den Weibchen zu paradiren, welche als Zuschauer dastehen und sich zuletzt den liebenswürdigsten Bewerber erkiesen. Sorgfältige Beobachter der in Gefangenschaft gehaltenen Vögel wissen sehr wohl, dass oft individuelle Bevorzugungen und Abneigungen stattfinden; so hat Herr R. Heron beschrieben, wie ein scheckiger Perlhahn ausserordentlich anziehend für alle seine Hennen gewesen. Es mag kindisch aussehen, solchen anscheinend schwachen Mitteln irgend eine Wirkung zuzuschreiben, und ich kann hier nicht in Einzelnheiten eingehen, um jene Ansicht zu unterstützen; wenn jedoch der Mensch im Stande ist seinen Bantam-Hühnern in kurzer Zeit eine elegante Haltung und Schönheit je nach seinen Begriffen von Schönheit zu geben, so kann ich keinen genügenden Grund zum Zweifel finden, dass weibliche Vögel, indem sie Tausende von Generationen hindurch den Melodie-reichsten oder schönsten Männchen, je nach ihren Begriffen von Schönheit, bei der Wahl den Vorzug geben, nicht ebenfalls einen merklichen Effekt bewirken können. Ich habe starke Vermuthung, dass einige wohlbekannte Gesetze in Betreff des Gefieders männlicher und weiblicher Vögel dem der jungen gegenüber sich aus der Ansicht erklären lassen, das Gefieder seye hauptsächlich durch die Geschlechtliche Wahl modifizirt worden, welche im Geschlechtsreifen Alter während der Jahres-Zeit wirkt, welche der Fortpflanzung gewidmet ist. Die dadurch erfolgten Abänderungen sind dann auf entsprechende Alter und Jahres-Zeiten wieder vererbt worden entweder durch die Männchen allein, oder durch Männchen und Weibchen; ich habe aber hier nicht Raum weiter auf diesen Gegenstand einzugehen. [95]

     Wenn daher Männchen und Weibchen einer Thier-Art die nämliche allgemeine Lebens-Weise haben, aber in Bau, Farbe oder Verzierungen von einander abweichen, so sind nach meiner Meinung diese Verschiedenheiten hauptsächlich durch die Geschlechtliche Wahl bedingt; d. h. männliche Individuen haben in aufeinander-folgenden Generationen einige kleine Vortheile über andre Männchen gehabt in Waffen, Vertheidigungs-Mitteln oder Reitzen und haben diese Vortheile auf ihre männlichen Nachkommen übertragen. Doch möchte ich nicht alle solche Geschlechts-Verschiedenheiten aus dieser Quelle ableiten; denn wir sehen Eigenthümlichkeiten entstehen und beim männlichen Geschlechte unsrer Hausthiere erblich werden, wie die Hautlappen bei den Englischen Boten-Tauben, die Horn-artigen Auswüchse bei den Männchen einiger Hühner-Vögel u. s. w., von welchen wir nicht annehmen können, dass sie den Männchen im Kampfe nützlich sind oder eine Anziehungskraft auf die Weibchen ausüben[2]. Analoge Fälle sehen wir auch in der Natur, wo z. B. der Haar-Büschel auf der Brust des Puterhahns weder nützlich im Kampfe noch eine Zierde für den Brautwerber seyn kann; — und wirklich, hätte sich dieser Büschel erst im Zustande der Zähmung gebildet, wir würden ihn eine Monstrosität nennen!

     Beleuchtung der Wirkungsweise der Natürlichen Züchtung.) In der Absicht die Art und Weise klar zu machen, wie nach meiner Meinung die Natürliche Wahl wirke, muss ich um die Erlaubniss bitten, ein oder zwei erdachte Beispiele zur Erläuterung vorzutragen. Denken wir uns zunächst einen Wolf, der sich seine Beute an verschiedenen Thieren theils durch List, theils durch Stärke und theils durch Schnelligkeit verschaffe, und nehmen wir an, seine schnelleste Beute, der Hirsch z. B., hätte sich aus irgend einer Ursache in einer Gegend sehr vervielfältigt, oder andre zu seiner Nahrung dienende Thiere hätten in der Jahreszeit, wo sich der Wolf seine Beute am schwersten verschaffen kann, sehr vermindert. Unter solchen Umständen kann [96] ich keinen Grund zu zweifeln finden, dass die schlanksten und schnellsten Wölfe am meisten Aussicht auf Fortkommen und somit auf Erhaltung und Verwendung zur Nachzucht hätten, immerhin vorausgesetzt, dass sie dabei Stärke genug behielten, um sich ihrer Beute auch zu einer andern Jahreszeit zu bemeistern, wo sie veranlasst seyn könnten, auf andre Thiere auszugehen. Ich finde um so weniger Ursache daran zu zweifeln, da ja der Mensch auch die Schnelligkeit seines Windhundes durch sorgfältige und planmässige Auswahl oder durch jene unbewusste Wahl zu erhöhen im Stande ist, welche schon stattfindet, wenn nur Jedermann den besten Hund zu haben strebt, ohne einen Gedanken an Veredelung der Rasse.

     So könnte auch ohne eine Veränderung in den Verhältnisszahlen der Thiere, die dem Wolfe zur Beute dienen, ein junger Wolf zur Welt kommen mit angeborner Neigung gewisse Arten von Beutethieren zu verfolgen. Auch Diess ist nicht sehr unwahrscheinlich; denn wie oft nehmen wir grosse Unterschiede in den natürlichen Neigungen unsrer Hausthiere wahr! Eine Katze z. B. ist geneigt Ratten und die andre Mäuse zu fangen. Eine Katze bringt nach Hrn. St. John geflügelte Beute nach Hause, die andre Hasen und Kaninchen, und die dritte jagt auf Marschland und meistens nächtlicher Weile nach Waldhühnern und Schnepfen. Man weiss, dass die Neigung Ratten statt Mäuse zu fangen, vererblich ist. Wenn nun eine angeborne sehwache Veränderung in Gewohnheit oder Körper-Bau einen einzelnen Wolf begünstigt, so hat er am meisten Aussicht auszudauern und Nachkommen[WS 2] zu hinterlassen. Einige seiner Jungen werden dann vermuthlich dieselbe Gewohnheit oder Körper-Eigenschaft erben, und so kann durch oftmalige Wiederholung dieses Vorgangs eine neue Varietät entstehen, welche die alte Stamm-Form des Wolfes ersetzt oder zugleich mit ihr fortbesteht. Nun werden ferner Wölfe, welche Gebirgs-Gegenden bewohnen, und solche, die sich im Tieflande aufhalten, von Natur genöthigt, auf verschiedene Beute auszugehen, und mithin bei fortdauernder Erhaltung der für jede der zwei Landstriche geeignetesten Individuen allmählich zwei Abänderungen bilden. Diese Varietäten müssen da, wo ihre [97] Verbreitungs-Bezirke zusammenstossen, sich vermischen und kreutzen; doch werden wir auf die Frage von der Kreutzung später zurückkommen. Hier will ich noch beifügen, dass nach Pierce im Catskill-Gebirge in den Vereinten Staaten zwei Varietäten des Wolfes hausen, eine leichtere von Windspiel-Form, welche Hirsche verfolgt, und eine andre schwerfälligere und mit kurzen Beinen, welche häufiger die Schaaf-Heerden angreift.

     Nehmen wir nun einen zusammengesetzteren Fall an. Gewisse Pflanzen scheiden eine süsse Flüssigkeit aus, wie es scheint, um irgend etwas Nachtheiliges aus ihrem Safte zu entfernen. Diess wird bei manchen Schmetterlings-blüthigen Gewächsen durch Drüsen am Grunde der Stipulä und beim gemeinen Lorbeerbaum auf dem Rücken seiner Blätter bewirkt. Diese Flüssigkeit, wenn auch nur in geringer Menge zu finden, wird von Insekten begierig aufgesucht. Nehmen wir nun an, es werde ein wenig solchen süssen Saftes oder Nektars an der inneren Basis der Kronenblätter einer Blume ausgesondert. In diesem Falle werden die Insekten, welche den Nektar aufsuchen, mit Pollen bestäubt werden und denselben gewiss oft von einer Blume auf das Stigma der andern übertragen. Die Blumen zweier verschiedener Individuen einer Art werden dadurch gekreutzt, und die Kreutzung liefert (wie nachher ausführlicher gezeigt werden soll) vorzugsweise kräftige Sämlinge, welche mithin die beste Aussicht haben auszudauern und sich fortzupflanzen. Einige dieser Sämlinge können wohl das Nektar-Absonderungs-Vermögen erben, und diejenigen Nektar-absondernden Blüthen, welche die stärksten Drüsen besitzen und den meisten Nektar liefern, werden am öftesten von Insekten besucht und am öftesten mit andern gekreutzt werden und so mit der Länge der Zeit allmählich die Oberhand gewinnen. Ebenso werden diejenigen Blüthen, deren Staubfäden und Staubwege so gestellt sind, dass sie je nach Grösse und sonstigen Eigenthümlichkeiten der sie besuchenden Insekten einigermaassen die Übertragung ihres Samenstaubs von Blüthe zu Blüthe erleichtern, gleicherweise begünstigt und zur Nachzucht geeigneter seyn. Nehmen wir den Fall an, die zu den Blumen kommenden Insekten wollten Pollen statt [98] Nektar einsammeln, so wäre zwar die Entführung des Pollens, der allein zur Befruchtung der Pflanze erzeugt wird, ein Verlust für dieselbe; wenn jedoch anfangs gelegentlich und nachher gewöhnlich ein wenig Pollen von den ihn einsammelnden Insekten entführt und von Blume zu Blume getragen wird, so wird die hiedurch bewirkte Kreutzung zum grossen Vortheil der Pflanzen seyn, mögen ihnen auch neun Zehntel der ganzen Pollen-Masse zerstört werden; denn diejenige Pflanze, welche mehr und mehr Pollen erzeugt und immer grössre Antheren bekommt, wird für die Nachzucht das Übergewicht haben.

     Wenn nun unsre Pflanze, welche auf diese Weise vor andern erhalten und durch Natürliche Wahl mit Blumen versehen worden, welche die Pollen verschleppenden Insekten immer mehr anziehen, so kann die Überführung des Pollens von einer Pflanze zur andern endlich zur Regel werden, wie Diess in vielen Fällen wirklich geschieht. Ich will nun einen nicht einmal sehr zutreffenden Fall als Beleg dafür anführen, welcher jedoch geeignet ist zugleich als Beispiel eines ersten Schrittes zur Trennung der Geschlechter zu dienen, von welcher noch weiter die Rede seyn wird. Einige Stechpalmen-Stämme bringen nur männliche Blüthen hervor, welche vier nur wenig Pollen erzeugende Staubgefässe und ein verkümmertes Pistill enthalten; andre Stämme liefern nur weibliche Blüthen, die ein vollständig entwickeltes Pistill und vier Staubfäden mit verschrumpften Antheren einschliessen, in welchen nicht ein Pollen-Körnchen bemerkt werden kann. Nachdem ich einen weiblichen Stamm genau 60 Ellen von einem männlichen entfernt gefunden, nehme ich die Stigmata aus zwanzig Blüthen von verschiedenen Zweigen unter das Mikroskop und entdecke an allen ohne Ausnahme einige Pollen-Körner und an einigen sogar eine übermässige Menge desselben. Da der Wind schon einige Tage lang vom weiblichen gegen den männlichen Stamm hin gewehet hatte, so kann er es nicht gewesen seyn, der den Pollen dahin geführt. Das Wetter war schon einige Tage lang kalt und stürmisch und daher nicht günstig für die Bienen gewesen, und demungeachtet war jede von mir untersuchte weibliche Blüthe durch den Pollen befruchtet worden, [99] welchen die Bienen, von Blüthe zu Blüthe nach Nektar suchend, an ihren Haaren vom männlichen Stamme mit herüber gebracht hatten. Doch kehren wir nun zu unserem ersonnenen Falle zurück. Sobald jene Pflanze in solchem Grade anziehend für die Insekten geworden, dass sie den Pollen regelmässig von einer Blüthe zur andern tragen, wird ein andrer Prozess beginnen. Kein Naturforscher zweifelt an dem Vortheil der sogen. »physiologischen Theilung der Arbeit«; daher man glauben darf, es seye nützlich für eine Pflanzen-Art in einer Blüthe oder an einem ganzen Stocke nur Staubgefässe und in der andern Blüthe oder auf dem andern Stocke nur Pistille hervorzubringen. Bei kultivirten oder in neue Existenz-Bedingungen versetzten Pflanzen schlagen manchmal die männlichen und zuweilen die weiblichen Organe mehr oder weniger fehl. Nehmen wir aber an, Diess geschehe auch in einem wenn noch so geringen Grade im Natur-Zustande derselben, so würden, da der Pollen schon regelmässig von einer Blume zur andern geführt wird und eine vollständige Trennung der Geschlechter unsrer Pflanze ihr nach dem Prinzipe der Arbeitstheilung vortheilhaft ist, Individuen mit einer mehr und mehr entwickelten Tendenz dazu fortwährend begünstigt und zur Nachzucht ausgewählt werden, bis endlich die Trennung der Geschlechter vollständig wäre.

     Kehren wir nun zu den von Nektar lebenden Insekten in unserem ersonnenen Falle zurück; nehmen wir an, die Pflanze mit durch andauernde Züchtung zunehmender Nektar-Bildung sey eine gemeine Art, und unterstellen wir, dass gewisse Insekten hauptsächlich auf deren Nektar als ihre Nahrung angewiesen sind. Ich könnte durch manche Beispiele nachweisen, wie sehr die Bienen bestrebt sind, Zeit zu ersparen. Ich will mich jedoch nur auf ihre Gewohnheit berufen, im den Grund gewisser Blumen Öffnungen zu machen, um durch diese den Nektar zu saugen, welchen sie mit ein Bischen mehr Weile durch die Mündung heraus holen könnten. Dieser Thatsachen eingedenk halte ich es nicht für gewagt anzunehmen, dass eine zufällige Abweichung in der Grösse und Form ihres Körpers oder in der Länge und Krümmung ihres Rüssels, wenn auch viel zu unbedeutend [100] für unsre Wahrnehmung, von solchem Nutzen für eine Biene oder ein anderes Insekt seyn könne, das sich mit deren Hülfe sein Futter leichter verschafft, dass es mehr Wahrscheinlichkeit der Fortdauer und der Fortpflanzung als andre Thiere seiner Art besitzt. Seine Nachkommen werden wahrscheinlich eine Neigung zu einer ähnlichen Abweichung des Organes erben. Die Röhren der Blumen-Kronen des rothen und des Inkarnat-Klee’s (Trifolium pratense und Tr. incarnatum) scheinen bei flüchtiger Betrachtung nicht sehr an Länge auseinander zu weichen; demungeachtet kann die Honig- oder Korb-Biene (Apis mellifica) den Nektar leicht aus der ersten aber nicht aus der letzten saugen, welche daher nur von Hummeln besucht wird, so dass ganze Felder rothen Klee’s der Korb-Biene vergebens einen Überschuss von köstlichem Nektar darbieten. Es würde daher für die Korb-Biene von grösstem Vortheil seyn, einen etwas längeren oder abweichend gestalteten Rüssel zu haben. Auf der anderen Seite habe ich durch Versuche gefunden, dass die Fruchtbarkeit des rothen Klee’s grossentheils durch den Besuch der Honig-suchenden Insekten bedingt ist, welche bei diesem Geschäfte die Theile der Blumenkrone verschieben und dabei den Pollen auf die Oberfläche der Narbe wischen. Sollten dagegen die Hummeln in einer Gegend selten werden, so müsste eine kürzere oder tiefer getheilte Blumenkrone von grösstem Nutzen für den rothen Klee werden, damit die Honig-Biene seine Blüthen besuchen könne. Auf diese Weise begreife ich, wie eine Blüthe und eine Biene nach und nach, seye es gleichzeitig oder eine nach der andern, abgeändert und auf die vollkommenste Weise einander angepasst werden könnten durch fortwährende Erhaltung von Einzelnwesen mit beiderseits nur ein wenig günstigeren Abweichungen der Struktur.

     Ich weiss wohl, dass die durch die vorangehenden ersonnenen Beispiele erläuterte Lehre von der Natürlichen Auswahl denselben Einwendungen ausgesetzt ist, welche man anfangs gegen Ch. Lyell’s grossartige Ansichten in »the Modern Changes of the Earth, as illustrative of Geology« vorgebracht hat; indessen hört man jetzt die Wirkung der Brandung z. B. in [101] ihrer Anwendung auf die Aushöhlung riesiger Thäler oder auf die Bildung der längsten binnenländischen Klippen-Linien selten mehr als eine unbedeutende und lächerliche Ursache bezeichnen. Die Natürliche Züchtung kann nur durch Häufung unendlich kleiner vererbter Modifikationen wirken, deren jede für Erhaltung des Wesens, dem sie angehört, günstig ist; und wie die neuere Geologie solche Ansichten, wie die Aushöhlung grosser Thäler durch eine einzige Diluvial-Woge meistens verbannt hat, so wird auch die Natürliche Züchtung, wenn sie ein wahres Prinzip ist, den Glauben an eine fortgesetzte Schöpfung neuer Organismen oder an eine grosse und plötzliche Modifikation ihrer Organisation verbannen.

     Über die Kreutzung der Individuen.) Ich muss hier mit einem kleinen Absprung beginnen. Es liegt vor Augen, dass bei Pflanzen und Thieren getrennten Geschlechtes jedesmal zwei Individuen sich vereinigen müssen, um eine Geburt zu Stande zu bringen. Bei Hermaphroditen aber ist Diess keineswegs klar. Demungeachtet bin ich stark geneigt zu glauben, dass bei allen Hermaphroditen zwei Individuen gewöhnlich oder ausnahmsweise zu jeder einzelnen Fortpflanzung ihrer Art zusammenwirken (die sonderbaren und noch nicht recht begriffenen Fälle von Parthenogenesis ausgenommen). Diese Ansicht hat zuerst Andreas Knight aufgestellt. Wir werden jetzt ihre Wichtigkeit erkennen. Zwar kann ich diese Frage nur in äusserster Kürze abhandeln; jedoch habe ich die Materialien für eine ausführlichere Erörterung vorbereitet. Alle Wirbelthiere, alle Insekten und noch einige andre grosse Thier-Gruppen paaren sich für jede Geburt. Neuere Untersuchungen haben die Anzahl der früher angenommenen Hermaphroditen sehr vermindert, und von den wirklichen Hermaphroditen paaren sich viele, d. h. zwei Individuen vereinigen sich zur Reproduktion; Diess ist alles, was uns hier angeht. Doch gibt es noch viele andre zwitterliche Thiere, welche gewiss sich gewöhnlich nicht paaren. Auch bei weitem die grösste Anzahl der Pflanzen sind Hermaphroditen. Man kann nun fragen, was ist in diesen Fällen für ein Grund zur Annahme vorhanden, dass jedesmal zwei Individuen zur [102] Reproduktion zusammenwirken? Da es hier nicht möglich ist, in Einzelnheiten einzugehen, so muss ich mich auf einige allgemeine Betrachtungen beschränken.

     Für’s Erste habe ich eine grosse Masse von Thatsachen gesammelt, welche übereinstimmend mit der fast allgemeinen Überzeugung der Viehzüchter beweisen, dass bei Thieren wie bei Pflanzen eine Kreutzung zwischen Thieren verschiedener Varietäten, oder zwischen solchen verschiedener Stämme einer Varietät der Nachkommenschaft Stärke und Fruchtbarkeit verleiht, während anderseits enge Inzucht Kraft und Fruchtbarkeit vermindert. Diese Thatsachen allein machen mich glauben, dass es ein allgemeines Natur-Gesetz ist (wie unwissend wir auch über die Bedeutung des Gesetzes seyn mögen), dass kein organisches Wesen sich selbst für eine Ewigkeit von Generationen befruchten könne, dass daher eine Kreutzung mit einem andern Individuum von Zeit zu Zeit und vielleicht nach langen Zwischenräumen einmal unentbehrlich ist.

     Von dem Glauben ausgehend, dass Diess ein Natur-Gesetz seye, werden wir verschiedene grosse Klassen von Thatsachen verstehen, welche auf andre Weise unerklärlich sind. Jeder Blendlingsgetreide-Züchter weiss, wie nachtheilig für die Befruchtung einer Blüthe es ist, wenn sie während derselben der Feuchtigkeit ausgesetzt wird. Und doch, was für eine Menge von Blumen haben Staubbeutel und Narben vollständig dem Wetter ausgesetzt! Wenn aber eine Kreutzung von Zeit zu Zeit nun doch unerlässlich, so erklärt sich jene Aussetzung aus der Nothwendigkeit, dass die Blumen für den Eintritt fremden Pollens offen seyen, und zwar um so mehr, als die zusammengehörigen Staubgefässe und Pistille einer Blume gewöhnlich so nahe beisammen stehen, dass Selbstbefruchtung unvermeidlich scheint. Andrerseits aber haben viele Blumen ihre Befruchtungs-Werkzeuge sehr enge umschlossen, wie die Schmetterlingsblüthigen z. B.; aber in vielen und vielleicht in allen solchen Blumen ist eine sehr merkwürdige Anpassung zwischen dem Bau der Blume und der Art und Weise, wie die Bienen den Nektar daraus saugen, indem sie alsdann entweder den eignen Pollen der Blume über [103] ihre Narbe wischen oder fremden Pollen mitbringen. Zur Befruchtung der Schmetterlingsblüthen ist der Besuch der Bienen so nothwendig, dass, wie ich durch anderwärts veröffentlichte Versuche gefunden , ihre Fruchtbarkeit sehr abnimmt, wenn dieser Besuch verhindert wird. Nun ist es aber kaum möglich, dass Bienen von Blüthe zu Blüthe fliegen, ohne den Pollen der einen zur andern zu bringen, wie ich überzeugt bin, zum grossen Vortheil der Pflanze. Die Bienen wirken dabei wie ein Kameelhaar-Pinsel, und es ist vollkommen zur Befruchtung genügend, wenn man mit einem und demselben Bürstchen zuerst das Staubgefäss der einen Blume und dann die Narbe der andern berührt. Dabei ist aber nicht zu fürchten, dass die Bienen viele Bastarde zwischen verschiedenen Arten erzeugen; denn, wenn man den eignen Pollen und den einer andren Pflanzen-Art zugleich mit demselben Pinsel auf die Narbe streicht, so hat der erste eine so überwiegende Wirkung, dass er, wie schon Gärtner gezeigt, jeden Einfluss des andern gänzlich zerstört.

     Wenn die Staubgefässe einer Blume sich plötzlich gegen das Pistill schnellen oder sich eines nach dem andern langsam gegen dasselbe neigen, so scheint diese Einrichtung nur auf Sicherung der Selbstbefruchtung berechnet, und ohne Zweifel ist sie auch dafür nützlich. Aber die Thätigkeit der Insekten ist oft nothwendig, um die Staubfäden aufschnellen zu machen, wie Kölreuter beim Sauerdorn insbesondere gezeigt hat; und sonderbarer Weise hat man gerade bei dieser Sippe (Berberis), welche so vorzüglich zur Selbstbefruchtung eingerichtet zu seyn scheint, die Beobachtung gemacht, dass, wenn man nahe verwandte Formen oder Varietäten dicht neben einander pflanzt, es in Folge der reichlichen Kreutzung kaum möglich ist noch eine reine Rasse zu erhalten. In vielen andern Fällen aber findet man, wie C. C. Sprengel’s Schriften und meine eignen Erfahrungen lehren, statt der Einrichtungen zu Begünstigung der Selbstbefruchtung vielmehr solche, welche das Stigma hindern, den Saamenstaub der nämlichen Blüthe aufzunehmen. So ist bei Lobelia fulgens eine wirklich schöne und sorgfältig ausgearbeitete Einrichtung, wodurch jedes der unendlich zahlreichen Pollen-Körnchen [104] aus den verwachsenen Antheren einer jeden Blüthe fortgeführt wird, ehe das Stigma derselben Blüthe bereit ist dieselben aufzunehmen. Da nun, wenigstens in meinem Garten, diese Blumen niemals von Insekten besucht werden, so haben sie auch niemals Saamen angesetzt, bis ich auf künstlichem Wege den Pollen einer Blüthe auf die Narbe der andern übertrug und mich hiedurch auch in den Besitz zahlreicher Sämlinge zu setzen vermochte. Eine andre daneben stehende Lobelia-Art, die von Bienen besucht wird, bildet von freien Stücken Saamen. In sehr vielen anderen Fällen, wo keine besondre mechanische Einrichtung vorhanden ist, um das Stigma einer Blume an der Aufnahme des eignen Saamenstaubs zu hindern, platzen entweder, wie sowohl C. C. Sprengel als ich selbst gefunden, die Staubbeutel schon bevor die Narbe zur Befruchtung reif ist, oder das Stigma ist vor dem Pollen derselben Blüthe reif, so dass diese Pflanzen in der That getrennte Geschlechter haben und sich fortwährend kreutzen. Wie wundersam erscheinen diese Thatsachen! Wie wundersam, dass der Pollen und die Oberfläche des Stigmas einer und derselben Blüthe so nahe zusammengerückt sind, als sollte dadurch die Selbstbefruchtung unvermeidlich werden, und dass beide gerade in so vielen dieser Fälle völlig unnütz für einander sind. Wie einfach sind dagegen diese Thatsachen zu erklären aus der Ansicht, dass von Zeit zu Zeit eine Kreutzung mit einem anderen Individuum vortheilhaft oder sogar unentbehrlich seye?

     Wenn verschiedene Varietäten von Kohl, Radies’chen, Lauch u. e. a. Pflanzen dicht nebeneinander zur Saamen-Bildung gebracht werden, so liefern ihre Saamen, wie ich gefunden, grossentheils Blendlinge. So z. B. erzog ich 233 Kohl-Sämlinge aus dem Saamen einiger Stöcke von verschiedenen Varietäten, die nahe bei einander gewachsen, und von diesen entsprachen nur 78 der Varietät des Stocks, von dem sie eingesammelt worden, und selbst diese nicht alle genau. Nun ist aber das Pistill einer jeden Kohl-Blüthe nicht allein von deren eignen sechs Staubgefässen, sondern auch von denen aller übrigen Blüthen derselben Pflanze nahe umgeben. Wie kommt es denn, dass sich eine so [105] grosse Anzahl von Sämlingen als Blendlinge erwiesen? Ich muss vermuthen, dass es davon herrührt, dass der Pollen einer fremden Varietät einen überwiegenden Einfluss auf das eigne Stigma habe, und zwar eben in Folge des Natur-Gesetzes, dass die Kreutzung zwischen verschiedenen Individuen derselben Spezies für diese nützlich ist. Werden dagegen verschiedene Arten mit einander gekreutzt, so ist der Erfolg gerade umgekehrt, indem der Pollen einer Art einen über den der andern überwiegenden Einfluss hat. Doch auf diesen Gegenstand werde ich in einem späteren Kapitel zurückkommen.

     Handelt es sich um mächtige mit zahllosen Blüthen bedeckte Bäume, so kann man einwenden, dass deren Pollen nur selten von einem Stamme auf den andern übertragen werden und meistens nur von einer Blüthe auf eine andre Blüthe desselben Stammes gelangen kann, dass aber verschiedene Blüthen eines Baumes nur in einem beschränkten Sinne als Individuen angesehen werden können. Ich halte diese Einrede für triftig; doch hat die Natur in dieser Hinsicht vorgesorgt, indem sie den Bäumen ein Streben zur Bildung von Blüthen getrennten Geschlechtes verliehen hat. Sind die Geschlechter getrennt, wenn gleich männliche und weibliche Blüthen auf einem Stamme vereinigt, so muss der Pollen regelmässig von einer Blüthe zur andern geführt werden, was denn auch mehr Aussicht gewährt, dass er gelegentlich von einem Stamm zum anderen komme. Ich finde, dass in unsren Gegenden die Bäume aller Pflanzen-Ordnungen öfter als Sträucher und Kräuter getrennte Geschlechter haben, und tabellarische Zusammenstellungen der Neuseeländischen Bäume, welche Dr. Hooker, und der Vereinten Staaten, welche Asa Gray mir auf meine Bitte geliefert, haben, wie vorauszusehen, zum nämlichen Ergebnisse geführt. Doch andrerseits hat mich Dr. Hooker neuerlich benachrichtigt, dass diese Regel nicht für Australien gelte, und ich habe daher diese wenigen Bemerkungen über die Geschlechts-Verhältnisse der Bäume nur machen wollen, um die Aufmerksamkeit darauf zu lenken.

     Was die Thiere betrifft, so gibt es unter den Landbewohnern nur wenige Zwitter, wie Schnecken und Regenwürmer, [106] und diese paaren sich alle. Ich habe noch kein Beispiel kennen gelernt, wo ein Landthier sich selbst befruchtete. Man kann diese merkwürdige Thatsache, welche einen so schroffen Gegensatz zu den Landpflanzen bildet, nach der Ansicht, dass eine Kreutzung von Zeit zu Zeit nöthig seye, erklären, indem man das Medium, worin die Landthiere leben, und die Beschaffenheit des befruchtenden Elementes berücksichtigt; denn wir kennen keinen Weg, auf welchem, wie durch Insekten und Wind bei den Pflanzen, eine gelegentliche Kreutzung zwischen Landthieren anders bewirkt werden könnte, als durch die unmittelbare Zusammenwirkung der beiderlei Individuen. Bei den Wasserthieren dagegen gibt es viele sich selbst befruchtende Hermaphroditen; hier liefern aber die Strömungen des Wassers ein handgreifliches Mittel für gelegentliche Kreutzungen. Und, wie bei den Pflanzen, so habe ich auch bei den Thieren, sogar nach Besprechung mit einer der ersten Autoritäten, mit Professor Huxley nämlich, vergebens gesucht, auch nur eine hermaphroditische Thier-Art zu finden, deren Geschlechts-Organe so vollständig im Körper eingeschlossen wären, dass dadurch der gelegentliche Einfluss eines andern Einzelwesens physisch unmöglich gemacht würde. Die Cirripeden schienen mir zwar langezeit einen in dieser Beziehung sehr schwierigen Fall darzubieten; ich bin aber durch einen glücklichen Umstand in die Lage gesetzt gewesen, schon anderwärts zeigen zu können, dass zwei Individuen, wenn auch in der Regel sich selbst befruchtende Zwitter, sich doch zuweilen kreutzen.

     Es muss den meisten Naturforschern als eine sonderbare Ausnahme schon aufgefallen seyn, dass bei den meisten Pflanzen und Thieren solche Arten in einer Familie und oft in einer Sippe beisammen stehen, welche, obwohl im grösseren Theile ihrer übrigen Organisation unter sich nahe übereinstimmend, doch zum Theile Zwitter und zum Theile eingeschlechtig sind. Wenn aber auch alle Hermaphroditen sich von Zeit zu Zeit mit andern Einzelwesen kreutzen, so wird der Unterschied zwischen hermaphroditischen und eingeschlechtigen Arten, was ihre Geschlechts-Funktionen betrifft, ein sehr kleiner. [107]

     Nach diesen mancherlei Betrachtungen und den vielen einzelnen Fällen, die ich gesammelt habe, jedoch hier nicht mittheilen kann, bin ich sehr zur Vermuthung geneigt, dass im Pflanzen- wie im Thier-Reiche die von Zeit zu Zeit erfolgende Kreutzung mit einem fremden Einzelwesen ein Natur-Gesetz ist. Ich weiss wohl, dass es in dieser Beziehung viele schwierige Fälle gibt, unter welchen einige sind, worüber[WS 3] ich mit Forschungen beschäftigt bin. Als Endergebniss können wir folgern, dass in vielen organischen Wesen die Kreutzung zweier Individuen eine offenbare Nothwendigkeit für jede Fortpflanzung ist; bei vielen andern genügt es, wenn sie von Zeit zu Zeit wiederkehrt; dagegen vermuthe ich, dass Selbstbefruchtung allein nirgends für immer ausreichend seye.

     Für natürliche Züchtung günstige Verhältnisse.) Das ist ein sehr verwickelter Gegenstand. Eine grosse Summe von erblicher Veränderlichkeit ist dafür günstig; aber ich glaube, dass schon individuelle Verschiedenheiten genügen. Eine grosse Anzahl von Individuen bietet mehr Aussicht auch auf das Hervortreten nutzbarer Abänderungen in einem gegebenen Zeitraum, selbst bei geringerem Betrag schon vorhandener Veränderlichkeit derselben, und ist eine äusserst wichtige Bedingung des Erfolges. Obwohl die Natur lange Zeiträume auf die Züchtung verwendet, so braucht sie doch keine von unendlicher Länge; denn da alle organischen Wesen sozusagen streben eine Stelle im Haushalte der Natur einzunehmen, so muss eine Art, welche nicht gleichen Schrittes mit ihren Mitbewerbern verändert und verbessert wird, bald erlöschen.

     Bei planmässiger Züchtung wählt der Züchter stets bestimmte Objekte, und freie Kreutzung würde sein Werk gänzlich hemmen. Haben aber viele Menschen, ohne die Absicht ihre Rasse zu veredeln, eine ungefähr gleiche Ansicht über Vollkommenheit, und sind alle bestrebt, nur die besten und vollkommensten Thiere zur Nachzucht zu verwenden, so wird, wenn auch langsam, aus dieser unbewussten Züchtung gewiss schon viele Umänderung und Veredlung hervorgehen, wenn auch viele Kreutzung mit schlechteren Thieren zwischendurchläuft. So ist es auch in der [108] Natur. Findet sich ein beschränktes Gebiet mit einer nicht ganz angemessen ausgefüllten Stelle in ihrer geselligen Zusammensetzung, so wird die Natürliche Züchtung bestrebt seyn, alle Individuen zu erhalten, die, wenn auch in verschiedenem Grade, doch in der angemessenen Richtung so variiren, dass sie die Stelle allmählich besser auszufüllen im Stande sind. Ist jenes Gebiet aber gross, so werden seine verschiedenen Bezirke gewiss ungleiche Lebens-Bedingungen darbieten; und wenn dann durch den Einfluss der Natürlichen Züchtung irgend eine Spezies auf eine andre Weise in jedem Bezirke abgeändert worden, so wird an den Grenzen dieser Bezirke eine Kreutzung zwischen den Individuen jener verschiedenen Abänderungen eintreten, und in diesem Falle kann die Wirkung der Kreutzung durch die der Natürlichen Züchtung, welche bestrebt ist alle Individuen eines jeden Bezirks genau in derselben Weise den Lebens-Bedingungen anzupassen, kaum aufgewogen werden, weil in einer zusammenhängenden Fläche die Lebens-Bedingungen des einen in die des anderen Bezirkes allmählich übergehen. Die Kreutzung wird hauptsächlich diejenigen Thiere berühren, welche sich zu jeder Fortpflanzung paaren, viel wandern und sich nicht rasch vervielfältigen. Daher bei Thieren dieser Art, Vögeln z. B., die Abänderungen gewöhnlich auf getrennte Gegenden beschränkt seyn müssen, wie es auch der Fall zu seyn scheint. Bei Zwitter-Organismen, welche sich nur von Zeit zu Zeit mit andern kreutzen, sowie bei solchen Thieren, die zu jeder Verjüngung ihrer Art sich paaren, aber wenig wandern und sich sehr rasch vervielfältigen können, dürfte sich eine neue und verbesserte Varietät an irgend einer Stelle rasch bilden und sich dort in Masse zusammenhalten, so dass alle Kreutzung, wie sie auch beschaffen seye, nur zwischen Einzelthieren derselben neuen Varietät erfolgt. Ist eine örtliche Varietät auf solche Weise einmal gebildet, so wird sie sich nachher nur langsam über andre Bezirke verbreiten. Nach dem obigen Prinzip ziehen Pflanzschulen-Besitzer es immer vor, Saamen von einer grossen Pflanzen-Masse gleicher Varietät zu ziehen, weil hiedurch die Möglichkeit einer Kreutzung mit anderen Varietäten gemindert wird. [109]

     Selbst bei Thieren mit langsamer Vermehrung, die sich zu jeder Fortpflanzung paaren, dürfen wir die Wirkungen der Kreutzung auf Verzögerung der Natürlichen Züchtung nicht überschätzen; denn ich kann eine lange Liste von Thatsachen beibringen, woraus sich ergibt, dass in einem Gebiete Varietäten der nämlichen Thier-Art lange unterschieden bleiben können, wenn sie verschiedene Stationen innehaben, in etwas verschiedener Jahreszeit sich fortpflanzen, oder im Falle nur einerlei Varietät sich unter einander paart.

     Kreutzung spielt in der Natur insoferne eine grosse Rolle, als sie die Individuen einer Art oder einer Varietät rein und einförmig in ihrem Charakter erhält. Sie wird Diess offenbar weit wirksamer zu thun vermögen bei solchen Thieren, die sich für jede Fortpflanzung paaren; aber ich habe schon vorher zu zeigen versucht, dass Ursache zur Vermuthung vorliegt, dass bei allen Pflanzen und bei allen Thieren von Zeit zu Zeit Kreutzungen erfolgen; — und wenn Diess auch nur nach langen Zwischenräumen wieder einmal erfolgt, so bin ich überzeugt, dass die hiebei erzielten Abkömmlinge die durch lange Selbstbefruchtung erzielte Nachkommenschaft an Stärke und Fruchtbarkeit so sehr übertreffen, dass sie mehr Aussicht haben dieselben zu überleben und sich fortzupflanzen, und so wird in langen Zeiträumen der Einfluss der wenn auch nur seltenen Kreutzungen doch gross seyn. Bei Organismen, die sich niemals kreutzen, kann eine Gleichförmigkeit des Charakters so lange währen, als ihre äusseren Lebens-Bedingungen die nämlichen bleiben, theils in Folge der Vererbung und theils in Folge der Natürlichen Züchtung, welche jede zufällige Abweichung von dem eigenen Typus immer wieder zerstört; wenn aber die Lebens-Bedingungen sich ändern und jene Wesen dem entsprechende Abänderungen erleiden, so kann ihre hienach abgeänderte Nachkommenschaft nur dadurch Einförmigkeit des Charakters behaupten, dass Natürliche Züchtung dieselbe vortheilhafte Varietät erhält.

     Abschliessung ist eine wichtige Bedingung im Prozesse der Natürlichen[WS 4] Zuchtwahl. In einem umgrenzten oder vereinzelten Gebiete werden, wenn es nicht sehr gross ist, die unorganischen [110] wie die organischen Lebens-Bedingungen gewöhnlich in hohem Grade einförmig seyn; daher die Natürliche Zuchtwahl streben wird, alle Individuen einer veränderlichen Art in gleicher Weise mit Hinsicht auf die gleichen Lebens-Bedingungen zu modifiziren. Auch Kreutzungen mit solchen Individuen derselben Art, welche die den Bezirk umgrenzenden und anders beschaffenen Gegenden bewohnen mögen, kommen da nicht vor. Isolirung wirkt aber vielleicht noch kräftiger, insoferne sie nach irgend einem physikalischen Wechsel im Klima, in der Höhe des Landes u. s. w. die Einwanderung hindert; und so bleiben die neuen Stellen im Natur-Haushalte der Gegend offen für die Bewerbung der alten Bewohner, bis diese sich durch geeignete Veränderungen in organischer Bildung und Thätigkeit derselben angepasst haben. Abschliessung wird endlich dadurch, dass sie Einwanderung und daher Mitbewerbung hemmt, Zeit geben zur Bildung neuer Varietäten, und Diess kann mitunter von Wichtigkeit seyn für die Hervorbringung neuer Arten. Wenn dagegen ein isolirtes Land-Gebiet sehr klein ist, so wird nothwendig auch, entweder der es umgebenden Schranken halber oder in Folge seiner ganz eigenthümlichen Lebens-Bedingungen, die Gesammtzahl der darin vorhandenen Individuen sehr klein seyn; und geringe Individuen-Zahl verzögert sehr die Bildung neuer Arten durch Natürliche Züchtung, weil sie die Möglichkeit des Auftretens neuer angemessener Abänderungen vermindert.

     Wenden wir uns zur Bestätigung der Wahrheit dieser Bemerkungen an die Natur und sehen uns um nach irgend einem kleinen abgeschlossenen Gebiete, nach einer ozeanischen Insel z. B., so werden wir finden dass, obwohl die Gesammtzahl der es bewohnenden Arten nur klein ist, wie sich in dem Kapitel über geographische Verbreitung ergeben wird, doch eine verhältnissmässig grosse Zahl dieser Arten endemisch ist, d. h. hier an Ort und Stelle und nirgends anderwärts erzeugt worden ist. Auf den ersten Anblick scheint es demnach, es müsse eine ozeanische Insel sehr geeignet zur Hervorbringung neuer Arten gewesen seyn; um jedoch thatsächlich zu ermitteln, ob ein kleines abgeschlossenes Gebiet oder eine weite offene Fläche für [111] die Erzeugung neuer organischer Formen mehr geeignet gewesen seye, müssten wir auch gleich-lange Zeiträume dabei vergleichen können, und Diess sind wir nicht im Stande zu thun.

     Obwohl ich nun nicht zweifle, dass Isolirung bei Erzeugung neuer Arten ein sehr wichtiger Umstand ist, so möchte ich doch im Ganzen genommen glauben, dass grosse Ausdehnung des Gebietes noch wichtiger insbesondere für die Hervorbringung solcher Arten ist, die sich einer langen Dauer und weiten Verbreitung fähig zeigen. Auf einer grossen und offenen Fläche wird nicht nur die Aussicht auf vortheilhafte Abänderungen wegen der grösseren Anzahl von Individuen einer Art günstiger, es werden auch die Lebens-Bedingungen wegen der grossen Anzahl schon vorhandener Arten unendlich zusammengesetzter seyn; und wenn einige von diesen zahlreichen Arten verändert oder verbessert werden, so müssen auch andre in entsprechendem Grade verbessert werden oder untergehen. Eben so wird jede neue Form, sobald sie sich stark verbessert hat, fähig seyn, sich über die offene und zusammenhängende Fläche auszubreiten, und wird hiedurch in Mitbewerbung mit vielen andern treten. Es werden[WS 5] hiemit mehr neu zu besetzende Stellen entstehen, und die Mitbewerbung um deren Ausfüllung wird viel heftiger als auf einem kleinen und abgeschlossenen Gebiete werden. Ausserdem aber mögen grosse Flächen, wenn sie jetzt auch zusammenhängend sind, in Folge der Schwankungen ihrer Oberfläche, oft noch unlängst von unterbrochener Beschaffenheit gewesen seyn, so dass sie an den guten Wirkungen der Isolirung wenigstens bis zu einem gewissen Grade mit theilgenommen haben. Ich komme demnach zum Schlusse, dass, wenn kleine abgeschlossene Gebiete auch in manchen Beziehungen wahrscheinlich sehr günstig für die Erzeugung neuer Arten gewesen sind, doch auf grossen Flächen die Abänderungen im Allgemeinen rascher erfolgt sind und, was noch wichtiger ist, die auf den grossen Flächen entstandenen neuen Formen, welche bereits den Sieg über viele Mitbewerber davon getragen, solche sind, die sich am weitesten verbreiten und die zahlreichsten neuen Varietäten [112] und Arten liefern, mithin den wesentlichsten Antheil an den geschichtlichen Veränderungen der organischen Welt nehmen.

     Wir können von diesen Gesichtspunkten aus vielleicht einige Thatsachen verstehen, welche in unserm Kapitel über die geographische Verbreitung erörtert werden sollen; z. B. dass die Erzeugnisse des kleineren Australischen Kontinentes früher vor denen der grössern Europäisch-Asiatischen Fläche gewichen und anscheinend noch jetzt im Weichen begriffen sind. Daher kommt es ferner, dass festländische Erzeugnisse allenthalben so reichlich auf Inseln naturalisirt worden sind. Auf einer kleinen Insel wird der Wettkampf ums Daseyn viel weniger heftig, Erlöschung wird weniger und Abänderung geringer gewesen seyn. Daher rührt es vielleicht auch, dass die Flora von Madeira nach Oswald Heer der erloschenen Tertiär-Flora Europas gleicht. Alle Süsswasser-Becken zusammengenommen nehmen dem Meere wie dem trockenen Lande gegenüber nur eine kleine Fläche ein, und demgemäss wird die Mitbewerbung zwischen den Süsswasser-Erzeugnissen minder heftig gewesen seyn als anderwärts; neue Formen sind langsamer entstanden und alte langsamer erloschen. Im süssen Wasser finden wir sieben Sippen ganoider oder schmelzschuppiger Fische als übrig-gebliebene Vertreter einer einst vorherrschenden Ordnung dieser Klasse; und im süssen Wasser finden wir auch einige der anomalsten Wesen, welche auf der Erde bekannt sind, den Ornithorhynchus und den Lepidosiren, welche gleich fossilen Formen bis zu gewissem Grade solche Ordnungen miteinander verbinden, welche jetzt auf der natürlichen Stufenleiter weit von einander entfernt sind. Man kann daher diese anomalen Formen immerhin »lebende Fossile« nennen. Sie haben ausgedauert bis auf den heutigen Tag, weil sie eine beschränkte Fläche bewohnt haben und in dessen Folge einer minder heftigen Mitbewerbung ausgesetzt gewesen sind.

     Fassen wir die der Natürlichen Züchtung günstigen und ungünstigen Umstände schliesslich zusammen, so weit die äusserst verwickelte Beschaffenheit Solches gestattet. Ich gelange mit Hinsicht auf die Zukunft zum Schlusse: dass für Land-Erzeugnisse eine weite Festland-Fläche, welche wahrscheinlich noch vielfältige [113] Höhenwechsel zu erfahren hat und sich daher lange Zeiträume hindurch in einem unterbrochenen Zustande befinden wird, für Hervorbringung vieler neuen zu langer Dauer und weiter Verbreitung geeigneter Lebens-Formen die günstigsten Bedingungen darbieten wird. Eine solche Fläche kann zuerst ein Festland gewesen seyn, dessen Bewohner in jener Zeit zahlreich an Arten und Individuen sehr lebhafter Mitbewerbung ausgesetzt gewesen sind. Ist sodann der Kontinent durch Senkung in grosse Inseln geschieden worden, so werden noch viele Individuen einer Art auf jeder Insel übrig seyn, welche sich an den Grenzen ihrer Verbreitungs-Bezirke (der Inseln) mit einander zu kreutzen gehindert sind. Eben so können nach irgend welchen physikalischen Veränderungen keine Einwanderungen stattfinden, daher die neu entstehenden Stellen in der gesellschaftlichen Verbindung jeder Insel durch Abänderungen ihrer alten Bewohner ausgefüllt werden müssen. Um die Varietäten einer jeden zu diesem Zwecke umzugestalten und zu vervollkommnen, wird lange Zeit nöthig seyn. Sollten durch eine neue Hebung die Inseln wieder in ein Festland zusammenfliessen, so wird eine heftige Mitbewerbung erfolgen. Die am meisten begünstigten oder verbesserten Varietäten werden sich ausbreiten, viele minder vollkommene Formen erlöschen und die Verhältniss-Zahlen des erneuerten Kontinentes sich bedeutend ändern. Es wird daher der Natürlichen Züchtung ein reiches Feld zur ferneren Verbesserung der Bewohner und zur Hervorbringung neuer Arten geboten seyn.

     Ich gebe vollkommen zu, dass die Natürliche Züchtung zuweilen mit äusserster Langsamkeit wirke. Ihre Thätigkeit hängt davon ab, ob in dem gesellschaftlichen Verbande der Natur Stellen vorhanden sind, welche dadurch besser besetzt werden könnten, dass einige Bewohner der Gegend irgend welche Abänderung erführen. Das Vorhandenseyn solcher Stellen wird oft von gewöhnlich langsamen physikalischen Veränderungen und davon abhängen, ob die Einwanderung besser anpassender Formen gehindert ist. Aber die Thätigkeit der Natürlichen Züchtung wird wahrscheinlich noch öfter davon bedingt seyn, dass einige [114] der Bewohner langsame Abänderungen erleiden, indem hiedurch die Wechselbeziehungen vieler alten Bewohner zu einander gestört werden. Nichts kann bewirkt werden, bevor nicht vortheilhafte Abänderungen vorkommen, und Abänderung selbst ist offenbar stets ein sehr langsamer Vorgang. Viele werden der Meinung seyn, dass diese verschiedenen Ursachen ganz genügend seyen, um die Thatigkeit der Natürlichen Züchtung vollständig zu hindern; ich bin jedoch nicht dieser Ansicht. Auf der andern Seite glaube ich, dass Natürliche Züchtung immer sehr langsam wirke, oft erst wieder nach langen Zeitzwischenräumen und gewöhnlich nur bei sehr wenigen Bewohnern einer Gegend zugleich. Ich glaube ferner, dass diese sehr langsame und aussetzende Thätigkeit der Natürlichen Züchtung ganz gut demjenigen entspricht, was uns die Geologie in Bezug auf die Ordnung und Art der Veränderung lehrt, welche die Bewohner dieser Erde allmählich erfahren haben.

     Wie langsam aber auch der Prozess der Züchtung seyn mag: wenn der schwache Mensch in kurzer Zeit schon so viel durch seine künstliche Züchtung thun kann, so vermag ich keine Grenze für den Umfang der Veränderungen, für die Schönheit und endlose Verflechtung der Anpassungen aller organischen Wesen an einander und an ihre natürlichen Lebens-Bedingungen zu erkennen, welche die Natürliche Züchtung im Verlaufe unermesslicher Zeiträume zu bewirken im Stande ist.

     Erlöschen.) — Dieser Gegenstand wird in unsrem Abschnitte über Geologie vollständiger abzuhandeln seyn; hier berühren wir ihn nur, insoferne er mit der Züchtung zusammenhängt. Natürliche Züchtung wirkt nur durch Erhaltung vortheilhafter Abänderungen, welche die andern zu überdauern vermögen. Wenn jedoch in Folge des geometrischen Vervielfältigungs-Vermögens aller organischen Wesen jeder Bezirk schön genügend mit Bewohnern versorgt ist, so folgt, dass in demselben Grade, in welchem die ausgewählte und begünstigte Form an Menge zunimmt, die minder begünstigte allmählich abnehmen und seltener werden müsse. Seltenwerden ist, wie die Geologie uns lehrt, Anfang des Erlöschens. Man erkennt auch, dass eine nur [115] durch wenige Individuen vertretene Form durch Schwankungen in den Jahreszeiten oder in der Zahl ihrer Feinde grosse Gefahr gänzlicher Vertilgung läuft. Doch können wir noch weiter gehen und sagen: wenn neue Formen langsam aber beständig erzeugt werden, so müssen andre unvermeidlich fortwährend erlöschen, wenn nicht die Zahl der spezifischen Formen beständig und fast unendlich anwachsen soll. Die Geologie zeigt uns klärlich, dass die Zahl der Art-Formen nicht in’s Unbegrenzte gewachsen ist, und es lässt sich nicht einmal die Möglichkeit dafür einsehen, weil die Zahl der Stellen im Natur-Haushalte nicht unendlich gross ist, wenn wir auch in keiner Weise zu behaupten beabsichtigen, dass irgend welche Gegend bereits das mögliche Maximum ihrer Arten-Zahl besitze. Wahrscheinlich ist noch keine Gegend vollständig besetzt; denn obwohl am Kap der guten Hoffnung z. B. mehr Arten als irgendwo sonst in der Welt zusammengedrängt sind, hat man doch noch einige fremde Pflanzen eingeführt, ohne, so viel bekannt, das Erlöschen irgend welcher eingeborenen Arten zu veranlassen.

     Ferner haben diejenigen Arten, welche die zahlreichsten Individuen zählen, die meiste Wahrscheinlichkeit für sich, innerhalb einer gegebenen Zelt vortheilhafte Abänderungen hervorzubringen. Die im zweiten Kapitel mitgetheilten Thatsachen können zum Beweise dafür dienen, indem sie zeigen, dass gerade die gemeinsten Arten die grösste Anzahl ausgezeichneter Varietäten oder anfangender Spezies liefern. Daher werden denn auch die selteneren Arten in einer gegebenen Periode weniger rasch umgeändert oder verbessert werden und demzufolge in dem Kampfe mit den umgeänderten Abkömmlingen der gemeineren Arten unterliegen.

     Aus diesen verschiedenen Betrachtungen scheint nun unvermeidlich zu folgen, dass in dem Masse, wie im Laufe der Zeit neue Arten durch Natürliche Züchtung entstehen, andre seltener und seltener werden und endlich erlöschen müssen. Diejenigen Formen werden natürlich am meisten leiden, welche den umgeänderten und verbesserten am nächsten stehen. Und wir haben in dem Abschnitte vom Ringen um’s Daseyn gesehen, dass es die [116] miteinander am nächsten verwandten Formen-Varietäten der nämlichen Art und Arten der nämlichen oder einander zunächst verwandten Sippen sind, die, weil sie nahezu gleichen Bau, Konstitution und Lebensweise haben, meistens auch in die heftigste Mitbewerbung miteinander gerathen. Wir sehen den nämlichen Prozess der Austilgung unter unseren Kultur-Erzeugnissen vor sich gehen, in Folge der Züchtung verbesserter Formen durch den Menschen. Ich könnte mit vielen merkwürdigen Belegen zeigen, wie schnell neue Rassen von Rindern, Schaafen und andern Thieren oder neue Varietäten von Blumen die Stelle der früheren und unvollkommeneren einnehmen. In Yorkshire ist es geschichtlich bekannt, dass das alte schwarze Rindvieh durch die Langhorn-Rasse verdrängt und dass diese, nach dem Ausdruck eines landwirthschaftlichen Schriftstellers, wie durch eine mörderische Seuche von den Kurzhörnern weggefegt worden ist.

     Divergenz des Charakters.) — Das Prinzip, welches ich mit diesem Ausdrucke bezeichne, ist von hoher Wichtigkeit für meine Theorie und erklärt nach meiner Meinung verschiedene wichtige Thatsachen. Erstens gibt es manche sehr ausgeprägte Varietäten, die, obwohl sie etwas vom Charakter der Spezies an sich haben, wie in vielen Fällen aus den hoffnungslosen Zweifeln über ihren Rang erhellet, doch gewiss viel weniger als gute und ächte Arten von einander abweichen. Demungeachtet sind nach meiner Anschauungsweise Varietäten eben anfangende Spezies. Auf welche Weise wächst nun jene kleinere Verschiedenheit zur grössern spezifischen Verschiedenheit an? Dass Diess allgemein geschehe, müssen wir aus den fast unzähligen in der ganzen Natur vorhandenen Arten mit wohl ausgeprägten Varietäten schliessen, während Varietäten, die von uns unterstellten Prototype und Ältern künftiger wohl unterschiedener Arten, nur geringe und schlecht-ausgeprägte Unterschiede darbieten. Wenn es bloss der sogenannte Zufall wäre, der die Abweichung einer Varietät von ihren Ältern in einigen Beziehungen und dann die noch stärkere Abweichung des Nachkömmlings dieser Varietät von jenen Ältern in gleicher Richtung veranlasste, so würde dieser doch nicht genügen, ein so gewöhnliches [117] und grosses Maass von Verschiedenheit zu erklären, als zwischen Varietäten einer Art und zwischen Arten einer Sippe vorhanden ist.

     Wir wollen daher, wie ich es bis jetzt zu thun gewöhnt war, auch diesen Gegenstand mit Hilfe unsrer Kultur-Erzeugnisse erläutern. Wir werden dabei etwas Analoges finden. Ein Liebhaber wird durch eine Taube mit merklich kürzerem und ein andrer durch eine solche mit viel längerem Schnabel erfreut, und da »Liebhaber Mittelmässigkeiten nicht bewundern, sondern Extreme lieben«, so machen sich beide daran (wie es mit Purzeltauben wirklich der Fall gewesen) zur Nachzucht Vögel mit immer kürzeren und kürzeren oder immer längeren und längeren Schnäbeln zu wählen. Ebenso können wir unterstellen, es habe Jemand in früherer Zeit schlankere und ein andrer Jemand stärkere und schwerere Pferde vorgezogen. Die ersten Unterschiede werden nur sehr gering gewesen seyn; wenn nun aber im Laufe der Zeit einige Züchter fortwährend die schlankeren, und andre ebenso die schwereren Pferde zur Nachzucht auswählen, so werden die Verschiedenheiten immer grösser werden und Veranlassung geben, zwei Unterrassen zu unterscheiden, und nach Verlauf von Jahrhunderten können diese Unterrassen sich endlich zu zwei wohl-begründeten verschiedenen Rassen ausbilden. Da die Verschiedenheiten langsam zunehmen, so werden die unvollkommeneren Thiere von mittlem Charakter, die weder sehr leicht noch sehr schwer sind, vernachlässigt werden und zum Erlöschen neigen. Daher sehen wir dann auch in diesen künstlichen Erzeugnissen des Menschen, dass in Folge des Divergenz-Prinzips, wie man es nennen könnte, die anfangs kaum bemerkbaren Verschiedenheiten immer zunehmen und die Rassen immer weiter unter sich wie von ihren gemeinsamen Stamm-Ältern abweichen.

     Aber wie, kann man fragen, lässt sich ein solches Prinzip auf die Natur anwenden? Ich glaube, dass es schon durch den einfachen Umstand eine erfolgreiche Anwendung findet, dass, je weiter die Abkömmlinge einer Spezies in Bau, organischen Verrichtungen und Lebensweise auseinandergehen, um so besser sie geeignet seyn [118] werden, viele und sehr verschiedene Stellen im Haushalte der Natur einzunehmen und somit an Zahl zuzunehmen.

     Diess zeigt sich deutlich bei Thieren mit einfacher Lebensweise. Nehmen wir ein vierfüssiges Raubthier zum Beispiel, dessen Zahl in einer Gegend schon längst zu dem vollen Betrage angestiegen ist, welches die Gegend zu ernähren vermag. Hat das ihm innewohnende Vervielfältigungs-Vermögen freies Spiel, so kann dieselbe Thier-Art (vorausgesetzt dass die Gegend keine Veränderung ihrer natürlichen Verhältnisse erfahre) nur dann noch weiter zunehmen, wenn ihre Nachkommen in der Weise abändern, dass sie allmählich solche Stellen einnehmen können, welche jetzt andre Thiere schon innehaben, wenn z. B. einige derselben geschickt werden auf neue Arten von lebender oder todter Beute auszugehen, indem sie neue Standorte bewohnen, Bäume erklimmen, in’s Wasser gehen oder auch einen Theil ihrer Raubthier-Natur aufgeben. Je mehr nun diese Nachkommen unsres Raubthieres in Organisation und Lebensweise auseinandergehen, desto mehr Stellen werden sie fähig seyn in der Natur einzunehmen. Und was von einem Thiere gilt, das gilt durch alle Zeiten von allen Thieren, vorausgesetzt dass sie variiren; denn ausserdem kann Natürliche Züchtung nichts ausrichten. Und Dasselbe gilt von den Pflanzen. Es ist durch Versuche dargethan worden, dass wenn man eine Strecke Landes mit Gräsern verschiedener Sippen besäet, man eine grössere Anzahl von Pflanzen erziehen und ein grösseres Gewicht von Heu einbringen kann, als wenn man eine gleiche Strecke nur mit einer Gras-Art ansäet. Zum nämlichen Ergebniss ist man gelangt, indem man zuerst eine Varietät und dann verschiedene gemischte Varietäten von Weitzen auf zwei gleich grosse Grund-Stücke säete. Wenn daher eine Gras-Art in Varietäten auseinandergeht und diese Varietäten, unter sich in derselben Weise verschieden wie die Arten und Sippen der Gräser verschieden sind, immer wieder zur Nachzucht gewählt werden, so wird eine grössere Anzahl einzelner Stöcke dieser Gras-Art mit Einschluss ihrer Varietäten auf gleicher Fläche wachsen können, als zuvor. Bekanntlich streut jede Gras-Art und Varietät jährlich [119] eine fast zahllose Menge von Saamen aus, so dass man fast sagen könnte, ihr hauptsächlichstes Streben seye Vermehrung ihrer Anzahl. Daher zweifle ich nicht daran, dass im Verlaufe von vielen Tausend Generationen gerade die am weitesten auseinander gehenden Varietäten einer Gras-Art immer am meisten Wahrscheinlichkeit des Erfolges durch Vermehrung ihrer Anzahl und durch Verdrängung der geringeren Abweichungen für sich haben; und sind diese Varietäten nun weit von einander verschieden, so nehmen sie den Charakter der Arten an.

     Die Wahrheit des Prinzips, dass die grösste Summe von Leben vermittelt werden kann durch die grösste Differenzirung der Struktur, lässt sich unter vielerlei natürlichen Verhältnissen erkennen. Wir sehen auf ganz kleinen Räumen, zumal wenn sie der Einwanderung offen sind und mithin das Ringen der Arten mit einander heftig ist, stets eine grosse Manchfaltigkeit von Bewohnern. So fand ich z. B. auf einem 3' langen und 4' breiten Stück Rasen, welches viele Jahre lang genau denselben Bedingungen ausgesetzt gewesen, zwanzig Arten von Pflanzen aus achtzehn Sippen und acht Ordnungen beisammen, woraus sich ergibt, wie verschieden von einander eben diese Pflanzen sind. So ist es auch mit den Pflanzen und Insekten auf kleinen einförmigen Inseln; und ebenso in kleinen Süsswasser-Behältern. Die Landwirthe wissen, dass sie bei einer Rotation mit Pflanzen-Arten aus den verschiedensten Ordnungen am meisten Futter erziehen können[3], und die Natur bietet, was man eine simultane Rotation nennen könnte. Die meisten Pflanzen und Thiere, welche rings um ein kleines Grundstück wohnen, würden auch auf diesem Grundstücke (wenn es nicht in irgend einer Beziehung von sehr abweichender Beschaffenheit ist) leben können und streben so zu sagen in hohem Grade darnach da zu leben; wo sie aber in nächste Mitbewerbung mit einander kommen, da sehen wir, dass ihre aus der Differenzirung ihrer Organisation, Lebensweise und Konstitution sich ergebenden wechselseitigen Vorzüge bedingen, dass die am unmittelbarsten mit [120] einander ringenden Bewohner im Allgemeinen verschiedenen Sippen und Ordnungen angehören.

     Dasselbe Prinzip erkennt man, wo der Mensch Pflanzen in fremdem Lande zu naturalisiren strebt. Man hätte erwarten dürfen, dass diejenigen Pflanzen, die mit Erfolg in einem Lande naturalisirt werden können, im Allgemeinen nahe verwandt mit den Eingeborenen seyen; denn diese betrachtet man gewöhnlich als besonders für ihre Heimath geschaffen und angepasst. Eben so hätte man vielleicht erwartet, dass die naturalisirten Pflanzen zu einigen wenigen Gruppen gehörten, welche nur etwa gewissen Stationen entsprächen. Aber die Sache verhält sich ganz anders, und Alphons DeCandolle hat in seinem grossen und vortrefflichen Werke ganz wohl gezeigt, dass die Floren durch Naturalisirung, der Anzahl der eingeborenen Sippen und Arten gegenüber, weit mehr an neuen Sippen als an neuen Arten gewinnen. Um nur ein Beispiel zu geben, so sind in Dr. Asa Gray’s »Manual of the Flora of the northern United states« 260 naturalisirte Pflanzen-Arten aus 162 Sippen aufgezählt. Wir sehen ferner, dass diese naturalisirten Pflanzen von sehr verschiedener Natur sind, und auch von den eingebornen in so ferne weit abweichen, als aus jenen 162 Sippen nicht weniger als 100 ganz fremdländisch sind, daher die eingeborene Flora verhältnissmässig mehr an Sippen als an Arten bereichert worden ist.

     Berücksichtigt man die Natur der Pflanzen und Thiere, welche der Reihe nach erfolgreich mit den eingeborenen einer Gegend gerungen haben und in dessen Folge naturalisirt worden sind, so kann man eine rohe Vorstellung davon gewinnen, wie etwa einige die eingeborenen hätten modificirt werden müssen, um einen Vortheil über die andern eingeborenen zu erlangen; wir können, wie ich glaube, wenigstens mit Sicherheit schliessen, dass eine Differenzirung ihrer Struktur bis zu einem zur Bildung neuer Sippen genügenden Betrage für sie erspriesslich gewesen wäre.

     Der Vortheil einer Differenzirung der Eingebornen einer Gegend ist in der That derselbe, welcher für einen individuellen [121] Organismus aus der physiologischen Theilung der Arbeit unter seine Organe entspringt, ein von Milne Edwards so trefflich erläuterter Gegenstand. Kein Physiologe zweifelt daran, dass ein Magen, welcher nur zur Verdauung von vegetabilischer oder von animalischer Materie allein geeignet ist, die meiste Nahrung aus diesen Stoffen zieht. So werden auch in dem grossen Haushalte eines Landes um so mehr Individuen von Pflanzen und Thieren ihren Unterhalt zu finden im Stande seyn, je mehr dieselben hinsichtlich ihrer Lebensweise differenzirt sind. Eine Gesellschaft von Thieren mit nur wenig differenzirter Organisation kann schwerlich mit einer andern von vollständiger differenzirtem Baue werben. So wird man z. B. bezweifeln müssen, dass die Australischen Beutelthiere, welche nach Waterhouse’s u. A. Bemerkung, in weniger von einander abweichende Gruppen unterschieden, unsre Raub-Thiere, Wiederkäuer und Nager vertreten, im Stande seyn würden, mit diesen wohl ausgesprochenen Ordnungen zu werben. In den Australischen Säugethieren erblicken wir den Prozess der Differenzirung auf einer noch frühen und unvollkommenen Entwicklungs-Stufe.

     Nach dieser vorangehenden Erörterung, die einer grösseren Ausdehnung bedürfte, dürfen wir wohl annehmen, dass die abgeänderten Nachkommen einer Spezies um so mehr Erfolg haben werden, je mehr sie in ihrer Organisation differenzirt und hiedurch geeignet seyn werden, sich auf die bereits von andern Wesen eingenommenen Stellen einzudrängen. Wir wollen nun zusehen, wie dieses nützliche von der Divergenz des Charakters abgeleitete Princip in Verbindung mit den Prinzipien der Natürlichen Züchtung und der Erlöschung zusammenwirke.



     Das beigefügte Bild wird uns dienen, diese sehr verwickelte Frage besser zu begreifen. Gesetzt es bezeichnen die Buchstaben A bis L die Arten einer grossen Sippe in ihrer Heimath-Gegend; diese Arten gleichen einander in verschiedenen Abstufungen, wie es eben in der Natur der Fall zu seyn pflegt, und was durch verschiedene Entfernung jener Buchstaben von einander ausgedrückt werden soll. Wir wählen eine grosse Sippe, weil wir schon im zweiten Kapitel gesehen, dass verhältnissmässig [122] mehr Arten grosser Sippen als kleiner variiren, und dass dieselben eine grössere Anzahl von Varietäten darbieten. Wir haben ferner gesehen, dass die gemeinsten und am weitesten verbreiteten Arten mehr als die seltenen mit kleinen Wohn-Bezirken abändern. Es seye nun A eine gemeine weit verbreitete und abändernde Art einer grossen Sippe in ihrer Heimath-Gegend; der kleine Fächer divergirender Punkt-Linien von ungleicher Länge, welche von A ausgehen, möge ihre variirende Nachkommenschaft darstellen. Es ist ferner angenommen, deren Abänderungen seyen ausserordentlich gering, aber von der manchfaltigsten Beschaffenheit, nicht von gleichzeitiger, sondern oft durch lange Zwischenzeiten getrennter Erscheinung, und endlich von ungleich langer Dauer. Nur jene Abänderungen, welche in irgend einer Beziehung nützlich sind, werden erhalten und zur Natürlichen Züchtung verwendet. Und hier ist es wichtig, dass das Prinzip der Nützlichkeit von der Divergenz des Charakters abgeleitet ist; denn Diess wird meistens zu den am weitesten auseinandergehenden Abänderungen führen (welche durch unsre punktirten Linien dargestellt sind), wie sie durch Natürliche Züchtung erhalten und gehäuft worden. Wenn nun in unsrem Bilde eine der punktirten Linien eine der wagrechten Linien erreicht und dort mit einem kleinen numerirten Buchstaben bezeichnet erscheint, so ist angenommen, dass darin eine Summe von Abänderung gehäuft seye, genügend zur Bildung einer ganz wohl-bezeichneten Varietät, wie wir sie der Aufnahme in ein systematisches Werk werth achten.

     Die Zwischenräume zwischen zwei wagrechten Linien des Bildes mögen je 1000 (besser wären 10,000) Generationen entsprechen. Nach 1000 Generationen hätte die Art A zwei ganz wohl ausgeprägte Varietäten a1 und m1 hervorgebracht. Diese zwei Varietäten seyen fortwährend denselben Bedingungen ausgesetzt, welche ihre Stammältern zur Abänderung veranlassten, und das Streben nach Abänderung in ihnen erblich. Sie werden daher nach weitrer Abänderung und gewöhnlich in derselben Art und Richtung streben wie ihre Stammältern. Überdiess werden diese zwei Varietäten, als nur erst wenig modificirte Formen, [123] streben diejenigen Vorzüge weiter zu erwerben, welche ihren gemeinsamen Ältern A das numerische Übergewicht über die meisten andern Bewohner derselben Gegend verschafft haben; sie werden gleicherweise theilnehmen an denjenigen Vortheilen, welche die Sippe, wozu ihre Stammältern gehört, zur grossen Sippe in ihrer Heimath erhoben. Und wir wissen, dass alle diese Umstände zur Hervorbringung neuer Varietäten günstig sind.

     Wenn nun diese zwei Varietäten ebenfalls veränderlich sind, so werden die divergentesten ihrer Abänderungen gewöhnlich in den nächsten 1000 Generationen fortbestehen. Nach dieser Zeit, ist in unsrem Bilde angenommen, habe Varietät a1 die Varietät a2 hervorgebracht, die nach dem Differenzirungs-Prinzipe weiter als a1 von A verschieden ist. Varietät m1 hat zwei andre Varietäten m2 und s2 ergeben, welche unter sich und noch mehr von ihrer gemeinsamen Stamm-Form A abweichen. So können wir den Vorgang lange Zeit von Stufe zu Stufe verfolgen und einige der Varietäten von je 1000 zu 1000 Generationen bald nur eine Abänderung von mehr und weniger abweichender Beschaffenheit, bald auch 2—3 derselben hervorbringen sehen, während andre keine neuen Formen darbieten. Doch werden gewöhnlich diese Varietäten oder abgeänderten Nachkommen eines gemeinsamen Stamm-Vaters A im Ganzen immer zahlreicher werden und immer weiter auseinander laufen. In dem Bilde ist der Vorgang bis zur zehntausendsten Generation, — und in einer mehr verdichteten und vereinfachten Weise bis zur vierzehntausendsten Generation dargestellt.

     Doch muss ich hier bemerken, dass ich nicht der Meinung bin, dass der Prozess jemals so regelmässig vor sich gehe, als er im Bilde dargestellt ist, obwohl er auch da schon etwas unregelmässig erscheint. Ebenso bin ich entfernt nicht der Meinung, dass die am weitesten differirenden Varietäten unabänderlich vorherrschen und sich vervielfältigen werden. Oft mag auch eine Mittelform von langer Dauer seyn und entweder keine oder mehr als eine in ungleichem Grade abgeänderte Varietät hervorbringen; die Natürliche Züchtung wird immer thätig seyn, je nach der Beschaffenheit der noch gar nicht oder nur unvollständig von [124] anderen Wesen eingenommenen Stellen; und Diess wird von unendlich verwickelten Beziehungen abhängen. Doch werden der allgemeinen Regel zufolge die Abkömmlinge einer Art um so mehr geeignet seyn jene Stellen einzunehmen und ihre abgeänderte Nachkommenschaft zu vermehren, je weiter sie in ihrer Organisation differenzirt sind. In unsrem Bilde ist die Successions-Linie in regelmässigen Zwischenräumen unterbrochen durch kleine numerirte Buchstaben, zu Bezeichnung der succesiven Formen, welche genügend unterschieden sind, um als Varietäten aufgeführt zu werden. Aber diese Unterbrechungen sind nur eingebildete und hätten anderwärts eingeschoben werden können nach hinlänglich langen Zwischenräumen für die Häufung eines ansehnlichen Betrags divergenter Abänderung.

     Da alle diese verschiedenartigen Abkömmlinge von einer gemeinsamen und weit verbreiteten Art einer grossen Sippe an den gemeinsamen Verbesserungen theilzunehmen streben, welche den Erfolg ihrer Stamm-Ältern im Leben bedingt haben, so werden sie im Allgemeinen sowohl an Zahl als an Divergenz des Charakters zunehmen, und Diess ist im Bilde durch die verschiedenen von A ausgehenden Verzweigungen ausgedrückt. Die abgeänderten Nachkommen von den letzten und am meisten verbesserten Verzweigungen in den Nachkommenschafts-Linien werden wahrscheinlich oft die Stelle der ältern und minder vervollkommneten einnehmen und sie verdrängen, und Diess ist im Bilde dadurch ausgedrückt, dass einige der untern Zweige nicht bis zu den oberen Horizontallinien hinauf reichen. In einigen Fällen zweifle ich nicht, dass der Process der Abänderung auf eine einfache Linie der Descendenz beschränkt bleiben und die Zahl der Nachkommen nicht vermehren wird, wenn auch das Maass divergenter Modifikation in den aufeinanderfolgenden Generationen zugenommen hat. Dieser Fall würde in dem Bilde dargestellt werden, wenn alle von A ausgehenden Linien bis auf die von a1 bis a10 beseitigt würden. Auf diese Weise sind z. B. die Englischen Rasse-Pferde und Englischen Windspiele langsam vom Charakter ihrer Stammform abgewichen, ohne je eine neue Abzweigung oder Nebenrasse abgegeben zu haben. [125]

     Es wird der Fall gesetzt, dass die Art A nach 10,000 Generationen drei Formen a10, f10 und m10 hervorgebracht habe, welche in Folge ihrer Charakter-Divergenz in den aufeinander-folgenden Generationen weit, doch in ungleichem Grade unter sich und von ihren Stamm-Ältern verschieden sind. Nehmen wir nur einen äusserst kleinen Betrag von Veränderung zwischen je zwei Horizontalen unsres Bildes an, so werden unsre drei Formen nur bis zur Stufe wohl ausgeprägter Varietäten oder etwa zweifelhafter Unterarten gelangt seyn; wir haben aber nur nöthig, uns die Abstufungen im Änderungs-Prozesse etwas grösser zu denken, um diese Formen in gute Arten zu verwandeln; alsdann drückt das Bild die Stufen aus, auf welchen die kleinen nur Varietäten charakterisirenden Verschiedenheiten in grössere schon Arten unterscheidende Unterschiede übergehen. Denkt man sich denselben Prozess in einer noch grösseren Anzahl von Generationen fortwährend (wie es oben im Bilde in zusammengezogener und vereinfachter Weise geschehen), so erhalten wir acht von A abstammende, Arten mit a14 bis m14 bezeichnet. So werden, wie ich glaube, Arten vervielfältigt und Sippen gebildet.

     In einer grossen Sippe variirt wohl mehr als eine Art. Im Bilde habe ich angenommen, dass eine zweite Art I in analogen Abstufungen nach 10,000 Generationen entweder zwei wohlbezeichnete Varietäten w10 und x10, oder zwei Arten hervorgebracht habe, je nachdem man sich den Betrag der Veränderung, welcher zwischen zwei wagrechten Linien liegt, kleiner oder grösser denkt. Nach 14,000 Generationen werden nach unsrer Unterstellung sechs neue durch die Buchstaben n14—z14 bezeichnete Arten entstanden seyn. In jeder Sippe werden die bereits am weitesten in ihrem Charakter aus einander gegangenen Arten die grösste Anzahl modificirter Nachkommen hervorzubringen streben, indem diese die beste Aussicht haben, neue und weit von einander verschiedene Stellen im Natur-Staate einzunehmen; daher ich im Bilde die extreme Art A und die fast gleich extreme Art I als die am weitesten auseinander gelaufenen bezeichnete, welche auch zur Bildung neuer Varietäten und Arten Veranlassung gegeben haben. Die andren neun mit grossen [126] Buchstaben (B—H, K, L) bezeichneten Arten unsrer Stamm-Sippe mögen sich noch lange Zeit ohne Veränderung fortpflanzen, was im Bilde durch die punktirten Linien ausgedrückt ist, welche wegen mangelnden Raumes nicht weiter aufwärts verlängert sind.

     Inzwischen dürfte in dem auf unsrem Bilde dargestellten Umänderungs-Prozess noch ein andres unsrer Prinzipien, der der Erlöschung nämlich, eine wichtige Rolle gespielt haben. Da in jeder vollständig bevölkerten Gegend Natürliche Züchtung nothwendig durch Auswahl der Formen wirkt, welche in dem Kampfe um’s Daseyn irgend einen Vortheil vor den übrigen Formen voraus haben, so wird in den verbesserten Abkömmlingen einer Art ein beständiges Streben vorhanden seyn, auf jeder ferneren Stufe ihre Vorgänger und ihren Urstamm zu ersetzen und zu vertilgen. Denn man muss sich erinnern, dass der Kampf gewöhnlich am heftigsten zwischen solchen Formen ist, welche einander in Organisation, Konstitution und Lebensweise am nächsten stehen. Daher werden alle Zwischenformen zwischen den frühesten und spätesten, das ist zwischen den unvollkommensten und vollkommensten Stufen, sowie die Stamm-Art selbst zum Erlöschen geneigt seyn. Eben so wird es sich wahrscheinlich mit vielen ganzen Seiten-Linien verhalten, wenn sie durch spätere und vollkommenere Linien bekämpft werden. Wenn dagegen die abgeänderte Nachkommenschaft einer Art in einer besonderen Gegend aufkommt oder sich irgend einem ganz neuen Standorte rasch anpasst, wo Vater und Kind nicht in Mitbewerbung gerathen, dann mögen beide fortbestehen.

     Nimmt man daher in unsrem Bilde an, dass es ein grosses Maass von Abänderung vorstelle, so werden die Art A und alle frühern Abänderungen derselben erloschen und durch acht neue Arten a14—m14 ersetzt seyn, und an der Stelle von I werden sich sechs neue Arten n14—z14 befinden.

     Doch gehen wir noch weiter. Wir haben angenommen, dass die ursprünglichen Arten unsrer Sippe einander in ungleichem Grade ähnlich seyen, wie Das in der Natur gewöhnlich der Fall ist; dass die Art A näher mit B, C, D als mit den andern verwandt seye und I mehr Beziehungen mit G, H, K, L als zu den übrigen [127] besitze; dass ferner diese zwei Arten A und I sehr gemein und weit verbreitet seyen, indem sie schon anfangs einige Vorzüge vor den andern Arten derselben Sippe voraus hatten. Ihre modifizirten Nachkommen, vierzehn an Zahl nach 14,000 Generationen, werden wahrscheinlich einige derselben Vorzüge geerbt haben; auch sind sie auf jeder weiteren Stufe der Fortpflanzung in einer divergenten Weise abgeändert und verbessert worden, so dass sie sich zur Besetzung vieler passenden Stellen im Natur-Haushalte ihrer Gegend eignen. Es scheint mir daher äusserst wahrscheinlich, dass sie nicht allein ihre Ältern A und I ersetzt und vertilgt haben, sondern auch einige andre diesen zunächst verwandte ursprüngliche Spezies. Es werden daher nur sehr wenige der ursprünglichen Arten sich bis in die vierzehntausendste Generation fortgepflanzt haben. Wir nehmen an, dass nur eine von den zwei mit den übrigen neun weniger nahe verwandten Arten, nämlich F, ihre Nachkommen bis zu dieser späten Generation erstrecke.

     Der neuen von den eilf ursprünglichen Arten unsres Bildes abgeleiteten Spezies sind nun fünfzehn. Dem divergenten Streben der Natürlichen Züchtung gemäss, muss der äusserste Betrag von Charakter-Verschiedenheit zwischen den Arten a14 und z14 viel grösser als zwischen den unter sich verschiedensten der ursprünglichen eilf Arten seyn. Überdiess werden die neuen Arten in sehr ungleichem Grade mit einander verwandt seyn. Unter den acht Nachkommen von A mögen die drei a14, q14 und p14 näher beisammen stehen, weil sie sich erst spät von a10 abgezweigt haben, wogegen b14 und f14 als alte Abzweigungen von a5 etwas mehr von jenen drei entfernt sind; und endlich mögen o14, e14 und m14 zwar unter sich nahe verwandt seyn, aber als Seitenzweige seit dem ersten Beginne des Abänderungs-Prozesses weit von den andern fünf Arten abstehen und eine besondere Untersippe oder sogar eine eigne Sippe bilden.

     Die sechs Nachkommen von I mögen zwei Subgenera oder selbst Genera bilden. Da aber die Stamm-Art I weit von A entfernt, fast am andern Ende der Arten-Reihe der ursprünglichen Sippe steht, so werden diese sechs Nachkommen durch [128] Vererbung beträchtlich von den acht Nachkommen von A abweichen, indem überdiess angenommen worden, dass diese zwei Gruppen sich in auseinander weichenden Richtungen verändert haben. Auch sind die mitteln Arten, welche A mit I verbunden (was sehr wichtig ist zu beachten), mit Ausnahme von F erloschen, ohne Nachkommenschaft zu hinterlassen. Daher die sechs neuen von I entsprossenen und die acht von A abgeleiteten Spezies sich zu zwei sehr verschiedenen Sippen oder sogar Unterfamilien erhoben haben dürften.

     So kommt es, wie ich meine, dass zwei oder mehr Sippen durch Abänderung aus zwei oder mehr Arten eines Genus entspringen können. Und von den zwei oder mehr Stamm-Arten ist angenommen worden, dass sie von einer Art einer früheren Sippe herrühren. In unsrem Bilde ist Diess durch die gebrochenen Linien unter den grossen Buchstaben A—L angedeutet, welche abwärts gegen je einen Punkt konvergiren. Dieser Punkt stellt eine einzelne Spezies, die unterstellte Stamm-Art aller unsrer neuen Subgenera und Genera vor.

     Es ist der Mühe werth, einen Augenblick bei dem Charakter der neuen Art F14 zu verweilen, von welcher angenommen wird, dass sie ohne grosse Divergenz zu erfahren, die Form von F unverändert oder mit nur geringer Abänderung ererbt habe. Ihre Verwandtschaften zu den andern vierzehn neuen Arten werden ganz sonderbar seyn. Von einer zwischen den zwei Stamm-Arten A und I stehenden Spezies abstammend, welche aber jetzt erloschen und unbekannt sind, wird sie einigermassen das Mittel zwischen den zwei davon abgeleiteten Arten-Gruppen halten. Da aber beide Gruppen in ihren Charakteren vom Typus ihrer Stamm-Ältern auseinandergelaufen sind, so wird die neue Art F14 das Mittel nicht unmittelbar zwischen ihnen, sondern vielmehr zwischen den Typen beider Gruppen halten; und jeder Naturforscher dürfte im Stande seyn, sich ein Beispiel dieser Art in’s Gedächtniss zu rufen.

     In dem Bilde entspricht nach unsrer bisherigen Annahme jeder Abstand zwischen zwei Horizontalen tausend Generationen; lassen wir ihn jedoch für eine Million oder hundert Millionen [129] von Generationen und zugleich einem entsprechenden Theile der Schichtenfolge unsrer Erd-Rinde mit organischen Resten gelten! In unserem Kapitel über Geologie werden wir wieder auf diesen Gegenstand zurückkommen und werden dann hoffentlich finden, dass unser Bild geeignet ist Licht über die Verwandtschaft erloschener Wesen zu verbreiten, die, wenn auch im Allgemeinen zu denselben Ordnungen, Familien oder Sippen wie ein Theil der jetzt lebenden gehörig, doch in ihrem Charakter oft in gewissem Grade das Mittel zwischen jetzigen Gruppen halten; und man wird diese Thatsache begreiflich finden, da die erloschenen Arten in sehr frühen Zeiten gelebt, wo die Verzweigungen der Nachkommenschaft noch wenig auseinander gegangen waren.

     Ich finde keinen Grund, den Verlauf der Abänderung, wie er bisher auseinander gesetzt worden, blos auf die Bildung der Sippen zu beschränken. Nehmen wir in unserem Bilde den von jeder successiven Gruppe auseinander-strahlender Punktlinien dargestellten Betrag von Abänderung sehr hoch an, so werden die mit a14 bis p14, mit b14 bis f14 und mit o14 bis m14 bezeichneten Formen drei sehr verschiedene Genera darstellen. Wir werden dann zwei von I abgeleitete sehr verschiedene Sippen haben, und da diese zwei Sippen, in Folge sowohl einer fortdauernden Divergenz des Charakters als der Beerbung zweier verschiedener Stammväter, sehr weit von den von A hergeleiteten drei Sippen abweichen, so werden die zwei kleinen Sippen-Gruppen je nach dem Maasse der vom Bilde dargestellten divergenten Abänderung zwei verschiedene Familien oder selbst Ordnungen bilden. Und diese zwei neuen Familien oder Ordnungen leiten sich von zwei Arten einer Stamm-Sippe her, die selbst wieder einer Spezies eines viel älteren und noch unbekannten Genus entsprossen seyn dürfte.

     Wir haben gesehen, dass es in jeder Gegend die Arten der grössern Sippen sind, welche am öftesten Varietäten oder neue anfangende Arten bilden. Diess war in der That zu erwarten; denn, wenn die Natürliche Züchtung durch eine im Rassenkampf vor den andern bevorzugte Form wirkt, so wird sie hauptsächlich auf diejenigen wirken, welche bereits einige Vortheile voraus [130] haben; und die Grösse einer Gruppe zeigt, dass ihre Arten von einem gemeinsamen Vorgänger einige Vorzüge gemeinschaftlich ererbt haben. Daher der Wettkampf in Erzeugung neuer und abgeänderter Sprösslinge hauptsächlich zwischen den grösseren Gruppen stattfinden wird, welche sich alle an Zahl zu vergrössern streben. Eine grosse Gruppe wird nur langsam eine andre grosse Gruppe überwinden, deren Zahl verringern und so deren Aussicht auf künftige Abänderung und Verbesserung vermindern. Innerhalb einer und derselben grossen Gruppe werden die neueren und höher vervollkommneten Untergruppen immer bestrebt seyn, durch Verzweigung und durch Besetzung von möglichst vielen Stellen im Staate der Natur die früheren und minder vervollkommneten Untergruppen allmählich zu verdrängen. Kleine und unterbrochene Gruppen und Untergruppen neigen sich immer mehr dem gänzlichen Verschwinden zu. In Bezug auf die Zukunft kann man vorhersagen, dass diejenigen Gruppen organischer Wesen, welche jetzt gross und siegreich und am wenigsten durchbrochen sind, d. h. bis jetzt am wenigsten durch Erlöschung gelitten haben, noch auf lange Zeit hinaus zunehmen werde. Welche Gruppen aber zuletzt vorwalten werden, kann niemand vorhersagen; denn wir wissen, dass viele Gruppen von ehedem sehr ausgedehnter Entwickelung heutzutage erloschen sind. Blicken wir noch weiter in die Zukunft hinaus, so lässt sich voraussehen, dass in Folge der fortdauernden und steten Zunahme der grossen Gruppen eine Menge kleiner gänzlich erlöschen wird ohne abgeänderte Nachkommen zu hinterlassen, und dass demgemäss von den zu irgend einer Zeit lebenden Arten nur äusserst wenige ihre Nachkommenschaft bis in eine ferne Zukunft erstrecken werden. Ich will in dem Kapitel über Klassifikation auf diesen Gegenstand zurückkommen und hier nur noch bemerken, dass nach der Ansicht, dass nur äusserst wenige der ältesten Spezies uns Abkömmlinge hinterlassen haben und die Abkömmlinge von einer und derselben Spezies heutzutage eine Klasse bilden, uns begreiflich werden muss, warum es in jeder Hauptabtheilung des Pflanzen- und Thier-Reiches nur sehr wenige Klassen gebe. Obwohl indessen [131] nur äusserst wenige der ältesten Arten noch jetzt lebende veränderte Nachkommen hinterlassen haben, so mag doch die Erde in den ältesten geologischen Zeit-Abschnitten eben so bevölkert gewesen seyn mit zahlreichen Arten aus manchfaltigen Sippen, Familien, Ordnungen und Klassen, wie heutigen Tages.

     Ein ausgezeichneter Naturforscher hat dagegen eingewendet, die fortwährende Thätigkeit der Züchtung, mit Divergenz des Charakters verbunden, müsse zu einer endlosen Menge von Arten-Formen führen. Was die blos unorganischen Bedingungen betrifft, so würde allerdings wahrscheinlich eine genügende Anzahl von Arten allen erheblicheren Verschiedenheiten von Wärme, Feuchtigkeit u. s. w. angepasst werden können; ich nehme aber an, dass die Wechselbeziehungen der organischen Wesen zu einander bei weitem die wichtigsten sind, und wenn die Zahl der Arten in einer Gegend in Zunahme begriffen ist, so werden die organischen Lebens-Bedingungen immer verwickelter werden. Anfänglich scheint es daher wohl, als gebe es keine Grenze für den Betrag nützlicher Differenzirung der Organisation und daher keine Grenze für die Anzahl der möglicher Weise hervorzubringenden Arten. Es ist uns nicht bekannt, dass selbst das fruchtbarste Land-Gebiet mit organischen Formen vollständig besetzt seye, da ja selbst am Cap der guten Hoffnung, das eine so erstaunliche Arten-Zahl hervorbringt, noch viele Europäische Pflanzen naturalisirt worden sind. Die Geologie lehrt uns jedoch, dass wenigstens innerhalb der unermesslichen Tertiär-Periode die Arten-Zahl der Konchylien und wahrscheinlich auch der Säugthiere bis daher nicht vergrössert worden ist. Was hemmt nun dieses Wachsthum der Arten-Zahl in’s Unendliche? Erstens muss der Betrag des auf einem Gebiete unterhaltenen Lebens (ich meine damit nicht die Zahl der spezifischen Formen) eine Grenze haben, da es ja in so reichlichem Maasse von physikalischen Bedingungen abhängt; wo daher viele Arten erhalten werden müssen, da werden sie alle oder meistens arm an Individuen seyn; und eine Art mit wenigen Individuen wird in Gefahr seyn durch zufällige Schwankungen in der Beschaffenheit der Jahres-Zeiten [132] und in der Zahl ihrer Feinde zu erlöschen. Die Austilgung wird in solchen Fällen rasch erfolgen, während neue Arten immer nur langsam nachkommen. Man denke sich den äussersten Fall, es gebe in England so viele Arten als Individuen, so wird der erste strenge Winter oder trockne Sommer Tausende und Tausende von Arten vertilgen, und Individuen von andern Arten werden ihre Stelle einnehmen. Zweitens vermuthe ich, dass, wenn einige Arten sehr selten werden, es in der Regel nicht nahe Verwandte seyn werden, welche sie zu verdrängen streben; wenigstens haben einige Autoren gemeint, dass Diess bei dem Rückgang des Auerochsen in Lithauen, des Edelhirschs in Schottland und des Bären in Norwegen in Betracht komme. Drittens, was die Thiere im Besondern betrifft, so sind einige Arten ganz dazu gemacht, sich von irgend einem andern Wesen zu nähren; wenn dieses aber selten geworden, so wird es nicht zum Vortheil jener Thiere seyn, dass sie in so enger Beziehung zu einer Nahrung gestanden, und sie werden nicht mehr durch Natürliche Züchtung vermehrt werden. Viertens, wenn irgend welche Arten arm an Individuen werden, so wird der Vorgang der Umbildung langsamer seyn, weil die Möglichkeit vortheilhafter Abänderung verringert ist. Wenn wir daher eine von sehr vielen Arten bewohnte Gegend annehmen, so müssen alle oder die meisten Arten arm an Individuen seyn und wird demnach der Prozess der Umänderung und Bildung neuer Formen verzögert werden. Fünftens, und wie ich glaube ist Diess der wichtigste Punkt, wird eine herrschende Art, welche schon viele Mitbewerber in ihrer eignen Heimath verdrängt hat, sich auszubreiten und noch viele andre zu ersetzen streben. Alphons DeCandolle hat nachgewiesen, dass diejenigen Arten, welche sich weit verbreiten, gewöhnlich streben sich sehr weit auszubreiten; sie werden folglich mehre andre in verschiedenen Gegenden auszutilgen streben; und Diess hemmt die ungeordnete Zunahme von Arten-Formen auf der ganzen Erd-Oberfläche. Hooker hat neuerlich gezeigt, dass in der südöstlichen Ecke Australiens, wo es viele Einwandrer aus allerlei Weltgegenden zu geben scheint, die eigenthümlich Australischen Arten an Menge sehr abgenommen haben. Ich wage nicht zu [133] bestimmen, wie viel Gewicht diesen mancherlei Ursachen beizulegen seye; aber ich glaube, dass sie alle zusammen genommen in jeder Gegend das Streben nach unendlicher Vermehrung der Arten-Formen beschränken müssen.

     Natürliche Züchtung wirkt, wie wir gesehen haben, ausschliesslich durch Erhaltung und Zusammensparung solcher leichten Abweichungen, welche dem Geschöpfe, das sie betreffen, unter den organischen und unorganischen Bedingungen des Lebens, von welchen es in aufeinanderfolgenden Perioden abhängig ist, nützlich sind. Das Endergebniss wird seyn, dass jedes Geschöpf einer immer grösseren Verbesserung den Lebens-Bedingungen gegenüber entgegenstrebt. Diese Verbesserung dürfte unvermeidlich zu der stufenweisen Vervollkommnung der Organisation der Mehrzahl der über die ganze Erd-Oberfläche verbreiteten Wesen führen. Doch kommen wir hier auf einen sehr schwierigen Gegenstand, indem noch kein Naturforscher eine allgemein befriedigende Definition davon gegeben hat, was unter Vervollkommnung der Organisation zu verstehen seye. Bei den Wirbelthieren kommt deren geistige Befähigung und Annäherung an den Körper-Bau des Menschen offenbar mit in Betracht. Man möchte glauben, dass die Grösse der Veränderungen, welche die verschiedenen Theile und Organe während ihrer Entwickelung vom Embryo-Zustande an bis zum reifen Alter zu durchlaufen haben, als ein Anhalt bei der Vergleichung dienen könne; doch kommen Fälle vor, wie bei gewissen parasitischen Krustern, wo mehre Theile des Körper-Baues unvollkommner und sogar monströs werden, so dass man das reife Thier nicht vollkommener als seine Larve nennen kann. Von Baer's Maasstab scheint noch der beste und allgemeinst anwendbare zu seyn, nämlich das Maass der Differenzirung der verschiedenen Theile (»im reifen Alter« dürfte wohl beizusetzen seyn) und ihre Anpassung zu verschiedenen Verrichtungen, oder die Vollständigkeit der Theilung in die physiologische Arbeit, wie Milne Edwards sagen würde. Wir werden aber leicht ersehen, wie schwierig die wirkliche Anwendung jenes Kriteriums ist, wenn wir wahrnehmen, dass bei den Fischen z. B. die Haie von einem Theile der [134] Naturforscher als die vollkommensten angesehen werden, weil sie den Reptilien am nächsten stehen, während andre den gewöhnlichen Knochen-Fischen (Teleosti) die erste Stelle anweisen, weil sie die ausgebildetste Fisch-Form haben und am meisten von alle andern Vertebraten abweichen[4]. Noch deutlicher erkennen wir die Schwierigkeit, wenn wir uns zu den Pflanzen wenden, wo der von geistiger Befähigung hergenommene Maasstab ganz wegfällt; und hier stellen einige Botaniker diejenigen Pflanzen am höchsten, welche sämmtliche Organe, wie Kelch- und Kronen-Blätter, Staubfäden und Staubwege in jeder Blüthe vollständig entwickelt besitzen, während Andre wohl mit mehr Recht jene für die vollkommensten erachten, deren verschiedenen Organe stärker metamorphosirt und auf geringere Zahlen zurückgeführt sind.

     Nehmen wir die Differenzirung und Spezialisirung der einzelnen Organe als den besten Maasstab der organischen Vollkommenheit der Wesen im ausgewachsenen Zustande an (was mithin auch die fortschreitende Entwickelung des Gehirnes für die geistigen Zwecke mit in sich begreift), so muss die Natürliche Züchtung offenbar zur Vervollkommnung führen; denn alle Physiologen geben zu, dass die Spezialisirung seiner Organe, insoferne sie in diesem Zustande ihre Aufgaben besser erfüllen, für jeden Organismus von Vortheil ist; und daher liegt Häufung der zur Spezialisirung führenden Abänderungen im Zwecke der Natürlichen Züchtung. Auf der andern Seite ist es aber auch, unter Berücksichtigung, dass alle organischen Wesen sich in raschem Verhältnisse zu vervielfältigen und jeden schlecht besetzten Platz im Hausstande der Natur einzunehmen streben, der Natürlichen Züchtung wohl möglich, ein organisches Wesen solchen Verhältnissen anzupassen, wo ihnen manche Organe nutzlos und überflüssig sind, und dann findet ein Rückschritt auf der [135] Stufenleiter der Organisation (eine rückschreitende Metamorphose) statt. Ob die Organisation im Ganzen seit den frühesten geologischen Zeiten bis jetzt fortgeschritten seye, wird zweckmässiger in unserem Kapitel über die geologische Aufeinanderfolge der Wesen zu erörtern seyn.

     Dagegen kann man einwenden, wie es denn komme, dass, wenn alle organischen Wesen von Anfang her fortwährend bestrebt gewesen sind, höher auf der Stufenleiter emporzusteigen, auf der ganzen Erd-Oberfläche noch eine Menge der unvollkommensten Wesen vorhanden sind, und dass in jeder grossen Klasse einige Formen viel höher als die andern entwickelt sind? Und warum haben diese viel höher ausgebildeten Formen nicht schon überall die minder vollkommenen ersetzt und vertilgt? Lamarck, der an eine angeborene und unumgängliche Neigung zur Vervollkommnung in allen Organismen glaubte, scheint diese Schwierigkeit so sehr gefühlt zu haben, dass er sich zur Annahme veranlasst sah, einfache Formen würden überall und fortwährend durch Generatio spontanea neu erzeugt. Ich habe kaum nöthig zu sagen, dass die Wissenschaft auf ihrer jetzigen Stufe die Annahme, dass lebende Geschöpfe jetzt irgendwo aus unorganischer Materie erzeugt werden, keineswegs gestattet. Nach meiner Theorie dagegen bietet das gegenwärtige Vorhandenseyn niedrig organisirter Thiere keine Schwierigkeit dar; denn die Natürliche Züchtung schliesst denn doch kein nothwendiges und allgemeines Gesetz fortschreitender Entwickelung ein; sie benützt nur solche Abänderungen, die für jedes Wesen in seinen verwickelten Lebens-Beziehungen vortheilhaft sind. Und nun kann man fragen, welchen Vortheil (so weit wir urtheilen können) ein Infusorium, ein Eingeweidewurm, oder selbst ein Regenwurm davon haben könne, hoch organisirt zu seyn? Haben sie keinen Vortheil davon, so werden sie auch durch Natürliche Züchtung wenig oder gar nicht vervollkommnet werden und mithin für unendliche Zeiten auf ihrer tiefen Organisations-Stufe stehen bleiben. In der That lehrt uns die Geologie, dass einige der tiefsten Formen von Infusorien und Rhizopoden schon seit unermesslichen Zeiten[WS 6] nahezu auf ihrer jetzigen Stufe [136] stehen. Demungeachtet möchte es voreilig seyn anzunehmen, dass einige der jetzt vorhandenen niedrigen Lebenformen seit den ersten Zeiten ihres Daseyns keinerlei Vervollkommnung erfahren hätten; denn jeder Naturforscher, der je welche von diesen Organismen zergliedert hat, welche jetzt als die niedrigsten auf der Stufenleiter der Natur gelten, muss oft über deren wunderbare und herrliche Organisation erstaunt gewesen seyn.

     Nahezu dieselben Bemerkungen lassen sich hinsichtlich der grossen Verschiedenheiten zwischen den Graden der Organisations-Höhe innerhalb fast jeder grossen Klasse mit Ausnahme jedoch der Vögel machen; so hinsichtlich des Zusammenstehens von Säugthieren und Fischen bei den Wirbelthieren, oder von Mensch und Ornithorhynchus bei den Säugethieren, von Hai und Amphioxus bei den Fischen, indem dieser letzte Fisch in der äussersten Einfachheit seiner Organisation den Wirbel-losen Thieren ganz nahe kommt. Aber Säugthiere und Fische gerathen kaum in Mitbewerbung miteinander; die hohe Stellung gewisser Säugthiere oder auch der ganzen Klasse auf der obersten Stufe der Organisation treibt sie nicht die Stelle der Fische einzunehmen und diese zu unterdrücken. Die Physiologen glauben, das Gehirn müsse mit warmem Blute gebadet werden, um seine höchste Thätigkeit zu entfalten, und dazu ist Luft-Respiration nothwendig, so dass warm-blütige Säugthiere, wenn sie das Wasser bewohnen, den Fischen gegenüber sogar in gewissem Nachtheile sind. Eben so wird in dieser Klasse die Familie der Haie wahrscheinlich nicht geneigt seyn, den Amphioxus zu ersetzen; und dieser wird allem Anscheine nach seinen Kampf um’s Daseyn mit Gliedern der Wirbel-losen Thier-Klassen auszumachen haben. Die drei untersten Säugthier-Ordnungen, die Beutelthiere, die Zahnlosen und die Nager bestehen in Süd-Amerika in einerlei Gegend beisammen mit zahlreichen Affen. Obwohl die Organisation im Ganzen auf der ganzen Erde in Zunahme begriffen seyn kann, so bietet die Stufenleiter der Vollkommenheit doch noch alle Abstufungen dar; denn die hohe Organisations-Stufe gewisser Klassen im Ganzen oder einzelner Glieder dieser Klassen führen in keiner Weise nothwendig zum Erlöschen derjenigen Gruppen, mit welchen [137] sie nicht in nahe Bewerbung treten. In einigen Fällen scheinen tief organisirte Formen, wie wir hernach sehen werden, sich bis auf den heutigen Tag erhalten zu haben, weil sie eigenthümliche abgesonderte Wohnorte ohne alle erhebliche Mitbewerbung hatten, und wo auch sie selbst keine Fortschritte in der Organisation machten, weil ihre eigne geringe Individuen-Zahl der Bildung neuer vortheilhafter Abänderungen keinen Vorschub leistete.

     Endlich glaube ich, dass das Vorkommen zahlreicher niedrig organisirter Formen aus allen Thier- und Pflanzen-Klassen über die ganze Erd-Oberfläche von verschiedenen Ursachen herrühre. In einigen Fällen mag es an vortheilhaften Abänderungen gefehlt haben, mit deren Hilfe die Natürliche Züchtung zu wirken und veredeln vermocht hätte. In keinem Falle vielleicht ist die Zeit ausreichend gewesen, um das Höchste in möglicher Vervollkommnung zu leisten. In einigen wenigen Fällen kann auch sogenannte »rückschreitende Organisation« eingetreten seyn. Aber die Hauptsache liegt in dem Umstande, dass unter sehr einfachen Lebens-Bedingungen eine hohe Organisation ohne Nutzen, sondern vielleicht sogar nachtheilig seyn kann, weil sie zarter, empfindlicher und leichter zu beschädigen ist.

     Eine weitere Schwierigkeit welche der so eben besprochenen gerade entgegengesetzt ist, ergibt sich noch, wenn wir auf die Morgenröthe des Lebens zurückblicken, wo alle organischen Wesen, nach unsrer Vorstellung, noch die einfachste Struktur besassen: wie konnten da die ersten Fortschritte in der Vervollkommnung, in der Differenzirung und Spezialisirung der Organe beginnen? Ich vermag darauf keine genügende Antwort zu geben, sondern nur zu sagen, dass wir nicht im Besitze leitender Thatsachen sind, wesshalb alle unsre Spekulationen in dieser Beziehung ohne Boden und ohne Nutzen sind.

     Zusammenfassung des Kapitels.) Wenn während einer langen Reihe von Zeit-Perioden und unter veränderten äusseren Lebens-Bedingungen die organischen Wesen in allen Theilen ihrer Organisation abändern, was, wie ich glaube, nicht bestritten werden kann; wenn ferner wegen ihres Vermögens geometrisch [138] schneller Vermehrung alle Arten in jedem Alter, zu jeder Jahreszeit und in jedem Jahr einen ernsten Kampf um ihr Daseyn zu kämpfen haben, was sicher nicht zu läugnen ist: dann meine ich im Hinblick auf die unendliche Verwickelung der Beziehungen aller organischen Wesen zu einander und zu den äusseren Lebens-Bedingungen, welche eine endlose Verschiedenheit angemessener Organisationen, Konstitutionen und Lebensweisen erheischen, dass es ein ganz ausserordentlicher Zufall seyn würde, wenn nicht jeweils auch eine zu eines jeden Wesens eigner Wohlfahrt dienende Abänderung vorkäme, wie deren so viele vorgekommen, die dem Menschen vortheilhaft waren. Wenn aber solche für ein organisches Wesen nützliche Abänderungen wirklich vorkommen, so werden sicherlich die dadurch bezeichneten Individuen die meiste Aussicht haben, den Kampf um’s Daseyn zu bestehen, und nach dem mächtigen Prinzip der Erblichkeit in ähnlicher Weise ausgezeichnete Nachkommen zu bilden streben. Diess Prinzip der Erhaltung habe ich der Kürze wegen Natürliche Züchtung genannt; es führt zur Vervollkommnung eines jeden Geschöpfes seinen organischen und unorganischen Lebens-Bedingungen gegenüber. Die Natürliche Züchtung kann nach dem Prinzip der Vererbung einer Eigenschaft in entsprechenden Altern eben sowohl das Ei und den Saamen oder das Junge wie das Erwachsene abändern machen. Bei vielen Thieren unterstützt geschlechtliche Auswahl noch die gewöhnliche Züchtung, indem sie den kräftigsten und geeignetesten Männchen die zahlreichste Nachkommenschaft sichert. Geschlechtliche Auswahl vermag auch solche Charaktere zu verleihen, welche den künftigen Männchen allein in ihren Kämpfen mit Männchen von gewöhnlicher Beschaffenheit den Sieg verschaffen.

     Ob nun aber die Natürliche Züchtung zur Abänderung und Anpassung der verschiedenen Lebenformen an die mancherlei äusseren Bedingungen und Stationen wirklich mitgewirkt habe, muss nach Erwägung des Werthes der in den folgenden Kapiteln zu liefernden Beweise beurtheilt werden. Doch erkennen wir bereits, dass dieselbe auch Austilgung verursache, und die Geologie macht uns klar, in welch’ ausgedehntem Grade Austilgung bereits in [139] die Geschichte der organischen Welt eingegriffen habe. Auch führt Natürliche Züchtung zur Divergenz des Charakters; denn je mehr Wesen auf einer gegebenen Fläche ihren Unterhalt finden, desto mehr ändern sie in Organisation, organischer Thätgkeit und Lebensweise ab, wovon man die Beweise bei Betrachtung der Bewohner eines kleinen Land-Flecks oder der naturalisirten Erzeugnisse finden kann. Je mehr daher während der Umänderung der Nachkommen einer Art und während des beständigen Kampfes aller Arten um Vermehrung ihrer Individuen jene Nachkommen differenzirt werden, desto besser ist ihre Aussicht auf Erfolg im Ringen um’s Daseyn. Auf diese Weise streben die kleinen Verschiedenheiten zwischen den Varietäten einer Spezies stets grösser zu werden, bis sie den grösseren Verschiedenheiten zwischen den Arten einer Sippe oder selbst zwischen verschiedenen Sippen gleich kommen.

     Wir haben gesehen, dass es die gemeinen, die weit verbreiteten und allerwärts zerstreuten Arten grosser Sippen sind, die am meisten abändern, und diese streben auf ihre abgeänderten Nachkommen dieselbe Überlegenheit zu vererben, welche sie jetzt in ihrer Heimath-Gegend zur herrschenden machen. Natürliche Züchtung führt, wie so eben bemerkt worden, zur Divergenz des Charakters und zu starker Austilgung der minder vollkommnen und der mitteln Lebenformen. Aus diesen Prinzipien lassen sich nach meiner Meinung die Rang-Verschiedenheiten zahlloser organischer Wesen in jeder Klasse auf der ganzen Erd-Oberfläche sowohl als die in der Natur ihrer Verwandtschaften mit einander erklären. Es ist eine wirklich wunderbare Thatsache, obwohl wir das Wunder aus Vertrautheit damit zu übersehen pflegen, dass Thiere und Pflanzen zu allen Zeiten und überall so miteinander verwandt sind, dass sie in Untergruppen abgetheilte Gruppen bilden, so dass nämlich, wie wir allerwärts erkennen, Varietäten einer Art einander am nächsten stehen, dass Arten einer Sippe weniger und ungleiche Verwandtschaft zeigen und Untersippen und Sektionen bilden, dass Arten verschiedener Sippen einander noch weniger nahe stehen, und dass Sippen mit verschiedenen Verwandtschafts-Graden zu einander Unterfamilien, Familien, Ordnungen, Unterklassen [140] und Klassen zusammensetzen. Die verschiedenen einer Klasse untergeordneten Gruppen können nicht in eine Linie aneinander gereihet werden, sondern scheinen vielmehr um gewisse Punkte geschaart und diese wieder um andre Mittelpunkte gesammelt zu seyn, und so weiter in fast endlosen Kreisen. Aus der Ansicht, dass jede Art unabhängig von der andern geschaffen worden seye, kann ich keine Erklärung dieser wichtigen Thatsache in der Klassifikation aller organischen Wesen entnehmen; sie ist aber nach meiner vollkommensten Überzeugung erklärlich aus der Erblichkeit und aus der zusammengesetzten Wirkungs-Weise der Natürlichen Züchtung, welche Austilgung der Formen und Divergenz der Charaktere verursacht, wie mit Hilfe bildlicher Darstellung (zu Seite 121) gezeigt worden ist.

     Die Verwandtschaften aller Wesen einer Klasse zu einander sind manchmal in Form eines grossen Baumes dargestellt worden. Ich glaube, dieses Bild entspricht sehr der Wahrheit. Die grünen und knospenden Zweige stellen die jetzigen Arten, und die in jedem vorangehenden Jahre entstandenen die lange Aufeinanderfolge erloschener Arten vor. In jeder Wachsthums-Periode haben alle wachsenden Zweige nach allen Seiten hinaus zu treiben und die umgebenden Zweige und Äste zu überwachsen und zu unterdrücken gestrebt, ganz so wie Arten und Arten-Gruppen andre Arten in dem grossen Kampfe um’s Daseyn zu überwältigen suchen. Die grossen in Zweige getheilten und unterabgetheilten Äste waren zur Zeit, wo der Stamm noch jung, selbst knospende Zweige gewesen; und diese Verbindung der früheren mit den jetzigen Knospen durch unterabgetheilte Zweige mag ganz wohl die Klassifikation aller erloschenen und lebenden Arten in Gruppen und Untergruppen darstellen. Von den vielen Zweigen, die sich entwickelten, als der Baum noch ein Busch gewesen, leben nur noch zwei oder drei, die jetzt als mächtige Äste alle anderen Verzweigungen abgeben; und so haben von den Arten, welche in längst vergangenen geologischen Zeiten gelebt, nur sehr wenige noch lebende und abgeänderte Nachkommen. Von der ersten Entwickelung eines Stammes an ist mancher Ast und mancher Zweig verdürrt und verschwunden, [141] und diese verlorenen Äste von verschiedener Grösse mögen jene ganzen Ordnungen, Familien und Sippen vorstellen, welche, uns nur im fossilen Zustande bekannt, keine lebenden Vertreter mehr haben. Wie wir hier und da einen vereinzelten dünnen Zweig aus einer Gabel tief unten am Stamme hervorkommen sehen, welcher durch Zufall begünstigt an seiner Spitze noch fortlebt, so sehen wir zuweilen ein Thier, wie Ornithorhynchus oder Lepidosiren, das durch seine Verwandtschaften gewissermaassen zwei grosse Zweige der Lebenwelt, zwischen denen es in der Mitte steht, mit einander verbindet und vor einer verderblichen Mitwerberschaft offenbar dadurch gerettet worden ist, dass es irgend eine geschützte Station bewohnte. Wie Knospen bei ihrer Entwicklung neue Knospen hervorbringen und, wie auch diese wieder, wenn sie kräftig sind, nach allen Seiten ausragen und viele schwächre Zweige überwachsen, so ist es, wie ich glaube, durch Generation mit dem grossen Baume des Lebens ergangen, der mit seinen todten und heruntergebrochenen Ästen die Erd-Rinde erfüllt, und mit seinen herrlichen und sich noch immer weiter theilenden Verzweigungen ihre Oberfläche bekleidet.


  1. Vergl. die Anmerkung auf Seite 10.     D. Übs.
  2. Aber wie vermöchten wir zu ermessen, was einen Bewerber in den Augen einer Henne oder einer Taube liebenswürdig machen könne!     D. Übs.
  3. Diess dürfte jedoch der Hauptsache nach einen ganz verschiedenen Grund haben.     D.Ü.
  4. Hier ist ein Missverständniss. Aus den zwei zuletzt genannten Gründen könnten die Knochen-Fische die „vollkommensten Fische,“ aber nicht die „vollkommensten Fische“ seyn, d. h. den Typus der Fische aber nicht die Vollkommenheit am besten repräsentiren. Die Knochen-Fische sind aber vollkommnere Fische aus andern Gründen.     D. Übs.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Im Original ahgelaufene
  2. Im Original Nackkommen
  3. Im Original worüher
  4. Im Original Natürlichcn
  5. Im Original werd en
  6. Im Original Zetten


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