Ferien!

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Textdaten
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Autor: Maximilian Harden
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Titel: Ferien!
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aus: Die Gartenlaube, Heft 31, S. 530–531
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Ferien!
Momentaufnahmen aus zwei Lebensaltern.
Von Maximilian Harden.

Lortzing läßt seinen Zaren Peter bekanntlich singen: „O selig, o selig, ein Kind noch zu sein!“ Im Parkett entsteht bei dieser musikalisch so schönen Stelle jenes eigentümliche Geräusch, welches sich aus allerlei Nasallauten nebst obligater Taschentuchbegleitung zusammensetzt - die ältesten jungen Damen stimmen dem sentimentalen Beherrscher aller Reußen wehmutsvoll zu, noch auf dem Heimweg säuseln sie leise vor sich hin. „O selig, o selig, ein Kind noch zu sein! Hu, wie kalt ist es geworden!“

Ich habe mich der Schwärmerei für die Kindheitsepoche niemals unbedingt anschließen können. Auf die so gern gestellte Frage „Möchten Sie nicht noch einmal Kind sein?“ habe ich stets mit einem so energischen „Nein“ geantwortet, daß die zartsinnigen Fragerinnen sich entrüstet ob solcher Gefühllosigkeit abwandten. Wenn man das Gymnasium in einer großen Stadt besucht hat, wenn man den schweren Kampf mit der Trigonometrie und Stereometrie bestanden und sich von einem Klassenexamen zum anderen mehr schlecht als recht durchgelogen hat, wenn man sich der heißen Mittagsstunden erinnert, wo man, nach hastig verschlungener Mahlzeit, auf den durchglühten Trottoirs eiligst der Schule zustrebte, um dort von 2 bis 4 Uhr in den entlegensten Winkeln der Weltgeschichte und der Syntax einherzutaumeln, dann gehört ein hoher Muth dazu, sich ernstlich nach den Fleischtöpfen der Gymnasiastenzeit zurückzusehnen.

Zweimal in jedem Jahr packt jedoch auch mich die brennende Sehnsucht nach den dämmerhellen Tagen der sorgenlosen Freiheit. Sobald die Zeit kommt, wo im Elternhause die Weihnachtstanne gekauft zu werden pflegte, wo die ersehnte Arbeit des Aufputzens begann, fängt auch das Heimweh nach der Jugend an sich zu regen – wie der Baum, den uns einst die Mutter anzündete, strahlt da doch nimmer ein anderer! Gerade die Weihnachtsstimmung, die uns alte zu frohen Kindern macht, ist auch solcher wehmütigen Rückerinnerungen am günstigsten, bald aber verhallt auch sie im Drange der Tageseindrücke und der Sorge für [531] die nächste Stunde. Noch einmal aber meldet sich dies Heimweh nach der Jugend, fast genau ein halbes Jahr später klopft wiederum der Wunsch bei uns an, leise, aber vernehmlich: „Wärst du noch einmal Kind!“

Die großen Ferien! Welch Zauberwort für alles, was einen Schultornister oder eine Büchertasche trägt! Wie zählt man schon von Pfingsten an die Tage, wie nimmt der Fleiß auch bei den besten Schülern rapid ab, wenn der Julianfang in Sicht ist! In den letzten Tagen besonders giebt es kein Halten mehr, schon mehren sich die Lücken in den Klassen, denn alle, die so „glücklich“ sind, krank zu sein, reisen schon etliche Tage vor dem Schulschlusse ab, es gelingt auch dem strengsten Lehrer nicht mehr, die koncentrirte Aufmerksamkeit zu erzwingen, um so weniger, als ja auch diese vielgeplagten Pädagogen sich hinaussehnen aus der dumpfen Klassenluft, hinaus aus dem ewigen Cirkeltanz um ein stets gleichbleibendes Arbeitspensum.

Wenn es in den letzten drei Tagen vor dem Ferienanfang aus unserem Gymnasium gar nicht mehr vorwärts gehen wollte, dann wurde zum äußersten Mittel gegriffen, es wurde aus irgend einem interessanten Buch vorgelesen, und so schlichen die Stunden denn glücklich hin, bis endlich der sonst gefürchtete, gern hinausgezögerte, diesmal aber heiß ersehnte Moment der Censurvertheilung erschienen war. In dem brausenden Jubel, der nun die großen Ferien begrüßt, verstummt sogar der Zorn und Schmerz über die vermeintlichen „Ungerechtigkeiten“ der Lehrer, welche sonst noch Stunden lang nach dem Schlußakt von den jungen Gemüthern eifrig debattirt werden. Wer hat aber heute dazu Zeit? Kaum die Aermsten, denen auch für die Ferien kein anderer Aufenthalt winkt. Alles, was in die Bäder oder aufs Land reist, stürzt eilends nach Haus, um schnell noch die letzten Bücher und Hefte den schon gepackten Koffern einzuverleiben. Die Eltern finden kaum Zeit, sich nach dem Zeugniß des Sprößlings zu erkundigen, selbst eine Nr. 3, die in jedem anderen Moment die Stimmung für Tage und Wochen hinaus getrübt hätte, geht kaum beachtet unter in der Hast und Unruhe der Reisevorbereitungen.

Man muß einen Berliner Bahnhof beim Ferienanfang gesehen haben, wenn man sich eine ahnungsweise Vorstellung von einer modernen Völkerwanderung machen will. Daß die Coupés überfüllt sind, versteht sich ebenso von selbst wie die Anwesenheit einer schier unübersehbaren Kinderschar bis zur äußersten Jugendgrenze hinab; das Schlimmste aber vom Schlimmen ist das ganz unglaubliche Handgepäck. Die Netze über den Sitzbänken, der Raum unter denselben, jedes Eckchen ist angefüllt mit Koffern, Plaids, Taschen, Körben, Schachteln, Schirmen und anderem für so verschiedenartige Generationen unentbehrlichen Hausrath. Und welche Anhäufung von Lebensmitteln! Obst, „Stullen“, Kuchen, Bonbons, Chokolade, Cakes, Drops, Wein, Bier, Likör, Eau de Cologne, Magenbitter, wenn man das Glück hat, mit einem ganz jugendlichen Erdenbürger die Zelle zu theilen, wohl auch das durch einen Gummipfropfen geschlossene Milchfläschchen – eine gefährliche Symphonie von Düften! Der Beginn einer echten und rechten Ferienreise ist ohne eine gewaltige Fr – pardon – Eßorgie gar nicht denkbar; wozu geht man denn auch in die Sommerfrische, wenn man sich vorher nicht noch einmal den Magen ordentlich verderben soll?! Fährt der Zug um acht Uhr von Berlin ab, so beginnt die Zufuhr von Nahrungsmitteln etwa um halb neun und dauert bis unmittelbar vor dem Mittagsessen, das natürlich auf der Hauptstation heruntergejagt wird, um dann gleich nach dem Kaffee mit frischem Muth und gesteigertem Appetit wieder einzusetzen.

Wehe dem „einzelnen Herrn“, der noch in der letzten Minute vor Abgang des überfüllten Zuges von dem zur Eile drängenden Schaffner mit der Versicherung „Hier ist noch ein Platz“ in ein solches Kleinkinderbewahrcoupé geschoben wird – könnten Blicke tödten, entseelt sänke der Unglückliche dahin, getroffen vom Wuthblicke beleidigter und empörter Mütter! Einen Platz für die mitgebrachte Reisetasche? Nicht für eine Million! Niemand rührt sich; mit der ganzen Rücksichtslosigkeit, welche dem schwachen Geschlecht – mitunter! – zur Verfügung steht, setzt man dem frechen Einbruch den entschiedensten passiven Widerstand entgegen. Diese Tage gehören den Müttern und Kindern, wer nicht zu ihnen zählt, der bleibe in seines Nichts durchbohrendem Gefühl eben fort, wenn er nicht wie ein völlig schamloser Eindringling behandelt sein will.

Ich habe diese Erfahrungen schon früh gemacht, als ich, selbst noch ein Knabe, aber mit dem männlichen Vollbewußtsein des Untertertianers nebst etlichen Schinkenbroten ausgerüstet, zum ersten Male allein in die lachende Welt hineinfuhr, um Mutter und Schwester nach der lieblichen Insel Rügen zu folgen. Alle Schwierigkeiten und Unbequemlichkeiten der Ferienzüge sind gesteigert auf denjenigen Strecken, welche die landschaftshungrigen Großstädter an die See führen, denn da nimmt der Berliner eben außer seinem heimischen Dache einfach alles mit, einschließlich Betten, die, in riesige Säcke eingenäht, den kleinen behaglichen Ostseedampfern die Physiognomie von Auswandererschiffen geben.

Wie es sich für die erste selbständige Reise gehört, war ich früh am Platze und richtete mich in einer Ecke des Coupés behaglich ein. Ich hatte den Betrag für ein Billet zweiter Klasse erhalten, nach einiger Erwägung aber eins dritter Güte erstanden, angeblich um die vorausgereiste Familie durch solch heroisches Beispiel freiwilliger Sparsamkeit zu überraschen. So wenigstens suchte ich mir damals die unschuldige Betrügerei plausibel zu machen, heute bin ich skeptischer geworden und glaube eher an eine spätere Kapitalanlage in Cigaretten und Apfelkuchen mit Schlagsahne. Wie dem auch sei – die historische Wahrheit ist nicht mehr genau festzustellen denn es kam anders, als ich erwartet hatte.

Eingekeilt in drangvoll fürchterlicher Enge saß ich während der sechsstündigen Fahrt nach Stralsund, rings umher Kinder, auf die ich mit der ganzen unsäglichen Verachtung eines zwölfjährigen Herrn herabsah, Mütter und freundliche Beschützerinnen derjenigen Passagiere, welche die Reise in ihrem eigens dazu mitgebrachten Steckkissen machten. Kein Fenster durfte geöffnet werden, denn im Coupé nebenan war eins offen, es gäbe sonst Zug, und „Hänschen hat ein Gerstenkorn“. Dabei aß Hänschen aber tapfer eine Käsestulle nach der andern, während Fritzchen Kirschen zu sich nahm, deren Kerne sein liebliches Mündchen dann auf den Boden spie, und die ganze Familie von Zeit zu Zeit von einem scharf riechenden Kräuterliqueur genoß. Was Emmchen, die allerjüngste Mitreisende, angeht, so wurde mir ihr holder Anblick in mäßigen Intervallen dadurch entzogen, daß sie sich mit ihrer Nährmutter in die entlegenste Ecke zurückzog, während die wirkliche Mutter mit kühner Leibesvorbeugung den Rückzug deckte.

Endlich nimmt so alles ein Ende, sogar eine Ferienreise mit Hindernissen. Nachdem etliche wenig erquickliche Scenen sich in unserem Kinderheim auf Rädern abgespielt und die Folgen der irrationellen Ernährung sich in der verschiedensten Weise bemerkbar gemacht hatten, erreichten wir endlich, mit der gebührenden Verspätung, Stralsund. Auf zum Hafen! Eine mäßige Viertelstunde vergeht, bis die Familie mit Sack und Pack ausgeladen ist. Ich stehe auf Kohlen denn das Dampfschiff muß in kürzester Zeit abfahren, und der Weg ist gewiß ziemlich weit. So! Einen Blick noch wirft die Mutter auf den nun verödeten Raum – außer Fritzchens Kirschkernen und einem kleinen Berg Stullenpapier ist nichts mehr vorhanden, was an die seligen Stunden erinnert – majestätisch wie die Mutter der Gracchen verläßt sie die Stätte, und nun ist auch für mich die Bahn frei!

Vor dem Bahnhofsgebäude waren inzwischen alle Bande frommer Scheu gerissen, eine wilde Jagd auf ein benutzbares Vehikel hatte begonnen. Mütter irren, Kinder wimmern – mit Hilfe der herbeigeschleppten Bettsäcke giebt das Ganze ein beinahe malerisches Bild. Mir wurde ob dieses Anblicks um meine Selbständigkeit denn doch etwas bange, so weit ich auch das Auge schickte, keine Droschke war mehr zu erblicken, keiner der biederen vorpommerschen Rosselenker hatte sich auch die Mühe gegeben auf einen halbwüchsigen Knaben zu achten, dem man wohl gar nicht das zu einer solchen Fahrt erforderliche Kapital zutraute. Endlich – ich sah eben meine lieben Reisegefährten auf hoch bepackter Kutsche davonjagen, Freund Fritz saß einen halben Meter hoch über dem Kutscher auf einem gelben Reisekorb und schien noch bei den geliebten Kirschen zu sein – entschloß ich mich wohl oder übel zu Fuß zu gehen. Gedacht, gethan! In wilder Flucht strebte ich dem Hafen zu, mich durch ein schier unentwirrbares Labyrinth von Straßen und Gäßchen durchfragend, und richtig kam ich auch gerade noch zur rechten Zeit, um – den Dampfer abfahren zu sehen und von Hänschen eine „lange Nase“ als liebevollen Abschiedsgruß zu empfangen.

„Einen Verlorenen zu beweinen ist auch männlich,“ sagt Oranien ich hatte den Dampfer versäumt, beim Laufen meinen Gloriaschirm verloren – ich war ein Mann, aber ich weinte.

Mit dem erhofften Ueberschuß war es nun nichts. Das Geld ging in Depeschengebühr und der Begleichung meiner Hotelrechnung zu Grabe. Aber ich hatte nicht nur meine Reise, sondern auch ein veritables Abenteuer gehabt, und das wog die Aussicht auf verschiedene Apfelkuchen auf.

*   *   *

Wie sehnt man sich jetzt nach all der Ferienlust zurück! Selbst das Schreckgespenst der Ferienarbeiten, das damals fürchterlich mahnend Tag und Nacht, in Thüringen wie am Ostseestrand, vor meiner geängsteten Seele stand, ich würde es gern ertragen, könnte ich dafür das drückende Handgepäck der Sorgen los werden, ohne das es nun keine Ferienreise mehr giebt.

Mancherlei habe ich seit meiner ersten selbständigen Reise hinzu gelernt, ich sehe es ruhig mit an, wenn meine Nebenmenschen sich den Magen verderben, ich kann große und kleine Leute Kirschen essen sehen, ja zur Noth selber welche mit ihnen essen, und wenn mir ein Dampfschiff vor der geehrten Nase davon fährt, so weine ich nicht mehr wie damals, denn ich habe seither oft genug das Nachsehen gehabt. Sind wir darum wirklich klüger und vernünftiger geworden, wie wir es uns so gern einbilden?! Du lieber Gott – wir haben eben resignirt und lassen des Schicksals Stöße und Schläge geduldig über uns ergehen – das ist unsere ganze Weisheit!

Immer aber, wenn der Juli naht und die großen Sommerferien beginnen, klingt und summt es in meinem Innern: „0 selig, o selig, ein Kind noch zu sein!“