Kapitän Bergers Kinder

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Autor: W. Belka
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Titel: Kapitän Bergers Kinder
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Erscheinungsdatum: 1916
Verlag: Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Commons
Kurzbeschreibung: Ein Abenteuerzyklus, welcher die Bändchen 72–73 umfaßt. Handlungsort ist Hongkong und Formosa (Taiwan).
Band 72 der Romanreihe Erlebnisse einsamer Menschen.
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[I]
72. Band. Erlebnisse einsamer Menschen Preis 15 Pf.
72. Band. Erlebnisse einsamer Menschen Preis 15 Pf.


Kapitän Bergers Kinder.


Liau-Tse verschwand in der Tiefe.


[1]
(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)


Kapitän Bergers Kinder.
W. Belka.


1. Kapitel.

Am Hafenkai in Hongkong schlenderte ein jüngerer, ganz in tadelloses Weiß gekleideter Europäer entlang, dessen ganzem Verhalten man es anmerkte, daß ihn nicht gerade eine dienstliche oder berufliche Verrichtung hergeführt hatte.

Ein gewisses Etwas in der Erscheinung des sonngebräunten, vielleicht zwanzigjährigen Mannes verriet für ein kundiges Auge sofort den Offizier in Zivil. Die gerade, straffe Haltung, die energischen Bewegungen und der nicht minder energische Gesichtsausdruck deuteten ebenso darauf hin wie der Schnitt und Sitz des weißen Leinenanzugs und die Leinenmütze mit weit vorspringendem Schirm, an deren Vorderseite man noch die Druckstellen wahrnehmen konnte, wo noch vor kurzem die Abzeichen einer militärischen Uniform gesessen hatten.

In der Tat war Gerhard Reuter deutscher Marineoffizier und weilte zur Zeit auf Erholungsurlaub nach einem leichten Malariaanfall hier in der englischen Hafenstadt, [2] die er bisher nur wenig kannte und die doch so viel Sehenswertes bot.

Hongkong, gegenüber dem Mündungsdelta des Sikiang und ebenso gegenüber dem portugiesischen, zu völliger Bedeutungslosigkeit herabgesunkenen Hafen von Makao auf einer Insel gelegen, ist ein sprechender Beweis für die Großzügigkeit englischer Kolonialpolitik. Man betrachte nur einmal eine Weltkarte, und man wird bemerken, daß dieses Inselvolk es verstanden hat, sich überall da festzusetzen, wo der Besitz einer noch so kleinen Kolonie für den friedlichen Handel ebenso sehr wie für kriegerische Unternehmungen gleich wertvoll ist. Gibraltar, die Inseln Malta und Cypern, der Suez-Kanal, Aden und Sokotra sichern den Briten die Beherrschung des Seeweges nach Indien. Und so ist es in der ganzen Welt. Überall hat England sich eingenistet, überall bewacht es See- und Landwege von Bedeutung.

Denselben Gedanken hing auch der Leutnant Gerhard Reuter nach, als er jetzt das lebhafte Hafenbild von Hongkong betrachtete. Allmählich entfernte er sich mehr und mehr von den dicht am Bollwerk gelegenen Riesenspeichern großer Handelsfirmen und kam in ein Viertel, in dem sich eine Anzahl begüterterer Seeleute in kleinen, sauberen Häuschen niedergelassen hatte. Diese Gegend war in gewissem Sinne international. Alles, was ständig in Hongkong, sei es als Schiffskapitän, Steuermann oder Maschinist, sein Brot verdiente, wohnte hier dicht beieinander. Reuter glaubte sich plötzlich in eine europäische Hafenstadt versetzt, so sehr erinnerten ihn Vorgärten, Blumenbeete und die schmucken, niedrigen Häuschen an ähnliche Viertel drüben im alten Europa.

Er schlenderte jetzt langsam eine schmale Gasse entlang, blieb dann plötzlich stehen und schaute nach zwei Kindern hin, deren blondes Haupthaar und blaue Augen die Vermutung in ihm auftauchen ließen, deutsche Landsleute vor sich zu haben.

[3] Die Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, arbeiteten in einem Gärtchen. Jetzt rief die Kleine dem Jungen ein paar Worte zu – deutsche Worte!

Reuter sprach daraufhin die beiden an. Bald merkte er, daß ihnen jeder kindliche Frohsinn fehlte, daß eine gewisse Traurigkeit aus ihren Wesen hervorging. Mitleidig forschte er sie nun aus, und ihm, dem Landsmanne, gegenüber hielten sie auch nicht mit ihren Sorgen zurück.

Es war ein Zufall, der den Marineoffizier auf diese Weise den Geschwistern Berger näherbrachte. Was er von ihnen erfuhr, erregte sofort seine Teilnahme.

Ihr Vater war Kapitän eines größeren Küstendampfers, der die nördlichen Hafenplätze und auch die östlich gelegene Insel Formosa regelmäßig besuchte. Seit drei Wochen hatten die Kinder, deren Mutter vor zwei Jahren gestorben war und die zusammen mit einem chinesischen Koch das Häuschen bewohnten, zu dem der von ihnen gepflegte Garten gehörte, nichts mehr von dem Vater und dessen schon etwas wenig seetüchtigem Dampfer „Viktoria“ gehört, so daß sie ebenso wie die Reederei, deren Eigentum die „Viktoria“ war, wohl annehmen mußten, diese sei in einem Taifun untergegangen und die ganze Besatzung mit umgekommen.

„Und doch haben wir noch eine ganz geringe Hoffnung, daß der Vater noch am Leben sein könnte“, sagte Hans Berger jetzt. „Letztens überbrachte mir nämlich ein Chinese einen Zettel, – es war vor drei Tagen –, der offenbar mit Schriftzügen von meines Vaters Hand bedeckt ist. Ich werde jedoch aus dem Inhalt des Zettels nicht klug, den ich auch befreundeten Kapitänen gezeigt habe, ohne daß diese sich ebenfalls darin zurechtfanden. Dabei trägt das Stück Papier das Datum des 14. März, ist also vor einer Woche ausgefüllt worden, das heißt zu einer Zeit, als wir den Vater als tot zu betrauern bereits nur zu schwerwiegende Gründe hatten.“

Leutnant Reuters Neugierde war geweckt. Mit dem [4] Zettel hatte es offenbar doch eine besondere Bewandtnis. Die Andeutungen des Knaben ließen dies bereits erkennen.

Nach einer halben Stunde waren die Kinder und ihr deutscher Landsmann die besten Freunde, und als Reuter sich von ihnen verabschiedete, sagte er ihnen bestimmt zu, daß er sich ihrer annehmen und diese Angelegenheit, eben das Verschwinden des Dampfers „Viktoria“, weiterverfolgen würde, da sie eines gewissen geheimnisvollen Reizes nicht entbehrte.

Gerhard Reuter war bei einem Bekannten in Hongkong abgestiegen, einem geborenen Berliner, der hier eine gute Anstellung als Ingenieur bei einem Elektrizitätswerk gefunden hatte.

Max Gnuffke, in mancher Beziehung trotz seiner fünfundzwanzig Jahre schon ein Original, hatte seinen Tagesdienst bereits erledigt, so daß der Leutnant ihn in dessen Junggesellenwohnung seiner wartend vorfand und sofort mit seinem Erlebnis herausrücken konnte. Er hatte sich von den Kindern den Zettel geben lassen und zeigte ihn nun dem Freunde mit den nötigen Erklärungen.

Das Stück Papier enthielt nur zehn Worte, die keinerlei Zusammenhang zu haben schienen. Sie waren mit Bleistift geschrieben und halb verwischt. Offenbar war der Überbringer mit seiner Botschaft nicht sehr vorsichtig umgegangen.

Gnuffke, der beinahe zwei Meier maß und abschreckend mager war, zog sein glattrasiertes Gesicht in nachdenkliche Falten und starrte den Zettel wohl fünf Minuten lang, regungslos dasitzend, an, als habe er ein wundervolles Gemälde vor sich.

Reuter wurde ungeduldig und räusperte sich. Da. öffnete Gnuffke auch schon den Mund und sagte, während ein leises Lächeln um seine Lippen spielte:

„Die „Viktoria“ ist keinem Taifun, sondern chinesischen Piraten zum Opfer gefallen. Dieser Zettel deutet darauf hin. Wie Du siehst, lieber Gerd, sind die zehn deutschen [5] Wörter, unter denen noch „14. März 1908“ steht, nicht alle von gleicher Größe, vielmehr sind fünf mit etwas längeren Buchstaben, fünf wieder mit kürzeren geschrieben. Liest man nun erst die größeren, dann im Anschluß die kleineren Wörter, so ergibt sich folgender Satz, der plötzlich einen vielsagenden Sinn hat:

„Süd Spitz Form nach Ost Insel drei Felsen Korsaren Fang“,

und dieser Sinn ist: Östlich der Südspitze von Formosa (hier abgekürzt durch „Form“!) liegt eine Insel mit drei (fraglos auffälligen) Felsen, und dort werde ich von Korsaren (also chinesischen Piraten) gefangen gehalten.“

Gerd Reuter stieß einen Ruf der Überraschung aus.

Glänzend, Max – glänzend …!! Natürlich hast Du recht! Nein – wie Du nur auf diese Lösung der rätselhaften Botschaft kommen konntest, – das ist geradezu zum Staunen …!“

„Beruhige Dich! Nichts ist zum Staunen! Nur die Augen muß man zu gebrauchen verstehen! Es gibt Leute mit tadellosen Sehorganen, die doch in jede Pfütze hineinpatschen. Warum? Weil sie nicht gelernt haben, gleichzeitig auf ihre Umgebung und auf ihren Weg zu achten …! – Ich kann sehen. Ich sehe alles. Zum Beispiel auch, daß Du heute nachmittag in einer Bar warst und Fruchteis mit Whisky genossen hast. Auf Deinem Oberhemde bemerke ich nämlich ein paar kleine Fleckchen, deren Farbe auf Früchte hindeutet. Da Du nun Früchte ohne Alkoholbeimischung nicht gern genießt, wirst Du eben wohl in einer Bar gewesen sein. – Doch nun zurück zu den Kindern und dem Zettel. Ich kann, wenn ich will, jeder Zeit vierzehn Tage auf Urlaub gehen. Ich besitze einen gedeckten Segelkutter, der, versehen mit einer kleinen Kajüte, ganz seetüchtig ist. Mein Sinn steht von jeher auf alles Außergewöhnliche, Abenteuerliche. Was hindert uns also, da auch Du noch drei Wochen faulenzen darfst, nach Kapitän Berger zu suchen?“

[6] Die kurz angebundene Art Max Gnuffkes kannte der Leutnant schon. Wollte man dem Ingenieur nicht die Galle ins Blut treiben, so mußte man im Verkehr mit ihm alle Weitschweifigkeiten vermeiden. Daher erwiderte Gerd Reuter auch:

„Ich bin einverstanden. Wann stechen wir in See?“

„Morgen abend. Und das, was wir an Waffen besitzen, nehmen wir auch mit.“




2. Kapitel.

Durch die grünblauen Fluten des Stillen Ozeans glitt ein schlanker Acht-Meter-Kutter mit prallgefüllten Segeln leicht wie ein weißer Schwan dahin.

Im Westen, wo soeben die Sonne unter dem Horizonte verschwunden war, ragten noch wie schwarze Zacken die höchsten Spitzen des Südkaps von Formosa über die weite Meeresfläche hinaus.

Fünf Tage war die „Libelle“, Max Gnuffkes schmuckes, kleines Fahrzeug, nun schon unterwegs. Wind und Wetter hatten ihm ihre Gunst bewiesen. Man war schnell vorwärts gekommen. und soeben erklärte Gerd Reuter dem kleinen Hans Berger, indem er mit dem Finger auf eine Stelle der Seekarte der südchinesischen Gewässer wies, daß man voraussichtlich schon gegen Morgen des nächsten Tages die felsigen Eilande in Sicht bekommen würde, die hier auf der Karte als Pünktchen in ihrer Namenlosigkeit nur angedeutet seien und auf deren einem doch sehr wahrscheinlich Kapitän Berger gefangen gehalten werde, da es sonst östlich von Südformosa keine weiteren Inseln gebe, die als Piratenschlupfwinkel in Betracht kämen. – –

Es hatte den Kindern viele Bitten und von Seiten der kleinen Herta auch manche Träne gekostet, ehe der Ingenieur nachgegeben und sie mit auf die nicht ganz gefahrlose Reise genommen hatte.

[7] Zu welchem Zwecke die „Libelle“ für zwei Wochen Proviant mitführte und was man eigentlich vorhatte, darüber erhielt niemand in Hongkong Auskunft. Gnuffke wußte nur zu gut, daß die Piraten sicherlich in Hongkong heimliche Verbündete besaßen, die dafür gesorgt hätten, auf diese oder jene Art die Absichten der beiden Deutschen zu vereiteln. Aus Vorsicht waren die Geschwister Berger daher auch erst in letzter Stunde an Bord des Kutters gekommen, ohne einem Menschen vorher etwas von der bevorstehenden Seereise zu verraten.

Der lange Ingenieur saß am Steuer, und neben ihm auf der vertieften Bank lehnte die kleine Herta, die ebenso wie ihr Bruder ganz seefest war, da ihr Vater sie schon einige Male auf der „Viktoria“ bis hinauf nach Schanghai mitgenommen hatte. Reuter und der kräftige Knabe wieder standen vor dem niedrigen Kajütaufbau über die Seekarte gebeugt, auf der der Marineleutnant dem kleinen Landsmanne soeben die namenlose, winzige Inselgruppe gezeigt hatte.

Herta stand jetzt auf und wollte die kurze Treppe zur Kajütentür hinab.

„Ich werde die Abendmahlzeit herrichten“, meinte sie wichtig. Sie war tatsächlich auf der „Libelle“ mit dem Posten des Schiffskoches betraut worden und bewies dabei viel Eifer und Geschick, weil Kapitän Berger stets darauf bedacht gewesen war, seine Kinder in allem zu praktischen Menschen zu erziehen.

Zufällig warf das hübsche, blonde Mädelchen, bevor es die Treppe hinabeilte, noch einen Blick nach Osten zu, wo bereits leichte abendliche Nebel sich zusammenballten. Ihre Augen machten plötzlich halt, und dann rief sie laut:

„Dort – eine Dschunke (chinesisches Fahrzeug) mit gerefften Segeln …!“

Die drei anderen Insassen des Kutters richteten sich auf und schauten gleichfalls in die Fahrtrichtung der „Libelle“, dorthin, wo der Kleinen scharfe Augen den [8] plumpen Rumpf und die zwei niedrigen Masten des Küstenseglers entdeckt hatten.

Max Gnuffke übergab jetzt die Pinne des Steuers dem Leutnant und stieg auf das Dach des Kajütaufbaus, um von dieser Erhöhung herab nach dem Schiffe hinüberzuspähen, wobei er sich noch eines Fernglases bediente.

Die Dschunke war etwa zwei Seemeilen entfernt gewesen, als Herta sie entdeckt hatte. Der Zwischenraum zwischen den beiden Fahrzeugen verringerte sich jetzt jedoch sehr schnell, da der Kutter unter allen Segeln lief und die Abendbrise recht frisch war.

„Merkwürdig, daß man drüben alles Zeug (Segel) gerefft hat“, sagte Hans Berger zu dem Seeoffizier. „Einen so günstigen Wind läßt doch niemand unbenutzt. Vielleicht …“ Er konnte den Satz nicht beenden, da der dürre Ingenieur jetzt mit lauter Stimme meldete:

„Die Dschunke ist in eine Tangwiese geraten, und inmitten dieser Tausende von lästigen Armen kommt sie natürlich nicht vom Fleck.“

Solche schwimmenden Tangwiesen, wie sie in allen Meeren angetroffen und von den Strömungen oder vom Winde weiterbewegt werden, bestehen aus einer besonderen Gattung von Wasserpflanzen, dem sogenannten Fukus, einem schwimmenden Kraute, welches seine Zweige so eng ineinander verschlingt, daß sie förmliche Gewebe bilden und zwar bis zu drei Meter Tiefe hinab. Die größte dieser Tangwiesen ist bekanntlich das Sargasso-Meer im Atlantischen Ozean nordwestlich der Azoren, das eine ungeheure, von Dampfern und Seglern gleich ängstlich gemiedene Fläche bedeckt. Ein Schiff vermag sich nur schwer aus der Umklammerung dieser zähen Fukusmassen zu befreien, die oft dem Seefahrer freie Stellen zum Durchschlüpfen und Vermeiden eines Umweges vortäuschen, sich dann aber wie eine Falle oder eine Zange schließen, aus der es nur unter unsäglicher Arbeit ein Entrinnen gibt.

Der Ingenieur konnte durch sein Fernglas deutlich [9] erkennen, daß die Dschunke ein Boot ausgesetzt hatte, in dem vier Leute mit Stangen sich abmühten, die Pflanzenschicht bei Seite zu schieben und für ihr Fahrzeug eine offene Straße zu schaffen. Weiter ersah Max Gnuffke aber auch aus der anderen Färbung des Wassers genau die Abgrenzung der Tangwiese, die bei länglich runder Form mindestens eine Seemeile lang war. Die Dschunke befand sich etwa dreihundert Meter von dem Westrande entfernt. Jedenfalls mußte es noch stundenlang dauern, bis die Besatzung sich wieder aus dem treibenden grünbraunen Teppich befreit hatte.

Vorsichtig hielt die jetzt von Reuter gesteuerte „Libelle“ sich von der schwimmenden Wiese fern, um nicht ebenfalls hineinzugeraten. Immerhin kam man der Dschunke auf fünfhundert Meter nahe. In der Hauptsache schien die Bemannung des Seglers drüben aus Chinesen zu bestehen. Der Ingenieur nahm aber auch mit Hilfe des Glases einige Malaien wahr, und gerade diese Zusammensetzung des Schiffsvolkes der Dschunke sowie deren Anwesenheit hier östlich von Formosa, wo diese plumpen und doch schnellen Küstenfahrer sonst nie anzutreffen sind, erregten seinen Verdacht. Er wohnte bereits lange genug in Hongkong, um mit all diesen Dingen vertraut zu sein. Und daher stieg jetzt auch der Verdacht in ihm auf, daß die Dschunke womöglich ein Pirat sei, freilich unter der Maske eines harmlosen Kauffahrteischiffes.

Das Piratenunwesen, das einst in den chinesischen und indischen Gewässern sehr in Blüte stand, hat trotz aller Maßnahmen der europäischen Handelsvölker nie ganz aufgehört. Nur vorsichtiger und schlauer sind die gelben und braunen Burschen geworden, die den Seeraub als Handwerk sich erwählt haben.

Die Leute, die sich in dem Boot mit allen Kräften anstrengten und emsig die Stangen bewegten, winkten jetzt nach der „Libelle“ hinüber, und dies so eifrig, daß der Ingenieur beschloß, auf das Boot zu warten, welches sich [10] nun langsam von der Dschunke entfernte und dieses Vorwärtskommen wohl nur seinem geringen Tiefgange verdankte.

Zu den vier Chinesen war noch ein fünfter in das Boot geklettert. Und dieser Mann übernahm jetzt auch, als der Kutter es im Schlepptau hatte, damit es nicht wieder abgetrieben würde, die Unterhandlung mit Gnuffke.

Fraglos war dieser gutgekleidete, große und starke Mensch ein Mischling verschiedener Rassen. Ein bestimmter Rassentyp ließ sich bei ihm nicht feststellen.

In seiner Art zu sprechen als auch in seinen Bewegungen lag etwas Stolzes, Gebieterisches. Er begann den Ingenieur denn auch sofort nach Ziel und Heimathafen des Kutters auszufragen und dies in einer Weise, als vertrete er hier auf offenem Meere eine staatliche Behörde.

Gnuffke machte es geradezu ein Vergnügen, dem gelbgesichtigen Burschen ordentlich einen Bären aufzubinden, wobei er absichtlich wiederholt wie spielend seinen Revolver aus der Tasche nahm. Die verdächtigen Gesellen sollten wissen, daß die Europäer auf dem Kutter nicht ohne Waffen waren.

Dann rückte der anmaßende Farbige mit einer Bitte heraus, und zwar versprach er dem Ingenieur eine beträchtliche Geldsumme, wenn der Kutter zwei Leute von der Dschunke sofort nach dem Südkap von Formosa bringen wolle.

Gnuffke wollte erst kurzerhand ablehnen. Dann aber kam ihm ein besserer Gedanke. Er willigte ein, und gleich darauf kehrte das Boot nach der Dschunke zurück, um von dort einen älteren, sehr kleinen und sehr dicken Chinesen abzuholen. Hierzu gebrauchte das Boot weit über eine Stunde. Mittlerweile war es bereits ziemlich dunkel geworden. Als die beiden Fahrgäste, der lange Mischling und der Chinese, auf den Kutter übergestiegen waren, [11] änderte die „Libelle“ auch scheinbar ihren Kurs und strebte unter vollen Segeln der Insel Formosa wieder zu.

Auch jetzt zeigte sich, daß der Ingenieur tatsächlich seine Augen gut offenzuhalten wußte. Er bemerkte nämlich, daß die Blicke des fetten Zopfträgers, der ebenfalls sehr wertvolle Gewänder trug, immer wieder zu den Kindern zurückkehrten und ein Interesse für die Geschwister verrieten, mit dem es eine besondere Bewandtnis haben mußte. Nach einer Weile fragte der Dicke dann auch die kleine Herta mit heuchlerischer Herzlichkeit, wie sie heiße, wer ihre Eltern und wo diese ansässig seien.

Bevor das Mädelchen in ihrer Harmlosigkeit noch antworten konnte, mischte sich Gnuffke selbst ein, indem er jetzt erklärte, er habe vorher dem anderen Manne (den Mischling meinte er) nicht die volle Wahrheit gesagt. Ein deutscher Kreuzer suche nämlich nach dem scheinbar verloren gegangenen Dampfer „Viktoria“, dessen Kapitän der Vater dieser Kinder sei, während der Herr dort – damit wies er auf Reuter – ein Offizier des Kriegsschiffes sei, den man dem Kutter mitgegeben habe, da dieser sich weiter östlich auf dem 122. Grad östlicher Länge mit dem Kreuzer treffen solle.

Diese neuen aus Dichtung und Wahrheit geschickt gemengten Angaben hatten die erhoffte Wirkung: der dicke Chinese ließ sich zu einer weiteren vielsagenden Unvorsichtigkeit hinreißen und tauschte mit dem Mischling nicht nur einen beredten Blick, sondern auch ein halb verächtliches Lächeln aus, welches nur den von den beiden Gelben für ganz aussichtslos erachteten Nachforschungen des von dem Ingenieur glatt erfundenen Kreuzers gelten konnte.

Max Gnuffke genügte dies vollauf. Er nahm gleich darauf den Leutnant unauffällig bei Seite und teilte ihm die neuen Beweise für die Richtigkeit seines Verdachtes mit, daß die Dschunke zu denselben Piraten gehöre, die Berger gefangen hielten.

Reuter gab ihm in allem recht, und sie verabredeten [12] dann, die beiden Fremden nacheinander zu überwältigen und als Gefangene zu behandeln, deren man sich später vielleicht sehr gut als Geiseln oder zum Austausch gegen den Kapitän würde bedienen können.

Der Ingenieur verstand es auch, nachher erst den dicken Tschi-Mao und dann den weit gefährlicheren Kiato in die Kajüte zu locken und hier einen nach dem anderen mit vorgehaltenem Revolver unschädlich zu machen, das heißt zu binden und in einen engen Verschlag im Hinterschiff einzusperren, wo derjenige der Deutschen, der gerade am Steuer saß, die Gefangenen bequem gleichzeitig mit bewachen konnte.

Nachdem dieser Streich geglückt war und nachdem besonders Kiatos wilde Drohungen weiter gezeigt hatten, daß man in den beiden Gelben alles andere nur keine harmlosen Kaufleute vor sich habe, wurde der Kurs der „Libelle“ abermals geändert und der frühere auf die kleine namenlose Inselgruppe hin wiederaufgenommen.




3. Kapitel.

Wie der Atlantische Ozean in dem aus der Floridastraße hervorkommenden Golfstrom eine die klimatischen Verhältnisse der Küstenländer des Atlantik wesentlich beeinflussende Meeresströmung besitzt, die mit ihrer tiefblauen Farbe sich auch schon äußerlich von den Wassern dieses Weltmeeres abhebt, so verfügt der Stille Ozean in dem etwa zwischen den Wendekreisen von Ost nach West gehenden Äquatorial-Strom über eine Meeresströmung, deren Wirkungen sich hier in ähnlicher Weise äußern.

Der Nordarm des Äquatorial-Stromes zieht nun an der Ostküste Formosas mit beträchtlicher Geschwindigkeit vorbei und trifft vorher auch jene kleinen Felseneilande, die das Ziel der Fahrt des Kutters waren. Dieser Nordarm, später Kuro-Siwo-Trift genannt, erzeugt nun verschiedentlich [13] an den Küsten sehr starke Strudel, manche davon von einer Ausdehnung und Stärke, die an Gefährlichkeit dem bekannten Malstrome des skandinavischen Mälar-Sees in keiner Weise nachstehen.

Der Seemann meidet daher auch ängstlich die Nähe dieser verhängnisvollen Meeresteile. Aus demselben Grunde war auch die kleine Inselgruppe östlich von Formosa für jedes Schiff verbotenes und unerforschtes Gebiet, daher aber desto geeigneter für einen Schlupfwinkel lichtscheuen Gesindels, das die Meere unsicher macht.

Am nächsten Vormittag gegen acht Uhr näherte sich die „Libelle“ den Eilanden. Hier machte sich die Strömung bereits stark bemerkbar, indem der gegen sie ankämpfende Kutter sehr an Schnelligkeit trotz günstigen Windes verlor.

Wie der lange Ingenieur dann mit dem Glase feststellte, handele es sich im ganzen um etwa ein Dutzend Inseln von verschiedener Größe, die in zwei Reihen, getrennt durch eine kaum hundert Meter breite Wasserstraße, sich von West nach Ost ungefähr über eine Strecke von einer Viertelmeile hinzogen. Die Eilande, zumeist niedrig und aus kahlen Felsen bestehend, machten schon von weitem einen trostlosen Eindruck. Bald mußten die Insassen des Kutters einsehen, daß es unmöglich war, sich ihnen von Westen her zu nähern. Weiße Schaumberge kennzeichneten überall die Stellen, wo die Strudel über Untiefen ihre kreisenden Wassermassen hinwegbrausen ließen. Die „Libelle“ steuerte daher jetzt in weitem Bogen um die Gruppe herum und suchte mit der Strömung von Osten her in den Kanal zwischen den Eilanden einzudringen.

Leutnant Reuter hatte jetzt das Amt des Steuermannes als der in seemännischen Dingen erfahrenste übernommen. Für alle Fälle ließ er Schwimmwesten bereithalten, ebenso wie auch die Gefangenen an Deck gebracht wurden, damit sie nicht, wenn die „Libelle“ scheitern sollte, elend in ihrem Verschlage ertränken.

[14] Die Aufregung der vier Gefährten wuchs jetzt mit jeder Minute. Kleinere Strudel suchten bereits das Boot zu erfassen, das sich öfters wie ein Kreisel um sich selbst drehte, bevor es wieder, indem man schnell das Großsegel entfaltete, in Fahrt kam.

Reuters sonngebräuntes Gesicht wurde immer bedenklicher. Er ahnte eine Katastrophe voraus. Jedenfalls war es nötig, den Kutter in diesem Fahrwasser, wo überall sicherer Tod drohte, steuerfähig zu erhalten. Man hißte also wieder die Segel, reffte aber das Großsegel, um dem Winde weniger Angriffsfläche zu bieten.

Nun schoß die „Libelle“ häufig halb im weißen Gischt verschwindend, wie ein wildgewordener Renner dahin. Jetzt hörte das gefährliche Kreisen zwar auf aber dafür lag wieder die Möglichkeit vor, daß der Kutter auf ein verborgenes Riff auflief.

So kam es auch. Plötzlich erschütterte ein so starker Stoß die „Libelle“, daß der Mast dicht über dem Deck umknickte und das Boot wie festgebannt auf derselben Stelle liegen blieb, rings umtobt von den sich drehenden, schäumenden Wassern eines Strudels, der seine in die Tiefe hinabziehenden Kräfte sofort dadurch bewies, daß er den bei dem Anprall auf das Riff, das offenbar den Boden durchbohrt hatte und nun wie ein riesiger Haken die „Libelle“ festhielt, über Bord geflogenen Deckel der Vorderluke wie ein gieriges Ungeheuer verschluckte.

Das Schicksal des braven Schiffleins war besiegelt. Nicht minder hoffnungslos erschien die Lage der an Bord befindlichen Menschen, denen der Tod des Ertrinkens sicher war. Mußte doch die Macht des Wasserwirbels alles Lebende in den nassen Abgrund reißen, wenn die „Libelle“, die, auf dem steinernen Riesenhaken hängend, wild hin und her geschüttelt wurde, auseinanderbarst.

Hier galt es einen schnellen Entschluß zu fassen. Jede Minute des Zögerns mußte verhängnisvoll werden.

Gnuffke und Reuter berieten sich leise. Dann mußten [15] auch die beiden Gefangenen, nachdem man festgestellt hatte, daß das Wasser im Innern des Kutters bereits ein Meter hoch stand, mit zugreifen. Beilhiebe folgten in raschen Schlägen, die nicht nur die Holzteile des Kajütendaches, sondern auch sonst alles an Planken und Brettern lostrennten, was sich zum Bau eines Flosses eignete. Dieses konnte natürlich nur ziemlich klein ausfallen, da zu wenig Material vorhanden war. Immerhin mußte es aber zwei Menschen gut tragen. Und das genügte, wenigstens für den Rettungsplan, den der Marineoffizier auf Grund seiner Beobachtungen den Wirkungen des Strudels entworfen hatte. Dieser brachte nämlich Gegenstände, die er in die Tiefe gezogen, nach etwa einer Minute an einer entfernteren Stelle wieder an die Oberfläche. Dort nun, wo der Wasserwirbel eine aufwärts treibende Kraft entwickelte, wurden die wiederauftauchenden Gegenstände von der den Hauptkanal zwischen den Inseln nach Westen zu durcheilenden Strömung erfaßt und gegen eine weitvorspringende schmale Halbinsel des größten der Eilande geworfen. So war es dem Lukendeckel ergangen und auch ein paar leeren Holzkistchen, die Reuter als Versuchsobjekte hinterher ins Wasser geschleudert hatte.

Nachdem man das fertige Floß, an das ein sehr langes, aus sämtlichen vorhandenen Leinen zusammengebundenes Tau befestigt worden war, ins Wasser gebracht hatte, mußte der dicke Tschi-Mao zusammen mit Gnuffke die erste Fahrt nach der etwa hundert Meter entfernten Halbinsel wagen. Die beiden Gelben hatte die Todesangst vollständig gefügig gemacht, und sie waren offenbar sehr froh, daß die Deutschen sie nicht einfach ihrem Schicksal überließen, sondern mit an ihre Rettung dachten.

Gnuffke und der Chinese banden sich mit Stricken an dem primitiven Fahrzeuge fest, welches dann, führend Reuter und Kiato das Tau durch die Hände gleiten ließen, dem Strudel zuschoß, hier sofort in wildem Wirbel herumgerissen und für kurze Zeit auch hinabgezogen wurde, um [16] dann weiter nach der Halbinsel zu wieder aufzutauchen und dem Lande zuzutreiben.

Mit einem Wort: Reuters rettender Gedanke hatte die Probe auf seine Durchführbarkeit sehr gut bestanden.

Nachdem die beiden ersten Passagiere des Flosses auf diese Weise glücklich die Hauptinsel der Gruppe erreicht hatten, wurde das nur recht lose zusammengeschlagene Fahrzeug mühsam wieder mit Hilfe des Taues nach dem Kutter zurückgezogen, wo man nun die Kinder darauf festband. Auch diese menschliche Fracht gelangte wohlbehalten, wenn auch pudelnaß, an das Ziel. Jetzt galt es, auf demselben Wege möglichst viel von den notwendigsten und brauchbarsten Dingen, die auf der „Libelle“ vorhanden waren, nach der Insel zu schaffen.

Sei es nun, daß Reuter und der Mischling die erste Fracht zu schwer bemessen, sei es, daß die einzelnen Teile des Flosses sich inzwischen gelockert hatten: jedenfalls ereignete sich ein für die beiden noch auf dem Kutter befindlichen Männer das schlimmste Unglück, das sie überhaupt treffen konnte. Kaum war das Floß nämlich in den Wirbeln verschwunden, als einzelne Planken an der Oberfläche erschienen, die bewiesen, daß das Fahrzeug sich in seine Bestandteile aufgelöst hatte. An dem Tau hingen jetzt nur noch die beiden Bretter, an die man dieses befestigt hatte.

Reuter und Kiato banden sich daher jeder drei Rettungsgürtel unter den Armen fest und wagten dann nacheinander den Sprung in die schäumenden, gurgelnden Wassermassen.

Mit angstvoller Spannung beobachteten die auf der Halbinsel stehenden Gefährten des jungen Offiziers den Ausgang dieser gefährlichen Schwimmtour. Der Mischling tauchte wieder auf, – – Reuter dagegen kam nicht mehr zum Vorschein.

Bald durfte man sich keinerlei Hoffnung mehr hingeben. Der Marineleutnant hatte als einziger bei dem [17] Schiffbruch sein Leben gelassen, war von dem Strudel in der Tiefe durch irgend einen unglücklichen Zufall festgehalten worden und … ertrunken.

Für den langen Ingenieur ergab sich nun die Notwendigkeit, allein einen Entschluß zu fassen, was weiter geschehen solle.

Als nach einer Viertelstunde bangen Harrens noch immer nichts von Reuter bemerkt worden war, als Gnuffke dann traurig zu den Kindern äußerte, daß ihr treuer Gefährte fraglos umgekommen sei, da hatten sich Kiato und der dicke Chinese sofort etwas abseits gestellt und leise miteinander geflüstert, wobei sie immer wieder nach den drei Deutschen hinüberblickten.

Der Ingenieur fürchtete mit Recht, daß die beiden Gelben jetzt die veränderte Sachlage ausnutzen und versuchen würden, ihn und die Geschwister zu überwältigen. Zum Glück hatten nun sowohl er als auch Hans Berger je einen Revolver nebst einer Anzahl Patronen mitgenommen, und Gnuffke zögerte jetzt gegenüber dem verdächtigen Benehmen der Farbigen keinen Augenblick, sich der gefährlichen Burschen wieder zu versichern. Mit wenigen Worten klärte er den Knaben über seine Absichten auf. Und für Kiato und Tschi-Mao kam es dann vollkommen überraschend, als die beiden Deutschen ihnen jetzt mit drohend erhobenen Revolvern erklärten, man sei gezwungen, sie vorläufig wieder zu binden, bis man sich auf der Insel genügend umgesehen habe, um ihnen einen bestimmten Teil derselben als Aufenthaltsort anzuweisen, den sie dann unter keinen Umständen verlassen dürften, wenn sie nicht gerade mit ein paar Revolverkugeln Bekanntschaft machen wollten.

Um Kiatos Lippen spielte ein höhnisches, ja fast hochmütiges Lächeln, als er sich wortlos fesseln ließ. Auch der dicke Chinese ergab sich ruhig in sein Schicksal. Aber gerade dieses Benehmen der beiden warnte Gnuffke, der leise zu dem Knaben sagte, man werde sich vor den Farbigen [18] sehr in acht nahmen müssen, da diese offenbar etwas Besonderes im Schilde führten.

Dann mußte Hans Berger bei den Gefangenen als Wächter zurückbleiben, während Gnuffke und das kleine Mädelchen die Halbinsel entlang auf das Eiland zuschritten, um dieses eingehend in allen seinen Teilen zu besichtigen.

Die Sonne hatte jetzt ihren höchsten Stand erreicht. Der Himmel war klar. Kein Wölkchen weit und breit. Und erbarmungslos prallten die sengenden Strahlen des Tagesgestirns auf die kahlen Felsen der Halbinsel auf, ließen die Luft über dem Boden flimmern und trockneten in kurzem die Kleider der Schiffbrüchigen.

Im Schatten eines mächtigen Felsblockes, der aus der allmählich abfallenden Uferwand der Halbinsel wie ein Turm vorsprang, waren die beiden Farbigen niedergelegt worden. Nachdem Gnuffke und die Kleine verschwunden waren, richtete Hans den dicken Chinesen und dann auch Kiato zu sitzender Stellung auf, so daß sie sich gegen den Felsen lehnen konnten. Er selbst begann darauf in der Nähe auf und ab zu gehen, wobei er am Ufer nach Krebsen ausspähte, die vielleicht sich zu einer Mahlzeit eigneten.

Dieses größte der Eilande gehörte zu der südlichen Reihe der durch den Kanal in zwei Gruppen geteilten Inseln. Die Halbinsel, eigentlich nur eine nackte, öde Felszunge von 50 Meter Länge und durchschnittlich acht Meter breite, war nach Nordost zu gerichtet und reichte bis auf etwa vierzig Meter an die gegenüberliegende zweitgrößte Insel heran. Zwischen dieser und der Spitze der Felszunge schoß die Strömung mit starkem Brausen und einer Schnelligkeit hindurch, daß man einen Fluß von großem Gefälle vor sich zu haben glaubte.

Das Eiland, auf das die Halbinsel sozusagen wie ein ausgestreckter Finger hinwies, unterschied sich wesentlich von den anderen Inselchen der merkwürdig geordneten Gruppe. Während die übrigen, auch das, auf dem die [19] Schiffbrüchigen gelandet waren, aus flachen Hügeln ohne größere Erhebungen bestanden, wuchs jenes wie ein enormer Würfel mit einer wildzerklüfteten Oberfläche und steilen, gut zehn Meter hohen Uferwänden aus den Wassern empor. Unwillkürlich dachte Hans Berger an die Abbildungen, die er von der Insel Helgoland gesehen hatte. Die berühmte „grüne“ Insel dort in der deutschen Heimat, jenes Seebollwerk für die deutsche Kriegsmarine, fand er hier in verkleinerter Gestalt wieder, wenn man eben davon absah, daß Neu-Helgoland – diesen Namen fand Hans sehr zutreffend, worin ihm später auch Gnuffke recht gab – in seiner Oberflächengestaltung nur allzu sehr von dem deutschen Felseneiland in der Nordsee abwich, ebenso wie es auch nicht eine Spur von Vegetation besaß und kein frischer Halm die grauschwarzen Gesteinsmassen angenehm belebte.

Während der kräftige, aufgeweckte Knabe, hin und wieder die Gefangenen prüfend musternd, noch am Strande nach Krebstieren ausspähend auf und ab ging, zuckte er plötzlich zusammen.

Eine Stimme war an sein Ohr gedrungen, undeutlich zwar nur, aber doch verständlich, – eine bekannte Stimme, – die des Kapitäns Berger, des Vaters dieses wackeren Jungen, der ausgezogen war, den Verschwundenen zu suchen …

„Hans – Hans …!!“ – Zweimal war dieser Name erklungen … – Es schien, als käme die Stimme aus den gurgelnden Wassern der Strömung.

Aber so genau der aufgeregte Knabe auch überall umherspähte, so laut er auch sehnsuchtsvoll wiederholt „Vater – Vater!!“ rief, niemand zeigte sich, niemand meldete sich mehr.

Eine abergläubische Angst beschlich da den braven Jungen. Er hatte sich ja auf keinen Fall getäuscht, er hatte die Stimme vernommen, und eine Sinnestäuschung war ausgeschlossen. Jetzt dachte er notgedrungen an [20] irgend einen übernatürlichen Vorgang … Und plötzlich kam er sich auf seinem Posten als Wächter der beiden schweigend und verbissen dasitzenden Feinde so verlassen vor, daß er die Rückkehr des Ingenieurs und des kleinen Schwesterleins kaum erwarten konnte.

Aber eine halbe Stunde verging noch, ehe die Gestalten der Gefährten zwischen den Hügeln der Insel wieder auftauchten. Hans atmete wie befreit bei ihrem Anblick auf. Er eilte ihnen entgegen und erzählte nun fliegenden Atems sein seltsames Erlebnis.

Der Ingenieur schüttelte nachsichtig lächelnd den Kopf.

„Kleiner Freund, Du hast im Wachen geträumt“, meinte er. „Die letzten Stunden mit ihren nervenaufregenden Zwischenfällen sind daran schuld.“

Da wurde Hans beinahe böse.

„Geträumt?! „Oh – Herr Gnuffke, ich war nie munterer als in dem Augenblick, als ich die Stimme hörte! Sie können mir‘s schon glauben: Mein Vater rief – – vielleicht aus dem Jenseits als letzten Gruß für mich …!“

Gnuffke wollte den Gegenstand nicht weiter erörtern. Mochte der Knabe bei seiner Ansicht bleiben. Es mußte ja ein Irrtum sein. Daran war nicht zu zweifeln. – Und so begann der Ingenieur denn zu erzählen, was er und das Mädelchen inzwischen über die Größe, Gestalt und Bodenbeschaffenheit der Insel festgestellt hatten.

Sehr erfreulich waren diese Angaben nicht.

Das Eiland hatte ungefähr die Form eines gleichseitigen Dreiecks mit nach Süden gerichteter Spitze und einer Seitenlange von vielleicht tausendfünfhundert Meter. Es war beinahe ebenso vegetationslos wie die anderen Inseln, da es nur in der Mitte in einem von Westen nach Osten sich erstreckenden Tale einen spärlichen Graswuchs in der Nähe einer Quelle besaß wo auch einige Sträucher vorkamen. Die Quelle selbst, für die Schiffbrüchigen mit ihrem kühlen, klaren Wasser ein kostbares Geschenk, schlängelte sich als Bach, in großen Windungen den Bodenvertiefungen [21] folgend, nach Süden zu und ergoß sich in Gestalt eines kleinen Wasserfalles über eine steile Uferstelle ins Meer.

„Auf der ganzen Insel“, fügte Gnuffke zum Schluß seinem Berichte hinzu, „haben wir nirgends Anzeichen dafür gefunden, daß sich jemals hier Leute aufgehalten haben, obwohl doch gerade das Tal sich zum Schlupfwinkel für Piraten recht gut eignet. Unsere anfängliche Vermutung, dieser Archipel könne ein geheimer Stützpunkt chinesischer Seeräuber sein, trifft also tatsächlich wohl kaum zu. Und deshalb dürfte es auch ausgeschlossen sein, daß Dein Vater hier irgendwo verborgen gehalten wird. Die Eilande haben sicherlich außer uns und unseren Gefangenen keinen Bewohner. Vielleicht sind wir seit langen Jahren die ersten Menschen, die ein unglücklicher Zufall hier landen ließ.“




4. Kapitel.

Die kleine Herta hatte sich, während der Ingenien über die Insel dem Bruder Bericht erstattete, eine Strecke nach der Spitze der Halbinsel zu entfernt, kam jetzt aber plötzlich anscheinend in heller Aufregung zurückgelaufen, winkte schon von weitem den beiden zu und rief dann mit ihrem feinen Stimmchen:

„Herr Gnuffke – – die drei Felsen, – kommen Sie – sehen Sie selbst – – die drei Felsen, von denen der Vater auf dem Zettel spricht – – vielleicht sind sie es – –!!“

Der Ingenieur schaute das Mädelchen sehr ungläubig an. Bald aber sah er dann selbst, daß die Kleine bessere Augen gehabt hatte als er und die beiden anderen männlichen Insassen der Gestrandeten „Libelle“.

Befand man sich nämlich in der Nähe der Spitze der Halbinsel, so hoben sich, also von Norden gesehen, von den [22] Uferpartien deutlich drei mächtig Blöcke ab, deren südlichster derjenige war, in dessen Schatten die Gefangenen saßen.

Diese auffällige Entdeckung stimme den Ingenieur sehr nachdenklich. Die Möglichkeit, daß die Felsen hier gerade in der Dreizahl zufällig vertreten waren, lag freilich vor. Aber ein solcher Zufall war immerhin recht merkwürdig, ja wenig wahrscheinlich, wenn man in Betracht zog, daß auch einzelne Umstände doch dafür sprachen, gerade hier befinde sich der Schlupfwinkel der Piraten.

Gnuffke mit seinem selten scharfsinnigen, kühl abwägenden Verstande dachte jetzt wieder an die Angaben der geheimen Botschaft des Kapitäns für seine Kinder, in der doch auf eine Insel östlich der Südspitze Formosas hingewiesen war, dachte weiter an die Dschunke in den Tangmassen hier in einer von diesen mehr auf Küstenfahrten eingerichteten Seglern wenig oder gar nicht besuchten Meeresgegend. Dann fiel ihm auch das angebliche Erlebnis des Knaben ein, – die Stimme, die Hans gehört haben sollte. Und endlich erinnerte der Ingenieur sich auch jetzt plötzlich des höhnischen Lächelns und der Gleichgültigkeit der beiden Gelben, die sich ohne jede Widerrede hatten fesseln lassen.

Der Ingenieur war so in nachdenkliche Gedanken versunken, daß er ordentlich zusammenfuhr, als das Mädelchen jetzt Antwort heischend seinen Namen rief.

„Du magst recht haben, Kind“, meinte er nun freundlich, indem er wieder der Stelle zuschritt, wo Hans auf die beiden in leicht begreiflicher Spannung wartete. „Ich hoffe, bald Gewißheit zu erhalten“, fügte er eifrig hinzu. „Sehen wir, wie unsere Gefangenen sich benehmen, wenn ich ihnen so etwas auf den Zahn fühle.“

Aber diese Hoffnung, daß der Mischling oder der dicke Chinese sich irgendwie verraten könnten, war leider eitel. So geschickt Gnuffke beide auch aushorchte, er erreichte nichts. Nur um Kiatos Lippen grub sich wieder ein höhnisch [23] triumphierendes Lächeln ein, das aber immerhin genügte, um dem Ingenieur klarzumachen, Kiato müsse für diese freche Zuversichtlichkeit einen besonderen Grund haben.

Er traf danach denn auch seine Maßnahmen, nachdem man in das Mitteltal der Insel übergesiedelt war. Hier gab es am Ostrande der Talwand ein tiefes Loch im Gestein, das sich nach unten zu stark erweiterte und am Grunde eine Höhle bildete, die man den beiden Farbigen als Gefängnis anwies. Vorher hatte Hans Berger die Höhle besichtigen müssen, indem er an dem Tau hinabkletterte, das zur Ausstattung des Rettungsflosses gehört hatte und am Ufer der Halbinsel zusammen mit anderen Trümmern des Kutters nach dessen gänzlicher Zerstörung angespült worden war.

Kiato stieß einen wilden Fluch aus, als er jetzt an dem Tau in die Tiefe hinabgelassen wurde. Sein Verhalten war plötzlich ein anderes geworden. Mit der Möglichkeit, daß man für ihn und Tschi-Mao eine so sichere Kerkerzelle, aus der kaum ein Vogel, geschweige denn ein Mensch hätte entweichen können, finden würde, hatte er offenbar nicht gerechnet.

Dann mußte auch der feiste Zopfträger hinab, dem man als dem ungefährlicheren Feinde Hände und Füße entfesselt hatte, damit er selbst an dem Tau hinabklettere und unten seinen Genossen von den in dem gut acht Meter tiefen Verließ überflüssigen Stricken befreie.

Gnuffke war froh, die lästige Bewachung der Gefangenen losgeworden zu sein. Und mit der ihm eigenen Tatkraft erklärte er nun den Kindern, man müsse jetzt sofort damit beginnen, sich für einen längeren Aufenthalt auf der Insel einzurichten.

„Wir müssen uns als Robinsons betrachten, kleine Gefährten“, sagte er zuversichtlichen und aufmunternden Tones. „Vielleicht vergehen Monate, bevor es uns auf diese oder jene Weise gelingt, wieder in bewohnte Gegenden [24] zurückzukehren. Fangen wir also ungesäumt mit den Vorarbeiten für unser Robinsondasein an. Zunächst müssen wir an den Bau einer Hütte und an die Beschaffung von Nahrungsmitteln denken.

Und mit einem aus ehrlich betrübtem Herzen kommenden Seufzer fügte er noch hinzu:

„Ach – wenn wir doch unseren wackeren Leutnant. noch bei uns hätten …!! Welch‘ guter Kamerad war Reuter doch …!! Ich werde ihn nie vergessen. Er war einer meiner besten Freunde.“

„Und für uns, für meine Schwester und mich, hat er sein Leben eingebüßt!“ erklärte der Knabe wehmutsvoll. Das Mädelchen aber zerdrückte stumm ein paar herabrinnende Tränen. – –

Am Abend hatten unsere fleißigen Robinsons dann bereits im Schutze einer überhängenden Stelle der Talwand aus Planken des Kutters, Zweigen der Sträucher und aus Steinen eine Hütte errichtet, in der es vorläufig freilich außer drei Lagerstätten aus trockenem Seegras nur noch einen Tisch als Möbelstück gab, der aus dem angeschwemmten Lukendeckel und vier Steinfüßen bestand. Mit den Lebensmitteln sah es zunächst nicht weniger kümmerlich aus. Zwar hatte die kleine Herta eine ganze Menge Krebstiere und auch drei junge Schildkröten nach dem Tale geschleppt. Da man aber keinerlei Gefäß zum Kochen besaß, mußte man sich damit zufriedengeben, die Seetiere in der heißen Asche eines Holzfeuers zu rösten. Letzteres anzuzünden war auch erst nach mehreren mißglückten Versuchen gelungen. Die Schachtel Zündhölzer, die der Ingenieur in der Tasche gehabt hatte, war bei der Floßfahrt vollkommen aufgeweicht und unbrauchbar geworden. Schließlich hatte Gnuffke aber mit Hilfe des einigen Revolverpatronen entnommenen Pulvers, das er in einen Haufen trockenes Seegras schüttete und durch einen Schuß entzündete, doch das schwierige Problem glücklich gelöst, so daß die bereits bedenklich knurrenden [25] Mägen der drei Deutschen befriedigt werden konnten. Auch an die Gefangenen dachte man, die auch, jetzt schon wieder recht bescheidenen Tones, um Trinkwasser baten.

Wasser war ja nun genug vorhanden. Wie ihnen dieses aber in ihre Höhle hinabbefördern …?! Das kostete nicht wenig Kopfzerbrechen. Besaß man doch auch hierzu nicht ein einziges Gefäß …! – Gewiß – die Flachgewölbten Rückenpanzer der Schildkröten faßten wohl eine kleine Menge Wasser. Und der Ingenieur wollte sie auch schon zu diesem Zwecke verwenden, obwohl man dann sicher ein dutzendmal die Schalen hätte füllen und mit Hilfe des Taus hinablassen müssen. Da dachte Hans Berger noch im letzten Augenblich an ein Stück geölte Leinwand, das gleichfalls am Strande der Halbinsel angetrieben war. Daraus ließ sich leicht ein Wassersack herstellen. Auf diese Weise wurden dann also die Gefangenen bequem „getränkt“, wie die kleine Herta sich ausdrückte.

So brach denn die erste Nacht an, die unsere drei Freunde auf der Insel verlebten, der der phantasievolle Hans den Namen Südland (im Gegensatz zu dem gegenüberliegenden Neu-Helgoland) gegeben hatte.

Die Kinder schliefen im Vertrauen auf Gottes Schutz und den ihres freundlichen älteren Gefährten bald ein. Gnuffke aber fand keinen Schlummer. Man hatte die Gefangenen ganz ohne Aufsicht gelassen. Und das beunruhigte ihn, weil ihn die Gedanken an das höhnische, triumphierende Grinsen Kiatos nicht verließen. Er hatte es mehr im Gefühl, als daß es bei ihm zur festen Überzeugung geworden wäre: die Inselgruppe hier war nicht so harmlos wie es schien: es gab hier Geheimnisse, die noch der Aufklärung bedurften.

Und daher erhob er sich auch, nachdem er gut eine Stunde umsonst den erquickenden Schlaf erwartet hatte, und schlich leise nach der anderen Seite des Tales hinüber, dorthin, wo die Natur in einer unberechenbaren Laune [26] jenen Hohlraum inmitten der starren Felsmassen geschaffen hatte.

Sehr vorsichtig näherte er sich dem Orte, abermals lediglich der Vorahnung Glauben schenkend, daß dort etwas Besonderes sich abspiele.

Näher und näher kam er, indem er nach Möglichkeit sich gegen Sicht zu decken suchte. Jetzt war er kaum noch zehn Schritt von der im Boden gähnenden Öffnung entfernt. Da – wirklich! – er war gerade zur rechten Zeit gekommen! –, da härte er aus der Höhle Kiatos harte, laute Stimme hervorschallen, die stets so klang, als sei sie das Befehlen gewöhnt.

Es waren chinesische Worte, die der Ingenieur vernahm. Er verstand sie ganz deutlich, – verstand sie und vermochte sie auch zu übersetzen.

„Liau-Tse – hier ist Kiato. – – Liau-Tse – hier ist Kiato!“

Eine Weile blieb’s still. Dann wurde derselbe Ruf wiederholt.

Kein Zweifel! Der Mischling rechnete damit, daß jemand hier erschien, der den Namen Liau-Tse führte.

Das sagte sich Gnuffke sofort. Und mit seinem klug erwägenden Geiste sagte er sich weiter, daß aus dem Umstande, daß Kiato nur einen einzelnen Mann und zwar einen ganz bestimmten auf das Gefängnis aufmerksam machen wollte, mit großer Wahrscheinlichkeit zu schließen sei, der Mischling wisse sehr wohl, nur dieser eine Liau-Tse werde sich nächtlicherweile dem Tale als der Wohnstätte der Schiffbrüchigen nähern.

Jetzt schenkte der Ingenieur daher auch der weiteren Umgebung mehr Beachtung.

Die Nacht war sternenklar. Ein dämmeriges, geheimnisvolles Halbdunkel lagerte über der Insel. In der Ferne brauste die Strömung, brandete das Meer. Poesie, reizvolle Stimmung umfing den einsamen Deutschen, der nunmehr lang auf dem Bauche zwischen ein paar mit [27] grauen Flechten dicht bewachsenen Steinen lag und fortgesetzt umherspähte. – Nichts regte sich jedoch in der Nähe. Kein verdächtiges Geräusch wurde hörbar. Nur Kiatos Ruf nach Liau-Tse drang in[1] unregelmäßigen Zwischenräumen aus dem Verließe hervor.

Dann glaubte Gnuffke etwas seitwärts hinter sich das leise Knirschen von Steinen unter den Füßen eines vorsichtig sich nähernden lebenden Wesens zu vernehmen. Er lugte hinter dem linken, ihn deckenden Steine hervor … Ah – wahrhaftig! – eine menschliche Gestalt dort drüben – ohne Zweifel ein Chinese, der sich langsam, fortwährend ängstlich sich umschauend, dem Loche Schritt für Schritt zuschob, tief gebückt, fast auf allen Vieren …

Der Ingenieur erhob sich zuerst auf die Knie. Er gedachte den Mann da drüben von hinten zu packen. Sehr behutsam richtete er sich weiter auf. Jetzt hatte der Chinese, der in einen hellen Anzug gekleidet war und Ledersandalen trug, den Rand der Öffnung erreicht, jetzt beugte er sich vor …

Da rief Kiato gerade abermals …

Und nun antwortete der Mann von oben:

„Herr – bist Du‘s wirklich?“

„Ich bin’s? Kennst Du meine Stimme nicht?“ klang‘s ärgerlich zurück.

„Gewiß, Herr! – Daß Ihr von den Fremden gefangengenommen wurdet, habe ich beobachtet. – Was soll ich tun?“

„Hole sofort ein Tau, befestige es oben am Rande in zuverlässiger Weise und laß es in die Höhle hinab. Aber beeile Dich. Sonst kommt womöglich doch einer der deutschen Schufte hierher, um nach uns zu sehen.“

„Ja, Herr, ich werde …“

Weiter kam Liau-Tse nicht.

Unter den Stiefeln des auf ihn losschnellenden Ingenieurs war ein Stein polternd ausgewichen.

Der Chinese fuhr herum. Ein Angstschrei entrang [28] sich seinen Lippen. Und sein Schreck war so groß, daß er gleichzeitig zurücktaumelte …

Krampfhaft suchte er sich am Rande des Loches im Gleichgewicht zu halten. Verzweifelt fochten seine Arme in der Luft herum. Dann ein gellender Angstruf, und er verschwand in der Tiefe …

Unten ein neuer Schrei, ein dumpfer Krach.

Schon lag Gnuffke mit dem Kopf über der Öffnung. Er vernahm des dicken Chinesen angstvolles Fragen, was geschehen sei. Zu sehen war dort unten nichts.

Niemand antwortete Tschi-Mao. Erst nach einer geraumen Weile ein klägliches Stöhnen.

„Ich bin tot, alle Knochen sind mir gebrochen, ich lebe nicht mehr … Ich bin gerade auf den Herrn gefallen. Er regt sich nicht mehr …“

Das Jammern ging von Liau-Tse aus.

Dann fragte Tschi-Mao wieder:

„Weshalb warst Du nicht vorsichtiger?! Du bist …“

Unten flüsterte Liau-Tse jetzt offenbar dem Dicken eine Warnung zu. Wenigstens konnte der Ingenieur nichts mehr erlauschen. Nur leises Wispern drang zu ihm empor.

Nach einer Weile begab er sich daher wieder nach der Hütte zurück. Hier weckte er Hans Berger, sagte ihm, er solle ihn leise ins Freie begleiten, damit die kleine Herta nicht erwache.

Der Knabe war schnell völlig munter.

Mit wenigen Worten berichtete Gnuffke sein Erlebnis. Dann mußte Hans, bewaffnet mit seinem Revolver, an der Höhlung Wache halten. Der Ingenieur aber begab sich nach der Halbinsel im Norden des Eilandes …




5. Kapitel.

Weshalb der Ingenieur sich die Felszunge aussuchte? – Auf Grund einer sehr einfachen Überlegung.

[29] Liau-Tse hatte erklärt, daß er gesehen hätte, wie Kiato und Tschi-Mao gefangengenommen wurden.

Dies war auf der Ostseite der Halbinsel geschehen, konnte also wahrscheinlich nur von Neu-Helgoland aus beobachtet worden sein oder doch von einem der nördlichen Eilande der Inselreihe. Mithin mußte es eine Möglichkeit geben, die starke Strömung des Kanals zu durchqueren. – Der Ingenieur dachte hier an ein Boot oder ein Floß mit besonderer Vorrichtung, die die Gewalt der Strömung auszugleichen imstande war.

Nun – sehr bald hatte er festgestellt, daß ein Fahrzeug auf der Felszunge nicht gelandet war. Dafür fand er zu seiner nicht geringen Überraschung aber etwas anderes, allerdings auch eine Vorrichtung zum Überqueren des Kanals, doch in ganz anderer Art, als er es je vermutet hätte.

Von der Höhe der Steilküste Neu-Helgolands lief ein starkes, straff gespanntes Hanftau nach der nur etwa vierzig Meter entfernten Spitze der Halbinsel hinüber, wo es dicht am Ufer in einem gut verborgenen, in den Fels eingelassenen Eisenringe verankert war. Für einen leidlich kräftigen und geschickten Menschen war es also ein leichtes, an dem Tau hinüberzuklettern und so die gefährliche Strömung zu vermeiden.

Gnuffke besann sich nicht lange, diesen schwankenden Weg auszuprobieren. Glücklich langte er auch drüben an. Hier sah er nun, daß das Tau gerade über einer engen, die Steilküste dieser Insel senkrecht durchschneidenden Spalte in ähnlicher Weise befestigt war, nur daß hier noch das Tau ein so langes, freies Ende besaß, daß es, falls es nicht gebraucht wurde, in das Wasser hinabgelassen werden konnte, wo es den Blicken jedes Uneingeweihten entzogen wurde.

Der Tag begann jetzt zu grauen, und bald war der Ingenieur in der Lage, Neu-Helgoland im Lichte der aufgehenden Sonne nach allen Richtungen hin zu durchstreifen. [30] Hoffte er doch, hier eine Spur des Gefangenen, kurz, den Schlupfwinkel der Piraten zu entdecken. Daß Kapitän Berger auf diesem Eiland festgehalten wurde und daß Hans tatsächlich seines Vaters Stimme vernommen hatte, unterlag ja jetzt nach Ansicht Gnuffkes keinem Zweifel mehr.

Stundenlang kletterte er unermüdlich in den zerklüfteten Felsen umher, untersuchte jede Stelle, die sich als Versteck geeignet hätte. Er fand nichts – nichts, wenigstens kein lebendes Wesen. An Spuren, daß die Insel häufiger besucht wurde, fehlte es nicht. An der Nordseite schnitt eine Bucht mit schwer erkennbarem Eingang gut zweihundert Meter weit in das Land ein. Und an einer Stelle des östlichen Buchtstrandes bemerkte der Ingenieur sichere Anzeichen dafür, daß hier ein Schiff häufiger festgemacht worden war.

Das blieb aber auch außer einigen anderen Spuren menschlicher Anwesenheit – erloschenen Lagerfeuern und weggeworfenen, unbrauchbar gewordenen Kleinigkeiten, das einzige, was er entdeckte.

Von Kapitän Berger nichts – nichts …

Enttäuscht kehrte Gnuffke schließlich auf demselben Wege nach Südland zurück, wo er dem Knaben eingehend über das Erlebte Bericht erstattete.

Hans Berger meinte darauf, man müsse eben nochmals zu zweien die Insel drüben durchstöbern.

„Die Stimme meines Vaters kam sicher von Neu-Helgoland her“, sagte er ganz aufgeregt. „Er befindet sich dort … und wir werden ihn auch befreien.“

Dann erfuhr der Ingenieur von dem wackeren Jungen, daß die vergangene Nacht ein Opfer gekostet hatte. Kiato lag mit gebrochenem Genick unten in dem natürlichen Verließ. Liau-Tse war ihm gerade auf den Kopf gestürzt, und diesem Anprall war selbst das Knochengerüst des kräftigen Mischlings nicht gewachsen gewesen.

Unten in dem Felsloche war es jetzt genügend hell, [31] um sowohl den regungslos daliegenden Kiato, als auch die beiden Chinesen deutlich zu erkennen.

Gnuffke rief hinab, ob auch Lian-Tse, der neben Tschi-Mao am Boden hockte, verletzt sei. Dieser erwiderte, der Sturz habe Liau-Tse nichts weiter geschadet.

Dann fragte der Ingenieur, ob der dicke Chinese verständig genug sei angeben zu wollen, wo man den Kapitän versteckt halte.

Die Antwort war: man wisse nichts von einem Gefangenen. Wenn der deutsche Master aber nicht die Rache der beiden Chinesen auf sich ziehen wolle, solle er diese sofort freigeben. Sonst würde er es bitter zu bereuen haben.

Kurz: Tschi-Mao und Liau-Tse – letzterer ein Mann in den besten Jahren – bewiesen abermals, daß sie damit rechneten, über kurz oder lang werde die Dschunke erscheinen, sie befreien und den Deutschen alles heimzahlen.

Gnuffke äußerte daher auch zu dem Knaben, man befinde sich hier offenbar in einer wenig angenehmen Lage, falls das Piratenfahrzeug wirklich wieder auftauche, bevor man den Kapitän entdeckt und die nötigen Anstalten zur Verteidigung oder ein gutes Versteck gefunden habe, wo man den Abzug der bezopften Korsaren abwarten könne.

Nachdem daher die beiden Gefangenen wieder gespeist worden waren und man die Leiche Kiatos emporbefördert und an einer entlegenen Stelle in einer Spalte begraben hatte, mußte die kleine Herta an dem Verließ als Wächterin zurückbleiben. Sie war angewiesen, mit Steinwürfen jeden Versuch der beiden Chinesen, etwa die Wände zu erklettern (was freilich aussichtslos schien), zu verhindern. Der Ingenieur und der Knabe aber begaben sich nach Neu-Helgoland hinüber, wo sie bis gegen Mittag aufs sorgfältigste das Eiland absuchten – ohne Erfolg! Nachmittags schwammen sie dann von Neu-Helgoland noch durch die nur schmalen Kanäle, die nur eine schwache Strömung hatten, nach den Nachbarinseln hinüber, ohne [32] jedoch hier etwas zu finden. Kurz: ihre Bemühungen blieben ergebnislos.

Vier Tage verstrichen. Inzwischen hatte aber Gnuffke den beiden Gefangenen, um sie zu einem Geständnis zu zwingen, Wasser und Nahrung entzogen. Sie mußten hungern und dursten, und es stand zu erwarten, daß dieses Mittel schließlich helfen würde.

Der Ingenieur hatte, wie sich schon am fünften Tage zeigte, das Richtige mit dieser Maßregel getroffen. Tschi-Mao kapitulierte als erster. Bei seinem Zustande von Überernährung hielt er die Hungerkur am schlechtesten aus.

Überraschungen kamen jetzt zutage, wie sie selbst der geistig so vielseitige Ingenieur nie vermutet hätte. Jedenfalls konnten die Kinder mit ihrem Vater ein freudiges Wiederfinden mit einem bereits Totgeglaubten, und dieser,[2] Tag, an dem man den Geheimnissen Neu-Helgoland endlich auf die Spur kam, zeigte wieder einmal die ganze kaltblütige Verschlagenheit der gelben Rasse aufs deutlichste.

Es ist nicht mehr möglich, in diesem Bändchen die weiteren Abenteuer der Insassen der gescheiterten „Libelle“, sowie die vorausgegangen Erlebnisse Kapitän Bergers eingehend zu schildern. Dies soll in dem folgenden Heft unter dem Titel „Das Piratennest auf Neu-Helgoland“ geschehen.


Ende.


Das nächste Heft enthält:



Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.


Errata (Wikisource)

  1. Vorlage: im
  2. Vorlage: Die Zeile ist in der Vorlage doppelt. Sinngemäß müßte es wohl lauten: … mit ihrem Vater ein freudiges [Wiederfinden begehen und hatten ein sehr unerwartetes] Wiederfinden mit einem bereits Totgeglaubten, und dieser