Mein Bruder (Rudolf Doehn)

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Autor: R. Doehn
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Titel: Mein Bruder
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aus: Die Gartenlaube, Heft 30, S. 473–475
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Kriegsschicksal
Episode aus dem gegenwärtigen Kriege
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[473]
Mein Bruder.
Episode aus dem gegenwärtigen Kriege.


Mit klingendem Spiele und fliegenden Fahnen zog am 16. Juni d. J. ein sächsisches Regiment durch die Straßen von Dresden. Die Regierung des Königreichs Sachsen hatte sich, wie bekannt, in dem bevorstehenden Kampfe auf die Seite von Oesterreich gestellt, und die sächsischen Krieger gingen, gehorsam dem Befehle ihres Landesherrn, entschlossen – wenn auch nicht immer gerade freudigen Muthes – den drohenden Gefahren entgegen, die eine ernste Zukunft wie in gewitterhafter Schwüle dem menschlichen Blicke noch verhüllte.

Der Zufall führte mich an dem genannten Tage mit einer jungen und interessanten Dame, die ich bei irgend einer Gelegenheit flüchtig kennen gelernt hatte, auf der Straße zusammen; sie hatte sich einen etwas versteckten Platz ausgesucht, von dem aus sie jedoch die vorbeimarschirenden Soldaten ziemlich gut sehen konnte. Als die letzten Reihen des die Stadt verlassenden Regimentes an uns vorübergezogen waren, bemerkte ich, daß meine junge Freundin, die ich Elise Martins nennen will, obschon dies nicht ihr richtiger Name ist, sehr still und ernst geworden war. Ich näherte mich ihr, und erhielt auf meine an sie gerichtete Frage, ob vielleicht ein lieber Freund oder ein naher Verwandter von ihr unter den so eben ausgezogenen Kriegern sei, die Antwort: „Ja wohl, mein Herr; mein einziger Bruder ist darunter. Ich hatte zwar schon Abschied von ihm genommen und ihm dabei versprechen müssen, daß ich zu Hause bleiben wollte; allein es duldete mich nicht daheim. So lange ich ihm in’s Auge blicken und seine liebe Stimme hören konnte, war ich voller Kraft und Muth; als sich aber die Hausthür hinter ihm geschlossen hatte und die nächste Ecke ihn meinen Blicken entzog, da war all’ meine Kraft dahin, mein Muth begann zu wanken und es war mir, als ob ich ihn niemals wiedersehen würde. Rasch nahm ich meinen Shawl und meinen Hut, und eilte auf die Straße. Ich suchte diese etwas verborgene Ecke auf, denn ich wußte ja von ihm, daß er und sein Regiment hier vorbeikommen würden. Ich habe ihn nun auch noch einmal gesehen und fühle mich jetzt etwas beruhigter.“

„Ich kann und will Sie nicht tadeln, liebes Fräulein,“ erwiderte ich, „mag der letzte Scheideblick, den Sie mit liebevollem Herzen Ihrem Bruder zusandten, ihm unsichtbaren Schutz und Schirm gewähren gegen die vielfachen Gefahren, die den Krieger bedrohen.“

„O möchte es so sein,“ antwortete meine junge Freundin, „allein Ulrich, so heißt mein Bruder, sagte nur zu oft und wohl mit Recht, daß einem Bruderkriege so leicht kein Heil entsprießen könnte. Zwar glaube ich nicht, daß ihn selbst je eine Art von Todesahnung befallen hat, aber er äußerte wiederholt und – wie ich fest überzeugt bin – mit voller Aufrichtigkeit, daß er mit Freuden sein Leben zum Opfer bringen wolle, wenn dem Vaterlande, unserem Sachsen und dem ganzen großen, schönen Deutschland dadurch ein Dienst erwiesen werden könne, Er war aber eigentlich stets mit sich im Zweifel, auf welcher Seite das wirkliche Recht sei, ob auf Seiten Preußens oder Oesterreichs. Er liebt unser schönes Sachsen von ganzem Herzen, aber über Alles geht ihm doch stets die Freiheit und Einheit Deutschlands. Seit er nun von mir geschieden, ist es mir immer, als ob eine innere Stimme mir zuriefe: ‚Dein Bruder wird ein Opfer dieses unseligen Krieges sein, in welchem Deutsche gegen Deutsche stehen und Bruderblut die deutsche Erde tränken wird!‘“

Ich wußte kaum, womit ich die verlassene, tief betrübte Schwester trösten sollte, doch suchte ich ihr das Gefährliche und Unberechtigte sogenannter Ahnungen auseinander zu setzen, und fügte hinzu, daß ich aus eigener Erfahrung, die sich im nordamerikanischen Bürgerkriege mehr als einmal gemacht, wüßte, wie häufig solche traurige Vorgefühle, selbst wenn sie einem gerechten Schmerze entsprängen, sich als falsche, leere Truggebilde herausstellten. Wir waren unterdessen in die Nähe ihrer Wohnung gekommen, und ich empfahl mich Fräulein Elise, indem ich ihre durch trübe Ahnungen hart erschütterte Hoffnung auf ein frohes und glückliches Wiedersehen mit ihrem Bruder, den sie mir fast abgöttisch zu lieben schien, frisch zu beleben suchte.

„Der Himmel stehe uns Frauen bei,“ sagte das tiefergriffene Mädchen, bevor wir uns trennten, „uns Frauen, die wir durch Natur und Erziehung weicheren und regelloseren Gefühlen unterworfen sind, als die Männer. Da sitzen wir zu Hause, und nähen und sticken, oder lesen auch wohl irgend ein unserem Geschmacke und unseren Neigungen zusagendes Buch; unseren Lieben aber, die da draußen den mühseligsten Anstrengungen und Märschen, Hunger und Durst, Gefangenschaft und Tod ausgesetzt sind, ihnen vermögen wir nicht zu helfen und in nichts beizustehen. Alles, was uns übrigbleibt, ist, unseren Thränen freien Lauf zu lassen und unsere heißesten Wünsche für die theuren Entfernten zum Himmel empor zu senden.“

Als ich meine Wohnung erreicht hatte, konnte ich lange nicht meine Gedanken regeln, immer kehrten dieselben zu Fräulein Elise Martins und der mit ihr gepflogenen Unterhaltung zurück. Endlich aber gelang es meiner Frau, welche – obschon in Preußen geboren – sich in Amerika eine gewisse praktisch-kosmopolitische Richtung erworben hat, die mir sonst ziemlich fremden sentimentalen Anwandlungen zu bannen. Dazu kam, daß wir, meine Frau sowohl wie ich, nahe und liebe Verwandte in der preußischen Armee haben, daß auch unsere Familie mithin durch den ausgebrochenen Bruderkrieg in tiefe Trauer versetzt, ja, daß möglicherweise einer der Unsrigen durch eine tödtliche Kugel gerade von Elisens Bruder in das unbekannte Jenseits gesandt werden konnte. Allein wir haben die Schrecken des Krieges in dem Secessionskampfe hinlänglich kennen gelernt und gaben uns darum schließlich der tröstlichen Hoffnung hin, daß hier, wie drüben in der neuen Welt, das Recht endlich doch siegen und „der Freiheit Rose“, wenn auch „aus blutbespritztem Grunde“, frisch und kräftig emporsprießen werde. – –

Seit meinem zufälligen Zusammentreffen mit Elise Martins waren etwa zwei Wochen vergangen. Die Preußen waren längst in Sachsen eingedrungen und hatten das ganze Königreich, ohne irgendwo Widerstand zu finden, in Besitz genommen. In der [474] Nähe von Dresden wurden verschiedene Schanzen aufgeworfen, wozu man Hunderte von Arbeitern aus Berlin hatte kommen lassen, und es hieß, daß man bei diesem Schanzenbau an manchen Stellen auf wohlerhaltene Schädel und Menschenknochen gestoßen sei. Es waren dies wahrscheinlich die Gebeine gefallener Krieger, welche nach der Schlacht bei Dresden am 26. und 27. August 1813 hier ihr gemeinsames Grab gefunden hatten. Ein entscheidendes Kriegsjahr hatte sie dem Schooß der Erde übergeben, ein nicht minder verhängnißvolles Kriegsjahr brachte sie wieder an das Licht der Sonne.

Es war am 6. Juli d. J., als ich hinausging, um mit eigenen Augen die Schanzarbeiten und die ausgegrabenen Gebeine anzusehen. Da es noch nicht spät war, als ich von diesem traurigen Ausfluge wieder heimkehrte, so beschloß ich, einem der verschiedenen Hospitäler, die in Dresden errichtet worden, einen Besuch abzustatten. Bei meinem Eintritte in das Hospital erblickte ich mehrere Damen, Frauen und Mädchen, die ebenfalls in die weiten Räumlichkeiten, welche mit verwundeten Preußen, Oesterreichern und Sachsen angefüllt waren, Einlaß begehrten. Nicht weit von mir saß, leidend und schwach, Fräulein Elise Martins. Einer der dienstthuenden Aerzte näherte sich ihr, vielleicht durch den Mitleid erregenden Schmerz, der sich in ihrer ganzen Haltung aussprach, dazu bewogen, und redete sie freundlich und mit theilnehmenden Worten an. Das junge Mädchen ergriff convulsivisch die Hand des Arztes und bat in wahrhaft rührender Weise: „Wenn Sie hier einigen Einfluß besitzen, mein Herr, so verschaffen Sie mir Einlaß zu den Verwundeten. Mein Bruder ist da drinnen, er ist schwer verwundet und ich möchte ihn so gern sehen und sprechen. Es ist schrecklich, ihm in seiner Noth so nahe zu sein, und doch so lange warten zu müssen, bevor ich zu ihm kommen und seine Leiden mildern kann.“

Der Arzt fragte nach ihrem und ihres Bruders Namen; nachdem er die Namen erfahren und eine in einem Buche verzeichnete Liste durchgesehen hatte, erwiderte er: „Ja, mein Fräulein, Ihr Bruder befindet sich, wenn ich nicht sehr irre, in diesem Hospitale; er scheint ein braver, junger Mann zu sein, aber er ist schwer, sehr schwer verwundet.“

„Er ist doch nicht tödtlich verwundet,“ rief mit angstvoll gepreßter Stimme die liebende Schwester, „o Gott, er ist doch nicht bereits todt?“

„Er lebt,“ beruhigte der Arzt, und fügte in ernster Weise hinzu: „treten Sie ein, mein Fräulein, doch nähern Sie sich ihm vorsichtig, oder besser, lassen Sie ihn durch eine der Wärterinnen auf Ihre Ankunft vorbereiten.“

Ich folgte dem jungen Mädchen nicht, denn ich wollte das erschütternde Wiedersehen in keiner Weise stören; ich ahnte die traurige Wahrheit und das geschehene Unglück, welches nunmehr durch Menschenmacht nicht abzuändern war. Ulrich Martins hatte, wie ich von dem menschenfreundlichen Doctor erfuhr, eine gefährliche Schußwunde durch die Brust erhalten und man hegte keine Hoffnung für seine Wiederherstellung; doch konnte ihm sein Leben bei richtiger Behandlung und guter Pflege immerhin noch längere Zeit gefristet werden.

Nach Verlauf von ungefähr zehn oder zwölf Tagen führte mich theils ein Auftrag meiner Frau, theils das Mitgefühl mit dem Unglück in die Wohnung meiner jungen Freundin. Ich fand dieselbe in tiefer Trauer, aber gefaßt und wunderbar ruhig an der Seite ihrer Mutter, einer alten, achtbaren Matrone. Es war nämlich den dringenden Bitten der Schwester gelungen, den schwer verwundeten Bruder aus dem Hospitale herauszubekommen und in die Wohnung der Mutter gebracht zu sehen. Ein möglicherweise wohlthätiger Schlaf hatte, gerade bevor ich eingetreten war, den Todkranken auf eine kurze Zeit seine Schmerzen vergessen lassen, und Mutter und Tochter saßen in der an das Krankenzimmer stoßenden Wohnstube, eifrig mit Charpiezupfen beschäftigt.

„Sehen Sie,“ sagte Elise, nachdem ich, ihrer Einladung folgend, auf einem mir freundlich angebotenen Stuhle Platz genommen hatte, „sehen Sie, daß meine Ahnung, die mir am 16. vorigen Monats, das Herz so schwer machte, nur zu schnell zur bittersten Wahrheit geworden ist. Zwar habe ich meinen Bruder wiedergesehen, aber welch’ ein Wiedersehen war dies! O, ein Hospitalzimmer voll verwundeter Menschen ist an sich schon ein grausiger und herzerschütternder Anblick, in welch’ erhöhtem Maße ist dies aber erst der Fall, wenn man einen geliebten nahen Verwandten, wenn man einen Bruder unter den dort leidenden Verwundeten sucht und findet! Ich weiß,“ fügte sie hinzu, „daß Sie Mitgefühl mit meinem Schmerze haben, und ich will Ihnen daher das traurige Schicksal meines einzig geliebten Bruders, wie er es selbst in Zwischenräumen – soweit seine Schwäche es zuließ – mir erzählte, mittheilen. Fürchten Sie nicht,“ sagte sie, einige Bemerkungen meinerseits widerlegend, „daß eine solche Erzählung mich zu sehr aufregt oder angreift, im Gegentheil, es beruhigt mich, wenn ich von meinem Ulrich zu Jemandem reden kann, von dem ich weiß, daß er meinen Schmerz mitfühlt und denselben zu würdigen versteht. Meine gute Mutter hat einen nothwendigen Gang, den ich ihr nicht gut abnehmen kann, von dem sie indessen bald zurückkehren wird, zu thun, und so würde es mir sogar sehr lieb sein, wenn Sie mir in deren Abwesenheit Gesellschaft leisten wollten.“

Ich erfüllte gern Elisens wehmüthige Bitte und blieb. Die alte Frau verließ uns nach wenigen Minuten und die Tochter erzählte mir nun Folgendes: „Mein Bruder erhielt seine Schußwunde in der Schlacht bei Gitschin (böhmisch Jicin.) Die Heeresabtheilung, zu welcher er gehörte, war auf einem Höhenzuge zwischen den Dörfern Brada und Diletz, nördlich von Gitschin und nahe der nach Turnau führenden Landstraße, aufgestellt. Am Nachmittage des unseligen 29. Juni griffen die Preußen mit voller Energie die feste Stellung, welche die Unsrigen bei Diletz genommen hatten, an; ein gewaltiges Granatfeuer empfing sie und schmetterte Tod und Verderben in ihre Reihen. Es ist bekannt, wie außerordentlich brav sich auch dort die Sachsen geschlagen haben. Allein auch die Preußen führten bald ihre Geschütze – um mit den Worten meines Bruders zu reden – gegen uns auf, und nun begann ein grausiges, die Erde erschütterndes Kanonenconcert. Trotz der muthigsten Gegenwehr von unserer Seite drangen die Preußen vor und richteten ihren Angriff direct gegen das Dorf Diletz, welches – wie mein Bruder meint – vornehmlich von sächsischen Bataillonen besetzt war und auf das Hartnäckigste vertheidigt wurde. Es verbreitete sich nämlich das Gerücht in den Reihen unserer Soldaten, daß König Johann selbst in der nächsten Nähe des Kampfes sei und die Gefahren seiner tapferen Krieger theilen wolle. Dies Gerücht trug aber nicht wenig dazu bei, daß sich unsere Sachsen in und bei Diletz mit so verzweifeltem Muthe schlugen. Das Sausen der Granatsplitter und das Pfeifen der Flintenkugeln, die hageldicht durch die Luft flogen, soll hier wahrhaft entsetzlich gewesen sein, noch entsetzlicher aber der Anblick und das Geschrei der verwundeten und sterbenden Thiere und Menschen. Aber noch immer war mein Bruder unversehrt geblieben, während die Hauptleute Fickelscherer und Klette, sowie auch der durch manche Eigenthümlichkeiten seines Wesens bekannte Hauptmann von Rex bereits im Kampfgetümmel gefallen waren und die Obersten von Boxberg und Ludwiger schwer verwundet auf dem blutgetränkten Schlachtfelde lagen. Unsere braven Soldaten vertheidigten mit wahrem Löwenmuth jede nur irgend haltbare Position; doch der Andrang der Preußen, die sich ebenfalls mit beispielloser Bravour schlugen, war unwiderstehlich. Das Dorf Diletz ging verloren und die Unsrigen wurden zum Rückzuge nach Gitschin gezwungen, wobei nun auch meinen Bruder sein Geschick ereilte. Das Kleingewehrfeuer der stets rasch und unaufhaltsam vorwärts dringenden Preußen war fürchterlich und ihre Zündnadelbüchsen lichteten die Reihen der Unsrigen in grauenhafter Weise. Die Kugeln flogen so dicht, sagt mein Bruder, daß es war, als wenn bleierner Sand haufenweise über die langsam sich zurückziehenden Sachsen und Oesterreicher ausgestreut worden wäre. Der Nebenmann Ulrich’s ward durch den Schenkel geschossen und rief ihn flehentlich um Hülfe an, aber gerade als er sich bückte, um dem verwundeten Freunde und Kampfgenossen beizustehen, traf ihn selbst die mörderische Kugel.“

Hier mußte Elise in ihrer Erzählung innehalten. Das Schmerzgefühl übermannte das starke Mädchen für einen kurzen Augenblick. Sie ging nach dem Krankenzimmer, um, wie sie vorgab, nachzusehen, ob etwa ihr Bruder auch aufgewacht sei und nach ihr verlange. Sie kam indessen bald zu mir zurück und fuhr also fort: „Was soll ich Ihnen nun noch weiter erzählen, lieber Doctor? Mein Bruder hatte, da die feindliche Kugel ihn nur zu wohl getroffen hatte, sein Bewußtsein verloren. Als er wieder zu sich kam, befand er sich, mit Blut überströmt, neben vielen anderen sächsischen und österreichischen Verwundeten in dem alten, wie man [475] sagt, von dem finsteren Kriegsmeister Wallenstein erbauten Schlosse zu Gitschin. Von dort ward er, sobald sein Zustand es irgend erlaubte, mit anderen Schicksalsgenossen hierher nach Dresden transportirt. Es ist mir, als wenn ich Sie am 6. Juli im Hospitale sah, ich weiß es aber nicht ganz genau, denn ich war an dem Tage kaum meiner Sinne mächtig. Die entsetzliche Nachricht hatte mich zuerst bis in’s Mark erschüttert. Es gelang mir, meinen Bruder aus dem Hospitale in unsere Wohnung zu bringen, damit er unter mütterlicher und schwesterlicher Pflege, wenn es sonst möglich ist, gesunden oder – wenn es anders im Buche des Schicksals geschrieben steht – in unseren Armen sein theures Leben aushauchen möge.“

Hier schwieg Elise und ich versuchte nun, soweit dies unter den Umständen zulässig und rathsam war, ihr Trost zu spenden und sie zu bestimmen, die Hoffnung auf ein Geheiltwerden ihres Bruders noch nicht aufzugeben.

Sie hörte mir eine Weile schweigend und nur hin und wieder mit dem Kopfe schüttelnd zu; dann aber unterbrach sie mich, indem ein eigenthümliches, melancholisches Lächeln über ihr Antlitz dahinzog, mit den Worten: „Mein bester Herr Doctor, versuchen Sie jetzt, in diesem Augenblick, nicht, mich weiter zu trösten. Ich selbst gebe, so lange nur noch die geringste Möglichkeit einer Heilung übrig bleibt, die Hoffnung auf eine Wiederherstellung meines einzig geliebten Bruders nicht auf. Im Uebrigen aber muß mir auch wohl, wie allen Schmerzbedrückten, der wahre Trost aus mir selber kommen. Nur Eins möchte ich Ihnen doch noch anvertrauen und von Ihnen hören, ob Sie, nachdem Sie mein Bekenntniß vernommen haben werden, mich verdammen oder entschuldigen.“

Sie schwieg einen Augenblick, dann fuhr sie fort: „Wundern Sie sich nicht über das, was ich Ihnen jetzt sagen werde, und auch nicht darüber, daß ich es Ihnen überhaupt sage. Doch hören Sie. Bis gestern habe ich geglaubt, daß ich die Liebe meines Bruders nur mit meiner guten Mutter zu theilen hätte. Gestern Abend aber, es war wohl gegen elf Uhr und das furchtbare Gewitter, welches über die Stadt dahinzog, hatte so ziemlich ausgetobt, da rief Ulrich mich an seine Seite und sagte mit seiner lieben, aber ach, nun so schwachen Stimme: ‚Meine gute, meine herzige Schwester, wenn es geschehen sollte – und ich bin darauf‘ gefaßt, daß es geschieht – daß ich Euch für immer verlassen muß, dann, – ich bitte Dich recht herzlich darum, dann nimm das kleine Medaillon, welches man bei mir finden wird, an Dich; es enthält eine Locke von – (hier nannte er den Namen einer mir wohlbekannten Dame), und sage ihr, daß ich es bis zu meinem letzten Athemzuge treu auf meinem Herzen getragen. Sei und bleibe ihre Freundin im wahren Sinne des Wortes und trage das kleine Vermächtniß zu ihrem und meinem Angedenken.‘ Als ich ihm unter Thränen versprochen hatte, seinen Willen zu erfüllen, wandte er sein Haupt und schlief wieder sanft und ruhig ein.

Nun, lieber Doctor, was sagen Sie, wenn ich Ihnen gestehe, daß mich seit gestern Abend elf Uhr ein wirklich eifersüchtiges Gefühl – ich kann es nicht anders nennen – gegen meine Bekannte, die – –, welche in diesem Augenblick von Dresden abwesend und bei Verwandten auf dem Lande ist, peinigt? Verdiene ich nicht den schärfsten Tadel als Freundin und als Schwester, daß ich, während mein Bruder bis auf den Tod krank darniederliegt, solch eifersüchtigen Gefühlen in meinem Herzen Raum gebe? Sagen Sie, bin ich für meinen eigensüchtigen Egoismus zu verdammen, oder können Sie mich noch entschuldigen?“

Ich trat ihr näher, der ihren Bruder so heiß und innig liebenden Schwester, ergriff ihre Hand und sagte: „Liebes Fräulein, beruhigen Sie sich; lieben Sie Ihren Bruder mit aller Kraft Ihrer Seele, denn er verdient es, aber ehren Sie auch, wenn der traurige Fall, daß Sie seinen Wunsch erfüllen sollen, eintritt, seinen gegen Sie ausgesprochenen Willen.“

Elise schien noch weiter zu mir sprechen zu wollen, als wir die Schritte der zurückkehrenden Mutter in dem Vorsaale vernahmen. Ich aber leitete das Gespräch, weil ich glaubte, ihr damit einen Dienst zu erweisen, auf die jetzt so naheliegende Frage über die zukünftige Gestaltung Deutschlands, ob der gegenwärtige grausame und blutige Krieg die Freiheit und Einheit unseres Gesammtvaterlandes anbahnen würde oder nicht etc.

Wir unterhielten uns noch eine kurze Zeit lang, dann aber erhob ich mich und verabschiedete mich von den beiden Damen mit den besten Wünschen für das Wiederaufkommen des so sehr geliebten Sohnes und Bruders.

Möchten meine Wünsche in Erfüllung gehen, denn Mutter, Tochter und Sohn – sie alle Drei sind brave und gute Menschen und verdienen alles Glück auf dieser Erde.[1]
R. Doehn.




  1. Soeben, als der Druck der Nummer beginnen soll, erhalten wir vom Verfasser der obigen Skizze wenige Zeilen: „Ulrich ist todt. Er starb ruhig, die Hände seiner Mutter und Schwester haltend und küssend.“