Michel Buck und seine kulturgeschichtliche Dialektdichtung

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Textdaten
Autor: August Holder
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Titel: Michel Buck und seine kulturgeschichtliche Dialektdichtung
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aus: Alemannia, Band XXI, S. 1–5
Herausgeber: Fridrich Pfaff
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: P. Hanstein
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Erscheinungsort: Bonn
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Quelle: Google-USA*, Commons
Kurzbeschreibung: Nachruf auf Michel Buck
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MICHEL BUCK[1] UND SEINE KULTURGESCHICHTLICHE DIALEKTDICHTUNG.
EIN BEITRAG ZUR SCHWÄBISCH-MUNDARTLICHEN LITERATURGESCHICHTE.

Das innerste Wesen der Mundart liegt weniger in ihrem zufälligen Lautbestand als in dem geheimnisvollen Reize, den [2] der kulturgeschichtliche Hintergrund ihr verleiht. Wäre für die Beurteilung und Würdigung irgend eines Dialektdichters nur die Mundart, wie sie die Zunge des einen sich angewöhnt hat und das Ohr des andern sie auffassen lernt, maßgebend, so müsste es höchst einfach sein, unsere Dialektliteratur durch Uebersetzungen neuhochdeutscher Werke beliebig zu bereichern und zugleich dem Volke auf diesem kürzesten Wege neue Gedanken zuzuführen. Alles was in dieser Richtung bis jetzt geschah und was irgendwie den Stempel der herablassenden Absichtlichkeit an sich trägt, war ohne Ausnahme gründlich verfehlt und wurde denn auch vom eigentlichen Volke, für dessen vermeintliche Bedürfnisse „geschwäbelt und verschwäbigt“ wurde, kurzerhand zurückgewiesen.

Dass die Wahl der Sprache unter Umständen recht wol das Untergeordnete sein kann, ersehen wir einerseits aus der Geschichte des Verhängnisses der Gelegenheitsdichtung und Zeitungssängerei um die Mitte des Jahrhunderts, welche in der formellen Darstellung der Mundart mitunter recht glücklich war (vergl. z. B. die von A. v. Keller anerkannten Wickel’schen Sachen) und dennoch mit Recht nur einen augenblicklichen Erfolg aufzuweisen hatte, anderseits aber aus der eigenartigen Erscheinung der meisterhaften Rieser Dorfgeschichten von Melchior Meyr, in welchen es dem Verfasser sogar mit hochdeutschen Worten vortrefflich gelungen ist, schwäbisches Denken und Leben, Fühlen und Schaffen in wol gesättigten Ortsfarben zu schildern. Die Hauptsache in der Dialektdichtung ist und bleibt die Verewigung kulturgeschichtlicher Anschauungen, d. h. die Rettung jener Erkenntnisse, welche gleichbedeutend sind mit dem Verständnis der „schwäbischen Herrlichkeit“ früherer Tage.

Von solchen Gesichtspunkten aus müssen wir den soeben erschienenen oberschwäbischen Gedichten „Bagenga’“ (Verlag von R. Lutz, Stuttgart. 2,50 M.) näher treten, wenn dieselben zunächst nach ihrem bedeutsamen Inhalte gewürdigt werden sollen. Dr. Buck war wol einer der hervorragendsten Kenner der schwäbischen Kulturgeschichte und hinsichtlich der Verwertung des stammheitlichen Sprachschatzes im Dienste seiner [3] Wissenschaft ohne Zweifel die erste Kraft unter den einheimischen Forschern. Er sagt einmal mit besonderer Beziehung auf diese Beschäftigung: „So viel schwebt mir vor, dass ich in etwas sattelfest werden muss, wenn ich mit mir zufrieden werden will.“ In seinem „Oberdeutschen Flurnamenbuch“ (Stuttg., W. Kohlhammer, 1880. 4,50 M.) schuf er die umfassendste und zuverlässigste Vorarbeit für eine Art kulturgeschichtlicher Landeskunde. In den Namen der bebauten Fluren und menschlichen Wohnstätten hörte er das geheimnisvolle Flüstern der Ortsgeister, und in den gewohnten Lauten des überlieferten Dialekts erkannte er die Stimmen der Väter.

S. 85
J schwätz, wia miar der Schnabel gwachsa’n ischt

Und wia’n is hau’ von meiner Muatar ghairt
Und glaub, wear seiner Muatar Sprôch it aihrt,
Dear sei schau’ weagadeam koi’ reachter Chrischt.
As heancht a bitzle rouh iarmôl, s ischt wôhr,
Truiheazig aber ischt as dennischt doch,
Und was ma’ schwäbisch sait, beim reachta Loch
Muaß sWoat doch nous – jetz was isch für Gfôhr.

Mit dieser liebevollen Gesinnung trat er auch an die dichterische Gestaltung der in wissenschaftlicher Tätigkeit erhaltenen Anregungen heran. In der Tat bildet sein äußerer und innerer Entwicklungsgang, welcher bekanntlich seiner wissenschaftlichen Betätigung Richtung und Ziel setzte, gleichsam die Folie zu den Perlen, welche wir in Gestalt seiner mundartlichen Gedichte vor uns haben. Die „oberschwäbische Dorfgeschichte“ S. 1–66 (ergänzt durch den Herausgeber Gymnasialrektor Dr. Fr. Pressel in Heilbronn), in welcher der Dichter uns seine Jugendgeschichte als Grundlage seiner geistigen und gemütlichen Entfaltung erzählt, bildet sozusagen die Vorgeschichte seiner dichterischen Offenbarungen.

Wenn der Mann mit dem „adamitischen Blute, der allen Dingen ihren Namen geben musste“, genug gearbeitet hatte, so fuhren ihm „so kunterbunte Gedanken durch den Schädel, als ob eine Kolonie von Erdmännlein ihren Sitz darin aufgeschlagen hätte“, und dann juckte es ihn wieder zu reimen (S. 70. 75). Kann es eine treffendere Erklärung über die Herkunft seiner Muse und das eigenartige Bodengefährt seiner [4] Dichtungen geben, als er selbst in seiner naiven Art mit diesen Worten sie gab?! Er war auch als Dichter der Doktor und Bauer zugleich. Wer er sei, erfahren wir aus seinem eigenen Munde (S. 76):

Se hau’t me môl im Hag mit Händscha gfanga,
In dStudi dhau’ – dô gucket nu’ mei’ Brill!
Haha! Der Waldgu, der bleibt dennischt hanga,
Ma’ ma’ mi musla, wia ma’ will.

In unvergleichlicher Weise schildert der erprobte Kulturhistoriker die Erlebnisse, Erfahrungen und Eindrücke seiner ländlich-sittlichen Jugendzeit, um sie zu dichterischen Spiegelbildern zu gestalten, die Kraft und Leben haben und uns einen Hauch des Geistes langer Jahrhunderte verspüren lassen. Der kleine „Michöl“ geht zum „Nähni“ [Großvater] in die schwäbische Sittenschule (S. 13 ff. 112 usw.), er begreift die Berufsarbeiten seines anererbten Standes beim Vater (S. 37), nimmt an den religiösen Bräuchen des katholischen Landsvolkes in herkömmlichem Sinne teil (S. 50. 90. 96) und schickt sich an, der Seelsorger derer zu werden, unter welchen er aufgewachsen war. Er geht äußerlich bald seine eigenen Wege, aber die Liebe zum Schwabentum ist ihm geblieben und zum fruchtbaren Trieb seines Schaffens geworden. Nicht bloß die leicht erkennbaren autobiographischen Gedichte, sondern auch die köstlichen Idyllen über die mannigfaltigen Erscheinungen der Jahres- und Tageszeiten und wechselnden Stimmungen im bäuerlichen Tun und Treiben (und selbst die launigen Stichelschwänke über die schildbürgerliche Vergangenheit der Betroffenen) sind auf heimatliche Beobachtungen zurückzuführen. Nur die satirischen Herzensergießungen über seine ärztlichen Erfahrungen (S. 142. 145 ff.) sind der späteren beruflichen Praxis des Dichters entsprungen.

In M. Buck besitzen wir Schwaben einen Dialektdichter, wie ihn vor den Pforten des 20. Jahrhunderts kein anderer Volksstamm Ober- und Mitteldeutschlands sein eigen nennen kann. Unser Eduard Hiller, dessen „Naive Welt“ in demselben Verlag vor 2 Jahren erschien, ist in seinen niederschwäbischen Dichtungen vielseitiger in der Darstellung des schwäbischen Lebens, mannigfaltiger und gewandter im Gebrauch dichterischer Formen – ein Vollblutschwabe so gut wie der ihm [5] im Tod vorangegangene Dr. Buck; aber er bleibt bei der greifbaren Gegenwart stehn, unbekümmert darum, wie die heutige schwäbische Welt, die auch er durch und durch kennt, geworden sei. Der oberschwäbische Dichter fand sich auf einem Boden, wo die Stammeseigenart der Bewohnerschaft in Sprache und Sitten sich noch reiner erhalten hatte, als dies bekanntlich im Unterland der Fall sein konnte. Offenen Auges erkannte er seinen Beruf, aus diesem lebendigen Brunnen zu schöpfen, um später die ausgetrockneten schwäbischen Herzen zu begießen.

Die Alemannia veröffentlichte in ihrem II. und IX. Jahrgang verschiedene Gedichte unseres M. Buck, weitere lasen wir in R. Weitbrecht-Seuffers Schwôbaland, sowie im schwäbischen Dichterbuch von E. Paulus und K. Weitbrecht. Diese kostbaren Proben lenkten die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf des Dichters kulturgeschichtliche Arbeiten. Möge diese Tatsache, da nun die Gesamtausgabe der Gedichte Bucks vorliegt, von guter Vorbedeutung sein für die Zukunft seiner wissenschaftlichen Bestrebungen, welche die Verjüngung der schwäbischen Gesellschaft zum Zwecke hatten.

Winzerhausen. AUGUST HOLDER.     

  1. Michael Richard Buck, geb. 26. Sept. 1832 zu Ertingen, O. A. Riedlingen (Württbg.), als Sohn begüterter Bauersleute, gest. 15. Sept. 1888 als Oberamtsarzt zu Ehingen a. D. Sein Rufname ward zu Hause „Michöl“ gesprochen, er selbst entschloss sich später unwiderruflich für die urgermanische Schreibweise Michel, jene mittelhochdeutsche Koseform, die wegen ihrer besonderen Beliebtheit und weiten Verbreitung dem Kultus des Erzengels Michael auf deutschem Boden so starken Vorschub leistete. Ein deutscher [2] Michel im schönsten Sinne des Wortes (got. mikils, mhd. michel = groß), hat B. die germanistische Wissenschaft in der schwäbischen Heimat wesentlich gefördert.