Nächtliches Treiben im Wasgenwald

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: August Becker
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Nächtliches Treiben im Wasgenwald
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 8–12
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[8]
Nächtliches Treiben im Wasgenwald.[1]
Von August Becker.

Nördlich von Weißenburg und Bergzabern, am Ausgang eines der schönsten Wasgauthäler, zwischen Kastanienhainen und Weinbergen in Wiesen gebettet, liegt das vor mehr als zwölfhundert Jahren von dem Merovinger Dagobert gegründete Kloster Klingenmünster, von König Dagobert’s sagenhafter Residenz Landeck und der aussichtreichen Madenburg überragt – meine Heimath. An alten Ueberlieferungen und Sagen ist hier kein Mangel; wir Kinder lauschten athemlos den Mägden beim „Läufeln“ und „Kernen“ der Wallnüsse und in der „Kunkelstube“. Den Eindrücken solcher Rockenphilosophie suchte mein Vater dadurch entgegen zu wirken, daß er uns besonders in finstern, stürmischen Adventnächten aufforderte, ihn an die verrufensten und unheimlichsten Stellen des Ortsbannes zu begleiten, die zumeist an den Grenzen der Gemeindemark lagen. So zogen wir denn in düsterer Winternacht aus, nicht um das „Gruseln“ zu lernen, sondern um es vielmehr zu verlernen, strichen die Mordhöhl entlang zum Horst, um vielleicht dort einen Nachtwisch – das ist Irrlicht – tanzen zu sehen, überschritten die alte Brücke an den hohlen Weiden vorüber, wanderten nach der Galgenhöhe hinan, in welche die gemiedene „Bubenstube“ sich wie eine Schlucht der römischen Campagna einsenkt, um dann über den einsamen, hochgelegenen Kirchhof auf dem Kreuzstein heimzukehren. Oder wir wanderten gebirgeinwärts bis in’s unheimliche Büffelsthal am Abtskopf, bis in den Röxelgrund des wilden Jägers am Treitelsberg und weißen Felsen, oder auch zu dem geheimnißvollen, halbversunkenen Thurmstrunk von „Walastede“ am Heidenschuh hinan, wo im Lenz die Maiglöckchen am duftigsten blühten. Mag sein, daß mir von diesen Nachtwanderungen zeitlebens eine gewisse Vorliebe für Oertlichkeiten der Sage geblieben; damals kam es mir nicht unerwünscht, wenn der seltsame Spaziergang bei allzu schlimmem Wetter sein Ziel schon im alten „Stift“, und zwar in einer traulichen, an die Sacristei angebauten Wirthsstube fand.

Einmal aber hatte mich mein Vater zu einer Holzversteigerung nach einem der kleinen Gebirgsorte mitgenommen, welche sich in den Gründen des Abtswaldes von Klingenmünster verstecken. Es war unversehens Abend geworden, der Heimweg auf der Straße über Bergzabern allzuweit um, so daß wir den Rückweg durch den Abtswald einschlugen; denn obgleich Gewölk die Mondsichel verdeckte, war es doch nicht sehr dunkel, der Boden trocken, etwas gefroren. Trotz der frostigen Adventnacht hatten wir uns bis zum Schweden-Anger hinan warm gestiegen. Nun aber führte auf der Waldhöhe der bequeme, weiß überreifte Rasenweg, dann und wann nachtduftige Ausblicke auf die Felssäulen und Grate des Gossersweiler Thals öffnend, fast eben weiter über den Schmeisenborn zur Halde des Abtskopfes und zum „Hollabild“, von wo der Weg sich allmählich an den Steinbrüchen vorüber in das heimathliche Thal von Klingenmünster senkt.

Wir waren jedoch noch lange nicht so weit gekommen, als sich die Nacht mit einem Mal verfinsterte und zugleich ein seltsames Sausen und Brausen über den Bergwald hinging, ein Schwirren und Rauschen um den hohen Abtskopf, ein Pfeifen und Johlen in der Luft, das wir um so weniger zu erklären vermochten, als wir selbst keinen Luftzug spürten und das dürre Laub im Gehege neben uns sich nicht rührte. Auch die Edeltannen an unserm Wege standen völlig unbewegt; keine Nadel regte sich in deren dunkeln Fahnen über uns. Nur der leichte Schneefall, welcher seit einigen Minuten begonnen hatte, dauerte an, aber so leise, schwach und ruhig, so sanft und sacht, daß man ihn unmöglich mit dem auffälligen, geisterhaften Geräusch in Verbindung bringen konnte, das noch immer Berg und Thal erfüllte, jedoch, während wir stehen blieben und horchten, allmählich abnahm und in luftiger Ferne versauste.

„Vater, ein Licht!“ unterbrach ich die athemlose Stille, mit der wir noch immer dem fernverwehenden Tosen lauschten. Ich hatte in der Dunkelheit einen Feuerschein bemerkt.

„Wohl möglich,“ antwortete aufathmend mein Vater. „Unten im Waldkessel liegen die Häuser von Blankenborn.“

„Nein, es bewegt sich dort am finsteren Hang; es kommt näher.“

„Dann kommt wohl Jemand mit einer Laterne noch durch den Wald. Ich sehe übrigens kein Licht,“ sagte der Vater. „Gehen wir weiter!“

„Es ist ausgelöscht,“ bestätigte ich, fand aber Anlaß, sofort hinzuzufügen: „dort ist es wieder, und noch eins, noch zwei, drei, vier, fünf Lichter – ach, sieh doch, noch viele!“

Wirklich tauchten am Berghang eine Anzahl Lichter auf; dann verschwanden sie, um mit so hellem Glanze wieder aufzuleuchten, daß der Vater befremdet stehen blieb und der wunderlichen Erscheinung mit forschendem Blicke folgte. Sie bewegten sich langsam in der Richtung gegen uns her, und schon konnte man einzelne Baumstämme unterscheiden, an welchen der Lichtschein beleuchtend vorüberglitt oder hinter welchen er dahinschwebte. Es war ein höchst seltsamer Anblick.

„Sind es Nachtwische, Vater?“ fragte ich mit schauernder Lust.

„Wenn die Flamme steter brennte und doch die Lichter nervöser hin und her zuckten, würde ich sie auch für Irrlichter halten,“ war die Antwort. „Weißt Du was, Kind,“ fing dann mein Vater nach einer längeren Pause wieder an, die in der nächtlichen Oede des Bergwaldes etwas Beängstigendes für mich hatte, „wenn es nur nicht Zigeuner oder Schmuggler sind – aber die gehen nicht mit Laternen und nicht so weit in’s Land herein. Wahrhaftig, ich glaube, es sind Böhämmerschützen – Ja, gewiß sind es Böhämmerschützen, die von Bergzabern über den Hexenplatz herüberkommen. Warum fiel mir nicht gleich die Böhämmerjagd ein!“

Böhämmerschützen! Böhämmerjagd! – Man muß in der Umgebung der Böhämmerstadt Bergzabern geboren sein oder doch einmal dort gewohnt haben, um zu begreifen, in welche Aufregung ich gerieth. Fast hätte ich laut gejauchzt, denn das Glück, einer Böhämmerjagd beizuwohnen, hatte ich bis dahin nur im Traume genossen. Ist es doch keine gewöhnliche, Jahr für Jahr wiederkehrende Jagd; sie ist oft nur nach einem Zeitraume von Jahrzehnten möglich, und es gehörte zu meinen frühesten, halbverwischten Erinnerungen, daß auch einst der Vater mit ausgezogen und mehrere Nächte mitten im strengen Winter ausgeblieben war. Nur mit Gewalt vermochte er mich jetzt abzuhalten, dem nahenden Lichterschwarm entgegenzueilen. Indeß gestaltete sich die Scene in der schneienden Adventnacht stets romantischer. Deutlicher traten die weißen Stämme der Edeltannen im Fackelglanz hervor; immer röther glühten die Kienflammen in den eisernen Pfannen durch die Finsterniß und warfen zitternde Lichtstreifen mit rosigem Schimmer bis zu uns her, während dunkle Gestalten, gleich Lanzen führenden Wilden oder mit Rückkörben belasteten Sclaven, im glührothen Schein der Fackelträger lautlos auftauchten.

Es war ein phantastischer, malerischer Anblick in der schwarzen Nacht des Bergwaldes, wie die stumme Jagd geräuschlos nahte, der schweigende Trupp sich vertheilte, die Fackeln ihren Glanz auf die hohen Tannenwedel fallen ließen und Einzelne ihre Waffen – lange Blasrohre – emporhoben, um sie sofort an die Lippen zu setzen, wenn das unsichtbare Wild seine Spur verrathe. Jetzt trat mein Vater mit mir vorsichtig so weit vor, um in dem Zunächststehenden einen Bürger von Bergzabern zu erkennen und von ihm erkannt zu werden.

„Nun, wie geht die Jagd, Herr Kramer?“

„Schlecht!“ lautete die Antwort, die ebenso gedämpft gegeben, wie die Frage leise gestellt wurde. „Schlecht, Herr Becker. Noch keine Feder. Man möchte die Krenk kriegen. Kein Schwanz läßt sich mehr sehen. Alles ließ sich gut an. Kaum aber tickt Einer von uns mit dem Blasrohr drüben am Benzenteich in die Tannen, geht der Teufel los – futsch! Die ganze Heerde in die Luft. Sie müssen ja den Lärm gehört haben.“

Also ein Flug Böhämmer hatte das mächtige Schwirren und Sausen um den Abtskopf hervorgebracht, das wir uns nicht zu erklären vermocht hatten.

„Jetzt dürfen wir lange herumtappen, bis wir eine Feder spüren,“ fuhr der unmuthige Böhämmerschütze verdrießlich fort. [10] „Wir haben nie Glück auf dieser Seite, und überhaupt – ’s ist nicht viel mehr mit der Böhämmerjagd. Die Viecher riechen förmlich ’s Blasrohr schon von Weitem.“

„Vorwärts,“ murrte mahnend ein Anderer. „Noch ist die 'Hohe Tanne' und 'Weidenboll' abzusuchen. Dann fertig für heute. Ueber’s Münsterer Thal hinaus gehen wir diesmal nicht.“

Und der ganze Schwarm, Fackel-, Korb- und Blasrohrträger, brach das vergebliche Suchen an der Stelle ab und wanderte weiter. Wir sahen lange dem abenteuerlichen Zuge nach, wie die Leuchtpfannen durch den Wald blitzten, verschwanden, wieder auftauchten und in wunderbarem Effect die Tannenkronen bestrahlten, um dann, ein wandelndes Feuer um das andere, hinter dem Bergkamm unterzutauchen.

Wie gern wäre ich ihnen gefolgt! Der Vater jedoch schüttelte das Haupt. Die Böhämmerschützen, meinte er, fänden für heute keine Beute und dürften die Jagd aufgeben, nachdem sie ihr Wild durch irgend welche Unvorsichtigkeit verscheucht hätten. Der „Flug“ müsse mindestens über’s Thal nach den Röxelhalden am Treitelsberge oder noch weiter, über den Hundsfelsen und Leberstein nach dem Rehberge gegangen, vielleicht in die Buchenwälder des Trifels eingefallen sein. Zudem stob jetzt der Schnee stürmischer auf dem hohen Bergjoch und wirbelte, während wir weiter eilten, nachgerade so heftig, daß das Rauschen der Mühlen im tiefen Klingthale uns als Gruß der Heimath traulich herauf klang.

Als ich später mit dem Schulränzchen auf dem Rücken täglich nach dem Progymnasium Bergzaberns wanderte, fand sich Gelegenheit genug, mit der nächtlichen Jagd bekannter zu werden.

Die Böhämmer-Metropole Bergzabern liegt an der Stelle altrömischer Bergschenken – tabernae montanae – vor einem Vogesenpasse, zwischen dessen frische, üppige Waldhänge sich die Mühlen seines Westends malerisch hineindrängen. Noch wird das von zwei Rundthürmen flankirte Schloß bewohnt, der Wittwensitz der Wittelsbacher von Zweibrücken, in welchem die große Landgräfin Henriette eine hoffnungsvolle Jugend verlebte und in schöner Natur zu ihrem edlen Fürstenberufe heranwuchs. Noch zeigt das alte Wasgaustädtchen, neben anderen interessanten Renaissancehäusern, den „Engel“, einen malerischen, mit Erkern, Kuppeln und vorragenden Drachenhäusern versehenen Bau im barocken Geschmacke des holländischen Schiffsstyles. Geburtsort eines Reformators und des alten Kräuterkenners Tabernämontanus, sowie mehrerer in der politischen Welt bekannter Männer neuerer Zeit, hat es in der Zeitgeschichte schon öfter lebhaft von sich reden gemacht, ist aber im Lande selbst am bekanntesten wegen seiner Böhämmerjagd.

Wenn die Felder bestellt sind, der Wein gekeltert ist und im kühlen Keller gährt, verlegen sich Bergzaberner Bewohner gegen den Winter hin auf Vogelkunde, ein Zug, den sie mit den Thüringern gemein haben und der nirgends in der Pfalz so hervortritt, wie hier. Die tiefen, frischen Laubforste der oberen Mundat, welche einst der Abtei Weißenburg gehörten, begünstigen diese Liebhaberei, und des Städtchens eigener Wald hat noch schöne, ursprüngliche Bestände von Edeltannen, in welchen mitten im Winterschnee der Kreuzschnabel brütet und auf Leimruthen gefangen wird. Allein dieser Vogelsang tritt völlig vor dem Leben zurück, das in der Wintersaison des stillen Wasgaustädtchens bei Ankunft der Böhämmer herrscht. –

Nicht alljährlich, sondern nur, wenn die Bucheckern gerathen, in sogenannten „Büchelmastjahren“, welche mit guten Weinjahren und nachfolgendem strengerem Winter zusammenzufallen pflegen, kommen nämlich aus dem höchsten Norden zur Zeit des Vorwinters ungeheuere Schaaren von Zugvögeln in die Waldschluchten des Wasgaues hinter Bergzabern, weiden am Tage die Forste ab und gehen zur Nachtruhe in die hohen Tannenwipfel der Berge. Die Züge sind manchmal so stark und dicht, daß sie die Sonne verfinstern. Wo sie einfallen, erfüllt ihr Geschrei Berg und Thal. Nun eilen aufpassende Boten in die Stadt mit der aufregenden Kunde: „Die Böhämmer sind da.“

Frohe Botschaft! Alt und Jung, Reich und Arm, Beamter und Handwerker rüstet sich zur lang ersehnten nächtlichen Jagd. Die Leuchtpfannen werden hervorgeholt, denn das seltene Waidwerk findet bei Fackellicht statt; der Kienspahn wird in die Rückkörbe gefüllt, die bereit gehaltene übliche Waffe – ein fein gearbeitetes, neun bis zehn Fuß langes Blasrohr – zur Hand genommen, die Kugeltasche umgehängt. Hat man sich doch längst schon mit dem nöthigen Geschosse versehen, kleinen Lehm- und Lettenkugeln, die in eigenem Werkzeuge geformt und – etwas getrocknet – durch das Kugeleisen gerieben werden, um ihnen die nöthige Rundung und Glätte zu geben.

So vorbereitet und ausgerüstet, zieht man in freudiger Erwartung gegen Anbruch der Nacht truppweise hinaus in die beschneiten und bereiften Bergwälder, deren Schlüfte bald von wandelnden Feuern leuchten. Es gilt, die Böhämmer im Schlafe zu überrumpeln und dabei jedes Geräusch zu vermeiden. Denn nicht der Fackelschein, der die Vögel nur blendet, sondern der unvorsichtige Laut stört und schreckt sie auf, dem strengstens vorgebeugt werden muß, wenn diese stille Jagd ohne Pulver gelingen soll.

Endlich ist der Schlummerplatz der Vögel entdeckt. Alle Aeste und Zweige der Baumkronen biegen sich unter der Last dicht neben einander sitzender Böhämmer. Die Kienspahnflammen aus den Feuerpfannen der Fackelträger beleuchten weithin im Walde eine reiche Ernte. Denn die unglaubliche Menge der Vögel erinnert in der That an die Züge der Wandertauben in Nordamerika.

Jeder „Schütze“ hat seinen Fackelträger und seinen Rückkorbträger, welcher letztere den Kienspahn in den Wald und die Jagdbeute heimschleppt. Während nun die beiden Theilnehmer in athemloser Spannung harren, nimmt der Schütze sein Blasrohr an die Lippen, richtet die Waffe nach dem nächsten Vogel, pustet hinein, – von der Lehmkngel getroffen, sinkt der Böhämmer lautlos zur Erde. Indeß die Rückkorbträger die Beute sammeln, erlegen die Schützen nun Stück für Stück auf dieselbe stumme Jagdweise. Die Vögel kommen ihnen dabei in wunderlicher – aber verbürgter – Gepflogenheit entgegen. Fühlen nämlich die Böhämmer auf ihrem luftigen Sitze die entstandene Lücke, wenn einer aus ihrer dichten warmen Reihe herausgeschossen wird, so rücken sie dumpf und leise zwitschernd, wie im Traume, zusammen, um zur Bequemlichkeit des Jägers die erkältende Lücke wieder auszufüllen. Der Böhämmerschütze kann also gelegentlich von demselben Standpunkte aus Vogel um Vogel herunterblasen und, ohne sich weiter zu bemühen, oft viele Dutzende von seinem Platze aus erlegen.

Dazu gehört freilich sicherer Blick, kräftige Lunge, gute Waffe und Uebung. Ein einziger Fehlschuß kann die ganze stille Jagd verderben. Selbst eine gutgezielte Kugel kann das Wild an falschem Orte treffen oder am harten Ast zerschellen. Ein böser Umstand! Ist nämlich ein Böhämmer nicht so getroffen, daß er gleich todt von der Tanne sinkt, so flattert er ängstlich oder flößt einen durchdringenden Schrei aus. Dieser Alarmruf weckt die Schlummernden zum allgemeinen Aufbruch. Nun rauscht und braust und schwirrt und lärmt es aus den hohen Baumwipfeln in die nachtschwarze Luft; das Böhämmervolk saust dahin, als ob der Gott des Sturmes selbst durch die Schluchten des alten Wasgenwaldes johlend wüthe. Dann ist für diese Nacht, oft auch für die nachfolgenden Nächte, keine Beute mehr zu hoffen. Der eine flüchtige Schwarm weckt durch seinen lärmenden Abzug die übrigen, im weiten Gebirge zerstreuten „Flüge“, und fort zieht das Volk der Böhämmer zu Millionen in entlegenere Forste.

Daraus läßt sich ein Schluß machen, wie verpönt ein Flintenschuß im Gebiete der Böhämmerjagd ist. Als zu meiner Jugendzeit dereinst einer der angesehensten Bürger von Bergzabern jagdlustig unter die Böhämmer feuerte, kam es nächtlicher Weise fast zu Mord und Todtschlag im Walde. Behauptet man doch, daß die Böhämmer nicht wieder nach Gegenden kommen, in welchen ihnen einmal mit Pulver und Blei zu Leibe gegangen worden. In der That ließ sich in einem besonders reichen Vogeljahre kein Böhämmer mehr in den Bergwäldern hinter Klingenmünster sehen, nachdem der Förster sein Gewehr in einen das Thal überstreichenden Flug abgeschossen, während die Forste hinter Bergzabern eine gesegnete Ernte boten. Und gerade dem ausschließlichen Gebrauche des Blasrohrs bei dem seltsamen Waidwerke wird es zugeschrieben, daß sich diese nordischen Streuner in der Umgebung des Wasgaustädtchens mit Vorliebe niederlassen, weil die überlebenden Böhämmer von so geräuschloser Jagd nichts inne zu werden pflegen, also ahnungslos wiederkommen. Möglich, daß sie sich auch von der Waldlandschaft angezogen fühlen, die im Winter Aehnlichkeiten mit ihrer nordischen Heimath bieten mag.

[11] Ein Lieblingsschlummerplatz der Böhämmer ist die sogenannte „Peternell“, ein langer, von Erzschachten durchhöhlter, mit Edeltannen bewachsener Berg, der hinter der Stadt das waldfrische, reizende Wiesenthal keilförmig spaltet. Sein Felsenrücken trägt noch Spuren versunkenen Gemäuers, welches die Ueberlieferung zum Castell einer altrömischen Jungfrau Petronella macht. Sie soll der Stadt den Wald geschenkt und sonst Gutes gethan haben. Die Geschichte weiß nichts von der geheimnißvollen Dame, deren Geist noch den Berg umschwebt. Weiter oben am Gebirge, im „Dompeter“ bei Molsheim, der ältesten, vorkarolingischen Kirche des Elsasses, zeigte man lange den jetzt nach Straßburg gebrachten Sarg einer heiligen Petronilla, der angeblichen Tochter des Apostels Petrus. In Wahrheit hatte in dem Sarge jedoch eine edle Römerin, Terentia Augustola, geruht. Ob nun die Sage an diese Thatsache angeknüpft hat oder nicht: Petronella, welche dem Lieblingsberge der Bergzaberner ihren Namen hinterlassen hat, ist die Schutzpatronin der „Böhämmer“, wie die Bewohner des Städtchens selbst im Pfälzer Volkswitz getauft worden sind. Ihre eigenthümliche Jagd beschränkt sich jedoch bei weitem nicht auf die „Peternell“ und deren nächste buchenreiche Umgebung, sondern dehnt sich manchen Winter oft wochenlang über das ganze Waldgebirge aus, wobei die Schützen am Tage schlafen, wo sie ein Lager finden, und zur Nachtzeit dem Waidwerke obliegen. Das sind so beschwerliche und aufreibende, wie aufregende Jagdzüge.

Nun könnte man fragen, ob neben der Lust am Ungewöhnlichen die nächtliche Böhämmerjagd auch eine Beute liefere, welche diese Mühseligkeiten lohne. Das ist einigermaßen der Fall. Der Böhämmer ist ein zwar kleiner, aber feiner Braten und wird nicht selten als Krammetsvogel verspeist; sein Fleisch ist von ähnlichem, pikant bitterlichem Geschmacke, wie das aller Vögel, die sich mit ölhaltigen Früchten und Nadelholzsamen mästen. Es ist im Herbste so fett und zart, daß man beim Rupfen Acht haben muß, die Haut nicht mit abzuziehen. Man könnte den feisten Vogel als Thranlicht verwenden, was in Lappland – woher er zu uns kommt – auch geschehen mag. Mit gebratenen Kastanien ist er den Feinschmeckern in Bergzabern ein leckeres Reizmittel zum Trunke des „Neuen“. In guten Böhämmerjahren wird er sogar zum Handelsartikel und als Leckerbissen weit verschickt.

Lange galt selbst in der Pfalz die Böhämmerjagd für eine Fabel, welche in Bergzabern ersonnen worden, um den „Finkenfang“ zu beschönigen. Man leugnete sogar die Existenz des Böhämmers, der in keiner Naturgeschichte vorkomme. Und in der That hat bis zur Stunde noch kein Naturforscher im übrigen Deutschland der merkwürdigen Erscheinung irgend welche Aufmerksamkeit geschenkt. Ueber Art und Namen des Vogels gab es im Böhämmerlande selbst verschiedene Meinungen. Die Einen erklärten das Wort „Böhämmer“ für die verdorbene Aussprache von „Buchammer“, da man den Vogel auch einzeln und haufenweise mit anderen Ammern im Winter vor die Dorfscheunen kommen sah. Andere deuteten den Namen auf seine Herkunft aus den böhmischen Wäldern und schrieben „Böheimer“. In Altbaiern heißen die Jäger den Seidenschwanz, der ebenfalls aus dem skandinavischen Norden kommt, „Böheimerl“. Galt doch Böhmen – auch bei Shakespeare – als Heimath alles Fabelhaften oder Geheimnißvollen, dessen Ursprung man nicht kannte. Und noch sind den Franzosen die streunenden Zigeuner „Bohémiens“.

Mag dem nun sein, wie ihm wolle, unser Böhämmer ist kein Czeche, seiner Nationalität nach eher ein Schwede, nach Gestalt und Zeichnung keine Ammer, sondern ein ausgesprochener kräftiger Fink, als solcher auch im übrigen Deutschland nicht unbekannt. Kurz, es ist der Bergfink (Frigilla montifringilla), der in den skandinavischen Wäldern, hoch oben am Sulitelma auf den Kjölen, bei den Lappen und Finnen oder in Jämtland nistet und brütet, im Spätherbste nach Deutschland wandert und im Frühlinge wieder über das Kattegat in seine nordische Heimath zieht. Dem Buchfink ähnlich, doch gröber und größer, ohne Gesang, ist er nicht ganz so schön gezeichnet, der Rücken dunkel, Brust, Schulter und Vorderleib rostgelb, die Querbänder auf den Flügeln weiß – ein starker, bissiger, wilder, gefräßiger Patron. Einzeln oder truppweise treibt er sich zur Winterzeit in deutschen Bergwäldern und Bauernhöfen umher, heißt bald Tannenfink, bald Wald- und Mistfink oder auch Gägler, kommt bis in die Schweiz und soll – nach Tschudi – im Emmenthale sogar brüten. Ueber die Alpen jedoch geht er nicht; selbst deren niedrigste Paßeinsenkungen scheinen dem feisten Gesellen zu hoch.

Seinen Hauptwanderzug, der in schneereichen Wintern aus unermeßlichen Schaaren besteht, nimmt er, zwischen Rhön und Vogelsberg hindurch, in die oberrheinische Ebene, zur buchengrünen Haardt, vorzugsweise in die Laub- und Tannenforste des pfälzischen Wasgau bei Bergzabern, von hier bei strenger Kälte wohl auch weiter, über Lothringen die Saône hinunter in’s Rhonethal, zum kleinern Theil über die Ardennen nach Frankreich hinein „an der Loire grünen Strand“. So folgt und traut er mehr den minder hohen Waldgebirgen, welche in ihrem schönen Wechsel von Laub- und Nadelforst leckeres Mahl und bequeme Ruheplätze, dabei dem fettfaul gewordenen Vogel leichte Uebergänge bieten. Alle diese Bedingungen vereinigt der vielfach zerklüftete Wasgenwald hinter Bergzabern; kein Wunder, daß hier der „Böhämmer“ am liebsten einkehrt. Die Hochvogesen meidend, erfolgt sein Heimzug auf derselben Route, wobei nochmals Mast und Rast im Pfälzer Wasgau gehalten wird, um nach üppigem Gelage bei schwindendem Schnee nach dem Norden zu ziehen, ohne die im Schlafe verlorenen Genossen zu vermissen. So sah man bei Epinal und Luneville ungeheure Züge mit dem Südwest tagelang über die Felder weiter streichen, um noch auf der Heimkehr am gewohnten Orte einzukehren zur Weide und Nachtruhe.

Heute kennt man nun den Böhämmer und dessen Jagd in der ganzen Pfalz. Nach Professor Medicus in der „Bavaria“ ist der wunderliche Vogel jetzt so volksthümlich geworden, daß ihm ein vielgebrauchter bildlicher Ausdruck entlehnt ist. In jedem pfälzischen Wirthshaus laden nämlich die Sitzenbleibenden, wenn Abends solide Gäste nach Hause gehen, sich gegenseitig ein, zu „böhämmern“, nämlich zusammen zu rücken, um die Lücken so gemüthlich auszufüllen, wie die Bergfinken, wenn sich ihre Reihen lichten. Selbst die Franzosen in Weißenburg, deren Jagdgebiete mit denen von Bergzabern in der Mundat an der Lauter zusammenstießen, kannten den Vogel, hielten ihn jedoch für einen Wallonen und nannten ihn pinçon d’Ardennes.

Bergzabern ist und bleibt aber die Böhämmermetropole. In den letzten „Vogelwintern“ kamen fremde Jagdliebhaber und Neugierige dahin, um bei Schneefall und Fackelschein in die Schlüfte des Wasgenwaldes nach Bohämmern auszuziehen, unter seltsam beleuchteten Felsgruppen zu rasten, Scenen, wie ich sie in „Hedwig“ geschildert, zu erleben oder auch nur bei dem trefflichen „Neuen“ des weinreichen Städtchens[2] von alledem gemütlich zu plaudern. Denn die Böhämmer bilden dann winterlang den ausschließlichen Gesprächsstoff. Hier ist die seltsame Jagd altherkömmlich und waidmännisch ausgebildet worden. Wo jedoch ihre Anfänge liegen, darüber schweigt die Geschichte. Allein die ursprüngliche Art und Weise dieses Waidwerks, Ausrüstung, Waffe und Geschoß deuten auf hohes Alter. Vielleicht haben schon Otfried’s Klosterbrüder so in der Mundat nach Böhämmern gejagt. Blasrohr und Lehmkugel müssen der Handfeuerwaffe vorausgegangen sein, haben vielleicht zu deren Erfindung geführt, da der Luftdruck bei beiden die treibende Kraft bildet.

Immerhin darf man sich von der Wirkung solchen Geschosses keine zu geringe Vorstellung machen. Zwischen dem langen, äußerst accurat, solid und fein gearbeiteten, mit kleiner Seele versehenen, achteckigen hölzernen Hinterlader von Bergzabern und dem, was man anderwärts Blasrohr nennt, ist ein Unterschied, wie zwischen einem Lefaucheux und einer alten Radpistole. Für die Vogelwelt ist es die gefährlichste Waffe. Sehe ich heute solche halbwüchsige Bursche mit dem langen Rohr im Freien, dann jammern mich die kleinen Sänger. Erinnere ich mich doch der Zeit, wo wir Jungen selbst, in Ermangelung von Lehmkugeln, mit unreifen Weinbeeren den kräftigen Wendehals und Neuntödter vom Kastanienbaum schossen und sogenannte Stechbolzen halbzolltief in’s Zielbrett trieben. Die Wirkung läßt sich darnach ermessen. Lehmkugeln, mit welchen die Böhämmer erlegt werden, bleiben zumeist im Fleische stecken und finden sich beim Zerlegen des Bratens. Wenn sich Böhämmerschützentrupps einander in’s Gehege kommen ober einer dem andern Eins aus Jux versetzt, erprobt sich zuweilen gegenseitig die Trefffähigkeit der Waffe.

[12] Ueberhaupt büßt dieses seltene und seltsame Waidwerk in der Jagdleidenschaft seinen stillen Charakter manchmal ein, wenn sich einzelne „Partien“ treffen und um strittige Interessen rechten. Dann setzt es wohl auch lärmenden Streit im winternächtigen Wasgenwald ab. Wären die Böhämmer nicht gar so dumm, dann könnten sie bei ihrer Heimkunft von den niedrigen Fichtenstrünken oben in Finnmarken beim Mitternachtssonnenlicht den rennthiermelkenden Lappenmädchen etwas vorpfeifen von Blaslanzen führenden Jünglingen „südlich am Rhein“ – wie die Edda sagt – die lungenkräftig und stark sind im Blasen und Schreien, wie denn die Bergzaberner von je zu den ärgsten „Pfälzer Krischern“ zählten. Im Ganzen halten sie jedoch streng auf Zucht, Schützengeist und Ehre bei den nächtigen Jagdzügen. Dies ist auch durchaus nöthig; übrigens ist selbst bei größter Vorsicht das Glück oft nicht günstig, der ganze Aufwand von Zeit und Mühe vergeblich. Denn die Böhämmer haben ihre Launen und vereiteln zuweilen alle Voraussicht. Dennoch läßt der Jagdeifer nicht nach, so lange überhaupt noch ein Erfolg zu erwarten ist.

Die erforderliche Anstrengung, Ausdauer, Uebung und Vorsicht, die am geringsten Versehen oder Zufall scheitern kann, erheben solche Jagd zum edleren Sport, der den wackeren Bürgern des pfälzischen Wasgaustädtchens wohl ansteht. Das Eigenthümliche, Ursprüngliche derselben, Zeit, Oertlichkeit, Ausrüstung und Ausführung geben ihr stets den Reiz der Neuheit und machen sie zur ersehnten Unterbrechung der winterlichen Eintönigkeit kleinstädtischen Lebens. Mit dem Fackellicht aber fällt noch ein besonderer romantischer Schimmer auf die nächtige Böhämmerjagd im Wasgenwald.




  1. Als ich W. H. Riehl, den bekannten Culturhistoriker, einmal fragte, warum er in seinem Pfälzer Buche nicht der „Böhämmer“ gedacht habe, ging seine Antwort dahin: man würde glauben, er wolle den Leuten etwas aufbinden.
    Der Verf.
  2. Gute „Vogeljahre“ sind auch fast immer gute Weinjahre – in Bergzabern.