Neue Musik

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Autor: Paul Bekker
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Titel: Neue Musik
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aus: Neue Musik – Dritter Band der Gesammelten Schriften, S. 85-118
Herausgeber: Paul Bekker
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Entstehungsdatum: 1919
Erscheinungsdatum: 1923
Verlag: Deutsche Verlags-Anstalt
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Erscheinungsort: Stuttgart und Berlin
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Kurzbeschreibung: Aufsatz, der auf einem Vortrag basiert
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[85]
NEUE MUSIK
(1919)

[87] Überschaut man die Spielpläne der meisten Operntheater, die Programme der großen Orchester- und Chorkonzertinstitute, der namhaften Kammermusikvereinigungen, der berühmten Sänger, Sängerinnen und Instrumentalvirtuosen, so scheint es, als ob in der musikalischen Produktion der Gegenwart ein auffälliger Stillstand, ja fast Erschöpfung herrsche. Diese Beobachtung ist um so merkwürdiger, als gerade die letzten Jahre auf anderen Kunstgebieten nicht nur eine starke äußerliche Steigerung, sondern gleichzeitig sehr bemerkenswerte Neuerscheinungen in bezug auf Art und Richtung des Kunstschaffens gebracht haben. Die Fragen des öffentlichen Bauwesens werden mit einem Ernst und einer Emsigkeit erörtert, die weit hinausgreift über die frühere fachmännische Beratungsweise und uns die Probleme der baulichen Gestaltung wieder als Angelegenheiten der Allgemeinheit zum Bewußtsein bringt. Bildhauerei und Malerei haben sich in den letzten Jahren durch die Leistungen der expressionistischen Künstler als wichtige Vorkämpfer neuer Geistesströmungen erwiesen, die – mag sich der einzelne ihnen gegenüber zustimmend oder ablehnend verhalten – dem geistigen Leben unserer Zeit zum mindesten starke Antriebe geben. Man spricht von Futurismus, von Kubismus, man hört und liest bald da, bald dort von Ausstellungen der Werke solcher Künstler, man diskutiert darüber, und ehe man es sich versieht, fühlt man sich hineingerissen in den Wirbel einander widerstreitender Anschauungen. Eine ganze Reihe Kunstzeitschriften lebt von der Propagierung der neuen Ideen oder von ihrer Bekämpfung. Auch die Dichtkunst, die lyrische, wie die erzählende und die dramatische, liefert in dauernd steigendem Maße Beiträge zu dieser neuen Geistesbewegung. Selbst die Schauspieltheater, diese hartnäckigsten Hüter des Gewohnten, können sich dem Ansturm der Zeitideen nicht mehr entziehen und suchen allmählich ihren Ehrgeiz darin, sich des Absonderlichen anzunehmen, um sich Beachtung [88] zu erzwingen und nicht etwa als rückschrittlich gebrandmarkt zu werden.

Nur in der Musik merkt man wenig oder fast gar nichts von diesem unmittelbaren Miterleben der Gegenwart, und der außenstehende Beobachter kommt leicht zu dem Rückschluß, daß in der musikalischen Produktion Neues im sachlich ernsthaften Sinne eben nicht vorhanden sei. Wer freilich die Verhältnisse und Menschen etwas genauer kennt, weiß, daß die Klagen mancher ernsthaften Kunstfreunde über das Nachlassen der Erfindungs- und Schöpfungskraft der Musiker den Tatsachen nicht entsprechen. Er weiß vor allem, daß unterhalb jenes Musikbetriebes, den wir „öffentliches Musikleben“ nennen, Kräfte am Werke sind, die, aus verschiedenen Quellen genährt und verschiedenen Zielen zustrebend, doch in einem einig sind: in der Ablehnung des heutigen Zustandes unserer musikalischen Kultur, in dem Wunsch nach ihrer Erneuerung aus dem Geiste einer neuzeitlichen Anschauung vom Sinn und Wesen der Musik überhaupt. Solche Erneuerung kann von verschiedenen Gesichtspunkten aus erfolgen: sie kann das öffentliche Musikwesen, die Art unserer Konzertveranstaltungen betreffen, sie kann sich auf das musikalische Lehrwesen, auf die Heranbildung des musikempfänglichen Publikums wie des Musikers beziehen, sie kann auf die Herbeiführung einer neuen Art kritischer Wertung zielen, und sie kann sich schließlich mit dem Wichtigsten: mit der geistigen Erneuerung der Musik selbst, also mit der eigentlich schöpferischen Kundgebung musikalischen Fühlens beschäftigen. Auf all diesen Einzelgebieten sind bei uns, gerade wie in den anderen Künsten, Bestrebungen vorhanden. Nur kommen sie aus zu verschiedenen Richtungen und haben mit zu starken äußeren Widerständen zu kämpfen, um gleich den ähnlichen Bestrebungen in anderen Künsten außerhalb der unmittelbar interessierten Kreise Beachtung zu finden. Auch ist die Musik eine begrifflich zu schwer zu fassende, für literarisch ästhetische Propaganda [89] zu wenig handliche Kunst, um für die feinsten Probleme ihres Seins gleich beredte Darlegungen und ein interessiertes Diskussionspublikum zu finden. Schließlich dürfen wir uns nicht verhehlen, daß unter den neuen Regungen auf musikalischem Gebiet vieles ist, was nur der ästhetischen Spekulation, nicht einem unmittelbaren Produktionszwang sein Entstehen verdankt. Das darf uns nicht wundern und nicht abschrecken. Die ästhetische Spekulation gehört stets zu den bahnbrechenden Kräften und hat gerade auf musikalischem Gebiet – ich erinnere nur an die Entstehungsgeschichte der Oper – schon bedeutungsvolle Ergebnisse gezeitigt. Es liegt aber im Wesen solcher spekulativer Erneuerungsversuche, daß sie zunächst immer auf einen kleinen Kreis beschränkt bleiben. Indessen ist es vielleicht an der Zeit, alle diese Bemühungen, gleichviel woher sie kommen und welchen Motiven sie entspringen, kurz zusammenzufassen, gleichsam eine Bestandsaufnahme zu machen. Ich werde also zunächst versuchen, eine knappe Übersicht zu geben über das, was an Neuerungsbestrebungen in der Musik während der letzten Jahre erkennbar geworden ist. Ich werde dann versuchen, festzustellen, ob all diesen verschiedenartigen Versuchen irgendeine gemeinsame Grundrichtung eigen ist und wohin diese, falls sie zu erkennen ist, zielt.

* * *

Als Änderungsbestrebungen elementarster Art zeigen sich zunächst Bemühungen zur Neugestaltung unseres Tonsystems. Unser Tonsystem erhält seine charakteristische Prägung durch den Wechsel von halben und ganzen Tonstufen. Man versucht nun, diese Stufenfolge zu erweitern und zu vermehren durch Einschaltung von Vierteltönen. Der „Schrei nach dem Viertelton“ ist schon eine Reihe von Jahren alt, besonders zum Bewußtsein gekommen ist er uns neuerdings dadurch, daß W. von Möllendorf ein Harmonium konstruiert hat, auf dem Vierteltöne akustisch darstellbar [90] sind – zweifellos eine interessante Erfindung. Ob sie in der vorliegenden Form für unsere Musik praktische Bedeutung erlangen wird, erscheint mir zweifelhaft. Psychologisch gewertet, bedeutet die Einführung der Vierteltöne zunächst eine Schärfung, gleichzeitig aber eine Verweichlichung unseres Tonempfindens. Schon die Chromatik, wie sie namentlich Liszt und die ihm folgende neu-deutsche Romantik gepflegt hat, stellt gleichsam eine Spaltung und Verzärtelung der Empfindungsbewegungen dar. Denkt man sich diese durch die vermehrten modulatorischen Möglichkeiten bereits zu sehr feinen und aparten Sinnesreizungen entwickelten Ausdrucksmöglichkeiten noch durch die Bichromatik gesteigert und ins Unermeßliche vervielfacht, so erhält man eine Tonskala, die äußerlich genommen zweifellos einen Gewinn, ihrem ästhetischen Charakter und ihrer Wirkung nach ebenso zweifellos eine Degenerationserscheinung bedeutet. Ich kann mir die praktische Verwendung eines solchen Instrumentes nur zu rein koloristischen Zwecken, also etwa zur Erzielung besonders aparter Wirkungen innerhalb des Orchesters denken, und tatsächlich hat ja Ernst Boehe sich das bychromatische Harmonium in dieser Art bereits nutzbar gemacht. Wieweit solche Versuche praktisch wirken werden, bleibt abzuwarten – es ist auch nicht meine Absicht, hier ein scharf formuliertes Urteil über die Entwicklungsaussichten der Bichromatlk abzugeben. Ich will zunächst nur die Neuerungsversuche innerhalb der Elemente unserer Tonsprache einer kurzen Durchsicht unterziehen.

Möllendorf ist nicht der einzige, der mit Vierteltönen operiert. Andere haben schon vor ihm ähnliche Versuche gemacht, vor allem hat Ferruccio Busoni bereits vor Jahren die Frage der Einführung sowohl von Viertel- als auch von Drittel- und sogar von Sechsteltönen theoretisch-ästhetisch erörtert und zur Diskussion gestellt. Wir betreten da freilich bereits die Gebiete der Phantastik, und die Schriften Busonis – es kommt namentlich sein „Entwurf zu [91] einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ in Betracht – haben in der Tat einen kleinen Beiklang von Jules Verne. Ich möchte dieses Schriftchen nicht nur wegen der Ausführungen über die Dritteltöne sondern wegen seines geistvollen und fesselnden Inhaltes überhaupt empfehlen. Wie es falsch wäre, dergleichen luftige Spekulationen nur als scherzhaftes Unterhaltungsspiel zu nehmen, ohne die anregende Kraft zu beachten, die darin enthalten ist, so ist es auch falsch, gegen diese Traumgespinste einer kühnen Virtuosennatur mit dem schweren Rüstzeug des ehrbaren deutschen Kunstverteidigers zu Felde zu ziehen, wie dies Hans Pfitzner in seiner gegen Busoni gerichteten Broschüre „Futuristengefahr“ getan hat. Eine Futuristengefahr besteht für die Musik überhaupt nicht – man kann hinzusetzen: leider nicht. Es besteht nur die Tatsache, daß alles, was an originellen Regungen in der Musik laut wird, sofort nicht nur vom Publikum – dieses wäre noch zu entschuldigen – sondern gerade von denen mit allen Machtmitteln verfolgt wird, von denen man vorurteilsfreie Einschätzung und Freude an der lebendigen Bewegung am ehesten zu erwarten berechtigt wäre.

Den Bemühungen um Einführung des Vierteltonsystems entsprechen andere Bemühungen um die Einführung des Ganztonsystems. Freilich nicht eines Systems, das die heute übliche Diatonik ausschließen oder verdrängen, sondern das sie nur ergänzen soll. Die Ganztonleiter nimmt Bezug auf das chinesisch-pentatonische Tonsystem, das eine nur fünfstufige Skala kennt. Wenn auch kaum ernstliche Aussicht besteht, ein solches, auf wesentlich anderen kulturellen Voraussetzungen beruhendes Tonsystem bei uns jemals heimisch zu machen, so bietet doch die Ganztonleiter namentlich in harmonischer und modulatorischer Beziehung eine Fülle neuer Deutungsmöglichkeiten, und von diesen haben verschiedene unserer namhaftesten zeitgenössischen Musiker während der letzten Jahre schon in reichem Maße Gebrauch [92] gemacht. Ich nenne hier nur die Namen Debussy und Schönberg, in deren Werken der ätherisch abstrakte Charakter der Ganztonleiter, der die Vermeidung vermittelnder Halbtonschritte etwas eigentümlich Übersinnliches, Unwirkliches, Sphärenhaftes gibt, eine große Rolle spielt. Auch Hans Pfitzner hat sich gelegentlich dieses Mittels zur Stimmungscharakteristik bedient, am auffallendsten in seiner Vertonung von Goethes „Füllest wieder Busch und Tal“.

Die Versuche, die Ganztonleiter bei uns heimisch zu machen, sind ein Teil der Bestrebungen, die auf Einführung exotischer Tonsysteme überhaupt in die westeuropäische Musik zielen. Sie stellen in ihrer Gesamtheit ein charakteristisches Gegenstück dar zu den Anregungen, die sich ein Teil unserer bildenden Künstler, namentlich Maler und Bildhauer aus exotischen Ländern geholt haben. Der Anfang dieser Bestrebungen liegt ziemlich weit zurück. Östliche Einflüsse kommen uns schon in den türkischen Musiken des 18. Jahrhunderts – in Mozarts „Entführung“ und türkischem Marsch, in Beethovens „Ruinen von Athen“ – zum Bewußtsein. Hier handelt es sich allerdings mehr um koloristische Anklänge, wie sie durch die geographische Stellung Wiens als östlichem Brückenkopf westeuropäischer Kultur leicht vermittelt werden konnten, als um bewußte Übertragungen exotischer Tonsysteme. Auch die ungarischen Anklänge bei Haydn, Schubert und vor allem die Anlehnungen an die Zigeunermusik, wie Liszt sie nachdrücklich gepflegt hat, sind als Bestrebungen zur Erweiterung unseres tonalen Ausdrucksvermögens aufzufassen. Die Romantik mit ihrem Hang zum Fremdländischen, besonders zum Osten hat diesen Faden weitergesponnen, obschon in ihrer Charakteristik des Exotischen weniger dieses in seiner Ursprünglichkeit zum Ausdruck kam, als vielmehr die Vorstellung des Fremdartigen, wie sie sich in der Phantasie des Mitteleuropäers kristallisiert hatte. Die eigentliche bewußte Übernahme exotischer Ausdrucksweisen fällt erst in die [93] neueste Zeit, die Gelegenheit und Möglichkeit zu genauer wissenschaftlicher Erforschung außereuropäischer Tonsysteme fand und damit den europäischen Musikern reiches Anschauungsmaterial bot. Die Arbeiten Capellens, in neuester Zeit namentlich Stumpfs und Hornbostels haben uns in dieser Beziehung außerordentlich gefördert. Von Musikern, die teils auf Grund solcher Anregungen, teils aus eigener Erfahrung und Phantasietätigkeit die Verbindung der europäischen mit außereuropäischen Musikkulturen zu fördern bestrebt waren, sind zu nennen Saint-Saëns, dem sein Aufenthalt in den südlichen Ländern des Mittelmeeres, namentlich in Ägypten, manches aus arabischen Gegenden zuwehte, Frederick Delius, der in Amerika altindianische und Sklavenliedermelodien auffing, und wiederum Debussy und Busoni, die weniger aus eigener Erfahrung als aus Spekulationsdrang und natürlichem Hang zum Fremdartigen sich die Anregungen der Exotik zunutze machten. Diese Namensnennungen sollen nicht etwa eine vollständige Aufzählung all der Musiker geben, die ihr Ausdrucksvermögen an außereuropäischen Tonsystemen und Melodiebildungen bereichert haben – ich gebe nur einige Stichproben, um das Vorhandensein solcher für die Entwicklung der modernen Tonsprache bezeichnenden Bestrebungen zu belegen.

Als letzte unter den Bemühungen zur Erweiterung unseres Tonsystems sind die Versuche zur Wiedereinführung der alten Kirchentonarten zu nennen. Die Kirchentonarten, das Tonsystem des Mittelalters, sind in der Neuzeit durch die Aufstellung der beiden Tongeschlechter Dur und Moll außer Gebrauch gekommen. Da die gesamte Entwicklung der harmonischen Musik auf der Anerkennung dieser beiden Tongeschlechter als der eigentlichen Grundlage unseres musikalischen Empfindens beruht, so konnte die Heranziehung der Kirchentonarten zunächst keine andere Bedeutung haben als die Benutzung exotischer Tonsysteme, der Ganztonleiter oder die Spekulationen mit Vierteltönen – nämlich [94] die koloristische Bereicherung des Ausdrucks durch archaisierende Farben. Man findet ebenfalls hierfür Gegenstücke in der Entwicklung der modernen bildenden Kunst, namentlich der Malerei und Bildhauerei, aber auch der Architektur. Es ist überall das gleiche Bestreben, neue Ausdrucksmöglichkeiten zu gewinnen durch Einbeziehung von Stilelementen längstvergangener Zeiten, Stilelementen, für deren Anwendung heut ein unmittelbarer Zwang nicht mehr vorliegt und die nur gleichsam als ornamentaler Ausputz zur Geltung kommen.

Überblickt man all diese Einzelbestrebungen auf musikalischem Gebiet im Zusammenhang, so kommt man zu der Überzeugung, daß sie doch nicht nur spielerische Laune, Streben nach auffallenden und seltsamen Wirkungen, Verlegenheit und Gedankenarmut bedeuten. Einzelne solcher Motive mögen wohl hier und da wirksam sein – aber damit erklärt man nicht eine Bewegung, die, wie die Tatsachen zeigen, von den verschiedensten Punkten aus einsetzt und nicht etwa nur eine zufällige Episode darstellt, sondern mehr oder weniger alle schöpferischen Geister erfaßt. Das Ziel, dem diese Bewegung zusteuert, sehe ich zunächst in der Gewinnung einer neuen Melodik, der die heutige Mischung von Ganz- und Halbtönen nicht mehr genügt. Sie strebt nach feineren, mannigfaltigeren, reicheren Beziehungen zwischen den Einzeltönen, Beziehungen, in denen ein stärkeres melodisches Eigenleben, eine zartere, feiner gegliederte Psyche sich offenbaren kann, als dies gegenwärtig der Fall ist. Aber – so wird entgegnet – dies widerspricht dem Wesen der neuen Musik. Diese neue Musik zeichnet sich dadurch aus, daß sie von Grund auf unmelodisch ist. Woher kommt denn der Schrei nach Melodie, der Ruf „Zurück zu Mozart“? Doch nur daher, weil wir heute Melodien überhaupt nicht mehr zu hören bekommen, weil die modernen Komponisten keine Erfindung haben und sich darauf beschränken, mehr oder minder interessante Geräusche zu produzieren. Nun – [95] wer solches behauptet, der übersieht, daß das eigentlich Charakteristische der neuen Musik ihr Streben ist nach neuen melodischen Ausdrucksformen, ihr Drang nach melodischer Durchdringung und Beseelung des ganzen Tonstückes, ihr Bemühen, wieder hinwegzukommen über den Gegensatz zwischen Melodie und Nichtmelodie, d. h. thematisch erarbeiteter Stimmführung, wie sie sich als Nachwirkung unserer klassisch-romantischen Tonsprache eingebürgert hat und zum bequemen Schema des Kompositionshandwerks geworden ist. Man kann das Ziel der neuen Musik, sofern man sie nur ehrlich kennenzulernen und sachlich zu begreifen sucht, gar nicht anders fassen denn als bewußtes Streben nach einer Erneuerung unseres melodischen Empfindens, eines melodischen Empfindens freilich, das nicht nur nach anderen Tonkombinationsmöglichkeiten innerhalb der gegebenen Normen strebt, sondern das eine grundlegende psychische Erneuerung und Erweiterung unseres Musikempfindens überhaupt zur Voraussetzung hat. Dies mag jetzt vielleicht noch als gewagte Behauptung erscheinen. Wer aber nur die bisher gekennzeichneten Bemühungen zur Umänderung unseres Tonsystems aufmerksam betrachtet, wer von dem subjektiv Spekulativen und virtuos Experimentellen, das ihnen im einzelnen anhaftet, absieht und diese von den verschiedensten Ausgangsquellen her einsetzenden Versuche auf ihre symptomatische Bedeutung hin wertet, erkennt darin den Drang, zu neuen Möglichkeiten des melodisch linearen Ausdrucks zu gelangen. Ich bitte, diese symptomatische Bedeutung festzuhalten. Ich spreche hier nicht über einzelne moderne Musiker sondern über die neue Musik. Für die Erfassung ihrer Eigenart, ihrer Wesens- und Willensrichtung ist es tief bezeichnend, daß sie sich nicht an das Gegebene, Überlieferte klammert, sondern einsetzt mit einer Kritik an den Grundlagen dieses Überlieferten, an unserem Tonsystem überhaupt, daß sie versucht, die primitivsten Voraussetzungen unserer Empfindungsart umzugestalten [96] und dadurch zur Gewinnung innerlich erneuerter melodischer Wertbegriffe zu gelangen.

Nun sind solche Versuche an sich nichts eigentlich Neues, sie lassen sich überall beobachten, wo zwei Zeitalter und zwei Weltanschauungen miteinander kämpfen. Die Melodik der Romantiker ist etwas durchaus anderes als die Melodik der Wiener Klassiker. Als Schumann, Chopin, Wagner und Liszt auftraten, hat man geradeso gezetert über den Mangel an Melodie, wie heutzutage. Man hat gespöttelt über die sogenannte „unendliche Melodie“ Wagners, man hat Liszt für einen Phrasendrescher, Schumann für einen dilettantischen Scharlatan, Chopin für einen Tonklingler erklärt. Das Neue, was diese und die anderen Romantiker - auch der leichter eingängliche und daher williger anerkannte Mendelssohn – brachten, war die poetische Beseelung der Melodie, die Entwicklung und Fortspinnung des melodischen Gedankens im Zusammenhang mit dem poetischen. Für die damaligen Musiker war dies die natürliche Fortsetzung des von Beethoven gebahnten Weges. Das Streben nach Verschmelzung verschiedenartiger künstlerischer Anregungen lag im Wesen der romantischen Kunst und war für jene Zeit auch das einzige Mittel, sich das große, an sich einstweilen noch unangreifbare Vermächtnis der Klassiker im zeitgemäßen Sinne nutzbar zu machen. Die romantische Bewegung war evolutionären Charakters, sie rüttelte nicht an den Grundlagen, sie baute sich den Klassizismus nach ihren Gesichtspunkten um. Wir stehen heut dem Zusammenbruch jener klassisch-romantischen Kunst gegenüber. Über die genialen Barockschöpfungen eines Wagner und Liszt hinaus ist sie zur technischen Künstelei, zu einem Talentspiel mit ausgemünzten Werten geworden. Stellt eine Erscheinung wie Richard Strauß nicht das künstlerische Gegenstück dar zu dem, was wir im heutigen Wirtschaftsleben Industrialismus und Kapitalismus nennen? Ich spreche hauptsächlich von der Art seines künstlerischen Gehabens, wie es [97] in seinem neuesten Schaffen zutage tritt, das doch nichts anderes ist als ein Spielen und Kokettieren mit Fortschrittsallüren, hinter denen sich eine sehr geschickt und blendend aufgeputzte Altmeisterlichkeit verbirgt, der Gesinnung und dem Charakter nach ebenso reaktionär wie das ehrlich philiströse Akademikertum.

Wir sind in der Musik über das Stadium hinausgelangt, in dem man meinte, Fortschritt sei gleichbedeutend mit technischer Steigerung des Hergebrachten. Wir wissen, Fortschritt ist nur zu gewinnen durch Vereinfachung, allerdings nicht im Sinne jenes üblen Modewortes „Zurück zu Mozart“, das, auf seine wahre Bedeutung hin geprüft, nichts anderes ist als die Ergänzung jener Steigerungsmanier nach der entgegengesetzten Richtung einer geistlosen Primitivität. Wenn ich von Vereinfachung spreche, so meine ich damit eine Prüfung der Grundlagen unseres musikalischen Schaffens auf ihre Gültigkeit für uns, auf ihre Wesenheit, auf ihre innere Berechtigung, auch heut noch als Grundlage einer wahrhaften Tonsprache zu dienen. Das ist das Charakteristische der neuen Musik. Sie nimmt nicht das Gegebene und modelt es nach ihren Begriffen um oder bläst es technisch auf – sondern sie stellt die Frage nach dem Daseinswert und der inneren Lebensberechtigung dieses Gegebenen überhaupt. Sie kommt dabei zu dem Ergebnis, daß dieses Gegebene, das Vermächtnis der klassisch romantischen Kunst, für uns nicht mehr das Fundament sein kann, auf dem wir weiterbauen dürfen, daß wir tiefer zurückgreifen müssen, um etwas im wahren Sinne Zeiteigenes schaffen zu können.

Eine solche Erkenntnis ist unbequem, denn sie fordert von jedem einzelnen eine kritische Strenge der Selbstbesinnung, die man ungern aufbringt. Es ist viel angenehmer, in hergebrachten Formeln zu denken und zu sprechen, als sich über jedes einzelne Wort, über seinen Sinn und seine Daseinsberechtigung Rechenschaft abzulegen. Daher vor allem der Widerstand der ausübenden Künstlerschaft gegen die neue Kunst. Anderseits ist nicht zu [98] verkennen, daß diese neue Kunst einstweilen noch nicht mit vielen fertigen Ergebnissen aufwarten kann. Sie selbst ist ja noch ein Werdendes, das sich Klarheit und innere Bestimmtheit erst erkämpfen muß. Ich habe von den Bemühungen zur Erweiterung unseres tonalen Empfindens durch Neugestaltung unseres Tonsystems gesprochen. Diese Bemühungen sind naturgemäß nur ein kleiner Teil der Bestrebungen zur Schaffung neuer melodischer Erscheinungen. Ein anderer, ebenso wichtiger, wenn nicht noch wichtigerer Teil sind die Bestrebungen zur Erweiterung unseres Harmonieempfindens. Sie hängen eng zusammen mit dem Protest gegen die Vorherrschaft des Dur- und Mollgeschlechtes, sie sind eigentlich bedingt durch sie, denn erst mit dem Zweifel an der ewigen Gültigkeit von Dur und Moll konnte eine stärkere Freiheit auch des harmonischen Denkens und Fühlens einsetzen. Aber sie gehen in ihrer praktischen, nach außen erkennbaren Wirkung über jene hinaus und sie haben auch in der Tat heute schon erheblich mehr Bedeutung erlangt.

Unser Musikempfinden im allgemeinen ist ein vorwiegend harmonisches. Man denke sich irgendeine ganz einfache Melodie etwa, um nur ein Beispiel zu geben, „Morgenrot, Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tod“ – und beobachte sich selbst genau: Man wird sich diese Melodie, auch wenn man sie nur vor sich hersummt oder sie sich rein gehirnmäßig denkt, gar nicht anders vorstellen können, als mit harmonischem Unterbau. Dies ist nicht etwa Gewohnheit, sondern die Melodie selbst zwingt dazu. Sie ist so gebaut, daß ihre deklamatorisch rhythmisch wichtigsten Teile gleichzeitig Elemente einer charakteristischen Harmonie sind. Was für das einfache Lied gilt, gilt für die kompliziertesten thematischen Gebilde unserer gesamten Instrumental- und Vokalliteratur von der klassischen Zeit ab. Man kann Themen von Mozart, von Beethoven, von Richard Strauß nehmen – allen gleichmäßig ist eigen, daß sie nicht aus rein melodischem, sondern aus melodisch-harmonischem [99] Empfinden erwachsen sind. Damit hängt zusammen, daß sie als melodische Gebilde an sich unselbständig, unvollkommen sind, daß sie der Ergänzung durch die Harmonie bedürfen, um zur vollen Wirkung zu kommen.

Nun nehme man dagegen ein Thema von Bach, irgendeines der Fugenthemen aus dem wohltemperierten Klavier oder etwa das bekannte Air aus der D-Dur-Suite. Auch diese Melodien sind zum Teil auf harmonische Stützung hin entworfen. Die Harmonie ist hier aber nicht Voraussetzung und Bedingung der melodischen Entwicklung, sondern sie ist ihr nur bei- oder, besser gesagt, neben- und untergeordnet. Sie bestimmt nicht den Verlauf der melodischen Linie, sondern sie schmiegt sich ihm an, sie begleitet ihn. Diese Unterordnung der Harmonie unter die melodische Führung kam auch äußerlich durch die Schreibart des Generalbasses zum Ausdruck. Die Harmonien wurden nicht ausgeführt, sondern nur durch bezifferte Bässe angedeutet – ein Zeichen dafür, daß man sie nur als Nebensache, die ausgeführte Melodie aber als Hauptsache ansah. Je weiter man nun zurückgeht auf den eigentlich polyphonen Stil, um so bedeutungsloser und unselbständiger erscheint die Harmonie. Sie ist nichts als das Ergebnis der ineinander verflochtenen, an sich durchaus selbständigen Stimmen, deren Zusammenklang zur Harmonie wohl von dem schaffenden Künstler in Rechnung gestellt wird, aber keineswegs von ausschlaggebender Bedeutung ist, vor allem auf die Konzeption des melodischen Gedankens keinen entscheidenden Einfluß übt. Hier offenbaren sich zwei grundverschiedene musikalische Stilprinzipien: das eine, der vorklassischen Zeit angehörend, gibt der Melodie, dem thematischen Gebilde, führende Bedeutung, sieht in ihr den schöpferischen Quell, das andere, klassisch romantische, wurzelt im harmonischen Empfinden und sieht in der melodischen Linie nur die Verbindung wechselnder Harmonien, verlegt also den schöpferischen Impuls in die harmonische Bewegung.


[100] Dies ist natürlich sehr schroff formuliert. Aber wenn man die Klagen über das Nachlassen der melodischen Kraft, den Schrei nach der Melodie, der jetzt von allen Seiten ertönt, recht begreifen will, muß man sich klarmachen, daß die Entwicklung von der Zelt der Klassiker her eigentlich darauf ausgegangen ist, die Selbständigkeit des melodischen Formungsvermögens zu unterdrücken dadurch, daß es an das harmonische Formungsvermögen gebunden und diesem untergeordnet wurde. Wir können zu einer Erneuerung der melodischen Gestaltungskraft nur gelangen, indem wir uns von der harmonisch melodischen Denkweise der Klassiker wieder frei machen und versuchen, zu einem neuen Stil zu gelangen, in dem die Tragkraft der einzelnen melodischen Linie wieder das zeugende Element, der Zusammenklang aber das Erzeugte, die Folge ist.

Die Beschreitung dieses Weges zuerst mit nachdrücklicher Bestimmtheit versucht und uns dadurch von der Einseitigkeit des harmonischen bedingten Denkens und Empfindens befreit zu haben, ist das Verdienst Max Regers. Dieses geschichtliche Verdienst wird auch dadurch nicht geschmälert, daß Reger nur zu Teilresultaten gelangt und selbst in diesen selten über eine barocke Nachahmung seiner Muster hinausgelangt ist. Aber Reger war der erste, der in seiner Kunst wieder auf die Vergangenheit verwies, die für uns, sofern wir überhaupt an eine Vergangenheit anknüpfen wollen, die fruchtbringendste ist, der also über die klassisch romantischen Vorbilder hinaus an Bach anknüpfte. Gewiß, Bach ist zu allen Zeiten geschätzt und verehrt worden, Mozart und Beethoven haben ihm, soweit sie ihn kannten, gehuldigt, die Romantiker haben für ihn geschwärmt und ihn uns praktisch und theoretisch erschlossen – eine Erscheinung wie Bach bietet allen Kunstanschauungen unerschöpfliche Anregungen. Aber unsre Stellung zu Bach ist doch wieder eine ganz andere als die der früheren Generationen. Wir sehen in Bach nicht nur den großen [101] Meister kontrapunktischen Könnens, wir sehen in ihm nicht nur den gewaltigen Tondichter, wir sehen in ihm vorzugsweise den unerreichbaren melodischen Gestalter. Seine melodische Kunst war begründet in einer voraussetzungslosen Kraft des linearen Musikempfindens, für das spätere Zeiten trotz ihres Bach-Kultus keinen Blick gehabt haben. Ich möchte hier hinweisen auf ein Buch des Berner Privatdozenten Ernst Kurth über „Die Grundlagen des linearen Kontrapunkts“, in dem die hier angedeuteten Gedanken näher ausgeführt sind. Kurth hat den Satz geprägt „Melodie ist Bewegung“, d. h. sie ist die Kraft, die eine dauernde Bewegung trägt. Betrachtet man eine Bachsche Stimme durch ein ganzes Werk hindurch, so erstaunt man über die unerhörte Mannigfaltigkeit der Bewegung, über die in sich geschlossene Lebensindividualität, die sich hier in voller Freiheit offenbart. Beobachtet man dagegen die Einzelstimme eines klassischen oder romantischen Werkes, so sieht man sofort, selbst bei einem Streichquartett von Beethoven, daß hier nur ein relativ individuelles Leben spricht, das in seiner Gesamtentwicklung durch das Ganze bedingt ist und erst aus der Vorstellung des Ganzen heraus seine Impulse empfängt. Damit soll nicht etwa ein Wertvergleich ausgesprochen, wohl aber gesagt werden, daß eine solche, das einzelne dem Ganzen unterordnende und erst aus ihm heraus belebende Kunst unweigerlich zur Verarmung des rein melodischen Empfindungs- und Schöpfungsvermögens führen mußte. Wenn Reger sich mit fast ungestümer Vehemenz, wie sie seiner bajuvarischen Natur entsprach, wieder Bach zuwandte, wenn er unser an harmonische Periodizität und Symmetrie gewöhntes Ohr kränkte und wieder Einstellung des Ohres auf die melodische Bedeutung der Einzelstimme, auf die Ausdruckskunst des polyphonen Stils verlangte, so war er damit theoretisch durchaus im Recht und war vor allem ein guter Lehrmeister. Praktisch freilich konnte die Wirkung nicht in unserem Sinne ausfallen. Zunächst darum nicht, [102] weil Reger nicht zu künstlerisch einheitlicher Durchbildung seines Stils gelangte, sondern, ein Kind seiner Zeit, die verschiedenartigsten Stilelemente ineinander verwirrte, dabei bald durch wirklich groß und genial geschaute Einzelheiten innerlich packend, bald durch konventionelle Nachahmung und Unsicherheit des eigenen Willens lähmend, bald durch barock phantastische Willkür und Übertreibung abstoßend. Vor allem aber deswegen nicht, weil die unmittelbar äußerliche Anknüpfung an Bach, so lehrreich sie war, so mannigfache Anregungen sie brachte und so sehr sie zum Nachdenken und zur Selbstbesinnung aufforderte, doch nicht den ersehnten neuen Weg finden lassen konnte. So sehr wir uns bewußt sein müssen, daß wir am Ausgang der klassisch romantischen Zeit stehen und ihr Erbe aufgezehrt haben, so deutlich wir erkennen, daß wir an eine weiter zurückliegende Vergangenheit anzuknüpfen haben, um wieder zu einem eigenen Stil und eigenem Ausdrucksvermögen zu gelangen – so klar müssen wir uns bewußt sein, daß diese Anknüpfung nicht durch äußerliche Übernahme alter Ausdrucksarten in modernisiertem Aufputz erfolgen kann, sondern nur durch Erkennung und Neugestaltung der Stilelemente jener alten Kunst aus dem Geiste einer neuen Zeit. Reger aber war darin noch ganz der Nachkomme des romantischen Zeitalters, daß er glaubte, durch das Mittel äußerlicher Nachahmung die geistige Kraft der alten Kunst beschwören und sie neuen Zielen dienstbar machen zu können.

Immerhin ist durch eine Erscheinung wie Reger das kritische Bewußtsein außerordentlich geschärft und das musikalische Gewohnheitsrecht stark erschüttert worden. Wir sind zu einer lebendigeren Anschauung vom Wesen Bachs und der polyphonen Kunst vorgedrungen, einer Anschauung, die nicht auf irgendwelchen mehr oder weniger interessanten Auslegungen beruht, sondern auf eine wahrhaft intensive Erfassung des musikalischen Organismus hinzielt. Wir sind vor allem dazu gebracht worden, die Kraft der [103] melodischen Linie als solche zu respektieren, uns ihrem Ablauf frei hinzugeben und uns dabei von der durch die harmonische Vorstellungsweise bedingten Gewohnheit des periodischen, strophenmäßigen Melodie- oder Themabaues zu emanzipieren. Wir sind also auch wieder zu freieren Anschauungen vom Wesen der rhythmischen Gestaltung gelangt. Ich meine damit nicht nur die freiere rhythmische Diktion im einzelnen, die die Melodie nicht in ein bestimmtes rhythmisches Schema zwängt, sondern die umgekehrt den Rhythmus in den Dienst der melodischen Bewegung stellt. Wir nehmen heute keinen Anstoß mehr am häufigen Taktwechsel innerhalb eines melodischen Gedankens, weil wir wissen, daß gerade dieser Taktwechsel die melodische Bewegungskraft beschwingt, und weil uns eben die lineare Bedeutung der melodischen Bewegung allmählich wieder wichtiger wird als ihre rhythmische Geschlossenheit, durch die der melodische Impuls eingeengt wird. Wir sind auch in bezug auf die tonartliche Einheitlichkeit des melodischen Gedankens erheblich freidenkender geworden, als es früher der Fall war – denn wir sehen in der Forderung der tonartlichen Einheit gerade wie in der rhythmischen Geschlossenheit nur Folgen jenes harmonischen Musikempfindens, das aus dem Geist und Willen der Harmonie heraus den individuellen Charakter der melodischen Bewegung auch in bezug auf rhythmische und tonartliche Freiheit der Führung überall zu begrenzen suchte. Damit zusammen hängt die allmähliche Zurückdrängung des Periodenempfindens. Dieses ist die natürliche Folge eines harmonisch, also vorwiegend vertikal eingestellten Musikempfindens, das naturgemäß nach symmetrischem Aufbau und erkennbaren Gliederungen der Akkordmassen verlangt. Der Periodenbau ist also hervorgegangen aus dem natürlichen Bedürfnis, die Harmonie zu rhythmisieren, ihr architektonische Spannungen und Lösungen zu geben. Die Leidtragende ist hierbei wieder die Melodie. Sie als Gipfellinie der harmonischen Bewegungen muß [104] sich auf deren Bewegungsbedürfnisse einstellen, vielmehr: sie wird von vornherein so gestaltet, daß die harmonische Gliederung durch sie nicht beeinträchtigt wird. Wohin man sieht, findet man, daß die Entwicklung, wie sie durch die Kunst der musikalischen Klassiker und deren unmittelbare Vorgänger, also von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an vorbereitet und bis in die neueste Zeit hinein durchgeführt wurde, eine immer stärkere Einengung des melodischen Empfindens und Formungsvermögens zur Folge hatte, zugunsten eines sich ständig steigernden harmonischen Empfindens. Wir sind heute so weit gediehen, daß wir überhaupt nicht mehr wissen, was eine wahrhafte Melodie ist – nämlich Bewegungskraft des linearen Ausdrucks –, sondern daß wir die Melodie nur noch auffassen und bewerten auf Grund oder doch unter stillschweigender, unbewußter Inrechnungstellung der in ihr eingeschlossenen harmonischen Werte.

Es ist gewiß schon eine Errungenschaft, daß wir heute dahin gelangt sind, dieses Grundübel der neuzeitlichen Musikentwicklung, diese innerste Ursache unserer melodischen Verarmung zu erkennen. Es ist auch zweifellos eine Errungenschaft, daß wir in den anfangs erwähnten Bestrebungen zum Ausbau unseres Tonsystems, in den weiterhin angedeuteten Bemühungen zur Neubelebung des polyphonen Musikempfindens Symptome einer Reaktion verzeichnen können, die gegen das vorwiegend harmonische Musikempfinden und -gestalten gerichtet sind und auf eine Stärkung und Betonung des melodischen Elementes zielen. Aber darüber dürfen wir uns doch keiner Täuschung hingeben, daß dies zunächst nur Ansätze und Einzelerscheinungen sind, und daß vor allem von diesen Ausgangspunkten allein aus eine wirkliche Neugestaltung unseres musikalischen Ausdrucksvermögens nicht erfolgen kann. Ob melodische oder ob harmonische Gestaltung überwiegen – dies ist eine Frage, die mehr die kritisch ästhetische Betrachtung angeht als den schöpferischen Musiker. Das eigentliche [105] Problem der neuen Musik liegt darin, die Gesetze einer neuen Formung zu finden und aufzustellen, Gesetze also, die hervorgegangen sind aus der neuen, melodisch individualistischen Musikauffassung, und die beweisen, daß auch aus diesen heraus eine solche neue Formung erfolgen kann, ja daß diese neue Formung erst die Daseinsnotwendigkeit des ihr zugrunde liegenden Stilprinzipes erweist.

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Dieses also ist das Kernproblem der neuen Musik. Ich habe bis jetzt von der harmonischen Vorstellungs- und Empfindungsart in oppositionellem Tone gesprochen, und möchte mich nun gegen den Vorwurf verwahren, als ob ich in ihr etwas Minderwertiges erblicke. Das harmonische Musikempfinden ist vielmehr eines der großartigsten Stilprinzipe gewesen, das die Musikgeschichte kennt. Es steht dem ihm vorangehenden melodisch polyphonen um nichts an innerem Reichtum und künstlerischem Reiz nach. Wenn ich hier gegen es spreche, so geschieht dies nicht, weil ich es als an sich unzureichend ablehne – dies wäre eine Torheit, gegen die man die gesamte Musik von Gluck bis Strauß und Pfitzner als Gegenbeweis anführen könnte – sondern weil ich es als heute verbraucht ansehe, weil ich die Stilwende empfinde, an der wir heute stehen und an der wir uns klar werden müssen über die Richtung, in der wir nun zu marschieren haben, um an das uns vorschwebende neue Ziel zu gelangen.

Um dies aber recht zu können, darf man das Vergangene nicht mit verächtlicher Gebärde beiseite stoßen. Man muß die Kräfte recht erkennen lernen, auf die es sich stützte und die ihm die bisherige Herrschaft ermöglicht haben. Diese Kräfte des melodisch harmonischen Stils sind von einer kaum hoch genug zu wertenden Bedeutung gewesen, gerade im Hinblick auf das formbildende Vermögen dieses Stils. Sie haben zwar der Melodie die Initiative genommen, sie haben sie mehr und mehr zum Diener, zum Ornament [106] des Geschehens gemacht, aber sie haben ihr dafür eine Expansions- und Wandlungsfähigkeit, eine Breite und Tragkraft gegeben, wie sie eben nur der Stil eines außerordentlich fruchtbaren, in seinen genialsten Vertretern auf äußerster Höhe stehenden Zeitalters gewähren konnte. Ich weise hier nur auf das Gesetz der Formbildung durch thematische und motivische Arbeit hin – ein Gesetz, das an sich aus durchaus unmelodischer Denkweise entsprungen ist, denn es dient der Weiterführung der harmonischen Entwicklung und macht die thematische oder motivische eben nur zum Bindeglied, zum Mittler dieser harmonischen Weiterführung. Und doch, welch eine unabsehbare Reihe musikalischer Formorganismen hat sich aus diesem Urgesetz gestaltet. Welch eine gewaltige Schöpfung ist die Sonate, dieses Prototyp des harmonischen Musikempfindens – mag sie nun als Sinfonie, als Kammermusikschöpfung, als Solosonate erscheinen, mag sie sich im einzelnen als Sonatensatz, als mehr oder minder erweitertes Lied, als Variationengebilde oder als Rondo darstellen. Diese Sonate, die sich schon in der gegensätzlichen tonartlichen Gliederung als harmonisch bestimmter Organismus kennzeichnet, innerhalb dessen das Thema eigentlich nur noch die Rolle eines rein akzidentellen Mottos spielt, diese Sonate mit all ihren Spielarten bis zur sinfonischen Dichtung ist das Werk einer Zeit, vor deren gestaltender Kraft wir höchste Achtung hegen müssen. Wenn man nun die kaum zu erschöpfende Kunst der motivischen Durchbildung betrachtet, wie sie etwa Wagner in seinen Bühnenwerken zur Entfaltung gebracht hat, so muß man gestehen, daß es kein Leichtes ist, sich von diesen ebenso großartigen wie für die Nachahmung bequemen Mustern loszusagen und sich darüber klar zu werden, daß die Wege dieser großen Künstler- und Schöpfernaturen nicht mehr die unsrigen sind und nicht mehr sein dürfen.

Aber welches sind nun diese Wege? Kann man sie aus einem rein spekulativen Willen herausfinden, gehört nicht dazu in [107] erster Linie eben wieder die große schöpferische Individualität, die mit nachtwandlerischer Sicherheit das findet und trifft, was die nur verstandesmäßige Opposition niemals erreichen kann? Gewiß – nur dürfen wir nicht glauben, daß auch der ganz große Künstler rein aus blindem Instinkt heraus gleich das Ziel findet. Wenn man sich unsere Produktion genau ansieht, und zwar nicht nur die landläufige bekannte, sondern die vielfach noch gar nicht oder nur vorübergehend und von wenigen zu tönendem Leben erweckte, so findet man doch vieles, was, an sich gewiß noch nicht vollkommen, doch deutlich einen Willen und einen Weg zu neuen Formungsgesetzen spüren läßt. Ich nenne zunächst die Bestrebungen, die, unter bewußter Umgehung der harmonischen Vorstellungsweise, an die alten Vorbilder des polyphonen Stiles anknüpfen, ohne dabei der akademischen Nachahmung zu verfallen. Als ersten unter diesen Führern zu neuen Zielen nenne ich einen der größten Meister des melodisch-harmonischen Stiles: Beethoven. Nicht den Beethoven der Eroica und der 9. Sinfonie, sondern den Beethoven der großen B-Dur-Fuge aus op. 106, den Beethoven der großen B-Dur-Fuge aus der Missa solemnis und den Beethoven der großen B-Dur-Fuge für Streichquartett. Dies sind drei Stücke, die außerhalb des sonstigen Schaffens auch des späten Beethoven stehen und nicht nur des späten Beethoven sondern des ganzen Jahrhunderts, das ihm folgte, drei Stücke von einem ungeheuren Zukunftsahnungsvermögen, das uns aufs tiefste betroffen macht, drei Stücke, an deren Problematik die nächstfolgenden Generationen stumm und scheu vorübergegangen sind, denn hier war etwas, das allen Glättungsversuchen widerstand. Hier war etwas, was sie nicht begreifen konnten – ich meine: nicht begreifen dem Sinne der Konzeption nach. Es ist das Problem des neuen melodischen Stiles aus dem Geist der alten Polyphonie, das Beethoven hier vorahnend aufgreift, in drei unerhört gewaltigen Werken behandelt für Klavier, Chor und [108] Streichquartett und dann wieder beiseite schiebt. Ob er es weiter verfolgt hätte, wäre ihm ein längeres Leben vergönnt gewesen, vermögen wir nicht zu sagen, obschon manche Skizzen und Entwürfe dafür sprechen. Aber wir sehen, daß der einsame, taube Beethoven dieses Problem erkannt hatte und es da aufgriff, wo die Nachkommen ein Jahrhundert später wieder anknüpften. Im Laufe dieses Jahrhunderts ist manche Fuge, manches ehrliche, gesunde polyphone Stück geschrieben worden – aber doch keines, das den melodischen Geist und Atem des polyphonen Stiles in sich gehabt hätte. Man benutzte nur das Schema der polyphonen Musikformen und spannte es in den Rahmen des harmonischen Empfindens, innerhalb dessen es natürlich jegliche stilbildende Eigenkraft verlor und lediglich als willenlose Formel wirkte. Dies gilt für die polyphone Musik von Mendelssohn bis zu Richard Strauß – sie ist bar jeglichen Geistes der Polyphonie, denn dieser Geist der Polyphonie dokumentiert sich darin, daß das Melodische als primäre Elementarkraft, das Harmonische lediglich als Folge und Zusammenfassung empfunden wird. Nur einige Erscheinungen der jüngsten Zeit machen hiervon eine Ausnahme: ich nenne Busoni mit seiner Fantasia contrappuntistica und Reger mit einem Teil namentlich seiner großen Orgelwerke.

Ich möchte nun aber das Problem der neuen Musik nicht dahin deuten, daß es etwa dahin zielte, unter Außerachtlassung der klassisch romantischen Kunst den Anschluß an die Ausdrucksart der Meister der Polyphonie zu finden. Dies wäre im Grunde nur eine besondere Art der Neuromantik, und dahin zielten auch keineswegs Beethovens Bemühungen. Es gilt vielmehr einen neuen melodischen Stil zu finden, der an bildender Kraft dem der alten polyphonen Kunst gleich ist, ohne ihn nachzuahmen, der ihm also nur der Art, dem Prinzip nach verwandt ist und nun, innerlich angeregt durch den formalen Reichtum der polyphonen wie der harmonischen Kunst, eine neue Art formbildender Kraft aus sich [109] heraus gebiert. Das etwa ist die Aufgabe dessen, was ich neue Musik nenne. Gelöst ist diese Aufgabe noch nicht, aber wenn wir genau zusehen, finden wir mancherlei schöpferisch recht beachtenswerte Versuche, zu einer Lösung zu gelangen. Ich glaube, es ist unsere vornehmste Pflicht, daß wir, wenn wir über neue Musik sprechen, nicht wahllos nach persönlichem Gutdünken dieses gut und jenes schlecht nennen, sondern uns zunächst fragen, ob es etwas Gemeinsames gibt, das diesen an sich recht verschiedenartigen Bestrebungen zugrunde liegt, und was denn dieses Gemeinsame ist? Die erste Frage glaube ich beantwortet zu haben. Erst von der Grundlage dieser Antwort aus ist es möglich, die Erscheinungen im einzelnen zu werten. Es kommt dabei nicht so sehr darauf an, die Begabungsgrenzen dieses oder jenes Komponisten festzustellen, als zu erkennen, in welchem Verhältnis sein Schaffen zu der inneren, allen gemeinsamen Richtung der neuen Musik steht. Ich gebe nun eine kurze Übersicht der wichtigsten Erscheinungen unter den neuzeitlichen Komponisten, in denen die hier skizzierten Bestrebungen mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck kommen.

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Als anregende Kraft ist an erster Stelle Claude Debussy zu nennen, der vor etwa einem Jahre verstorbene französische Musiker und Führer der sogenannten jungfranzösischen Schule. Sein Hauptwerk „Pelleas und Melisande“ ist vielen bekannt, weniger bekannt sind seine gleichfalls recht bedeutsamen Instrumental- und Orchesterwerke, am wenigsten bekannt die geistige Richtung seines Schaffens. Sie war bedingt durch eine zum Teil stark nationalistische Reaktion gegen Wagner, eine Reaktion, der man aber doch unrecht tun und die man gar zu äußerlich nehmen würde, wollte man sie lediglich aus nationalistischen Gesichtspunkten erklären. Auch bei Debussy war innerste Triebfeder der Drang nach Befreiung von der hemmenden Umschnürung des rein harmonischen [110] Musikempfindens. Er griff darum zurück auf den französischen „Vater der Harmonie“, auf Rameau, um von ihm aus den Weg zu einer neuen freien Entfaltung des melodischen Stiles zu finden. Debussy hat durch seine Rückwendung zu Rameau erreicht, was er erreichen wollte. Er ist zunächst zu einer für die Begriffe seiner Zeit außerordentlich freien Behandlung der Harmonie gelangt, die in Wirklichkeit nichts anderes war als eine Auflösung der bisherigen harmonischen Grundgesetze, ihre Unterstellung unter die Gesetze des melodischen Werdens. Es ist ihm dank seinem französischen Formensinn auch gelungen, solche Gesetze des melodischen Werdens in seinen Werken aufzustellen, Formungen zu finden, die auf der Suprematie der Melodik beruhen. Freilich ist die von Debussy gefundene Lösung noch im höchsten Maße subjektiv bedingt, sie setzt vor allem eine bewußte enge Anlehnung an die Literatur voraus und steht außerdem unter dem Zwange des impressionistischen, sich auf den Reiz des augenblicklichen, flüchtigen Stimmungseindrucks beschränkenden Kunstschaffens. Sie berührt sich darin mit der Kunst des genialen Russen Mussorgsky, der, gleichfalls unter Umgehung zeitgenössischer Schaffensart, aus dem großen Schatz der russischen Volks- und Kirchenmusik neue Quellen des melodischen Ausdrucks ebenfalls – in impressionistischer Manier – erschloß.

Debussy und dem ihm angeschlossenen Kreise ist auch der ältere César Franck sowie der ausgezeichnete, allerdings mehr didaktisch als schöpferisch gerichtete Kenner der alten Musik Vincent d’Indy zuzurechnen. Ihnen nahe steht der Deutsch-Engländer Frederick Delius. Auch er ein Freilichtkünstler, weniger innerlich als äußerlich an die Jungfranzosen gebunden, eine sehr fein profilierte Lyrikererscheinung, in der sich angelsächsische, deutsche und französische Elemente in merkwürdiger Mischung durchdringen. Eine ähnliche Mischnatur, obwohl aus ganz anderen Bestandteilen zusammengesetzt, ist Ferruccio Busoni, seinem [111] Denken nach Deutscher, dem Empfinden nach durchaus Romane, ein Künstler, der für Gebilde von virtuoser Phantastik sich stets eine Begründung im Begrifflichen zu schaffen sucht und dessen unruhiges, aus tiefsehnendem Ernst und weltmännischer Ironie gemischtes Naturell in der Tat etwas von einem italienisierten Faust hat. Busonis Anregungen sind höchst mannigfaltiger Art, sie gehen von Spekulationen über die technischen Einzelheiten unseres Musiksystems bis zu den Grundideen der künstlerischen Konzeption überhaupt, sie umfassen ausübende wie schaffende Kunst. Busoni ist, wie jeder echte und große Virtuose, ein Fackelträger, vielleicht auch ein Wegebahner. Wieweit er auch Pfadfinder ist – das müssen wir noch abwarten. Einstweilen ist sein Wollen kühner als sein Tun, und das Internationale an Busoni, das ihn ähnlich wie Liszt zum berufenen Mittler der Kulturen macht, scheint ihn an einer festen Verwurzelung seines Wesens zu behindern.

Ich habe zunächst Künstler romanischen Geblütes oder doch mit starkem romanischen Einschlag genannt, weil hier das Hauptproblem der modernen Musik: die Formgestaltung in der natürlichen, national bedingten Anlage zum Formalen eine starke Stütze findet und scheinbar am schnellsten schon zum Ziele geführt hat. Zu verhehlen ist aber nicht, daß diese leicht gefundene Lösung noch keine Lösung in umfassendem Sinne ist. Debussy und seine Nebenmänner, Delius, Busoni – sie sind gewiß Erscheinungen von hohem künstlerischen Ernst. Was sie uns aber geben, ist noch keine grundsätzliche Lösung der Frage, ob und wieweit die neue Musik eigene Formungen zu finden vermag – es sind günstigstenfalls persönliche Kompromisse. Nun weiß ich wohl, daß in Kunstdingen schließlich jede Lösung individuell bedingt ist und daß man nicht etwa denken darf, es gälte ein alleinseligmachendes Schema zu finden, mit Hilfe dessen nun jeder sozusagen auf neue Manier komponieren kann. Aber es gibt doch Dinge, die über [112] die rein individuelle Erledigung hinausreichen. Ich nannte vorhin die Sonate. Sie ist kein Schema, sie ist ein Kunstbegriff, an dessen Feststellung Generationen gearbeitet, ein Formproblem, für das Unzählige immer neue Lösungen gefunden haben und das doch in seiner Grundidee jenseits aller Problematik steht als Erzeugnis einer ganz bestimmten Kunstanschauung. Ähnliches gilt von der Fuge als Repräsentantin des melodisch polyphonen Stils. Die Frage bleibt: Ist es der neuen Musik möglich, eine solche, alle individuellen Verschiedenheiten überbrückende formale Grundidee als Ausdruck ihres Willens zu prägen? Wenn ich vorhin sagte, die bisher vorliegenden Werke der romanischen Künstler geben keine klare Antwort, sondern bedeuten nur individuelle Kompromisse, so wollte ich damit andeuten, daß eben das Hauptproblem der neuen Musik, ungeachtet genialer Einzelleistungen, bisher nur gestreift und individuell beleuchtet, aber nicht geklärt ist. Wie steht es nun mit den deutschen Musikern?

Es liegt auch hier bereits eine beträchtliche Anzahl von Einzelversuchen vor. Ich möchte sie, der Übersichtlichkeit halber, flüchtig gruppieren nach Gattungen: Oper, Lyrik, Kammermusik und Instrumentalmusik großen Stiles. In der Oper fesselt zunächst eine Erscheinung wie Franz Schreker. Er ist zweifellos die stärkste musikdramatische Begabung, die wir seit Wagner kennen. Man darf hinzusetzen: auch die einzige wirklich musikdramatische Begabung seit Wagner. Schreker ist kein Nachahmer, die dramatische Uridee in ihm ist ganz anders verwurzelt als bei Wagner und hat sich dementsprechend eine wesentlich anders gerichtete Technik erzeugt. Auch Schreker bedient sich noch der motivischen Technik, doch in einer von Wagner grundverschiedenen Bedeutung. Bei ihm sind romanische Einflüsse stark spürbar, die Melodie gewinnt wieder den Eigenwert der musikalischen Erscheinung, das Motiv ist nicht Mittel der psychologischen Charakteristik und Verdeutlichung, sondern es sinkt in das Unterbewußtsein. Es ist daher, [113] technisch genommen, auch nicht das Mittel zur Fortspinnung des melodischen Fadens, sondern die Melodie empfängt ihre Impulse aus dem Ablauf des dramatischen Geschehens und das Motiv bleibt, soweit es nicht in absichtlicher Breite als Reminiszenz auftritt, das äußerlich fast unbemerkbare Band inneren Geschehens. Mir scheint, daß sich hier eine neue Art musikdramatischen Gestaltens ankündigt, eine Art, die, wie Debussy an Rameau anknüpft, so hier auf Gluck und Händel, auf den Stil der melodisch homophonen Dramatik zurückweist – freilich nicht in äußerlicher Anlehnung, sondern nur der Art der inneren Anschauung nach und aus dem Geist eines namentlich koloristisch ganz anders gearteten Empfindens heraus. Die kommenden Werke Schrekers werden lehren, ob es ihm gelingt, den Weg zur melodischen Gestaltung des dramatischen Ausdrucks weiterzuschreiten.

In der Lyrik möchte ich hier nachdrücklich auf die Gesänge und die mit diesen in engem Zusammenhang stehende „Geschwister“komposition Ludwig Rottenbergs hinweisen. Ich betone – es kommt hier nicht auf die Wertung, sondern auf die Erkenntnis des Inneren Wesens der Werke an. Gerade in dieser Beziehung aber wüßte ich nichts, was dem modernen Drange nach Expansion der Melodik, nach Beseitigung des konventionellen, harmonisch bedingten Periodencharakters der Liedmelodie, nach melodischer Durchseelung der frei fließenden Tonsprache so starken, unmittelbaren Ausdruck gäbe, wie die Lyrik Rottenbergs. Man hat diesen Liedern nachgesagt, sie seien zu rezitativisch gehalten. Dieses Urteil ist bezeichnend für die Äußerlichkeit in der Art der Entgegennahme. Was sich von vier zu vier Takten in geschlossenen harmonischen Perioden rundet, das ist nach dieser Auffassung eine Melodie, was darüber hinausgeht, dem Hörer nicht die Eselsbrücken der zünftigen Kadenz bietet, ist Rezitativ. Melodie aber ist innerer Bewegungsimpuls, daher nicht an Takt und Tonart gebunden, sie erweist ihre Kraft gerade, [114] indem sie diese Grenzen überspringt, sie ist ein Erschautes, ein Spiegelbild geistigen Geschehens. Ob Menschen, die anders denken und empfinden, wirklich imstande sind, eine Schubertsche Melodie richtig zu hören – ob es bei ihnen nicht auch da die äußerlichen rhythmisch harmonischen Gliederungen sind, die sie als Offenbarung Schubertscher Melodienkraft bewundern? Wir haben uns heute frei gemacht von der strophisch bedingten Anschauung des Gedichtes, wie Schubert sie hatte, von der stimmungsmäßigen, wie sie der Romantik, namentlich Schumann eigen war, von der psychologisch charakterisierenden, wie sie die neudeutsche Schule und namentlich Hugo Wolf pflegte. Wir sehen heute im Lied nicht so sehr die Worte und deren Inhalt, wir sehen das geistige Geschehen, das der Dichtung als solcher zugrunde liegt. Und dieses geistige Geschehen in ein musikalisches umzusetzen, das Unterbewußte des dichterischen Vorgangs, das den Worten und Stimmungen, überhaupt dem irgendwie äußerlich Faßbaren des Gedichtes oft ganz fern liegt – dieses in eine melodische Bewegung zu fassen – das ist das Wesen und Ziel des modernen Liedes, und für dieses erscheint mir die Lyrik Rottenbergs als besonders reines und innerlich selbständiges Beispiel.

Die neue Kammermusik wird am bezeichnendsten wohl durch Arnold Schönberg repräsentiert. Schönberg ist eine Erscheinung, deren schöpferische Bedeutung auch von einem großen Teil derer anerkannt wird, die seinem Schaffen, namentlich den späteren Werken, ablehnend gegenüberstehen. Die Ablehnung gründet sich hauptsächlich auf den äußerlich abstoßenden Eindruck von Schönbergs klangsinnlicher Tonsprache. Sie ist äußerst herb und spröde, dem Ohr, das gewohnt ist, überredet zu werden, unangenehm, wenn nicht gar widerwärtig. Es ist eine Sprache von Tonideen, gehirnmäßig erfaßt, nicht aus der Vorstellung der Klangwirkung sondern aus der der Klangbedeutung heraus konzipiert. Es mag nun dahingestellt bleiben, ob und inwieweit das [115] Ohr, dessen Anpassungsfähigkeit ja, wie die Geschichte an unzähligen Beispielen erweist, unbegrenzt ist – ob und wieweit das Ohr auch diesen seltsamen Klangerscheinungen gegenüber durch Gewöhnung zur Aufnahmewilligkeit zu erziehen wäre. Ich würde in dem Hinweis auf solche allmähliche Gewöhnung allein noch kein überzeugendes Argument für die Berechtigung von Schönbergs Tonsprache sehen, denn mit solcher Begründung wäre die sinnloseste Kakophonie zu rechtfertigen. Hier aber handelt es sich um die Frage nach dem Sinn und der geistigen Kraft solcher Musik, nach ihrer schöpferischen Notwendigkeit – und da gestehe ich, daß diese mir um so überzeugender erscheint, je genauer ich mich mit Schönberg beschäftige. Ich denke vor allem an zwei für die hier zu betrachtende Kunstart besonders charakteristische Werke: das Fis-Moll-Streichquartett mit Gesang und die Kammersinfonie für 15 Instrumente. Ich gestehe, daß ich, namentlich in der Kammersinfonie, den ersten großangelegten Versuch der Neuzeit erblicke, an den Beethoven der B-Dur-Fugen anzuknüpfen, nicht in äußerlicher Nachahmung, sondern in geistiger Weiterverfolgung des dort angebahnten Weges. Ich finde in diesem Werk eine Kraft und einen Fluß des melodischen Willens, ich finde in ihm vor allem eine Fähigkeit der Organisierung dieses melodischen Willens, frei aus sich heraus, unbehindert durch konventionelle Hemmungen irgendwelcher Art, daß ich sagen möchte: von allen schöpferischen Kräften der musikalischen Gegenwart scheint mir Schönberg die geistig stärkste, innerlich selbständigste, weitest blickende, ahnungsreichste zu sein. Das Fehlen der klangsinnlichen Ausdruckskraft, das ihn auch auf das abstrakteste Schaffensgebiet: die instrumentale Kammermusik verweist, ergibt sich aus der rein ideellen Richtung seines Musikempfindens. Und wenn dies ein Mangel sein sollte – ich behaupte das nicht, obschon ich nicht sagen will, daß es ein Vorzug sei – so wird dieser Mangel reich aufgewogen durch ein außerordentliches formorganisatorisches [116] Vermögen, durch das Schönberg, wie bisher kein anderer, die formbildende Kraft des neuen melodischen Musikempfindens erwiesen und damit das Grundproblem der heutigen Musik als der Lösung fähig gezeigt hat.

Mit diesem Grundproblem hat auch der sein Leben hindurch gerungen, dessen Schaffen das größte Vermächtnis an die neue Zeit auf sinfonischem Gebiet bedeutet: Gustav Mahler. Gewiß, auch Max Reger mit seinen Chor- und Orchesterwerken, vor allem dem 100. Psalm und den Hiller-Variationen ist hier zu nennen. Aber Reger bietet stets das gleiche Bild: genial intuitives Erfassen des Problemes, Fallenlassen und Zurückweichen in barock modernisierte Nachahmungen älterer Muster nach dem ersten Anlauf. Bei Mahler, der uns nur Sinfonien und Lieder hinterlassen hat, ist dies anders. Von der ersten, äußerlich noch vielfach der Überlieferung folgenden und doch innerlich bereits ganz freien, selbständigen Sinfonie bis zum Lied von der Erde und der 9. Sinfonie zeigt sich ein unausgesetztes leidenschaftliches, bis zu unersättlicher Heftigkeit sich steigerndes Ringen um das Problem der neuen großen sinfonischen Form, der Form, für die das Thema nicht Baustein ist, die den Begriff des Themas im alten Sinn überhaupt aufhebt und das sinfonische Gebilde eigentlich als großartige Entfaltung eines einzigen melodischen Urgedankens auffaßt. Charakteristisch ist, daß, wenn man sich verschiedene Analysen einer Mahlerschen Sinfonie vornimmt, man bemerkt, daß die einzelnen Verfasser meist verschiedenartige Themen als Grundgedanken der Sätze angeben. Mahlers sinfonischer Bau spottet der herkömmlichen Zergliederungs- und Betrachtungsart, er läßt sich nicht in das landläufige Sonatenschema einspannen, die Gesetze seines inneren Werdens sind anderer Art, als man sie auf den Konservatorien zu lehren pflegt. Bezeichnend ist auch für Mahler, daß in verschiedenen Werken das thematische Urgebilde ein ganz einfaches Tonsymbol ist – so in der 1. Sinfonie ein aus [117] nur zwei Tönen bestehendes Quartenmotiv, in der 6. der Akkordwechsel A-Dur, A-Moll, in dem Lied von der Erde die Tonfolge g-a-c. Dies sind nur einzelne Beispiele, die nicht etwa als durchgehendes Prinzip gedeutet werden dürfen. Mahler hat die Lösung des sinfonischen Formproblems von den verschiedensten Gesichtspunkten aus unternommen, ohne daß man deswegen seine Sinfonien etwa als Versuche ansehen dürfte, aus irgendwelchen Vorsätzen heraus Formprobleme aufzurollen. Sie sind Emanationen einer außerordentlichen geistigen Kraft, nicht aus begrifflich faßbaren Absichten heraus geschaffen, wohl aber für uns, die wir dem Wesen der neuen Musik uns begrifflich zu nähern versuchen, wertvolle und aufschlußreiche Kundgebungen eines Willens, der nicht nur durch die einzelne Persönlichkeit, sondern durch die Zelt geht.

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Ich wiederhole: Ich habe nur einige Namen als Beispiele genannt, ich wollte keine vollzählige Aufstellung geben, sondern das Typische der neuen Musik hervorheben und durch einige besonders charakteristische Beispiele belegen. Wir sind in der Musik gegenwärtig keineswegs so arm an schöpferischen Kräften, wie es unseren Konzertprogrammen nach den Anschein hat. Freilich sind diese Kräfte einstweilen noch meist im Werden begriffen, und man könnte vielleicht fragen, ob es nicht eine Übertreibung, ein zu weitgehendes Entgegenkommen bedeutet, wenn man für sie heute schon eine Beachtung verlangt, die durch unzweifelhaft allgemeine Anerkennung ihres Willens und ihres Vollbringens nicht gestützt wird. Ist es nicht überhaupt falsch, so ernstlich nach diesem Wollen zu fragen und zu forschen? Genügt es nicht, wenn wir uns an die Ergebnisse halten? Hat nicht Beethoven gesagt: Das Neue und Originelle gebiert sich von selbst, ohne daß man danach suchet? Nun gewiß, diese neue Musik wird sich Beachtung und Geltung erzwingen, auch wenn wir ihr nicht dabei helfen. Tun [118] wir es, so geschieht das nicht in ihrem sondern in unserem eigenen Interesse. Es ist törichte Überheblichkeit, wenn wir meinen, mit unserer Teilnahme warten zu können, bis unanfechtbare Resultate vorliegen. Die Probleme der neuen Kunst gehen uns alle ins Innerste an, es sind Probleme unseres heutigen Menschentums überhaupt. Nur in dem Maße, wie wir uns alle an ihrer Lösung beteiligen, zu ihnen innerlich Stellung nehmen, können wir das Heraufblühen einer neuen Kunst erwarten.