Neujahrsgruß

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Textdaten
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Autor: Otto Ernst
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Titel: Neujahrsgruß
Untertitel:
aus: Siebzig Gedichte
S. 48–50
Herausgeber:
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1907
Verlag: L. Staackmann
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Google-USA* und Commons
Kurzbeschreibung:
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Neujahrsgruß.


Ans Tor des Türmers hab ich heut’
Gepocht mit lautem Rufen:
„Komm, führe mich vor Mitternacht
Zum Turm hinauf die Stufen!

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Denn ein Gelüsten treibt mich heut’,

Mit mächtig hallendem Geläut
Die Welt zu meinen Füßen
Zu grüßen.“

Und an des Alten Seite stumm

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Bin ich emporgestiegen.

Tief lag die Erde schneeverhüllt,
Geruhig und verschwiegen.
Die weite Stadt – ein Lichtermeer!
Das blinkte hold von unten her

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Wie gold’nes Sterngewimmel

Vom Himmel.

Und oben hab’ ich tiefen Zugs
Den Hauch der Nacht getrunken;
Berauscht von tausend Bildern, ist

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Mein Geist in sich versunken –:

Jed’ Licht dort unten schien ihm da
Ein Auge, das ins Ferne sah,
An Tagen, die vergangen,
Zu hangen.

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Und jeder Blick erspähte bald

Aus grauem Nebeldampfe

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Ein eignes und besondres Bild

Vom ewigen Erdenkampfe.
Wie manche leise Träne rann,

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Wie manches feste Herz begann

In still erneuten Fluten
Zu bluten! …

Hob sich aus fernem Dunkel nicht
Hier – dort – ein Totenhügel?

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Flog nicht ein freundlich Antlitz her

Auf traumbewegtem Flügel?
O ja, in stiller Neujahrsnacht
Der Toten wird zuerst gedacht,
Der Lieben, die im Hafen

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Nun schlafen.


Doch mehr als Tod ist Lebensnot –
Horch, horch – in mancher Kammer
Gellt jäh durch die Erinnerung
Ein lauter, wilder Jammer!

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Ein nie verglomm’nes Weh entfacht

So manchem diese stille Nacht,
Dem alles, was er träumte,
Zerschäumte.

Und ewig Kampf und ewig Streit

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Mit Leiden und Gefahren,

Mit Elend, Krankheit, Lug und Trug
Seit tausend, tausend Jahren!
Und war’s ein Jahr des Glücks vielleicht,
So hat’s uns doch das Haar gebleicht,

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So ist es doch verronnen –

Zerronnen –

Wir kämpfen mit der Nagerin,
Der Zeit, der nimmermüden –
Still! War mir’s doch, als ob zur Lust

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Von fern Gesänge lüden –

Fürwahr: ein leises Kling und Klang …
Zum Mund mit Jubel und Gesang
Den Trank voll Glut und Leben
Sie heben! …

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Ja! Eine Freudensonne glüht

Inmitten wilden Krieges:
In allen edlen Herzen ist’s
Die Zuversicht des Sieges!
Doch wo das Schwert, das ihn erwirbt,

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Das jeden Höllengeist verdirbt?

Wo glänzt die blanke Wehre,
Die hehre?

Nun Mitternacht! – Da ließ ich weit
Die Glocke donnernd schwingen,

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Und meine Seele schrie hinein

Mit Beben und mit Klingen:
Sie soll uns Schwert des Lichtes sein,
Die reine Siegerin allein
In Nacht- und Sturmgetriebe:

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Die Liebe.