Pigmentfäule und blutende Hostien

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Autor: Carus Sterne
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Titel: Pigmentfäule und blutende Hostien
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aus: Die Gartenlaube, Heft 14, S. 227–230
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Pigmentfäule und blutende Hostien.


Auf dem Schlachtfelde von Sedan liegt ein kleines Dorf, Vrigne-aux-Bois, welches sich am 2. September 1870 mit Verwundeten überfüllte, und in welchem mancher Kriegsheld den Folgen des Blutverlustes erlegen sein mag. Doch nicht jenes teure Blut, sondern ein anderes, welches ebendort geflossen ist, soll uns heute beschäftigen, das sogenannte Wunderblut. Dort nämlich hat sich, soweit uns bekannt, zum letzten Male in unserer aufgeklärten Zeit, das Wunder ereignet, daß geweihete Hostien zum Beweise der wirklich vor sich gegangenen Transsubstantiation (Verwandlung des Brodes und Weines beim [228] Abendmahl in den Leib und das Blut Christi) Blut geschwitzt haben. Das Wunder geschah am 15. Mai 1859 – die Jahreszahl ist kein Druckfehler! – und wenn nicht gerade damals Kirche und Regierung im Streite lagen, hätte sich aus der Sache vielleicht mehr Capital schlagen lassen, und eine großartige Wallfahrt-Organisation, wie sie Jahrhunderte hindurch wegen eines entsprechenden Vorganges nach Heiligenblut in Oesterreich oder nach Wilsnack in der Altmark stattgefunden hat. Vielleicht hatte der Erzbischof von Reims Kenntniß von den mannigfachen wissenschaftlichen Untersuchungen, die bereits damals über das Hostienblut angestellt worden waren; er erklärte zwar das Wunder nicht für nichtig und verbot auch die Wallfahrt nicht, ordnete aber doch an, daß die Geistlichen die mit rothen Flecken (insgesammt von der Größe eines Sechspfennigstückes) gezierte Oblate nicht öffentlich ausstellen sollten, aber dieselbe im Geheimen anbeten könnten, soviel sie wollten. Ob man das Versäumte nicht noch nachholen wird, steht dahin; haben doch viel leichter erklärliche Vorgänge während der letzten Jahre großartige Wallfahrten in Frankreich hervorgerufen.

Wir haben nur diesen neueren Fall erwähnen wollen, zum Beweise, daß der Glaube an Blutwunder im Volke noch nicht ausgestorben ist; auf die unzähligen ähnlichen Vorkommnisse dieser Art in der Kirchen- und Profan-Geschichte näher einzugehen, ist nicht unsere Absicht. Seit sich im Jahre 332 v. Chr. bei der Belagerung von Tyrus durch Alexander den Großen der älteste aufgezeichnete Fall von blutendem Brod gezeigt, hat sich dieses Bedecken verschiedener Nahrungsmittel mit rothen, blutartigen Flecken unendlich oft, und besonders häufig in unserem Jahrhundert, wiederholt und selten verfehlt, ein mit Grausen gemischtes Aufsehen zu erregen, besonders wenn es sich in Zeiten herrschender Seuchen zeigte. Am größten war freilich aus naheliegenden Gründen jedesmal der Schrecken, wenn es sich auf Hostien zeigte, namentlich auf solchen, die zu abergläubischen Zwecken von der Abendmahlsfeier zurückbehalten worden waren, sei es, um dieselben auf dem Acker, im Stall oder unter Geschäftsräumen zu vergraben, zum Gedeihen der Saat, des Viehstandes oder Gewerbes, sei es zu anderen ebenso blödsinnigen Zwecken. Als Beispiel sei nur kurz an die unter einem Braukessel gefundene blutende Hostie von Zehdenick erinnert.

Am verhängnißvollsten wurde der an diese Wunderzeichen sich knüpfende Aberglaube für die Juden, diese Sündenböcke des Mittelalters, welche man gern für alles Ungemach, welches die Christenheit traf, verantwortlich machte. Herrschte die Pest verheerend im Lande, so hatten die Juden die Brunnen vergiftet; gab es Hungersnoth, so hatten sie alles Getreide an sich gekauft; war ein Kind verschwunden, so hatte sich die Judengemeinde seiner bemächtigt, um es beim künftigen Passahfest zu schlachten; fand man irgendwo blutige Hostien, so waren sie von Juden gebrannt, gestochen oder gepeinigt worden, bis Blut gekommen, nachher aber von selbst wieder in die Monstranz zurückgeflüchtet. Eine große Judenhetze, bei welcher vielleicht viele Tausende dieser Unschuldigen umkamen, war die unausbleibliche Folge jeder derartigen Beschuldigung. Um von den vielen Beispielen, die wir hierzu geben könnten, nur eines anzuführen, bei welchem man sich auf wenige Opfer beschränkte, sei folgende Stelle einer 1593 in Wittenberg gedruckten Chronik der Mark Brandenburg angeführt: „Am 10. Juli 1510 wurden zu Berlin achtunddreißig Juden verbrannt, und zween getaufte Juden mit dem Schwerte hingerichtet, darumb daß sie etliche consecrirte Hostien mit Messern und Pfriemen durchstochen, und wollen sehen, ob denn der Christengott Blut hätte, wie denn das Blut haufenweis soll daraus geflossen sein etc.“

Man verdankt solchen Anlässen außer zahlreichen Kirchenbauten zwei berühmte Gemälde, welche zugleich die beiden nachdenklichsten Seiten des Wunders zur Anschauung bringen. Das eine, Raphael’s Messe von Bolsena im Vatican, stellt einen jungen Geistlichen dar, der im Jahre 1264, im Begriffe, zweifelnden Herzens das Hochamt zu feiern, die Hostie bereits in der Monstranz theilweise in Blut verwandelt findet. Das andere ist das in den letzten Zeiten so viel genannte Bild Kaulbach’s, von welchem die Gartenlaube im vergangenen Jahre eine Abbildung gebracht hat, den Ketzerrichter Peter Arbuez darstellend, welches, wie in Nr. 11 jenes Jahrganges berichtet wurde, gerade solche wegen des Hostien-Wunders verurtheilte Unschuldige darstellt.

Wie man leicht denken kann, haben unparteiische Zuschauer in den Blutwundern vielfach einen frommen Betrug gewittert, um das mit Spott und Ernst bekämpfte Dogma Innocenz des Dritten (1198–1215) von der Verwandlung des Weizengebäcks in den wirklichen Leib Christi zu stärken; man hat darauf hingewiesen, daß es ja nur eines Nadelstichs in den Finger bedurft habe, um das zu dem Wunder erforderliche Blut zu liefern. Der evangelische Pastor Hellefeld zu Wilsnack, welcher am 28. Mai 1555 die drei blutigen Hostien jener berühmten Wallfahrtskirche verbrannte und deshalb vom Kurfürst Joachim dem Zweiten des Landes verwiesen wurde, handelte in dieser Ueberzeugung. Allein, wenn wir uns auch nicht der Ansicht des Abbé Jules Morel in seinem Buche über die blutende Hostie von Vrigne-aux-Bois, daß keinem Priester ein derartiger Kirchenfrevel zuzutrauen sei, anschließen können, so müssen wir doch hervorheben, daß sich dasselbe Wunder vor den Augen zahlreicher Naturforscher wiederholt hat, wenn nicht auf Hostien, so doch auf weizenem Gebäck und auf Nahrungsmitteln verschiedener Art. Man konnte sogar in der Beschreibung jener Hostien mit „frei daran schwebenden Tröpfchen“ den Beweis finden, daß es sich hier nicht um wirkliches Blut, welches sogleich eingesogen werden würde, sondern um jene blutrothe Kügelchen bildende Gallertmasse, von welcher wir nun sprechen wollen, gehandelt haben müsse. Untersuchungen der letzten Jahre, namentlich diejenigen von O. Erdmann in Berlin (1866) und die erst im vergangenen Jahre veröffentlichten von J. Schröter in Breslau (1868–70), haben gezeigt, daß wir es hier mit einem hochinteressanten, durch die kleinsten aller bekannten Lebensformen erzeugten Fäulnißproceß, dessen Producte unter Umständen die täuschendste Aehnlichkeit mit halbgeronnenem Blute zeigen, zu thun haben.

Der erste Fall, bei welchem das Wunderblut in die Hände eines Naturverständigen gelangte, war zugleich durch eine so außergewöhnliche Entwickelung des Phänomens ausgezeichnet, daß wir etwas ausführlicher dabei verweilen wollen. Am 2. August 1819 erschienen im Hause des Bauer Pittarello zu Laguaro bei Padua auf einer Schüssel Polenta (Maisbrei), die in einem Tischkasten aufgehoben worden war, blutrothe Flecken. Er warf dieselbe weg, aber seitdem kehrte auf allen gekochten Speisen, die in dem Hause aufbewahrt wurden, dieselbe Erscheinung wieder, anfänglich jedesmal in Gestalt winziger rother Tröpfchen, die sich dann zusehends vergrößerten und endlich zu einer reichlichen blutrothen Gallert zusammenflossen. Man holte den Ortspfarrer, um den Spuk mit geweihtem Wasser zu bannen, aber die Beschwörung des Geistlichen schien dem Dinge zum Segen zu gereichen, denn bald zeigten sich die unheimlichen Wunderzeichen in mehr als hundert Häusern der Ortschaft, ja sie traten auch in den Nachbarorten auf. Es entstand eine lebhafte, durch das Gebahren der Geistlichkeit genährte Erregung des Volks, die für den armen Pittarello vielleicht einen schlimmen Ausgang genommen hätte, wenn sich die Regierung nicht sogleich in’s Mittel gelegt, denn schon bezeichnete man denselben als einen vom Himmel Gebrandmarkten, der im Theuerungsjahre 1817 sein Getreide zurückgehalten habe etc. Die Regierung beauftragte eine wissenschaftliche Commission mit der Untersuchung des Thatbestandes, welche sich bald überzeugte, daß es sich hier um eine, wie man glaubte, pilzartige Erscheinung handle, die sich durch directe Uebertragung des Blutstoffes oder durch bloße Annäherung auf allen möglichen gekochten Fleisch-, Eier- und Mehlspeisen hervorrufen ließ. Der Medico-Chirurg Sette, welcher die kleine Bosheit nicht lassen konnte, auch die Speisekammer des beschwörungslustigen Pfarrers mit der Strafe des Himmels zu inficiren, glaubte einen rothen Pilz, den er entsprechend taufte, als den Urheber des Schreckens bezeichnen zu können, allein es ist wahrscheinlich, daß er in seinem Mikroskope nur die von der Flüssigkeit gefärbten Fäden eines gewöhnlichen Schimmelpilzes vor sich gehabt hat. Schon damals erkannte man das starke Färbevermögen des Wunderblutes, und der Chemiker der Commission fand, daß man Seide mit demselben prächtig und dauerhaft roth färben könnte. Weniger erfolgreich war die Untersuchung eines mit ähnlicher Lebhaftigkeit erfolgenden Auftretens des Blutwunders in der Gerhardsmühle zu Enkirch an der Mosel (August 1822), welche ebenfalls regierungsseitig verfügt worden war, da die Bewohner des behexten Hauses vor Schrecken die Flucht ergriffen hatten. Es mag hier beiläufig daran erinnert [229] werden, daß eine derartige, bei manchen Speisen leichter eintretende, scheinbare Verwandlung in Blut vielleicht die Veranlassung des bei den Pythagoräern und anderen philosophischen oder religiösen Secten des Alterthums bestehenden seltsamen Verbots, keine Bohnen zu essen, weil sie lebendig seien, gegeben hat. Wenigstens führt Lucian, der im zweiten Jahrhundert lebte, als Ursache des Verbotes die Beobachtung an, daß sich Bohnenbrei, eine gewisse Anzahl von Nächten hindurch dem Mondschein ausgesetzt, in Blut verwandle.

Erst im Jahre 1848, als sich dieselbe Erscheinung während der Cholerazeit in Berlin zeigte und Proben davon in die Hände Ehrenberg’s gelangten, wurde ein bedeutender Schritt zur Aufklärung der Sache vorwärts gethan. Der größte Kenner des kleinsten Lebens entdeckte bei achthundert- bis tausendfacher Vergrößerung kleine, rundliche, sich durch Selbsttheilung vermehrende Wesen von ein Dreitausendstel bis ein Achttausendstel Linie Durchmesser in der mit Wasser verdünnten Blutflüssigkeit, die er für Thiere ansah und unter dem Namen Wunderzeichen-Monade (Monas prodigiosa) in die Wissenschaft einführte. Noch ergiebiger war eine Untersuchung, welche Dr. O. Erdmann in Berlin im Vereine mit dem Lehrer Müller im August 1866 begann, als ihnen ein roth gewordener Kalbsbraten gleichsam den Samen lieferte, um das Blutwunder im größten Umfange weiter zu züchten. Sie konnten dasselbe leicht durch Impfung auf feuchtes Gebäck, Kartoffelschnitte, Hühnereiweiß, Fleisch etc. übertragen, wobei sich nach zwanzig bis vierundzwanzig Stunden die Röthung von der Impfstelle im Kreise weiter verbreitete, einen Gipfelpunkt üppigster Entwickelung nach einigen Tagen erreichte und dann unter starker Schimmelbildung und rapider Fäulniß, wobei sich ein ananasartiger Geruch verbreitete, verschwand. Sie rechneten die kleinen Wesen, welche die Erscheinung stets begleiteten, zu den Vibrionen und sahen die Entwickelung derselben in entsprechender Weise als die Urheber des die rothe Färbung erzeugenden Zersetzungsprocesses an, wie der Hefenpilz die Gährung zuckerhaltiger Flüssigkeiten veranlaßt und dabei gewisse chemische Producte, wie Alkohol, Essigsäure etc. abscheidet. Besonders wichtig war ihre unter dem Mikroskope gemachte Beobachtung, daß das Pigment nur einzelne Theile in der Masse einer Semmel färbte, andere dagegen ungefärbt ließ, und bei genauerem Zusehen ergab sich, daß erstere die stickstoffreichen Kleberstoffe, letztere die stickstofffreien Theile, z. B. die Stärkekörner waren. Dieser Umstand, zusammengehalten mit der schon früher bekannten Eigenschaft des durch Alkohol leicht ausziehbaren Farbstoffes, auf stickstoffreicher Faser, wie Wolle, Seide, menschlicher Haut etc., ebenso leicht zu haften, wie die bekannten Anilinfarben, führte auf die Vermuthung, daß das Wunderblut gar den letzteren verwandt sein möge. In der That ergab die chemische Untersuchung, daß der rothe Farbstoff in seinem ganzen Verhalten der prachtvoll rothen Farbe, welche man unter dem Namen Fuchsin aus dem Steinkohlentheer gewinnt, außerordentlich ähnlich ist und jedenfalls zu der Gruppe der Anilinfarben gehört, eine Ansicht, die durch die spectroskopische Analyse in neuerer Zeit noch zu größerer Sicherheit erhoben worden ist.

Bestätigung und weitere Ausbildung haben diese Ansichten in den Versuchen gefunden, welche im Laufe der letzten Jahre in dem unter der Leitung des Professors F. Cohn stehenden physiologischen Laboratorium der Universität Breslau angestellt wurden. Es ergab sich hier bis zur Evidenz, daß das Blutwunder nur eine besondere Art der Fäulniß ist, jener Processe also, welche in entsprechender Weise die Zersetzung stickstoffhaltiger organischer Substanzen vollbringen, wie die Gährung die Zersetzung stickstofffreier Körper vollendet. Ja, es wurde bei dieser Gelegenheit zum ersten Male klar gestellt, was Fäulniß eigentlich sei. Wir fürchten nicht, den Leser zu langweilen, wenn wir in aller Kürze die Hauptergebnisse dieser Untersuchungen hier mittheilen.

Professor Cohn wies zunächst nach, daß sämmtliche Fäulnißprocesse der Natur angeregt werden und abhängig sind von der Gegenwart und Entwickelung der kleinsten bis jetzt beobachteten lebenden Wesen, der Bacterien. Die verschiedenen Arten derselben erlauben bei ihrer ausnehmenden Kleinheit nichts weiter, als die äußere Gestalt zu erkennen, und diese ist entweder rundlich und eiförmig (Kugel-Bacterien) oder stäbchen- und fadenförmig, in diesem Falle bisweilen pfropfenzieherförmig gedreht (Stäbchen-Bacterien). Sie erscheinen in der fauligen Flüssigkeit entweder lebhaft, mückenschwarmartig bewegt, oder ruhend. Man sieht sie wachsen und sich, wenn sie eine gewisse Größe erreicht haben, in der Mitte wie eine 8 einschnüren und in zwei Individuen theilen, ein Vorgang, der sich bei lebhafter Fäulniß beständig wiederholt. Fäulniß ist also nichts Anderes als ein energischer Lebensproceß von Milliarden lebender Wesen, die den stickstoffhaltigen Körper gleichsam zernagen und zu ihrer Nahrung verwenden, deren Ausscheidungen und Mahlzeitsreste aber in den gewöhnlichen Fällen die bekannten stinkenden Gase sind. Ebenso wie das Eintreten der Gährung von der Gegenwart der Hefepilzzellen abhängig ist, kann mithin die Fäulniß erst beginnen, wenn sich Bacterienkeime in der Masse einfinden, und alle Mittel, die letzteren abzuhalten, also Abschließung der Luft nach vorausgegangenem Kochen[1], wie die Gegenwart solcher Stoffe, welche die kleinen Wesen tödten (Weingeist, Rauch, Carbolsäure), werden die Fäulniß für immer unmöglich machen, ebenso das Vorhandensein der Bedingungen, welche die Bacterien zurückhalten, niedere Temperatur oder Mangel an Wasser. Die Keime der Bacterien sind an sich beinahe in allem Wasser und verbreiten sich, wenn auch weniger leicht, wie die Hefezellen durch die Luft. Dagegen sind die Schimmelpilze, welche sich gern auf allen faulenden Stoffen einfinden, nur Schmarotzer, die dem eigentlichen Wesen der Erscheinung fremd, ja mitunter hinderlich sind. Trotz der lebhaften und scheinbar willkürlichen Bewegung der meisten dieser von früheren Forschern als Monaden oder Vibrionen bezeichneten kleinen Wesen rechnet Professor Cohn dieselben zu den Pflanzen, obwohl in diesen niedrigsten Regionen eigentlich kaum ein rechter Unterschied zwischen Thier und Pflanze gemacht werden kann. Sind die Lebensbedingungen günstig, d. h. reichlich stickstoffhaltige Materie, Feuchtigkeit und der geeignetste Wärmegrad vorhanden, so kann die außerordentliche Vermehrungsfähigkeit dieser Wesen ungeheure Resultate hervorbringen. Cohn hat berechnet, daß bei Entfernung aller hindernden Umstände, wie sie glücklicher Weise in der Natur niemals stattfindet, eine einzige Bacterie, deren Gewicht er auf 0,0000000015 Milligramm berechnet, im Verlauf von achtundvierzig Stunden fast ein Pfund, von drei Tagen aber sieben und eine halbe Million Kilogramm Nachkommen haben könnte. Daß solche Berechnungen nicht außer dem Bereiche einer Verwirklichung liegen, beweisen unsere Preßhefefabriken, in denen täglich gegen hundert Centner Preßhefe erzeugt werden, die möglicher Weise aus einer einzigen, dem bloßen Auge unsichtbaren Zelle hervorgegangen sein könnten.

Genau wie bei der gewöhnlichen Fäulniß Ammoniak und andere stark riechende Gase oder Flüssigkeiten die Erzeugnisse der Lebensthätigkeit gewöhnlicher Fäulniß-Bacterien sind, so giebt es nun eine gewisse Sippschaft dieser kleinen Wesen, welche statt derselben prächtig gefärbte stickstoffhaltige Verbindungen, deren Zusammensetzung übrigens an das Ammoniak erinnert, aus der Nahrungsmasse abscheiden. Aehnlich wie in den Gährungsprocessen eine bestimmte Art des Hefepilzes Weingeist, eine andere Essig, eine dritte Buttersäure, eine vierte und fünfte Gallussäure, Bernsteinsäure und andere chemische Verbindungen durch ihre Lebensthätigkeit fabriciren, so fanden Cohn und Schröter, daß, während die gewöhnliche Fäulniß in der Regel von den lebhaft bewegten Stäbchen- oder Cylinder-Bacterien unterhalten wird, die Pigmentfäule nur eintritt, wenn gewisse Kugelbacterien, die ohne Bewegung sind und daher nach ihrer Selbsttheilung in rosenkranzförmigen Schnüren vereinigt bleiben, zugegen sind. Sie haben zum Unterschiede von den eigentlichen Bacterien die letzteren Bacteridien genannt und den kleinen Erzeuger des rothen Wunders Micrococcus prodigiosus getauft. Sie fanden ferner, daß das kleine Ding so civilisirt ist, gekochte Nahrungsmittel den rohen vorzuziehen, daß es, selbst farblos, seine chemische Farbenfabrication im Dunklen wie im Lichte mit gleichem Erfolge betreibt, daß seine größten Feinde Schimmelpilze und Stäbchen-Bacterien sind, welche gewöhnlich, wenn die Production nach vier bis fünf Tagen in größter Blüthe steht, durch Erzeugung alkalischer Fäulnißproducte das Geschäft stören und das schöne Purpur in schmutziges Gelb verwandeln. Wir können beinahe bei allen das Wunderblut betreffenden Ueberlieferungen nachweisen, daß die Bedingungen zur Entwickelung dieser kleinen Wesen, bestehend in längerer Aufbewahrung gekochter [230] oder gebackener stickstoffhaltiger Nahrungsmittel an feuchten Orten in wärmerer Jahreszeit, wirklich vorhanden waren. Ein besonders günstiger Ort scheinen die dumpfigen Sacristeien zu sein, in denen die Oblaten freilich auch jahrelang der betreffenden Keime harren. Bei dem Wunderblut von Zehdenick wurde die Oblate im feuchten Keller, zu Wilsnack im beregneten Brandschutt der Kirche gefunden. Sonst zeigte sich das Wunderblut in Zeiten der Belagerung, Hungersnoth und Seuche, wo man eben weniger Nahrungsmittel genießt und daher unter Umständen länger aufhebt.

Schröter und frühere Forscher studirten neben dem blutrothen auch orangerothe, gelbe, grüne, blaue, violette und braune Farbestoffe, die ebenfalls und unter ähnlichen Bedingungen von Bacteridien erzeugt wurden. Wir begnügen uns hier an die behexten Milchkeller zu erinnern, in denen sämmtliche Milch mit prachtvoll himmelblauen Flecken bespritzt erscheint. Schon ältere Untersuchungen hatten auch hier die Gegenwart mikroskopischer kleiner Wesen nachgewiesen, ebenso wie die Identität des nur die stickstoffhaltigen Theile der Milch (den Käsestoff) färbenden Pigments mit Anilinblau, oder wie die Chemiker sagen: Triphenylrosanilin. Ja, es gelang den Breslauer Beobachtern sogar, die Farbenfäule in bloßen stickstoffhaltigen Salzlösungen hervorzurufen, wodurch die Fähigkeiten der kleinen Chemiker in ein noch glänzenderes Licht gesetzt werden. Die farblose Auflösung von essig- oder weinsaurem Ammoniak, mit einem Tropfen Bacteridien-Wasser versetzt, färbte sich nach und nach grünlich, grünblau und zuletzt intensiv himmelblau. Ein wenig Säure verwandelte diese Farbe sofort in roth; Alkali stellte die ursprüngliche Färbung wieder her, gerade wie bei dem bekannten, eben dieser Eigenschaft wegen zur Prüfung auf das saure oder alkalische Verhalten anderer Dinge benutzten Lackmus, den man bekanntlich durch Fäulniß von Meeresküstenflechten unter Zusatz ammoniakalischer Flüssigkeiten erzeugt. Vielleicht sind so die Bacteridien als Fabrikanten eines vielgebrauchten Farbestoffes an den Küsten des mittelländischen und atlantischen Meeres seit Jahrhunderten gezüchtet worden, und vielleicht fällt noch einmal ein speculativer Kopf darauf, auch das Blutwunder, welches so viel Schrecken in der Welt erzeugt hat, industriell auszubeuten, das kleine Wunderwesen sorgsam zu züchten. Wir würden uns dann ausbitten müssen, daß er ebenso wie die anderen Anilinfarben-Fabriken etwas abseits von unseren Wohnungen bliebe, da es jedenfalls nicht angenehm wäre, seine aufgesparten Leckerbissen mit solchen rothen Tröpfchen verziert zu finden, wenn man auch weiß, daß es sich dabei um nichts weniger als wirkliches Blut handelt. So hat die Wissenschaft wieder einmal ein altes Wunder, wenn auch nicht seines Interesses, so doch seiner Unheimlichkeit entkleidet.

Carus Sterne.




  1. WS: Im Original Kochem