RE:Κιθαρῳδία

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Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Kunstmässiger Sologesang
Band XI,1 (1921) S. 530534
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Κιθαρῳδία ist der von der Kithara begleitete kunstmäßige Sologesang im Gegensatz zur Aulodie und zur ψιλὴ κιθάρισις. Sie ist der älteste Zweig der musikalischen Kunstübung bei den Griechen, den wir kennen. Homer kennt zwar den Ausdruck K. und κιθαρῳδός noch nicht, der Sache nach aber deckt sich sowohl der Gesang einzelner Helden der Ilias, wie des Alexandros und Achilleus (III 54. IX 186ff.) zur φόρμιγξ, als auch die Tätigkeit der Aöden Demodokos und Phemios in der Odyssee durchaus mit dem späteren Begriff der K. Über die Art ihrer Ausführung bei Homer erfahren wir nichts, wir wissen nicht, ob das Instrument mit der Singstimme unisono ging oder sie bloß in Stütztönen begleitete, ob Vor- und Zwischenspiele vorhanden [531] waren und drgl. Im allgemeinen hat der Schwerpunkt sicher auf dem Gesang geruht, und zwar werden dabei stets die Schönheit der Stimme und der Inhalt des Gesungenen hervorgehoben, niemals aber die rein musikalischen Eigenschaften der Melodie. Für sich steht der Gesang des λίνος Il. XVIII 569ff., wo das κιθαρίζειν zuerst, vor dem Gesang, erwähnt wird: λίνον δ’ ὑπὸ καλὸν ἄειδε λεπταλέῃ φωνῇ; das ist auch sprachlich das Gegenstück zu der späteren κροῦσις ὑπὸ τὴν ᾠδήν (s. u.), außerdem ist hier mit der K. noch eine Art von Tanz verbunden. Vgl. Guhrauer Progr. Lauban 1886. Mit Hesiod tritt an die Stelle der K. im Vortrag des Epos die Rhapsodie, in der sich der volle Gesang zur bloßen, wenn auch immer nach musikalischen Rezitation verflüchtigt. Auf der andern Seite aber nimmt die K. einen neuen großen Aufschwung, der die Folge des Eindringens der technisch weit leistungsfähigeren asiatischen Kithara und namentlich der durch die ebenfalls asiatischen Blasinstrumente bewirkten Revolution der gesamten griechischen Musik ist. Der Hauptname ist hier Terpander aus Antissa (s. d.), der den Alten als der Schöpfer des kitharodischen Nomos (s. d.) gilt. Herakl. Pont. bei Plut. de mus. 4 zählt von ihm sieben solcher Nomoi auf, dazu tritt c. 28 noch der ὄρθιος (vgl. Suid. s. ἀμφιανακτίζειν; νόμος), der aber vielleicht mit dem Τερπάνδρειος identisch ist, v. Wilamowitz Timotheos Perser 90. Νόμος bedeutete in jener Zeit sicher noch nicht die spätere mehrgliedrige Form, sondern einfach Weise, Melodie, wie bei den Meistersingern (τροχαῖος, ὀξύς, ὄρθιος), nach der epische Texte gesungen wurden (v. Wilamowitz 91). Plut. de mus. 6 macht auf die Einfachheit des terpandrischen Nomos gegenüber dem späteren aufmerksam. Sie bestand besonders in der Wahrung der einmal gewählten τάσις, d. h. es durfte keine Saite umgestimmt, also Tonart und Tongeschlecht nicht verändert werden, auch ein Wechsel des Rhythmus war ausgeschlossen. Die dem Terpander von Poll. IV 66 zugeschriebene siebenfache Gliederung des νόμος gehört somit sicher erst einer späteren Zeit an.

Als ein weiteres Verdienst Terpanders nennt Plut. de mus. 28 die Einführung der mixolydischen Skala, die er freilich c. 16 nach Aristoxenos der Sappho und dem Auleten Pythokleides zuschreibt. Das bezieht sich wohl auf den Versuch, in der dorischen Skala die Stufe h auf b herabzustimmen. Schwieriger ist die Nachricht Aristot. probl. XIX 32. Plut. de mus. 28 zu erklären, Terpander habe der Kithara die νήτη διεζευγμένων (e’) hinzugefügt und dafür die τρίτη ausgelassen. Das bezieht sich wohl auf die τρίτη späterer Benennung, also auf c’, vgl. Nikom. ench. 9, 18 Meib. Vincent Notices et extraits 270. Riemann 56. Die Begleitung des Gesanges durch die Kithara wird man sich als unison zu denken haben, vgl. Plut. a. a. O.: τοὺς δ’ ἀρχαίους πάντα πρόσχορδα κρούειν. An derselben Stelle wird nun Archilochos als der Begründer einer neuen Begleitungsart, der κροῦσις ὑπὸ τὴν ᾠδήν, genannt, deren Wesen noch nicht völlig geklärt ist. Früher nahm man, gestützt auf Aristot. probl. XIX 12. Plut. quaest. conv. IX 9; coniug. praec. 11 an, daß die Begleitung [532] dem Gesange gegenüber durchaus selbständig gewesen sei und nicht unter, sondern über ihm gelegen habe, vgl. v. Jan Jahrb. f. Philol. 1879, 119. 583. Westphal Metrik I² 705ff.; Gr. Harmonik 36f. Weil Plutarque de la musique 111. Westphal leitete hieraus sogar hauptsächlich seine Theorie von der griechischen Kontrapunktik ab, von der die Alten selbst freilich nichts wissen. Dagegen versteht neuerdings Riemann 114ff. wohl mit Recht unter κροῦσις ὑπὸ τὴν ᾠδήν ‚das Spielen zwischen den Gesang hinein‘, also entweder das Einfügen von Zwischenspielen oder noch wahrscheinlicher von Zwischentönen in die geschlossenen Glieder der Gesangsmelodie selbst. Darauf deuten auch die Worte Plat. leg. VII 812 D–E über die Heterophonie hin, bei der es sich nicht um zwei selbständige Melodien, sondern nur um die Umspielung der vokalen durch die instrumentale handelt. Riemann versteht auch die Zusammenklänge bei Plut. de mus. 19 in diesem Sinne und unter den κρουματικαὶ διάλεκτοι c. 21 eben jene Auszierfiguren des Instrumentes; tatsächlich handelt es sich nach Plutarch um eine rhythmisch bewegtere Führung des Instrumentalpartes. Die Wurzel dieser Begleitungsart lag wohl ebenfalls in der Musik des Aulos. Nach Terpander verlieren wir den kitharodischen Nomos auf 200 Jahre fast ganz aus den Augen; wir wissen nur, daß Terpanders διαδοχή das Vorzugsrecht bei den Wettspielen der Karneen in Sparta genoß. Von seinem angeblichen Schüler Kepion kennen wir nur den Namen (v. Wilamowitz 88), ebenso von Perikleitos, dem letzten lesbischen Karneensieger, Plut. de mus. 6. Die K. als solche trat damit natürlich nicht zurück, sie spielt sowohl bei Alkman wie bei Stesichoros eine gewisse Rolle, obwohl gerade in der Chorlyrik (Pindar) der Aulos ihr den Rang streitig macht; dagegen ist der Vortrag der äolischen Lyrik des Alkaios und der Sappho und der ionischen des Anakreon rein kitharodisch gewesen, wenn auch die begleitenden Instrumente in ihrer Konstruktion mehr oder minder von der landläufigen Kithara abwichen. Der kitharodische Nomos dagegen taucht in stark veränderter Gestalt erst mit Phrynis von Mitylene (s. d.) um die Mitte des 5. Jhdts. wieder auf, der selbst ein Absenker der lesbischen Schule war, Schol. Ar. nub. 971. Von ihm rechnet Plut. de mus. 6 eine neue Phase in der Entwicklung der K. Äußerlich kennzeichnet sie sich in einer Vermehrung der Zahl der Kitharasaiten von sieben auf neun (s. Art. Κιθάρα), womit bereits ein Überwiegen des Musikalisch-Virtuosen angedeutet ist. Seine Neuerungen bestanden in der Vermischung des Hexameters mit freien Rhythmen (Procl. chrest. 320 a 33) und in einem gesteigerten Gebrauch der Modulation (Pherekr. bei Plut. de mus. 30. Poll. IV 66. Schol. Ar. nub. 971. Plut. de mus. 6. Ἰωνοκάμπτας Timoth. frg. 27 W.). Der eigentliche Klassiker dieser neueren K. ist Timotheos von Milet, gestorben um 357, ein bewußter Revolutionär in der Kunst (frg. 21 W.). Er steigerte die Zahl der Saiten des Instruments auf elf (vgl. das unechte lakonische Psephisina Boëth. de mus. I 1. Paus. III 12, 10. Plut. inst. Lacon. 238 c) und zwar nach [533] der Höhe hin (s. den Art. Κιθάρα), und war, nachdem er in seinen ersten Werken noch gemäßigt aufgetreten war (Plut. de mus. 4), auch in allen übrigen Punkten der weit konsequentere und radikalere Fortsetzer der Kunst seines Lehrers Phrynis. Der Hauptunterschied beider von der älteren Praxis war offenbar der, daß sie sich bei der Behandlung der epischen Stoffe auch die Verse selbst machten und zwar mit Rücksicht auf alle die von ihnen eingeführten Neuerungen in der Musik, v. Wilamowitz 93f. Der kitharodische Nomos wurde somit jetzt ein großes, durchkomponiertes Stück in sieben Abschnitten (s. den Art. Nomos. Poll. IV 66 schreibt sie irrigerweise schon Terpander zu). Vorausgegangen war mit diesem freien Stile der von Timotheos ebenfalls gepflegte Dithyrambus, der freilich der Aulodie angehört. Die K. des Timotheos war die höchste Virtuosenleistung der Griechen überhaupt: er war nicht nur Dichter und Komponist, sondern auch Kitharavirtuose und besonders ein Sänger, der den rezitierenden und den melodischen Stil gleichermaßen beherrschte, dazu ein Vortragskünstler, der über alle Register des Ausdruckes vom Lyrischen bis zum Hochdramatischen gebot. Die Poesie stand freilich, wie die Perser zeigen, an Wert stark hinter der Musik zurück. Auch in das Drama drang der neue Stil ein (vgl. die K. in Eur. Ant. 1023ff.), der von den Anhängern des Alten, darunter auch Aristoxenos und Aristophanes (vgl. die δυσκολόκαμπτοι nub. 971) heftig befehdet wurde (Pherekr. a. a. O.). Trotzdem drangen die Neuerungen durch, freilich war damit die griechische Musik auch am Ende ihrer Leistungsfähigkeit angelangt. Weiter entwickelt wurde auch in der K. nur die rein äußerliche Virtuosität, was sich allein schon an dem Hinauftreiben der Kitharastimmung äußerte, so daß die dorische Skala statt von e–e’ bei lydischer Stimmung schließlich von gis–gis’ reichte, vgl. Riemann 82ff. Aber die eigentliche Schöpferkraft erlahmte, trotzdem natürlich die K. in den Agonen nach wie vor eine große Rolle spielte. Aber was z. B. die Sängergilden leisteten, beschränkte sich wohl in der Hauptsache auf Handwerksarbeit oder auf die Wiederholung von Werken des Phrynis und Timotheos, Paus. VIII 50, 3. Plut. Philop. 11. Doch blieb die K. bis tief in die Kaiserzeit hinein in der Regel die mit den meisten und höchsten Preisen ausgezeichnete Leistung, und neben den erwachsenen Kitharoden traten auch Knaben im Wettstreit miteinander auf, CIG 2758 A. 2759 B. In dieser bereits stark entarteten Form wurde die K. auch von den Römern übernommen, trotz dem Verbot von 115 v. Chr., Cassiod. chron. a. u. 639. Schon im 1. Jhdt. v. Chr. treten zahlreiche Kitharoden in Rom auf; ihre prooemia bei Cic. de or. II 80; vgl. auch Tusc. V 40. Ad Herenn. IV 47. Bekannt sind Tigellius unter Augustus und Menekrates unter Nero, Hor. sat. I 3, 129. Petron. sat. 73. Auch bei den aktischen Spielen des Augustus behauptete die K. den ersten Bang, und Neros Ehrgeiz galt bekanntlich seiner Kunst als Kitharode (Suet. Aug. 20), er trat selbst als Kitharode auf und behandelte mythische Stoffe wie z. B. die Iliupersis. Noch größere Bedeutung als die von ihm 60 gestifteten Feste (Tac. ann. [534] XIV 20. Suet. Nero 12. Eckhel V 264) erlangte der von Domitian 86 begründete capitolinische Agon (s. d.) [Iuven. VI 387ff.], bei dem die Wettkämpfe in der ψιλὴ κιθάρισις bald wieder eingingen. Die Honorare, die berühmte Kitharoden bei diesen Gelegenheiten bezogen, waren außerordentlich hoch, so erhielten z. B. Terpnus und Diodorus von Vespasian 200 000 Sesterzen (Suet. Vespas. 19). Von der künstlerischen Beschaffenheit dieser K. wissen wir nichts; Dichter und Komponist treten vollständig hinter dem Virtuosen zurück, und von einem Zusammenhang mit der älteren Musik war wohl kaum die Rede mehr. Nur von dem letzten uns bekannten Vertreter der K., Mesomedes aus der Zeit Hadrians, haben sich ein paar Proben erhalten (v. Jan Musici scriptores 454ff.). Seine Hymnen stellen wohl die letzten Absenker der alten kitharodischen Proömien dar.

An einer mythologischen Genealogie hat es der K. so wenig gefehlt wie der Aulosmusik. Ihr göttlicher Ahnherr ist Apollon selbst, von ihm erbt Orpheus die Kunst (Pind. Pyth. IV 176), der eigentliche Archeget der K. Auch Musaios, Linos, Thamyris (s. d.) u. a. stehen in Beziehung zu ihr, Amphion galt sogar als Erfinder der kitharodischen Poesie (Heracl. Pont. b. Plut. de mus. 3). Spätere Konstruktion hat dann Orpheus mit Lesbos in Verbindung gebracht (Nicom. ench. I 2 p. 29 M.), um die Verbindung mit Terpander herzustellen, während die Gestalt des Kreters Chrysothemis dazu dienen mußte, die K. mit Delphi zu verknüpfen (vgl. v. Wilamowitz 95; zu Aesch. Cheoph. 252), trotzdem im delphischen Apollonkult von Hause aus Chorlied und Aulos vorherrschen.

Über die Spielart der Kithara s. den Art. Κιθάρα. Zahlreich sind die erhaltenen bildlichen Darstellungen von Kitharoden, zumal da in der Darstellung Apollons dieser Typus eine große Rolle spielt. Die ältere Kunst stellt den K. im langen, oft straff gespannten Chiton dar, über den die Chlamys geworfen ist, beide weisen durch reiche Verzierung auf das Festgewand hin.

In jüngerer Zeit schuf Skopas sein berühmtes Idealbild des Kitharoden Apollon, das Augustus später in den palatinischen Tempel versetzte, Plin. XXXVI 25. Ob wir freilich in der vatikanischen Statue des K. Apollon (Müller Denkm. d. a. K. I 141 a) eine Nachbildung von Skopas Werk besitzen, ist fraglich (Overbeck Gr. Plastik II 277). Der palatinische Apoll beschrieben bei Prop. III 29, 15. Tibull. III 4, 23ff. Ov. am. I 8, 59 ; metam. XI 165. Auch Nero ahmte das Kostüm des Apollo citharoedus nach (Sueton. Ner. 25). Vgl. Baumeister Denkm. I 96ff. C. v. Jan Die gr. Saiteninstrumente, Gymn.-Progr. Saargemünd 1881/2.