Romanische Philologie (1914)

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Autor: Heinrich Schneegans
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Titel: Philologie / Romanische Philologie
Untertitel:
aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band, Zehntes Buch, S. 58–63
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
Auflage:
Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
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Erscheinungsort: Berlin
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IV. Romanische Philologie
Von Dr. Heinrich Schneegans, Prof. an der Universität Bonn


Im Vergleich zur klassischen Philologie steht die romanische noch ganz in den Anfängen ihrer Entwickelung. Bedenken wir nur, daß unsere Wissenschaft erst seit den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts besteht. Demgemäß wird es nicht wundern, daß sie auch in dem Zeitraum, der uns hier beschäftigt, nach neuen Wegen noch sucht und tastet. Ja, wir können vielleicht sagen, daß das Charakteristische unserer Periode in diesem Orientierungsbestreben liegt. In den letzten 25 Jahren hat die romanische Philologie vor allem eine außerordentlich rege organisatorische Tätigkeit entwickelt. Das Verdienst, theoretisch der jungen Wissenschaft die Wege gewiesen zu haben, gebührt in erster Linie Gustav Gröber. In seinem großartigen Grundriß, dessen erster Teil gerade 1888 erschien, hat er der romanischen Philologie die Aufgaben und Ziele, die sie zu erfüllen und zu verfolgen hat, gewiesen. Gelehrte aus allen Ländern hat er um sich zu scharen gewußt und jedem die Aufgabe zugeteilt, für die er besonders geeignet war. Wie ein Feldherr hat er aber den Aufmarsch der gelehrten Armee geleitet, sie ins Gefecht geführt, hat aus den Grenzwissenschaften immer neue Reserven herangezogen, um die Wissenschaft in ihrem ganzen Umfange zu erobern. Er hat die sprachwissenschaftliche Forschung von der philologischen im engeren Sinne getrennt, die literaturgeschichtliche bis in ihre letzten Ziele, die Erfassung der Kultur und des Geistes der Völker romanischer Zunge geführt. Aus der Geschichte der Anfänge der Wissenschaft hat er die Lehren für die Zukunft gezogen, einerseits die Romanistik in ihren Beziehungen zur klassischen Philologie in der gründlichen Erforschung des Vulgärlateins, anderseits zu den modernen Philologien, zur Sprachwissenschaft im allgemeinen, zur Philosophie und Geschichte im weitesten Umfange zu erfassen gesucht. In der Zeitschrift für romanische Philologie, die er leitete, in den bibliographischen „Supplementheften“ und den „Beiheften“, die er ihr zugesellte, hat er der romanischen Philologie Hilfsmittel gewährt, die für ihre weitere Entwickelung ganz unentbehrlich geworden sind.

Gröbers Beispiel hat Früchte getragen. Vollmöllers kritischer Jahresbericht über die Fortschritte der romanischen Philologie, der seit 1890 erscheint, ist eigentlich nichts anderes als ein Jahr für Jahr fortgesetzter Grundriß, der über die Errungenschaften unserer Romanistik jeden auf dem Laufenden zu erhalten versucht. Und im Laufe der Jahre hat sich der Kreis des Wissenswerten immer vergrößert. Werden doch jetzt im Jahresbericht sogar die Beziehungen zur arabischen Literatur, zu den afrikanischen Literaturen, die Beziehungen der Romanen zu den Slaven in Betracht gezogen! Wird sogar die Rechts- und Kirchengeschichte, die Kunst- und Musikgeschichte berücksichtigt! Wird doch auch die Geschichte des Schul- und Universitätsunterrichtes in der romanischen Philologie sorgfältig verzeichnet! Immer mehr bricht sich eben die Erkenntnis [1203] Bahn, daß, wenn die moderne Philologie mit der klassischen wetteifern will, sie auch ihrem Beispiele folgend versuchen muß, das gesamte Kulturleben der Gegenwart fremder Völker zu erfassen. Freilich verschließt sich die moderne Philologie nicht der Erkenntnis der Schwierigkeit dieser Aufgabe. Sie weiß sehr wohl, daß sie nie in derselben Vollständigkeit dieses Ideal erreichen wird, wie die klassische Philologie, die ein zeitlich abgeschlossenes und viel engeres Gebiet zu erforschen hat. Nichtsdestoweniger sucht sie dem Ideale im Maße des Erreichbaren nachzugehen, zur Belebung der engeren Philologie und Literatur und zugleich in dem Bewußtsein durch tieferes Eindringen in den Geist der Nachbarn des eigenen Volkes, dem Vaterlande den besten Dienst zu tun. Denn durch den Vergleich erkennt man erst seine eigenen Schwächen und sucht sich zu bessern, wo es not tut.

Die zahlreichen „Sammlungen“ und „Bibliotheken“, die in unserem Zeitraum die verstreuten Schriftwerte des romanischen Mittelalters und der romanischen Neuzeit dem Leser in vorzüglichen Ausgaben vorführen, stehen auch unter diesem so charakteristischen Zeichen der Organisierungstätigkeit. Denken wir nur an Wendelin Foersters „altfranzösische und romanische Bibliothek“, an Suchiers Bibliotheca normannica[WS 1], an Vollmöllers Gesellschaft für romanische Literatur, an Gröbers Bibliotheca romanica, an die von Meyer Lübke ins Leben gerufene, von Winter in Heidelberg herausgegebene Sammlung romanischer Elementarbücher, die in die Grammatik und Literatur der romanischen Völker den Anfänger einzuführen sucht, freilich oft ohne ihm das Eindringen leicht zu machen, an die Sammlung von Voretzsch, die dasselbe Ziel verfolgt, wenn auch nicht in so großem Umfang, aber mit unleugbarem pädagogischen Geschick, an soviele Chrestomathien und Sammlungen von Abhandlungen und Dissertationen. Denken wir an die Gründung einer Zeitschrift wie Schädels Revue de dialectologie romane, welche die Mundartenforschung zu zentralisieren sucht, und die Wintersche Germanisch-romanische Monatsschrift, welche die Ergebnisse der Wissenschaft in weiteren Kreisen zu verbreiten trachtet. Und so sehen wir wie überall dieselbe rege organisatorische Tätigkeit im romanischen Lager herrscht. Ja, sie führt sogar zur Gründung von Instituten, wie die 1900 erfolgte Stiftung des Instituts für rumänische Sprache in Leipzig durch Gustav Weigand, das in seinen Jahresberichten das Beste bietet, was über Rumänisch erscheint und in seinem Phonetischen Atlas des daco-rumänischen Sprachgebiets ein vollständiges Bild der rumänischen Sprache zu geben versucht. Die bessere Ausstattung so mancher romanischer Seminare – ich denke vor allem an Frankfurt und Hamburg – die Gründung des von Panconcelli Calzia in letzterer Stadt geleiteten Instituts für experimentelle Phonetik, das den romanischen Bedürfnissen auch in großem Maße Genüge tut, steht unter demselben Zeichen.

Aber auch die Arbeit einzelner ist in unserem Zeitraum eine sehr rege gewesen. Abgesehen von den im Grundriß erschienenen Grammatiken, abgesehen von der in Österreich von Meyer-Lübke und seinen Schülern entfalteten außerordentlich fruchtbaren Tätigkeit auf grammatischem und lexikographischem Gebiete, auf die wir in diesem Zusammenhang nicht einzugehen vermögen, können wir in Deutschland selbst in grammatischer Hinsicht auf einige Leistungen zurückblicken, welche der Entwickelung unserer [1204] Wissenschaft große Dienste getan haben. Ich nenne vor allem die altfranzösische Grammatik von Schwan-Behrens, die fast alle zwei Jahre in vervollkommneter Gestalt erscheint und im Laufe der Zeit für Laut- und Formenlehre das grammatische Vademekum unserer Studierenden geworden ist. Auf syntaktischem Gebiete ragen bekanntlich weit über das gewöhnliche Niveau hinaus die „Vermischten Beiträge“ Toblers, die auf feinsinnige und geistvolle Weise oft auf den ersten Blick undurchsichtige Wortfügungen und Wortverbindungen zu deuten versuchen und ihre Entstehung erklären. Gerne möchte ich auf lexikographischem Gebiete Toblers altfranzösisches Lexikon, für das er jahrzehntelang emsig gesammelt hat, hinzufügen, bekanntlich ist aber dieses monumentale Werk nicht veröffentlicht worden. Der Zukunft bleibt vorbehalten, das von Tobler Gesammelte zu verwerten und dem romanistischen Publikum zugänglich zu machen. Einstweilen müssen wir uns – abgesehen von den in Frankreich erschienenen Arbeiten, auf die wir hier nicht eingehen, – mit den in den einzelnen Ausgaben erschienenen Glossarien begnügen, freilich nicht ohne oft mühsame und zeitraubende Arbeit. In unserm Zeitraum hat auf allgemein-romanischem Gebiete neben Diez’ altbewährtem Werk, Körtings Etymologisches Lexikon (seit 1891) trotz seiner vielen Mängel doch unleugbare Dienste getan. Es wäre undankbar, wenn man dies nicht freimütig anerkennen wollte. Fast jede Nummer unserer Zeitschriften bringt aber neue etymologische Versuche, sei es von Foerster, Horning, Behrens, Baist – um nur die hervorragenderen in Deutschland zu nennen – denn von Österreich und der Schweiz müssen wir immer absehen, also von Schuchhardt und Meyer-Lübke schweigen – welche das noch so sehr erforschungsbedürftige Gebiet der Etymologie aufzuhellen bestrebt sind. – Die Kenntnis der provenzalischen Sprache hat das den bescheidenen Titel eines bloßen Supplementwörterbuchs zu Raynouards Lexique Roman führende eminente Wörterbuch des Provenzalischen von Levy wesentlich gefördert.

Im Laufe der Jahre sind Einzeluntersuchungen onomasiologischer und semasiologischer Art immer zahlreicher geworden, auch die Onomotologie, die bereits Gröber in seinen Untersuchungen über Ausbreitung französischer Orte, die sich als germanische Gründungen zu erkennen geben, angebahnt hatte, ist emsig weiter getrieben worden. Der Zusammenhang zwischen Wort und Sache, der gerade in den letzten Jahren seine Bedeutung erkannt worden ist, verspricht für die Beziehungen zwischen Sprache und Kultur der romanischen Völker sehr fruchtbringend zu werden. Namentlich für die Dialektforschung, die auch von Deutschen in Italien, Frankreich und Graubünden getrieben worden ist, und noch jetzt ein Lieblingsgebiet deutscher gelehrter Arbeit geblieben ist, dürfte dieser neue Wissenszweig von großer Bedeutung werden. Nicht weniger die Sprachgeographie, die von Gilliérons Sprachatlas Frankreichs mächtig angeregt, in der Schweiz namentlich hervorragende Arbeiten gezeitigt hat, aber auch bei uns verspricht, die Kenntnis der Dialekte außerordentlich zu vertiefen, überhaupt die Entstehung der romanischen Sprachen, besonders auf lexikalischem Gebiete in vollstem Sinne verständlich zu machen und oft eine Umwälzung in den bisherigen Ansichten hervorruft, die man sich nicht erträumen konnte.

Immer besser versteht man es auch, syntaktische oder überhaupt sprachliche [1205] Erscheinungen auf psychologischem Wege zu erklären, überhaupt in der Sprache das Walten philosophischen Geistes zu erkennen. Und, wenn ich nicht irre, so ist auch hier Gröber Pfadfinder gewesen. Aber zur Erkenntnis sprachlicher Vorgänge ist eine gründliche Kenntnis phonetischer Erscheinungen nicht minder erforderlich. Gar manches, was man früher sich nicht zu erklären wußte, ist durch die experimentelle Phonetik erst klar geworden. Auf einiges hat sie überhaupt zum erstenmal aufmerksam gemacht. Viele dialektische Arbeiten lassen sich ohne ihre Hilfe gar nicht mehr bewerkstelligen.

Wenn wir von der Linguistik zur Philologie im engeren Sinne, zur Erklärung und Interpretation älterer Texte, zur Rekonstruktion des mutmaßlich echten Denkmals, in einem Worte zur Textkritik übergehen, so können wir sagen, daß in unserm Zeitraum die in Gröbers Arbeit über die handschriftliche Gestaltung der Fierabrasdichtung und in Gaston Paris’ Alexisausgabe ausgesprochenen Grundsätze über Textkritik bei uns maßgebend geworden sind. Eine Reihe hervorragender Ausgaben, namentlich altfranzösischer, dann aber auch provenzalischer und italienischer Texte, sind bei uns in Deutschland in den letzten Jahren erschienen. Denken wir vor allem an W. Foersters mustergültige Ausgaben Chrestiens und so vieler anderer mittelalterlicher Franzosen, an die textkritische Arbeit Toblers, Suchiers, Stengels, Appels, Stimmings, Ebelings, Friedwagners, Schultz-Golas, und wir erhalten schon durch die bloße Aufzählung dieser Namen einen Schimmer der in unserm Zeitraum so regen textkritischen Leistung. Wenn man sich die Grundsätze, die bei Herstellung von Ausgaben befolgt wurden, vergegenwärtigt, kann man im großen und ganzen wohl sagen, daß man mit den Jahren immer skeptischer geworden ist und immer mehr zu der kleinmütigen Erkenntnis gelangt ist, daß wir auch bei gewissenhaftester Arbeit und unter den günstigsten Umständen kaum dazu kommen können, das wahrscheinlich Echte, geschweige denn das wirklich Echte zu rekonstruieren. Die Uniformierung der Texte hat man deshalb immer mehr als etwas Gewaltsames empfunden und sie möglichst vermieden. Die Aufnahme von Konjekturen in den Text hat man sich immer seltener gestattet. Fast möchte ich sagen, daß man in dieser Beziehung zu zaghaft geworden ist und der Kombinationstätigkeit zu wenig zutraut. Wer gar nichts wagt, wird auch gar nichts gewinnen. Durch Hypothesen, auch wenn sie nicht immer gleich zum Ziele führen, kommt man doch weiter als durch ängstliches Verzichten von vornherein.

Die Herausgeber altfranzösischer, provenzalischer und italienischer Texte wurden eo ipso dazu geführt, sich auch mit den literarischen Fragen abzugeben, welche ihre Autoren betrafen. Datierung der Texte, Ursprungsfragen, Verhältnis zu anderen Dichtungen wurden eifrig erörtert. Mit den Fragen der Entstehung der altfranzösischen Heldendichtung hat man sich auch bei uns ebenso wie in Frankreich, Italien, Österreich beschäftigt. Im großen und ganzen kann man wohl sagen, daß man bis in die jüngste Zeit im Deutschen Reich konservativer geblieben ist, wie anderswo. Die revolutionären Theorien sind von Österreich und Frankreich gekommen. Becker und Bédier sind die Umstürzler, während man bei uns große Mühe gehabt hat, der althergebrachten Theorie zu entsagen, kraft deren die Chansons de geste unmittelbar nach den Ereignissen entstanden sind und der neuen sich anzuschließen, welche behauptet, daß die Epen weit [1206] späteren Ursprungs sind und durch Vermittelung der Klerisei an gewissen Wallfahrtsorten ihren Ursprung gefunden haben. Auch die Frage des Ursprungs der Artussage, der Originalität Chrestiens und seiner Stellung zur lettischen Volksliteratur hat großen Staub aufgewirbelt. Berühmt sind die Fehden, die Wendelin Foerster mit französischen und deutschen Gelehrten darob ausgefochten hat. Ja, wir stehen noch mitten im Kampfe, in voller Rüstung stürzen die Gegner wutentbrannt aufeinander, das Schlachtgeschrei erhebt sich hüben und drüben, Lanzensplitter fliegen hin und her, und wem von den tapfern Artuskämpen der Sieg zufallen wird, steht noch dahin.

Die Erfolge emsiger Einzelarbeit ermutigten die Forschung in unserm Zeitraum auch an die Darstellung der ganzen altfranzösischen Literatur heranzugehen. Gröber bot in seinem Grundriß die sorgfältigste und erschöpfendste Geschichte altfranzösischen Schrifttums, die wir besitzen. Das Bild mittelalterlichen Geisteslebens in Frankreich vervollständigte er durch seine lateinische Literatur. Suchier schrieb für das größere gebildete Publikum seine geistvolle und elegante, auf gründlicher Kenntnis beruhende Literatur der Altfranzosen und Provenzalen. Voretzsch bot den Studenten in seiner „Einführung“ ein willkommenes und zuverlässiges Handbuch. In Stimming fand die provenzalische, in Baist die spanische Literatur glückliche Bearbeiter.

Früher hatte man oft der seltsamen Ansicht gehuldigt, daß die neuere Zeit vom 16. Jahrhundert ab der wissenschaftlichen Forschung nicht wert sei. Literaten und Schöngeister mochten sich damit beschäftigen, für ernste Gelehrtenarbeit war das Mittelalter da. Immer mehr bricht sich glücklicherweise die Ansicht Bahn, daß diese Anschauung durchaus verkehrt ist, und die neuere Zeit der wissenschaftlichen, gründlichen Durcharbeitung nicht bloß wert ist, sondern daß es eine heilige Pflicht der Romanistik ist, gerade die Zeiten, in denen die romanischen Literaturen für das Geistesleben der Menschheit das Größte getan haben, einer ganz eingehenden und gewissenhaften philologischen Prüfung zu unterziehen. Auch hier fehlte es nicht an Einzeluntersuchungen. Rabelais und die Renaissanceliteratur, Molière, die Großen und Kleineren des Blütezeitalters, Voltaire und Rousseau, einzelne Dichter des neunzehnten Jahrhunderts wurden von den einen und andern Gelehrten unter die Lupe genommen. Sei es, daß die einen die poetische Gattung und ihre Geschichte, sei es, daß die andern eher die Persönlichkeit, ihren Charakter, ihr Verhältnis zu andern Dichtern, ihre Eigentümlichkeiten mehr berücksichtigten, sei es, daß diese Untersuchungen in Zeitschriftenartikeln oder in Büchern erschienen, jedenfalls legten sie das Zeugnis ab, daß Deutschland nicht zurückbleiben will, wenn es gilt, den Anteil der romanischen Literatur an der Entwickelung moderner Zeiten zu untersuchen und darzustellen. Und auch hier begleitete die Darstellung größerer Zeiträume die Einzeluntersuchung. Morf gab eine glänzende, an prägnanten Charakterbildern reiche Literatur des 16. Jahrhunderts, Birch Hirschfeld, der dieselbe Zeit zuerst darzustellen begonnen hatte, bot eine vollständige Geschichte der neueren französischen Literatur vom 16. Jahrhundert an bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Auch die italienische Literatur fand Bearbeiter. Freilich wurde leider Gasparys geistvolle Geschichte nicht weiter geführt, aber Dante und seine Vorläufer fanden in Voßler einen Gelehrten und Künstler, der sie den Gebildeten in ebenso gediegenen wie kunstvollen [1207] Büchern verständlich zu machen wußte. Und immer kühner wurde man in der Romanistenwelt. Wagte sich nicht Morf sogar an eine gesamte Literatur der romanischen Völker? Auch hier vereinigte sich der Künstler mit dem Gelehrten, um ein Werk zu schaffen, das zwar selbstverständlich nicht erschöpfend, vielleicht auch nicht immer ganz gleichmäßig war, aber jedenfalls von der Geisteswelt der Romanen vom Mittelalter bis zur Neuzeit in keck dahingeworfenen Skizzen der großen Zusammenhänge, aber auch zugleich in fein durchdachten und ausgeführten Silhouetten der einzelnen Schriftsteller ein originelles Bild bot, das noch keiner zu geben auch nur geträumt hatte.

Daß man bei so eifriger Bearbeitung der Literatur auch die Beachtung ihrer äußeren Form, ihrer metrischen Eigentümlichkeiten namentlich, nicht vernachlässigte, wird uns nicht wunder nehmen. Metrische Untersuchungen der Ursprünge romanischer Versmaße, Darstellung der Metrik der Romanen überhaupt, Erörterung von Einzelfragen sind auch der Gegenstand deutscher Forschung gewesen. Im Vergleich dazu bleibt die Stilistik noch sehr zurück. Hier sind wir über ganz bescheidene Anfänge noch nicht hinaus.

Dagegen hat man sich mit der Kultur des Mittelalters und später auch der Neuzeit in Einzeluntersuchungen sehr eifrig beschäftigt. Daß jede darüber erschienene Schrift großen Wert habe, kann man zwar nicht behaupten, aber es ist zu hoffen, daß die Einzelarbeit auch hier die Gesamtarbeit hervorrufen wird. Schon Voßlers neuestes Werk über Frankreichs Kultur im Spiegel seiner Sprachentwickelung ist ein Anzeichen des Verständnisses, das sich in dieser Hinsicht anbahnt. Sprachgeschichte und Literatur sind nicht durch Stacheldraht von einander getrennte Provinzen, sie beleben einander und müssen sich vereinigen, um vom Kulturleben der Romanen älterer und neuerer Zeit ein vollständiges Bild zu entwerfen. Das äußere und innere Leben unserer Nachbarn romanischer Zunge ganz zu erfassen, ist ja das Ideal, dem wir nachstreben. Ob und wie wir es erreichen, bleibt der Zukunft vorbehalten.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: nozmannica