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nach meiner Erfahrung zweit- und später geborene Kinder die grössere Neigung zur Neurose und Psychose, sicher aber den grösseren Ehrgeiz zeigen.[1] In ihrem neurotischen Gehaben tritt oft als bildliche Analogie die Geschichte von Jakob und Esau hervor, als Hinweis, dass es darum geht, der Erste zu sein. Ihre Vorbereitungen und Bereitschaften werden immer darauf hinzielen, keinen gelten zu lassen, jede Beziehung mit den Mitteln der Liebe und des Hasses so umzugestalten, dass ihre Überlegenheit zutage kommt. Die Entwertungstendenz geht oft über alle Grenzen. Dieser Typus schreckt nicht davor zurück, sich zu schädigen, wenn er nur den Anderen damit treffen kann. — Im Formenwandel der Leitlinie kommt es oft zu Anschauungen wie der Cäsars: Lieber im Dorfe der Erste als in Rom der Zweite, — lieber bei der Mutter, beim Vater die Herrscherrolle spielen, als sich einem Ungewissen Los in der Ehe auszusetzen etc. — Vorgesetzten, Lehrern, Ärzten gegenüber regen sich häufig Hassgedanken. Sie sind meist Spielverderber in der Gesellschaft, sobald ihre Überlegenheit nicht deutlich hervortritt, und sie brechen jede Freundschafts- und Liebesbeziehung nach kurzer Zeit oft ab, wenn sich der Andere nicht willenlos unterordnet. Sehr häufig ist ihr Benehmen gleich anfangs brüsk und feindselig, denn sie stehen schon im Kampf, bevor der Andere es ahnt. Sie können es nicht vertragen, wenn jemand vor ihnen steht oder geht, und weichen jeder Schulprüfung aus, weil ihnen die Überlegenheit des Prüfers unerträglich ist. Dass alle diese Erscheinungen auf das Familienmilieu letzter Linie hinzielen können, oft in die unbewusste Absicht münden, die Familie müsse für sie sorgen, ist ein weiterer Schritt zur Erweisung der Bedeutung und Wichtigkeit der Persönlichkeitsidee dieser Patienten. Zuweilen betreiben sie ihre Neurose, wie Andere Erbschleicherei betreiben.

Häufig versteckt sich in dem neurotischen Bestreben eines männlichen Patienten, der Erste bei der Frau sein zu wollen, — sei es dass er ihr Vorleben mit Eifersucht und Misstrauen durchstöbert und sich stets hintergangen glaubt, sei es dass er angespannt darüber wacht, ob die Frau einen Anderen vorziehen könnte, — die Furcht vor der Frau als Ausdruck des Gefühls einer unvollkommenen Männlichkeit. Nur Sicherheit will der Nervöse dann in diesem Punkte haben, und geht darin zuweilen soweit, der Frau allerlei Prüfungen aufzuerlegen. Bei der nunmehr entbrennenden Eifersucht ergeben sich die Griffe von selbst, mittelst deren die Frau herabgesetzt wird, und das Persönlichkeitsgefühl des eifersüchtigen Nervösen hebt sich dadurch so deutlich, dass er oft nicht imstande ist, sich von der mit Recht oder Unrecht Beschuldigten zu trennen. Letztere Tatsache, die man öfters beobachten kann, hängt ganz an der männlichen Leitidee des Patienten. Er kann den Gedanken nicht ertragen, dass man ihn verlassen könnte, und konstruiert nun die Tatsachen dergestalt um, dass er von der Liebe, vom Mitleid, von der Furcht vor einem Unglück, das die Frau oder die Kinder treffen könnte, gehindert wird, den letzten Schritt zu tun.

Vielfach baut sich der Drang, der Erste sein zu wollen, allen zu imponieren, auf einem Minderwertigkeitsgefühl auf, das sich auf die Kleinheit der Gestalt oder der Genitalien mit scheinbarem Recht oder mit Unrecht bezieht. In der entwickelten Neurose bricht der Patient


  1. Vgl. Frischauf, Zur Psychologie des jüngeren Bruders. E. Reinhardt, München. (Im Erscheinen begriffen.)
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 160. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/168&oldid=- (Version vom 31.7.2018)