Seite:Anfangsgründe der Mathematik I p 009.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Kinder müssen sich wägen und wiegen lassen. von allerley Wind der Lehre (b)[1], weil der wahre Lehrer nichts vor sich hat, warum er dieses fordern könnte, das nicht auch der Verführer für sich anführen konnte, als welcher so wohl die Wahrheit zu haben vermeinet, als der andere, dem etwan das blinde Glück dazu verholfen. Alle Fertigkeit kommet durch die Uebung, nicht aber durch Erlernung der Regeln, die man in Acht nehmen muß. Derowegen, wenn gleich in der Vernunftlehre alle Regeln auf das gründlichste erkläret werden, die man, Sachen deutlich zu begreifen und vollständig zu erweisen, in Acht nehmen muß; so kan doch die Vernunftlehre niemanden das Vermögen geben, die Regeln in fertige Uebung zu bringen. Es verhält sich hier nicht anders, wie mit dem Gesetze. Das Gesetz zeiget zwar, was gut und böse ist, und kommet dannenhero daraus Erkenntniß der Sünde; aber es giebet nicht das Vermögen zu einem tugendhaften Wandel. Die Uebung nun in deutlichen Begriffen und auführlichen Beweisen hat man in der Mathematick, wenn man sie mit gehörigem Fleisse erlernet, und daher giebet sie das Vermögen, die Vernunftlehre ohne einigen Fehltritt auszuüben.

  1. Eph. 4, 14.
Empfohlene Zitierweise:
Christian von Wolff: Auszug aus den Anfangs-Gründen aller Mathematischen Wissenschaften. Halle: Rengerische Buchhandlung, 1772, Seite IX. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Anfangsgr%C3%BCnde_der_Mathematik_I_p_009.jpg&oldid=- (Version vom 18.7.2019)