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Wilhelm Bölsche: Daseinskampf und gegenseitige Hilfe in der Entwicklung. In: Kosmos – Handweiser für Naturfreunde Bd.6, Heft 1, S. 14–16; Heft 2, S. 42–46

Wunder, wenn auf der einmal errungenen Stufe des Vielzellers die verwickeltsten Zusammenschlüsse noch wieder aus solchen Vielzellern ganz verschiedener Art möglich wurden. Auch solche Hilfsgenossenschaften beherrschen ganze Naturbilder unseres Planeten, die zu unsern geläufigsten gehören. Die Flechte, die im vereisten Hochgebirge, wie an der Polargrenze das pflanzliche Leben beschließt, verdankt ihr Dasein einer solchen innigsten Verschränkung und Vereinheitlichung einer Alge und eines Pilzes, also himmelweit verschiedener Sonderpflanzen. Die Herrlichkeit des Frühlings mit seiner prangenden Blütenpracht schulden wir wesentlich einem friedlichen Wechselverhältnis gemeinsamer Interessen bei der höchsten Pflanze und den höchst entwickelten Insekten. Das Gebiet sogenannter „Symbiosen"[WS 1], das hier beginnt, ist aber geradezu uferlos. Anfangs, als man einzelne eklatante Fälle kennen lernte, wie das Zusammenhalten von Ameisen und Blattläusen, von Krebsen und Seerosen, konnte es scheinen, als handle es sich hier bloß um ein paar Naturkuriosa. Heute wissen wir, daß die extremsten Fälle sich auf Schritt und Tritt wiederholen. Die gesamte Tier- und Pflanzenwelt ist ein ungeheures Gewirre und Gewebe von lauter Symbiosen. Sie sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Der Naturhaushalt des Lebens auf unserm Planeten stände augenblicklich still, wie wenn man die Sonne löschte: wenn man diesen Genossenschaftsfaktor herauslöste. Wir Menschen hängen auf Tod und Leben an der Symbiose mit Pflanzen, und diese Pflanzen wieder an der mit Bakterien.

Das alles erreicht aber noch immer nicht die volle Größe dessen, was historisch von dem Gemeinsamkeitsprinzip in vollkommenem Friedensschluß geleistet worden ist. Das gesamte Liebesleben im Sinne einer Einigung zweier Geschlechter baut sich auf diesem, und nur auf diesem Boden auf. Wir wissen heute, daß das Entscheidende dabei die Vereinigung einer Samenzelle mit einer Eizelle ist. Der wesentliche Zweck dieser Vereinigung liegt nicht bloß in der Anregung zur Teilung, zur Fortentwicklung der befruchteten Eizelle. Es ist bekannt heute, daß es auch Eizellen gibt, die sich unbefruchtet fortentwickeln, und der anregende Reiz kann in andern Fällen auch durch irgendeinen künstlichen Ersatz, eine chemische oder mechanische Reizung erfolgen. Um was es sich in Wahrheit handelt, ist die Mischung der Charaktere zweier verschiedener Individuen bei der Vereinheitlichung von Samenzelle und Eizelle. In der Möglichkeit, im Erfolg solcher Mischung liegt ein Grundelement aller Fortentwicklung, es liegt zuletzt der größte Einsatz hier für das Inkrafttreten und Walten der ganzen Darwinschen Gesetze. In ihren geheimnisvollen Vererbungskörperchen, den Chromosomen, bringt jede der beiden Liebeszellen ihr Teil Sondercharaktere mit in das Spiel. Das höchste und entscheidendste Wunder aber dabei ist, daß diese beiden Zellen im Akt der Begegnung nicht miteinander kämpfen, daß nicht die eine die andere als stärkere vergewaltigt und vernichtet, sondern daß auch sie in die innigste aller Symbiosen treten. Eine Symbiose, bei der ihre beiderseitigen Chromosomen sich so friedlich zugleich und so einig verbinden, daß ihr Werk fortan ein vollkommen harmonischer Doppelbau wird bis zu dem Grade, daß das Produkt, das Kind, durchaus wieder als Individuum erscheint, obwohl es bis in jede Faser doch den Doppelursprung noch in sich zur Schau trägt. Gegen diesen Akt des Zusammenhaltens der Chromosomen müssen alle andern Symbiosen weit zurücktreten. Es ist der Höhepunkt einer friedlichen Vereinheitlichung: diese gegenseitige Hilfe des Vater- und Mutteranteils zum Bau des Kindes. Schon vom Einzeller anhebend aber sehen wir gerade auch diesen Akt sich immer mehr in alle Zweige des Stammbaums hinein ausbreiten und festsetzen, bis endlich die ganze Fortpflanzung gar nicht mehr geht ohne ihn. Auch in diesem Sinne wäre kein Mensch, wenn er nicht wäre. Und wieder sehen wir gerade ihn dann alle jene Vorgänge, jenen ganzen Zauber mitheraufführen, die das höhere Liebesleben der Organismen auch sonst umgeben und beherrschen. Um diese beiden Zellen und ihre Chromosomen zu dem geheimnisvollen Genossenschaftswerk zu führen, sehen wir die vielzelligen Elternindividuen allenthalben noch einmal wieder, unabhängig von all jenen Symbiosen und Sozialhandlungen sonst, zu Friedensschlüssen, zu Gemeinschaften und gemeinschaftlichen Handlungen sich verknüpfen. Wir sehen Mutter und Kind, Eltern und Kind verknüpft. Es wächst das herauf, was endlich zur Ehe geführt hat. Es wächst, tief unten schon im Tierreich beginnend, das Genossenschaftsverhältnis von Eltern und Kindern, es wächst die Familie als eine Hochburg gegenseitiger Hilfe herauf. Auf der andern Seite schließt sich ebenso sinnfällig hier das Gebiet der „geschlechtlichen Zuchtwahl“[WS 2] an, das Darwin selber noch bearbeitet hat. Wenn Darwins Deutungen richtig sind, so sehen wir die Liebe hier sogar

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Symbiose, Vergesellschaftung von Individuen unterschiedlicher Arten
  2. Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex (1871)
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Bölsche: Daseinskampf und gegenseitige Hilfe in der Entwicklung. In: Kosmos – Handweiser für Naturfreunde Bd.6, Heft 1, S. 14–16; Heft 2, S. 42–46. Franck'sche Verlagshandlung, Stuttgart 1909, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:B%C3%B6lsche_Daseinskampf_S44.pdf&oldid=- (Version vom 31.7.2018)