Seite:Bekker Neue Musik Vortrag.djvu/019

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Meister kontrapunktischen Könnens, wir sehen in ihm nicht nur den gewaltigen Tondichter, wir sehen in ihm vorzugsweise den unerreichbaren melodischen Gestalter. Seine melodische Kunst war begründet in einer voraussetzungslosen Kraft des linearen Musikempfindens, für das spätere Zeiten trotz ihres Bach-Kultus keinen Blick gehabt haben. Ich möchte hier hinweisen auf ein Buch des Berner Privatdozenten Ernst Kurth über „Die Grundlagen des linearen Kontrapunkts“, in dem die hier angedeuteten Gedanken näher ausgeführt sind. Kurth hat den Satz geprägt „Melodie ist Bewegung“, d. h. sie ist die Kraft, die eine dauernde Bewegung trägt. Betrachtet man eine Bachsche Stimme durch ein ganzes Werk hindurch, so erstaunt man über die unerhörte Mannigfaltigkeit der Bewegung, über die in sich geschlossene Lebensindividualität, die sich hier in voller Freiheit offenbart. Beobachtet man dagegen die Einzelstimme eines klassischen oder romantischen Werkes, so sieht man sofort, selbst bei einem Streichquartett von Beethoven, daß hier nur ein relativ individuelles Leben spricht, das in seiner Gesamtentwicklung durch das Ganze bedingt ist und erst aus der Vorstellung des Ganzen heraus seine Impulse empfängt. Damit soll nicht etwa ein Wertvergleich ausgesprochen, wohl aber gesagt werden, daß eine solche, das einzelne dem Ganzen unterordnende und erst aus ihm heraus belebende Kunst unweigerlich zur Verarmung des rein melodischen Empfindungs- und Schöpfungsvermögens führen mußte. Wenn Reger sich mit fast ungestümer Vehemenz, wie sie seiner bajuvarischen Natur entsprach, wieder Bach zuwandte, wenn er unser an harmonische Periodizität und Symmetrie gewöhntes Ohr kränkte und wieder Einstellung des Ohres auf die melodische Bedeutung der Einzelstimme, auf die Ausdruckskunst des polyphonen Stils verlangte, so war er damit theoretisch durchaus im Recht und war vor allem ein guter Lehrmeister. Praktisch freilich konnte die Wirkung nicht in unserem Sinne ausfallen. Zunächst darum nicht,

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Paul Bekker: Neue Musik. Stuttgart und Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt, 1923, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bekker_Neue_Musik_Vortrag.djvu/019&oldid=- (Version vom 31.7.2018)