Seite:Bekker Neue Musik Vortrag.djvu/022

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sich auf deren Bewegungsbedürfnisse einstellen, vielmehr: sie wird von vornherein so gestaltet, daß die harmonische Gliederung durch sie nicht beeinträchtigt wird. Wohin man sieht, findet man, daß die Entwicklung, wie sie durch die Kunst der musikalischen Klassiker und deren unmittelbare Vorgänger, also von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an vorbereitet und bis in die neueste Zeit hinein durchgeführt wurde, eine immer stärkere Einengung des melodischen Empfindens und Formungsvermögens zur Folge hatte, zugunsten eines sich ständig steigernden harmonischen Empfindens. Wir sind heute so weit gediehen, daß wir überhaupt nicht mehr wissen, was eine wahrhafte Melodie ist – nämlich Bewegungskraft des linearen Ausdrucks –, sondern daß wir die Melodie nur noch auffassen und bewerten auf Grund oder doch unter stillschweigender, unbewußter Inrechnungstellung der in ihr eingeschlossenen harmonischen Werte.

Es ist gewiß schon eine Errungenschaft, daß wir heute dahin gelangt sind, dieses Grundübel der neuzeitlichen Musikentwicklung, diese innerste Ursache unserer melodischen Verarmung zu erkennen. Es ist auch zweifellos eine Errungenschaft, daß wir in den anfangs erwähnten Bestrebungen zum Ausbau unseres Tonsystems, in den weiterhin angedeuteten Bemühungen zur Neubelebung des polyphonen Musikempfindens Symptome einer Reaktion verzeichnen können, die gegen das vorwiegend harmonische Musikempfinden und -gestalten gerichtet sind und auf eine Stärkung und Betonung des melodischen Elementes zielen. Aber darüber dürfen wir uns doch keiner Täuschung hingeben, daß dies zunächst nur Ansätze und Einzelerscheinungen sind, und daß vor allem von diesen Ausgangspunkten allein aus eine wirkliche Neugestaltung unseres musikalischen Ausdrucksvermögens nicht erfolgen kann. Ob melodische oder ob harmonische Gestaltung überwiegen – dies ist eine Frage, die mehr die kritisch ästhetische Betrachtung angeht als den schöpferischen Musiker. Das eigentliche

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Paul Bekker: Neue Musik. Stuttgart und Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt, 1923, Seite 104. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bekker_Neue_Musik_Vortrag.djvu/022&oldid=- (Version vom 31.7.2018)