Seite:Bekker Neue Musik Vortrag.djvu/025

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

erster Linie eben wieder die große schöpferische Individualität, die mit nachtwandlerischer Sicherheit das findet und trifft, was die nur verstandesmäßige Opposition niemals erreichen kann? Gewiß – nur dürfen wir nicht glauben, daß auch der ganz große Künstler rein aus blindem Instinkt heraus gleich das Ziel findet. Wenn man sich unsere Produktion genau ansieht, und zwar nicht nur die landläufige bekannte, sondern die vielfach noch gar nicht oder nur vorübergehend und von wenigen zu tönendem Leben erweckte, so findet man doch vieles, was, an sich gewiß noch nicht vollkommen, doch deutlich einen Willen und einen Weg zu neuen Formungsgesetzen spüren läßt. Ich nenne zunächst die Bestrebungen, die, unter bewußter Umgehung der harmonischen Vorstellungsweise, an die alten Vorbilder des polyphonen Stiles anknüpfen, ohne dabei der akademischen Nachahmung zu verfallen. Als ersten unter diesen Führern zu neuen Zielen nenne ich einen der größten Meister des melodisch-harmonischen Stiles: Beethoven. Nicht den Beethoven der Eroica und der 9. Sinfonie, sondern den Beethoven der großen B-Dur-Fuge aus op. 106, den Beethoven der großen B-Dur-Fuge aus der Missa solemnis und den Beethoven der großen B-Dur-Fuge für Streichquartett. Dies sind drei Stücke, die außerhalb des sonstigen Schaffens auch des späten Beethoven stehen und nicht nur des späten Beethoven sondern des ganzen Jahrhunderts, das ihm folgte, drei Stücke von einem ungeheuren Zukunftsahnungsvermögen, das uns aufs tiefste betroffen macht, drei Stücke, an deren Problematik die nächstfolgenden Generationen stumm und scheu vorübergegangen sind, denn hier war etwas, das allen Glättungsversuchen widerstand. Hier war etwas, was sie nicht begreifen konnten – ich meine: nicht begreifen dem Sinne der Konzeption nach. Es ist das Problem des neuen melodischen Stiles aus dem Geist der alten Polyphonie, das Beethoven hier vorahnend aufgreift, in drei unerhört gewaltigen Werken behandelt für Klavier, Chor und

Empfohlene Zitierweise:
Paul Bekker: Neue Musik. Stuttgart und Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt, 1923, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bekker_Neue_Musik_Vortrag.djvu/025&oldid=- (Version vom 31.7.2018)