Seite:Bekker Neue Musik Vortrag.djvu/032

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indem sie diese Grenzen überspringt, sie ist ein Erschautes, ein Spiegelbild geistigen Geschehens. Ob Menschen, die anders denken und empfinden, wirklich imstande sind, eine Schubertsche Melodie richtig zu hören – ob es bei ihnen nicht auch da die äußerlichen rhythmisch harmonischen Gliederungen sind, die sie als Offenbarung Schubertscher Melodienkraft bewundern? Wir haben uns heute frei gemacht von der strophisch bedingten Anschauung des Gedichtes, wie Schubert sie hatte, von der stimmungsmäßigen, wie sie der Romantik, namentlich Schumann eigen war, von der psychologisch charakterisierenden, wie sie die neudeutsche Schule und namentlich Hugo Wolf pflegte. Wir sehen heute im Lied nicht so sehr die Worte und deren Inhalt, wir sehen das geistige Geschehen, das der Dichtung als solcher zugrunde liegt. Und dieses geistige Geschehen in ein musikalisches umzusetzen, das Unterbewußte des dichterischen Vorgangs, das den Worten und Stimmungen, überhaupt dem irgendwie äußerlich Faßbaren des Gedichtes oft ganz fern liegt – dieses in eine melodische Bewegung zu fassen – das ist das Wesen und Ziel des modernen Liedes, und für dieses erscheint mir die Lyrik Rottenbergs als besonders reines und innerlich selbständiges Beispiel.

Die neue Kammermusik wird am bezeichnendsten wohl durch Arnold Schönberg repräsentiert. Schönberg ist eine Erscheinung, deren schöpferische Bedeutung auch von einem großen Teil derer anerkannt wird, die seinem Schaffen, namentlich den späteren Werken, ablehnend gegenüberstehen. Die Ablehnung gründet sich hauptsächlich auf den äußerlich abstoßenden Eindruck von Schönbergs klangsinnlicher Tonsprache. Sie ist äußerst herb und spröde, dem Ohr, das gewohnt ist, überredet zu werden, unangenehm, wenn nicht gar widerwärtig. Es ist eine Sprache von Tonideen, gehirnmäßig erfaßt, nicht aus der Vorstellung der Klangwirkung sondern aus der der Klangbedeutung heraus konzipiert. Es mag nun dahingestellt bleiben, ob und inwieweit das

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Paul Bekker: Neue Musik. Stuttgart und Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt, 1923, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bekker_Neue_Musik_Vortrag.djvu/032&oldid=- (Version vom 31.7.2018)