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Walter Benjamin: Das Dornröschen. In: Der Anfang. Vereinigte Zeitschriften der Jugend, H. 3/1911, S. 51–54

Hamlets Herz ist verbittert. Seinen Oheim sieht er als Mörder seine Mutter in Blutschande leben. Und welches Gefühl gibt ihm diese Erkenntnis? Wohl empfindet er Ekel vor der Welt, aber nicht in misanthropischem Eigenwillen kehrt er sich von ihr ab, sondern in ihm lebt das Gefühl einer Mission: er kam zur Welt, sie einzurenken. Auf wen könnten diese Worte wohl besser passen, als auf die heutige Jugend? Trotz aller Worte von Jugend, Lenz und Liebe liegt in jedem denkenden jungen Menschen der Keim zum Pessimismus. Doppelt stark ist dieser Keim in unserer Zeit. Denn wie kann ein junger Mensch, vor allem der Großstädter, den tiefsten Problemen, dem socialen Elend gegenüberstehen, ohne, wenigstens zeitweise, vom Pessimismus übermannt zu werden? Da gibt es denn keine Gegenbeweise, da muß und kann nur helfen das Bewußtsein: und mag die Welt noch so schlecht sein, so kamst du, sie zu erheben. Das ist nicht Hochmut, sondern nur Pflichtbewußtsein.

Dieses hamletische Bewußtsein von der Schlechtigkeit der Welt und von der Berufung sie zu bessern, erfüllt auch Karl Moor. Doch wenn Hamlet über die Schlechtigkeit der Welt nicht sich selbst vergißt, alle Rachegelüste niederzwängt, um selbst rein zu bleiben, so verliert Karl Moor in seinem anarchistischen Freiheitsrausch die Zügel über sich selbst. So muß er, der als Befreier auszog, sich selber unterliegen. Hamlet unterliegt der Welt und bleibt Sieger.

Später hat Schiller noch einmal einen Repräsentanten der Jugend geschaffen: Max Piccolomini; aber mag er auch sympathischer sein als Karl Moor, als Mensch steht er uns (uns Jungen) nicht so nahe; denn Karl Moors Kämpfe sind unsere Kämpfe, die ewige Auflehnung der Jugend, die Kämpfe mit Gesellschaft, Staat, Recht. Max Piccolomini steht in einem engeren ethischen Konflikt.

Goethe! Erwarten wir bei Goethe Sympathie für die Jugend? Wir denken an den Tasso, wir glauben sein strenges Gesicht oder sein ganz feines sarkastisches Lächeln hinter der Maske des Antonio zu gewahren. Und doch – Tasso. Da ist wieder die Jugend, allerdings auf ganz anderem Grunde; nicht umsonst ist ein Dichter der Held. Am Hofe von

Empfohlene Zitierweise:
Walter Benjamin: Das Dornröschen. In: Der Anfang. Vereinigte Zeitschriften der Jugend, H. 3/1911, S. 51–54. Berlin 1911, Seite 52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Benjamin_Dornr%C3%B6schen.pdf/2&oldid=- (Version vom 31.7.2018)