Seite:Dahl Trichobothrien und Systematik.djvu/2

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

verschiedenen Autoren der Wert der einzelnen Organsysteme für die systematische Anordnung recht verschieden eingeschätzt wird. Unter den Organsystemen sind bisher besonders in Betracht gezogen: 1) Die Gliederung des Körpers. 2) Die Teilnahme der Extremitätengrundglieder an der Bildung der Mundwerkzeuge. 3) Die Lage und die Ausbildung der Atmungsorgane. 4) Die Gliederung und überhaupt der Bau der Extremitäten. – Da ich in der Ordnung der echten Spinnen feststellen konnte, daß die Hörhaare in ganzen Unterordnungen und Familien äußerst konstant in ihrer Anordnung auftreten und deshalb bei Aufstellung des Systems von hohem Werte sind[1], lag die Frage nahe, ob sie nicht auch bei Aufstellung eines Systems der Spinnentiere im allgemeinen als Hilfsmittel herangezogen werden können. Eine Untersuchung in dieser Richtung hat, wie ich im nachfolgenden zeigen werde, eine bejahende Antwort ergeben.

Bevor ich auf die systematische Bedeutung der Hörhaare (Trichobothrien) eingehe, muß ich zunächst einige anatomisch-physiologische Bemerkungen vorausschicken.

Im Jahre 1883 wies ich in einem Aufsatz[2] darauf hin, daß feine, eigenartig eingelenkte, äußerst bewegliche Haare in der Klasse der Spinnentiere weit verbreitet und sehr konstant angeordnet auftreten. Ich schloß aus Bau und Konstanz, daß diese Gebilde wahrscheinlich eine höhere physiologische Bedeutung hätten, zumal da man sie von Haargebilden, die ihrer Stellung und ihrem Bau nach sicher Tasthaare sind, scharf unterscheiden könne. Es zeigte sich, daß man das Ende der längeren dieser zarten Haare bei Anstreichen eines tieferen Tones auf der Geige unter etwa 600-facher Vergrößerung (Seibert 3, V) deutlich in Schwingungen geraten, d. h. unscharf werden sieht, und aus dieser Tatsache folgerte ich, daß es Hörhaare seien.

Meine Deutung ist von zahlreichen Autoren kritisiert worden, und dabei sind z. T. die wunderbarsten Ansichten zutage getreten[3]. Der erste Autor, der den Gegenstand eingehender behandelte, war W. Wagner[4]. Wagner unterschied, wie ich, die fraglichen Sinneshaare scharf von den Tasthaaren, meinte aber, daß sie nicht zum Hören, sondern zur Wahrnehmung der Windrichtung und des bevorstehenden Wetters dienen. Er stützt sich, meiner Deutung gegenüber, auf seine negativ ausgefallene Beobachtung hinsichtlich der durch Töne erzeugten


  1. Zool. Anz. Bd. 29. 1905. S. 614ff. und Nova Acta, Abh. Deutsch. Akad. Naturf. Bd. 88. Nr. 3. 1908. S. 192.
  2. Zool. Anz. Bd. 6. 1883. S. 267ff. und Arch. f. mikr. Anat. Bd. 24. 1884. S. 1ff.
  3. So wird in C. Vogt und E. Yung, Lehrbuch der praktischen vergl. Anatomie Bd. 2, Braunschw. 1889–94, S. 205 behauptet, diese Haare, die so konstant auftreten, daß Systematiker an ihrer Anordnung Gattungen und Familien unterscheiden, seien »regenerierte Haare« (!).
  4. Bull. Soc. Impér. Naturalistes Moscou, 1888. S. 3ff.
Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Dahl: Die Hörhaare (Trichobothrien) und das System der Spinnentiere. Wilhelm Engelmann, Leipzig 1911, Seite 523. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dahl_Trichobothrien_und_Systematik.djvu/2&oldid=- (Version vom 31.7.2018)