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61
Indessen ich zur Tiefe stürzt’ im Fliehn,

Da zeigte meinem Blicke dort sich Einer,[1]
Der durch zu langes Schweigen heiser schien.

64
„„Wer du auch seist,““ so rief ich, als ich seiner

Gewahrt in großer Wüste, „„nenn’ ich dich
Mensch oder Schatten, – o erbarm dich meiner!““

67
Und jener sprach: „Nicht bin, doch Mensch war ich;

Lombarden waren die, so mich erzeugten,
Und beide priesen Mantuaner sich.

70
Spät, als die Römer sich dem Julius beugten,[2]

Sah ich das Licht, sah des Augustus Thron,
Zur Zeit der Götter, jener Trugerzeugten.

73
Ich war Poet und sang Anchises Sohn,

Der Troja floh, besiegt durch Feindestücke,
Als, einst so stolz, in Staub sank Ilion.

76
[11] Und du – du kehrst zu solchem Gram zurücke?

Was bleibt die freud’ge Höhe nicht dein Ziel,
Die Anfang ist und Grund zum vollen Glücke?“

79
„„So bist du,““ rief ich, „„bist du der Virgil,

Der Quell, dem reich der Rede Strom entflossen?““
Ich sprach’s mit Scham, die meine Stirn befiel.

82
„„O Ehr’ und Licht der andern Kunstgenossen,[3]

Vergilt jetzt große Lieb’ und langen Fleiß,
Die meinem Forschen dein Gedicht erschlossen.

85
Mein Meister, Vorbild! dir gebührt der Preis,

Den ich durch schönen Stil davongetragen,[4]
Denn dir entnahm ich, was ich kann und weiß.

88
Sieh dieses Thier, o sieh mich’s rückwärts jagen,

Berühmter Weiser, sei vor ihm mein Hort,
Es macht mir zitternd Puls’ und Adern schlagen.““

91
„Du mußt auf einem andern Wege fort,“[5]

Sprach er zu mir, den ganz der Schmerz bezwungen,
„Willst du entfliehn aus diesem wilden Ort.

94
Denn dieses Thier, das dich mit Graun durchdrungen,

Läßt Keinen ziehn auf seines Weges Spur,
Hemmt Jeden, bis es endlich ihn verschlungen.

97
Es ist von böser, tückischer Natur,

Und nimmer fühlt’s die wilde Gier ermatten,
Ja jeder Fraß schärft seinen Hunger nur.

100
Mit vielen Thieren sieht man es sich gatten,[6]

Bis daß die edle Dogge kommt, die kühn[7]
Es würgt und hinstürzt in die ew’gen Schatten.


  1. 62 ff. Da macht endlich die Vernunft sich geltend, welche aus dem, was von den Sinnen wahrgenommen, vom Verstand erfaßt ist, folgerecht weiter schließend, uns der Dinge Wesen zeigt, uns Falsches und Wahres erkennen läßt, und uns den Weg zeigt, jenes abzuwerfen und dieses uns anzueignen. Aber auch sie kann, wenn sie lang in uns geschwiegen, nicht sofort beim ersten Wiedererwachen klar und deutlich zu uns sprechen, sie scheint heiser durch zu langes Schweigen.
    Die Vernunft 1. im Allgemeinen sehen wir in dem klaren, gemäßigten und besonnenen Virgil personificirt. Wenn auch der Genius desselben ohne Zweifel dem unsers Dichters weit untergeordnet und die dichterische Art und Weise Beider unendlich verschieden, ja sich in vieler Beziehung entgegensetzt ist, so finden wir doch in der großen Verehrung, welche das Mittelalter diesem Dichter widmete, die Stellung hinreichend erläutert, welche Dante demselben in seinem Gedichte anweist. Fand man doch in einigen Versen desselben selbst die prophetische Verkündigung des Christenthums (vergl. Fegefeuer Ges. 22 V. 70–72). Um so mehr war er geneigt, die Vernunft darzustellen, welche als Führerin zum Höhern erscheint und, das Höchste vorahnend, uns demselben so nahe bringt, als dies ohne den Glauben möglich ist. [Sodann 2. war Virgil für Dante, als Sänger der Aeneis, der Verkündiger des heil. röm. Kaiserthums deutscher Nation, seines politischen Lieblingsgedankens und vertritt daher, wie schon S. 6 u. 7 gesagt, die Vernunft im Besonderen zugleich, d. h. die rechte politische Einsicht und Weltordnung, welche für Dante ebenfalls zu lang „überhört, durch zu langes Schweigen heiser“ – war.]
  2. 70. Spät, 70 v. Ch., als es mit dem Heidenthum und seinen falschen Göttern zu Ende ging, aber noch vor Cäsars Dictatur.
  3. 82. Sämmtliche Schriften des Dichters beweisen, daß er, ungeachtet der Verschiedenheit ihrer Naturen, die Werke Virgils zum Gegenstand seines fleißigsten Studiums gemacht hatte. Vielleicht hat Virgils zierliche Einfachheit und Klarheit dazu beigetragen, ihn von dem Schwulst entfernt zu halten, welchen andere Dichter jenes Zeitalters hervorbrachten, und insofern verdient er wohl auch die Namen des Vorbildes und Meisters (vgl. Fegefeuer Ges 21 V. 49–63).
  4. 86. Dante’s gerechtes Selbstgefühl, als Schöpfers der italienischen Schriftsprache!
  5. 91. D. h. auf dem Wege durch die Hölle, die Buße allein kannst du zur Höhe des Heils kommen.
  6. 100. [BN 1]Sich gatten. Vgl. Anm zu 49 – 60.
  7. 101. [In Verona herrschte das hochgeehrte Ghibellinengeschlecht der Skaliger in seinem jüngsten, hochbegabten Sprossen Cane della Scala, [12] genannt Can grande. Auf ihn, den 1311 Heinrich VII. sogar zu seinem Stellvertreter in der Lombardei ernannt, richteten sich die Blicke aller Ghibellinen. Er ist zweifelsohne auch in dieser prophetischen, aber vielleicht erst später von Dante eingeschobenen Stelle unter „dem edlen Windhund“ gemeint, welcher zwischen Feltro im Piavethal und dem sog. Feltrischen Gebiet am nordöstlichen Appenninenhang aufstehen solle. Denn dies war eben Can grande’s Herrschaft. – Man sieht zugleich, wie unter der Wölfin, welcher C. grande den Garaus machen soll, vornehmlich politische, zeitgeschichtliche Beziehungen versteckt liegen. S. zu 46–60 Schluß. Derselbe Fürst hat später den verbannten Dante, 1317–20, aufgenommen, worauf sich die ehrenden Worte Parad. 17, 76–10 beziehen.]

Berichtigungen und Nachträge

  1. Ges. 1, V. 100, Anm. Das Nähere über Can grande und den Dante’schen Erretter überhaupt vgl. zu Parad. 17, 50 und 90, Fegf. 33, 45. Berichtigungen und Nachträge, S. 621
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 10 bzw. 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_010011.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)