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Vordem mit Blut getüncht durch ihre Schuld,

91
Gern bäten wir, daß Fried’ und Ruh’ dir werde,

Wär’ uns der Fürst des Weltenalls geneigt,
Denn dich erbarmet unsres Weh’s Beschwerde.

94
Wie ihr zur Red’ und Hören Lust bezeigt,

So reden wir, so leihn wir euch die Ohren,
Wenn nur, wie eben jetzt, der Sturmwind schweigt.

97
Ich ward am Meerstrand in der Stadt geboren,[1]

Wo seinen Lauf der Po zur Ruhe lenkt,
Bald mit dem Flußgefolg im Meer verloren.

100
Die Liebe, die in edles Herz sich senkt,

Fing diesen durch den Leib, den Liebreiz schmückte,
Der mir geraubt ward, wie’s noch jetzt mich kränkt.

103
Die Liebe, die Geliebte stets berückte,

Ergriff für diesen mich mit solchem Brand,
Daß, wie du siehst, kein Leid ihn unterdrückte.

106
Die Liebe hat uns in ein Grab gesandt –

Kaina harret deß, der uns erschlagen.“[2]
Der Schatten sprach’s, uns kläglich zugewandt.

109
Vernehmend der bedrängten Seelen Klagen

Neigt’ ich mein Angesicht und stand gebückt.
„Was denkst du?“ hört’ ich drauf den Dichter fragen.

112
„„Weh,““ sprach ich, „„welche Glut, die sie durchzückt,

Welch süßes Sinnen, liebliches Begehren
Hat sie in dieses Qualenland entrückt?““

115
Drauf säumt’ ich nicht zu Jener mich zu kehren,

„„Franziska,““ so begann ich jetzt, „„dein Leid
Drängt mir ins Auge fromme Mitleidszähren.

118
Doch sage mir: In süßer Seufzer Zeit,

Wodurch und wie verrieth die Lieb’ euch Beiden,
Den schüchtern leisen Wunsch der Zärtlichkeit?““

121
Und Sie zu mir: „Wer fühlt wohl größres Leiden,

Als der, dem schöner Zeiten Bild erscheint
Im Mißgeschick? Dein Lehrer mag’s entscheiden.[3]

124
[35] Doch da dein Wunsch so warm und eifrig scheint,

Zu wissen, was hervor die Liebe brachte,
So will ich’s thun, wie wer da spricht und weint.

127
Wir lasen einst, weil’s Beiden Kurzweil machte,[4]

Von Lancelot, wie ihn die Lieb’ umschlang.
Wir waren einsam, ferne vom Verdachte.

130
Das Buch regt’ in uns auf des Herzens Drang,

Trieb unsre Blick’ und macht’ uns oft erblassen,
Doch eine Stelle war’s, die uns bezwang.

133
Als wir von dem ersehnten Lächeln lasen,

Auf das den Mund gedrückt der Buhle hehr,
Da naht’ Er, der mich nimmer wird verlassen,

136
Da küßte zitternd meinen Mund auch Er. –

Ein Kuppler war das Buch, und der’s verfaßte – [5]
An jenem Tage lasen wir nicht mehr.

139
Der eine Schatten sprach’s, der andre faßte

Sich kaum vor Weinen, und mir schwand der Sinn
Vor Mitleid, daß ich wie im Tod erblaßte,

142
Und wie ein Leichnam hinfällt, fiel ich hin.
_______________

Sechster Gesang.
III. Kreis. Die Schlemmer. Cerberus. Ciacco weissagt.

1
Bei Rückkehr der Erinn’rung, die sich schloß[6]

Vor Mitleid um die Zwei, das so mich quälte,
Daß das Bewußtsein mir vor Schmerz zerfloß,


  1. 97. Die hier bezeichnete Stadt ist Ravenna, in deren Nähe der Po, nachdem er vorher viele kleine Flüsse aufgenommen, ins Meer fällt.
  2. 107. Kaina diejenige Abtheilung des letzten Kreises der Hölle, in welcher die Mörder und Verräther ihrer Verwandten bestraft werden. Als Dante dies schrieb, lebte wahrscheinlich Franziska’s Gemahl noch.
  3. 123. Unter dem Lehrer ist wahrscheinlich Boethius gemeint, in [35] der Stelle seines Buches de consolatione: in omni adversitate fortunae infelicissimum genus infortunii est, fui se felicem.
  4. 127. Lancelot, der Held eines zu seiner Zeit berühmten Ritter-Romans, einer der Ritter der Tafelrunde und Liebhaber der Königin Ginevra.
  5. 137. Eigentlich Galeotto. So hieß im Roman der Vermittler zwischen Lancelot und Ginevra. Zu Dante’s Zeit sollen die Unterhändler in Liebesangelegenheiten allgemein mit diesem Namen belegt worden sein.
  6. VI. 1 – 3. Dante beschreibt nicht, wie er vom zweiten Kreise in den dritten gekommen, wahrscheinlich um anzudeuten, daß er auch nach seinem Erwachen von der Ohnmacht sich noch zu tief erschüttert gefunden habe, als daß er auf den Weg Achtung hätte geben sollen. Erst die neuen Strafen ziehen seine Aufmerksamkeit auf sich.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 34 bzw. 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_034035.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)