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94
Daß er die Furt uns zeig’ und jenseits ihn

Trag auf dem Kreuz ans andere Gestade;
Denn er, kein Geist, kann durch die Luft nicht ziehn.“

97
„Auf Nessus! leite sie auf ihrem Pfade,“

Rief Chiron rechts gewandt, „bewahre sie,
Daß sonst kein Trupp der Unsern ihnen schade.“

100
Da solch Geleit uns Sicherheit verlieh,

So gingen wir am rothen Sud von hinnen.
Aus dem die Rotte der Gesottnen schrie.

103
Bis zu den Brauen waren Viele drinnen.

Tyrannen sind’s, erpicht auf Gut und Blut,“
So hört’ ich den Centauren nun beginnen.

106
„Hier weinen sie ob mitleidloser Wuth.

Den Alexander sieh und Dionysen,[1]
Der auf Sicilien Schmerzensjahre lud.

109
Die schwarzbehaarte Stirn sieh neben diesen,

Den Ezzelin – und jener Blonde dort[2]
Ist Obiz Este, der, wie’s klar erwiesen,[3]

112
Vertilgt ward durch des Rabensohnes Mord.“

Den Dichter sah ich an, der sprach: „der zweite[4]
Bin ich, der erste der, merk’ auf sein Wort.“

115
Und weiter gab uns Nessus das Geleite

Und stand bei Andern, welche bis zum Rand
Des Munds der Richterspruch vom Sud befreite.

118
Und seitwärts zeigt’ er einen mit der Hand:

[71] Der macht’ einst am Altar das Herz verbluten,[5]
Das man noch jetzt verehrt am Themse-Strand.“

121
Und Viele hielten aus den heißen Fluten[6]

Das ganze Haupt, dann Brust und Leib gestreckt,
Auch kannt’ ich Manchen in den nassen Gluten.

124
Stets seichter ward das Blut, so daß bedeckt

Am Ende nur der Schatten Füße waren,
Und dorten ward des Grabens Furt entdeckt.

127
Da sagte der Centaur: „Du wirst gewahren,

Wie immer seichter hier das Blut sich zeigt.
Jetzt aber, will ich, sollst du auch erfahren,

130
Daß dort der Grund je mehr und mehr sich neigt,

Bis wo die Flut verrinnt in jenen Tiefen,
Woraus das Seufzen der Tyrannen steigt.

133
Gerechter Zorn und Rache Gottes riefen[7]

Dorthin der Erde Geißel, Attila,
Pyrrhus und Sextus; und von Thränen triefen,

136
Von Thränen, ausgekocht vom Blute, da

Die beiden Rinier, arge Raubgesellen,[8]
Die man die Straßen hart bekriegen sah –“

139
Hier wandt’ er sich, rückeilend durch die Wellen.[9]
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  1. 107. Alexander, wahrscheinlich nicht Philipps Sohn, welchen der Dichter im Convito sehr rühmt, sondern Alexander Phereus, Tyrann von Thessalonien – Dionysius, Tyrann von Syrakus.
  2. 110. Ezzelino di Romano, Herr von Trevigi, Schwiegersohn und Statthalter Friedrich’s des Zweiten in der Trevigianer Mark und dessen mächtiger Bundesgenosse, der blutigste der vielen kleinen Tyrannen, welche das heillose Zeitalter erzeugte, dessen Verhältnisse so viele Thoren unserer Zeit so gern zurückführen möchten; mit Recht vom Dichter so tief in das siedende Blut getaucht, daß nur die schwarz behaarte Stirn noch hervorragt.
  3. 111. Obiz von Este, Markgraf von Ferrara und der Mark Ancona, welchen sein eigener Sohn getödtet haben soll. Der Dichter nimmt diese That, die niemals ins Klare gebracht worden, für erwiesen an.
  4. 113. Virgil weist den Dichter, der sich zu ihm gewandt, an Nessus, der ihn besser belehren kann, als Er.
  5. [71] 119. [Guido von Monfort, Statthalter Carls von Anjou in Toskana, Sohn des aus Frankreich ausgewanderten, in England zum Grafen von Leicester erhobenen Simon. Seines Vaters Leiche, im Kampf gegen Heinrich III. gefallen, ward von den Siegern verstümmelt. Dies zu rächen durchbohrte Guido den Neffen Heinrichs III., den Prinzen Heinrich von England – über dessen persönlichen Zusammenhang mit seiner Schandthat aber nichts bekannt ist – also ohne Zweifel aus purer Rachsucht gegen England im Jahr 1271 zu Viterbo in der Kirche, in dem Augenblicke, da die Hostie erhoben wurde, mit einem Dolchstoß. Das Herz Heinrichs wurde nach London gebracht.]
  6. 121 ff. Nach der Größe ihrer Verbrechen stecken die Gewaltthätigen mehr oder minder tief im Blutstrome, so daß die größten Uebelthäter darin ganz verborgen, den geringsten aber nur die Füße davon bedeckt sind.
  7. 133. 134. Attila, der Hunnenkönig, die Geißel Gottes – Pyrrhus, König von Epirus, der Römerfeind und Verwüster Griechenlands – Sextus, entweder Sextus Pompejus, der Seeräuber, oder der Sohn des großen Pompejus.
  8. 137. Rinier von Corneto und Rinier de Pazzi, beide verrufene Räuber und Mörder.
  9. 139. Es ist nicht deutlich ausgesprochen, daß Nessus den Dichter [71] wirklich nach den V. 91 u. 95 vom Virgil dem Chiron vorgetragenen Bitten über den Blutstrom gebracht, wie und wo er ihn auf den Rücken genommen und wieder abgesetzt habe. Da aber Dante herüber ist, ohne sich die Füße verbrannt zu haben, so müssen wir annehmen, daß es geschehen sei.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 70 bzw. 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_070071.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)