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So wie sein Land der Flandrer unterstützt,

Bang vor der Springflut Ansturz, die vom Baue
Des festen Damms rückprallend schäumt und spritzt;

7
Wie längs der Brenta Schloß und Dorf und Aue

Die Paduaner sorglich wohl verwahrt,
Bevor der Chiarentana Frost erlaue;[1]

10
So war der Damm auch hier von gleicher Art,

Nur daß in minder hohen, dicken Massen
Vom Meister dieser Bau errichtet ward.

13
Schon weit zurück hatt’ ich den Wald gelassen,[2]

So daß der Blick, nach ihm zurückgewandt,
Nicht mehr vermögend war, ihn zu erfassen.

16
Da kam am Fluß des Damms ein Schwarm gerannt,

Und wie am Neumond bei des Abends Grauen
Nach dem und jenen man die Blicke spannt,

19
So sahn wir sie auf uns nach oben schauen;

Und wie der alte Schneider nach dem Oehr,[3]
So spitzten sie nach uns die Augenbrauen.

22
Und wie sie alle gafften, faßte Wer,

Mich bei dem Saum, indem er mich erkannte,
Und rief erstaunt: „Welch Wunder! Du? Woher?“

25
Als er nach mir den Arm ausstreckte, wandte

Ich ihm den Blick aufs Angesicht, das schier
Geröstet war; doch zeigte das verbrannte

28
[85] Sogleich die wohlbekannten Züge mir;

Ich neigte drum mein Antlitz zu dem seinen,
Und rief: „„Ach, Herr Brunetto, seid ihr hier?““[4]

31
Und Er: „Mein Sohn, nicht mag dir’s lästig scheinen,

Zurückzugehn, denn gern wohl spräch’ ich dich.
Laß die vorbeiziehn, die mit mir erscheinen.“

34
„„Ich bitt’ euch selbst darum,““ entgegnet’ ich,

„„Daher ich gern mit euch mich setzen werde,
Wenn’s dieser billigt, denn Er leitet mich.““

37
„Ach Sohn, wer stille steht von dieser Heerde,[5]

Muß unbeweglich hundert Jahr hernach
Daliegen, Glut erduldend, auf der Erde.

40
Drum geh’, ich folge deinem Tritte nach,

Bis wir aufs Neu zu meiner Rotte kommen,
Die ewig läuft, beweinend ihre Schmach.“

43
Gern wär’ ich neben ihn hinabgeklommen,

Doch wagt’ ichs nicht und ging, das Haupt geneigt,
Wie wer da geht von Ehrfurcht eingenommen.

46
„Du, welcher vor[WS 1] dem Tod herniedersteigt,“

Begann er nun, welch Schicksal führt dein Streben?


  1. XV. 9. Die Chiarentana, derjenige Theil der Alpen, in welchem die Brenta entspringt; im Winter meist mit tiefem Schnee bedeckt, der im Frühlinge die plötzlichen und gewaltsamen Ueberschwemmungen veranlaßt, welchen die Flußgegenden des nördlichen Italiens fast jährlich ausgesetzt sind.
  2. 13. Der Wald, der Strafort derer, die gegen sich selbst Gewalt verübt.
  3. 20. Der Dichter verschmäht, wie wir hier und anderwärts, selbst im Paradiese, bemerken, ganz gemeine Gleichnisse nicht. Aber sie werden immer ungemein durch die Klarheit und Schärfe, mit welcher sie uns die geschilderte Sache vors Auge stellen. Der alte Schneider, dessen Sehkraft schon geschwächt ist, hält, um einzufädeln, die Nadel nach oben, damit er durch das einfallende Licht das Oehr desto besser erkenne, und lugt scharfblickend hin, um es mit dem Faden zu treffen. Eben so lugen die unter dem Damme hinlaufenden Sünder durch die düstere Dämmerung nach oben, um die auf dem Damme fortschreitenden Dichter zu erkennen.
  4. [85] 30. [Brunetto Latini, einer der gelehrtesten Florentiner seiner Zeit, geboren um 1220, wurde gleich den andern Guelfen nach der Schlacht an der Arbia 1260 aus Florenz verbannt und lebte lange in Frankreich. Als er nach Manfred’s von Hohenstaufen Tode wieder zurückkehrte, ward er Guido Cavalcante’s und Dante’s Lehrer. Er starb 1294. Seine moralisch-philosophischen Werke, „il tresoretto“, das Schatzkästlein und „il tresoro“, der Schatzkasten (V. 119), sind matte Compilationen, aber sittlich rein. Auch von Villani wird er als ein wackerer, aber „weltlich“ gesinnter Mann bezeichnet. Wenn Dante’s Pietät gegen ihn auf der einen Seite rührend ist, so ist auf der andern wieder seine unerbittliche Rechtlichkeit darin hervorleuchtend, daß er das Laster nicht verschweigt, dem Brunetto gegen seine Theorie verfallen zu sein scheint und dessen Häufigkeit ein übles Licht auf seine Zeit wirft.]
  5. 37. Wenn hier der Stillstand dadurch bestraft wird, daß die Sodomiter, die im Rennen anhalten, nachher hundert Jahre liegen müssen, wie die Gotteslästerer, und die auf sie fallenden Flammen nicht abwedeln dürfen, so können wir hierin keine moralische Verbindung zwischen Vergeben und Strafe auffinden – denn der Stillstand im Laster muß immer der Rückkehr zur Tugend vorangehen. Vielleicht aber deutet der Dichter auf eine Eigenthümlichkeit des hier bestraften scheußlichen Lasters hin, welches diejenigen, die sich ihm einmal ergeben haben, bis in ihr höchstes Alter festhalten sollen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ver
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 84 bzw. 85. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_084085.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)