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So kommst du doch schon jetzt, mich fortzusenden?
Und man versprach dir manche Jahre noch?

55
Schon satt des Guts, ob deß mit frechen Händen

Du trügerisch die schöne Frau geraubt,
Um ungescheut und frevelnd sie zu schänden?“

58
Ich stand verlegen, mit gesenktem Haupt,[1]

Wie wer nicht recht versteht, was er vernommen,[2]
Und sich, beschämt kein Gegenwort erlaubt.

61
Da sprach Virgil: „Was stehst du so beklommen?

Sag’ ihm geschwind, daß du nicht jener seist,
Den er gemeint!“ – Ich eilt’, ihm nachzukommen.

64
Die Füße nun verdrehte wild der Geist,

Und sprach mit Seufzern und mit dumpfen Klagen:
„Was also ist’s, das so dich fragen heißt?

67
Doch standest du nicht an, dich herzuwagen,

Um mich zu kennen, wohl, so sag’ ich dir,
Daß ich den hehren Mantel einst getragen.

70
Der Bärin wahrer Sohn war ich, voll Gier

Für’s Wohl der Bärlein, und für diese steckte
Ich in den Sack dort Gold, mich selber hier.

73
Auch unter meinem Haupt gibt’s viel Versteckte,

Fest eingerammt hier in dem Felsenspalt,
Sie, die vor mir die Simonie befleckte.

76
Und dort hinab versink’ auch ich, sobald

Der kommt, für welchen ich dich angesehen,
Und der mir folgt in diesem Aufenthalt.

79
[109] Doch wird er nicht so lang, als mir geschehen,

Die Füße brennend, köpflings eingesteckt,
Fest eingepfählt in diesem Loche stehen.

82
Denn nach ihm kommt, mit schlechterm Thun befleckt,[3]

Ein Hirt von Westen, ein gesetzlos Wesen,
Der mich und ihn hinab zur Tiefe schreckt.

85
Ein neuer Jason ist’s, von dem zu lesen[4]

Im Maccabäer-Buch, dem Philipp wird,
Was diesem einst Antiochus gewesen.“

88
Ich weiß nicht, ob ich nicht zu sehr geirrt,[5]

Auf solche Red’ ihm dieses zu versetzen:
„„Sprich, was verlangt einst unser Herr und Hirt,

91
Zuerst von Petrus wohl an Gold und Schätzen,

Um ihm das Amt der Schlüssel zu verleihn?
„Komm, sprach er, um mein Werk nun fortzusetzen!“

94
Was trug’s dem Petrus und den Andern ein,[6]

Als man durch Loos einst den Matthias kürte,
Statt dessen, der ein Raub ward ew’ger Pein?

97
Nichts ward dir hier, als das, was sich gebührte!

Und hüte wohl das schlecht erworbne Geld,


  1. 58. Die schöne Frau ist die Kirche.
  2. 59–60. Man denke, daß eine hohe Person, der wir, nach ihrer äußern Stellung, die höchste Ehrfurcht schuldig sind, uns für einen Andern hält, und in diesem Mißverständniß uns von sich selbst und von einer andern gleich hohen Person das Schändlichste erzählt habe, und stelle sich vor, wie wir uns benehmen würden – und man wird diese Stelle trefflich finden.
  3. [109] 82. [BN 1][Noch kühner, als die vorangehende, ist diese Stelle, wenn man bedenke, daß der Gemeinte, Clemens V., 1305-1314, ohne Zweifel damals noch lebte!] Der unmittelbare Nachfolger Bonifaz des Achten war der friedliebende Benedict XI., der jedoch nur kurze Zeit regierte. Ihm folgte Clemens, ein Franzose, der durch den Einfluß Philipps des Schönen von Frankreich zum päpstlichen Stuhle gelangte und seinen Sitz nach Avignon verlegte. – [Die schmachvollste Erniedrigungsepoche des Papstthums, unter Frankreichs Knechtschaft, 1309 bis 1377. Avignonenser Exil. Wie der Dichter über dies Ereigniß dachte, hat er nicht nur hier, sondern weit stärker im Fegefeuer Ges. 32 V. 114 ff. ausgesprochen.
  4. 85. Jason bot dem König Antiochus große Summen, um hoher Priester zu werden, und um die Erlaubniß zur Anlegung von Spielhäusern zu erlangen, und gewöhnte, als er diesen Zweck erreicht hatte, seine Leute zur Sitte der Heiden. Maccab. V. 2 Kap. 4 V. 7–10.
  5. 88. Der Dichter hat sich durch die Bekenntnisse des Sünders von seiner Verlegenheit erholt (V. 58 ff.) und Muth gefaßt, dem heiligen Vater in der Hölle die Wahrheit zu sagen. Doch ist er, indem er es erzählt, noch zweifelhaft darüber, ob er nicht in seiner Freimüthigkeit zu weit gegangen. Wie wahr und naturgemäß!
  6. 94. An die Stelle des Judas wurde einer von zwei dazu für geeignet gefundenen Männern, Matthias, durch das Loos zum Apostel-Amte gewählt. Apostelgesch. Kap. 1 V. 21–26.

Berichtigungen und Nachträge

  1. Ges. 19, 82 Anm. ff. Die Annahme, daß Clemens bei Abfassung der vorliegenden Stelle noch gelebt, wird wegen der Verse 79–81 neuerdings von den Auslegern aufgegeben (Wegele, Witte, Notter, Scartazzini). Man sagt, D. habe nicht wissen und sagen können, Bonifaz werde nicht so lange in dem Loche oben stecken, als Nicolaus, (der 1280–1303, also gegen 23 Jahre dort war), bis ihn der nächste, Clemens, ablöse. Dies ist an sich ganz unzweifelhaft. Nun ist aber bekannt, daß nach der schmählichen Aufhebung des Tempelherrenordens und dem unschuldigen Feuertod des Jacob von Molay am 19. März 1314, mit welchem sich die Sage von einer Weissagung baldigen Todes des Papstes wie des Königs aus dem Mund des Sterbenden verband, sich weithin unter dem Volk die Erwartung eines baldigen Gottesgerichts über jene Beiden verbreitete, welches ja auch in demselben Jahre und bei Clemens genau nach einem Monat, am 20. April 1314, eintraf. Lehnt sich nun D. überhaupt gerne an allgemeine oder bestimmtere, zeitgenössische Erwartungen oder Weissagungen an, wie durch die ganze göttl. Kom. zu bemerken und besonders zu Fegf. 33, 45 und Parad. 12, 141 hervorgehoben worden ist, so dürfte dies auch hier nicht unmöglich erscheinen, wo überdies noch sein glühender Haß gegen die französische Wirthschaft und seine Sympathie für die Templer und ihr Geschick, Fegf. 20, 93, in Betracht kommt. Somit [622] könnte die Abfassung unsrer Stelle wohl in die Zeit nach Molay’s, aber vor Clemens’ Tod fallen, wodurch ja die allgemein angenommene Zeitbestimmung über die Veröffentlichung der Hölle (im Laufe des Jahres 1314) nicht berührt, dagegen ein ästhetisches Bedenken, welches die andere, allerdings historisch leichtere und einfachere, Annahme mit sich führt, gehoben wird. So gewöhnlich nämlich auch D. das vaticinium ex eventu gebraucht, so hat dasselbe doch hier gerade, bei zwei Päpsten hintereinander mit derselben Feierlichkeit angebracht, etwas Einförmiges, der überraschende, wirkungsvolle Griff in V. 52 ff. wird durch eine sinnverwandte Wiederholung abgeschwächt, wogegen wir andernfalls eine Steigerung haben, welche man im Geiste des Dichters und seines kühnen Patriotismus, gegenüber dem, gar nie nach Rom gekommenen Papst, jedenfalls lieber annehmen möchte. Berichtigungen und Nachträge, S. 621 f.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 108 bzw. 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_108109.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)