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Nicht weiß ich, was die Stimme sagen wollen,

Obwohl ich auf des Bogens Höhe stand,
Doch schien, der sprach, zu zürnen und zu grollen.

70
Ich stand, das Angesicht zum Grund gewandt,

Doch drang kein Menschenblick in seine Schauer,
Drum sprach ich: „„Meister, komm zum nächsten Strand,[1]

73
Und führe mich hinab von dieser Mauer.

Hier hör’ ich zwar, doch ich verstehe nicht,
Und, sehend, unterscheid’ ich nichts genauer.““

76
„Die That“, sprach er mit freundlichem Gesicht,

„Sei Antwort dir, weil sich’s geziemt, mit Schweigen
Zu thun, was der verständ’gen Bitt’ entspricht.“

79
Wir eilten, bei der Brück’ hinabzusteigen,

Da, wo sie auf dem achten Damme ruht,[2]
Und hier begann die Tiefe sich zu zeigen.

82
Ich sah in Knäueln grause Schlangenbrut,

Und denk’ ich heut’ der ekeln, mannigfachen
Scheusale noch, so starrt vor Grau’n mein Blut.

85
[137] Nicht mag sich’s Libyen mehr zum Ruhme machen,

Daß es Blindschleichen, Nattern, Ottern hegt
Und Vipernbrut und gift’ge Wasserdrachen;

88
Und ganz Aethiopien solche Pest nicht trägt,[3]

Noch tönt am ganzen Strand ein solch’ Gezische,
An den die Flut des rothen Meeres schlägt.

91
Und unter diesem gräulichen Gemische

Lief eine nackte, schreckensvolle Schaar,
Nicht hoffend, daß sie je von dort entwische.[4]

94
Rücklings band die Händ’ ein Schlangenpaar,

Das Schwanz und Haupt durch Kreuz und Nieren steckte
Und vorn zu einem Knäul verschlungen war.

97
Da stürzt’ auf Einen, den ich dort entdeckte,

Ein Ungeheu’r, das ihm den Hals durchstach
Und aus dem Nacken vor die Zunge streckte.

100
Und eh’ man Amen sagt und O und Ach,

Sah ich, wie er, entzündet und in Flammen,
Auch schon als Staub in sich zusammenbrach.

103
Und wie die Glieder kaum in Nichts verschwammen,

So fügte sich, gesammelt, alsobald
Der Staub zur vorigen Gestalt zusammen.

106
So stirbt der Phönix fünf Jahrhundert’ alt,

(Die großen Weisen sagen’s), sich bekleidend
Mit neuerzeugter Jugend und Gestalt,

109
Sich nicht von Kräutern noch von Körnern weidend,

Von Weihrauchthränen und von Balsam nur,
Im Sterbebett aus Nard’ und Myrrhe scheidend.[5]

112
Und gleichwie der, der ohne Lebensspur

  1. 72. Da der Dichter von der Höhe des Brückenbogens die Tiefe nicht erkennt, so bittet er, daß Virgil mit ihm zu dem Damme, welcher die siebente und achte Abtheilung trennt, herabsteigen möge. Daß sie nicht ganz in die Tiefe hinabklimmen, sondern sich nur ihr mehr nähern, ersehen wir aus der Folge.
  2. 80. Also zur siebenten Abtheilung. Hier sehen wir die Diebe, theils als Schlangen, theils als Menschen gestaltet, gegenseitig aber sich durch Berührung verwandelnd, und den Einen in die Gestalt des Andern übergehend, sich zu ungewohnter Form verbindend, sich gegenseitig fesselnd, vernichtend und hassend. Indem wir in diesem und dem folgenden Gesange die außerordentliche Klarheit eines der seltsamsten Phantasiespiele bewundern, finden wir bei näherer Erwägung, daß dieses Spiel kein leeres sei, sondern den Charakter des hier bestraften Lasters und derer, die ihm ergeben sind, auf eine höchst scharfsinnige Weise darstelle. Denn es ist bekannt, wie die zu gemeinsamen Missethaten sich verbindenden Diebe gegenseitig auf sich einwirken, sich ihre Sprache, ihre Listen und Kunstgriffe mittheilen[WS 1], ihre Eigenthümlichkeiten austauschen und in einander verschmelzen, und bei der engsten Verbindung, die das Verbrechen erheischt, sich verachten, hassen und, wenn es Noth thut, gegenseitig aufopfern. Die listigen heimlichen Schlangenwindungen der Diebe, ihr plötzliches Verschwinden, ihr unerwartetes Wiedererscheinen, ihre Angst bei der Gefahr der Entdeckung, kurz Alles, was dieses schändliche Handwerk mit sich bringt, wird man in den folgenden Bildern auf höchst eigenthümliche und scharfsinnige Art dargestellt finden. Daß die Verdammten gegenseitig als Werkzeuge ihrer Strafe dienen, ist nicht minder aus dem Leben gegriffen.
  3. [137] [88. Hier scheint Dante die drei nordafrikanischen Wüsten im Auge gehabt zu haben, die libysche, die äthiopische und die arabische am rothen Meer.]
  4. [93. Wörtlich: daß sie Schlupfwinkel oder Heliotrop finden. Der Heliotrop, ein dunkelgrüner Stein, galt für einen unsichtbar machenden Talisman, gleich der Tarnkappe.]
  5. [111. Nach Ovid Metam. XV. 392, wo es heißt, daß der Phönix sich nur von den Ausschwitz-Tropfen („Thränen“) der Weihrauchstaude und dem Saft des Ingwer nähre und sich von den Aehren der Narde und von den Myrrhen ein Nest bereite, dann sich darauf lege und in Düften verende – um bald neu wieder aufzuleben.]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: mit heilen
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 136 bzw. 137. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_136137.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)