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Der Pisa hindert, Lucca zu erschauen.[1]

31
Mit Hunden, mager, gierig und zum Straus

Wohleingeübt, entsendet’ er Sismunden,
Lanfranken sammt Gualanden sich voraus.

34
Bald schien im Lauf des Wolfes Kraft geschwunden

Und seiner Jungen Kraft, und bis zum Tod
Sah ich von scharfen Zähnen sie verwunden.

37
Als ich erwacht’ im ersten Morgenroth,

Da jammerten, halb schlafend noch, die Meinen,
Die bei mir waren, und verlangten Brod.

40
Theilst du nicht meinen Schmerz, so theilst du keinen;

Theilst du, was bang zu ahnen ich begann,
Und weinest nicht, wann pflegst du dann zu weinen?

43
Schon wachten wir, die Stunde naht’ heran,

Wo man uns sonst die Speise bracht’, und Jeden
Weht’ ob des Traumes Unglücksahnung an.

46
[189] Da hört’ ich riegeln unter mir den öden,

Graunvollen Thurm – und in’s Gesicht sah ich
Den Kindern allen, ohn’ ein Wort zu reden.[2]

49
Ich weinte nicht, so starrt’ ich innerlich;

Sie weinten, und mein Anselmuccio fragte:
Du blickst so, Vater! ach, was hast du? sprich!

52
Doch weint’ ich nicht, und diesen Tag lang sagte

Ich nichts, und nichts die Nacht, bis abermal
Des Morgens Licht der Welt im Osten tagte.

55
Als in mein jammervoll Verließ sein Strahl

Ein wenig fiel, da schien es mir, ich fände
Auf vier Gesichtern mein’s und meine Qual.

58
Ich biß vor Jammer mich in beide Hände,

Und Jene, wähnend, daß ich es aus Gier
Nach Speise thät’, erhoben sich behende

61
Und schrien: Iß uns, und minder leiden wir!

Wie wir von dir die arme Hüll’ erhalten,
O, so entkleid’ uns, Vater, auch von ihr.

64
Da sucht ich ihrethalb mich still zu halten,[3]

Stumm blieben wir den Tag, den andern noch.
Und du, o Erde, konntest dich nicht spalten?

67
Als wir den vierten Tag erreicht, da kroch[4]

Mein Gaddo zu mir hin mit leisem Flehen:
Was hilfst du nicht? Mein Vater, hilf mir doch!

70
Dort starb er – und so hab’ ich sie gesehen,

Wie du mich siehst, am fünften, sechsten Tag,
Jetzt den, jetzt den hinsinken und vergehen,

73
Schon blind, tappt’ ich dahin, wo jeder lag.

  1. 30. Der Berg San Giuliano, der zwischen Pisa und Lucca liegt. Der Traum deutet, wie wir sehen, auf die Flucht Ugolino’s und seine Gefangennehmung. Daß er sich als Wolf bezeichnet, beweist ebenso, wie die Stelle, welche der Dichter ihm angewiesen, daß dieser ihn des Verraths am Vaterlande wirklich für schuldig gehalten hat.
  2. [189] 48. [Ein poetisch feiner Zug, der den Eindruck des ganzen steigert, daß Dante alle vier Mitgefangenen zu unschuldigen „Kindern“ macht, während jedenfalls die zwei Söhne erwachsene Männer waren, gegen welche aber kein geschichtliches Zeugniß der Mitschuld an Ugolino’s Plänen vorliegt!]
  3. 64. Im Original weit schöner und ausdrucksvoller: Da beruhigt’ ich mich, um sie nicht trauriger zu machen.
  4. 67. Im Original wörtlich: Als wir den vierten Tag erreicht, warf sich Gaddo ausgestreckt zu meinen Füßen hin. Der Kundige, welcher von den Grenzen der Uebersetzungskunst einen Begriff hat, wird den Uebersetzer entschuldigen, wenn derselbe lieber einen minderbedeutenden Zug hat durch einen andern ersetzen, als durch erzwungene Wortstellung und schiefe Ausdrücke den Eindruck der gewaltigen Darstellung stören wollen.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 188 bzw. 189. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_188189.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)