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dass civilisirte Menschen sich gewöhnlich von weichen, gekochten Speisen ernähren und daher ihre Kinnladen weniger gebrauchen. Mr. Brace theilt mir mit, dass es in den Vereinigten Staaten eine durchaus gewöhnliche Operation werde, bei Kindern einige Backzähne zu entfernen, da die Kinnladen nicht gross genug wachsen für die vollständige Entwickelung der normalen Zahl.[1]

In Bezug auf den Verdauungskanal ist mir nur ein einziges Beispiel von einem Rudimente vorgekommen, nämlich der wurmförmige Anhang des Blinddarms. Der Blinddarm ist eine Abzweigung oder ein Divertikel des Darms, welcher mit einem Blindsack endigt, und bei vielen niedrigeren pflanzenfressenden Säugethieren ist er ausserordentlich lang, bei dem marsupialen Koala ist er factisch über dreimal so lang als der ganze Körper.[2] Zuweilen ist er in einen langen, sich allmählich zuspitzenden Fortsatz ausgezogen und zuweilen in Abtheilungen abgeschnürt. Es scheint, als wenn in Folge veränderter Ernährung oder Lebensweise der Blindsack bei verschiedenen Thieren sehr verkürzt worden sei, wo dann der wurmförmige Anhang als Rudiment des verkürzten Theils übrig bleibt. Dass dieser Anhang ein Rudiment ist, können wir aus seiner unbedeutenden Grösse und aus den Beweisen für seine Veränderlichkeit beim Menschen schliessen, welche Professor Canestrini[3] gesammelt hat. Er fehlt gelegentlich vollständig oder ist wiederum bedeutend entwickelt; seine Höhle ist zuweilen vollständig für die Hälfte oder zwei Drittel seiner Länge verschlossen, wobei dann der Endtheil aus einer abgeplatteten, soliden Ausbreitung besteht. Beim Orang ist dieser Anhang lang und gewunden; beim Menschen entspringt er vom Ende des kurzen Blinddarms und ist gewöhnlich 4—5 Zoll lang, während er nur ein Drittel Zoll im Durchmesser hat. Er ist nicht bloss nutzlos, sondern wird zuweilen Todesursache, von welcher Thatsache mir vor Kurzem zwei Fälle bekannt geworden sind. Es rührt dies daher, dass kleine, harte Körper in den Kanal eindringen und dadurch Entzündung verursachen.[4]


  1. Prof. Mantegazza schreibt mir aus Florenz, dass er neuerdings den letzten Backzahn bei den verschiedenen Menschenrassen untersucht habe und zu dem gleichen Resultate, wie das im Texte mitgetheilte, gekommen sei, dass er nämlich bei den höheren oder civilisirten Rassen auf dem Wege der Atrophie oder Elimination sei.
  2. Owen. Anatomy of Vertebrates. Vol. III. p. 416, 434, 441.
  3. Annuario della Soc. dei Natur. Modena, 1867, p. 94.
  4. Ch. Martins (De l'unité organique, in: Revue des Deux Mondes. 15. Juin, 1862, p. 16) und Häckel (Generelle Morphologie. Bd. 2, S. 278) haben beide bemerkt, dass dies eigenthümliche Rudiment zuweilen den Tod verursacht.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1878, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/40&oldid=- (Version vom 31.7.2018)