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Die göttliche Antwort: Gottes Wege sind unerkennbar.
Der menschliche Geist vermag nur Weniges zu erfassen.

4 1 Da antwortete mir der Engel, der zu mir gesandt war[1], mit Namen Uriel[2], 2 und sprach zu mir: Dein Herz entsetzt sich über diese Welt, und du wünschest, die Wege des Höchsten zu begreifen? 3 Ich sprach: .Ja, Herr! — Er antwortete mir und sprach: Drei Wege bin ich gesandt, dir zu weisen und drei Gleichnisse dir vorzulegen; 4 kannst du mir eins davon kundthun[3], so will auch ich dir die Wege, die du zu schauen begehrst, zeigen und dich belehren[4], woher das böse Herz kommt[5]. 5 Ich sprach: Rede, Herr! — Er sprach zu mir:

Nun, so wäge mir das Gewicht des Feuers

oder miß mir das Maß[6] des Windes

oder ruf mir den gestrigen Tag zurück.

6 Ich erwiderte und sprach: Welchem Weibgeborenen wäre das möglich, daß du mich nach solchen Dingen fragst? — 7 Er sprach zu mir: Hätte[7] ich dich gefragt,

wieviel[8] Wohnungen im Herzen des Meers seien[9],

wieviel Quellen am Grunde der Tiefe,
oder wieviel Wege über der Veste[10],
’wo die Thore des Hades seien,

oder wo der Weg gehe ins Paradies‘[11],

8 so hättest du mir vielleicht geantwortet:

in die Tiefe bin ich nicht hinabgestiegen,

noch in den Hades bisher ’gedrungen‘[12],
noch bin ich je in den Himmel hinaufgekommen,

’noch hab’ ich das Paradies gesehen‘[13].

9 Nun habe ich dich nur über das Feuer, den Wind und den ’gestrigen‘[14] Tag gefragt, alles Dinge, ohne die du nicht sein kannst; und du hast mir darüber keine Antwort gegeben! — 10 Und er sprach weiter zu mir: Du kannst, was dein ist, was mit dir verwachsen ist[15], nicht erkennen, 11 wie wirst du dann das Gefäß sein können, das des Höchsten Walten faßt? ’Denn des Höchsten Wege sind als ewige erschaffen‘[16]; ’du aber, ein sterblicher Mensch, der im vergänglichen Äon lebt, wie kannst du das Ewige begreifen?[17].



  1. Man beachte, daß der Verfasser die Gelegenheit, die Engelerscheinung zu beschreiben, nicht benußt; vgl. Offenb. Joh. 1; 4 Esra ist ein echter Schüler der Propheten und dringt auf die Gedanken; er verschmäht den phantastisch-mythologischen Stoff. Ebendahin gehört, daß er vom Teufel nicht redet. Ebenso ist die Haltung der paulinischen Spekulation.
  2. אוּרׅיאֵל — Die Engelnamen, sämtlich auf -’el gebildet, sind bis jetzt ein noch ungelöstes, schwieriges religionsgeschichtliches Problem.
  3. Die Wiederaufnahme des de quibus durch ex his ist ein Hebraismus.
  4. doceam wie 10,38; respondeam 8,25 und appareas 11,45 Futurum; vgl. Bensly, Missing Fragment S. 16.
  5. Vgl. zum folgenden Passus Apoc. Esdrae (ed. Tischendorf) S. 27. 28 und Apoc. Sedrach 8.
  6. σάτον Hilg.
  7. Lat si eram interrogans te — —, dicebas fortsassis mihi = εἰ ἤμην ἐπερωτῶν σε — — ἔλεγες ἄν μοι Hilg.
  8. Lat quantae = quot = πόσαι Hilg., vgl. Rönsch, Itala u. Vulgata S. 336.
  9. Dieser kosmologische Stoff, der im Äth. Henoch so großen Raum einnimmt, tritt im 4 Esra ganz zurück; auch dies ist charakteristisch für den Verfasser, dem die Geschichte, nicht die Kosmologie am Herzen liegt.
  10. Für die Sterne.
  11. Syr (Aeth Ar¹.² Arm) aut qui sunt exitus inferni, aut quae sunt viae paradisi. Nicht selten hat Lat solche Lücken, z. B. 5,37. 6,44. 7,32. 14,13.
  12. Das Verbum, das Syr Aeth Ar¹.² Arm haben, hat Lat aus Bequemlichkeit ausgelassen; so oft im zweiten Gliede des Verses, z. B. 7,32.48.61. 12,32. 14,5; vgl. auch 7,84. 8,4. 10,35.
  13. Ar² (Aeth Arm) nec vidi paradisum.
  14. ἧς διήγαγες Hilg. nach Ar¹.² Aeth Lat S A per quem.
  15. σὺ ὅσα σά ἐστι μετὰ σοῦ συμβλαστάνοντα v. Wilamowitz. Anspielung an die Lehre, daß auch der Mikrokosmos aus den Elementen: Feuer, Luft (Wasser und Erde) gebildet ist; vgl. auch 8,8. Auch diese Lehre ist wohl orientalischer Herkunft.
  16. Der Satz ist im Lat ausgefallen; Aeth nam in infinito via altissimi creata est; vgl. Syr. [356]
  17. [356]
Empfohlene Zitierweise:
Hermann Gunkel (Übersetzer): Das vierte Buch Esra. Tübingen: Mohr Siebeck, 1900, Seite 355. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasVierteBuchEsraGermanGunkelKautzsch2.djvu/25&oldid=- (Version vom 30.6.2018)