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Zweitens, sie protestierte gegen alle formalen, äußeren Autoritäten in der Religion, also gegen die Autorität der Konzilien, der Priester und der ganzen kirchlichen Tradition; nur das soll Autorität sein, was sich innerlich als solche darthut und befreiend wirkt, also die Sache selbst, das Evangelium. So hat Luther auch gegen die Autorität des Bibelbuchstabens protestiert; aber wir werden noch sehen, daß hier ein Punkt liegt, an welchem er und die übrigen Reformatoren sich doch nicht ganz klar geworden sind, an dem sie daher auch nicht die Konsequenzen gezogen haben, welche ihre prinzipielle Einsicht verlangte.

Drittens, sie protestierte gegen die ganze überlieferte Kultusordnung, gegen allen Ritualismus und jegliches „heilige Thun“. Da sie, wie wir gehört haben, keinen spezifischen Kultus kennt und duldet, keine dinglichen Opfer und Leistungen an Gott, keine Messe und keine Werke, die für Gott und um der Seligkeit willen gethan werden, so mußte der ganze überlieferte Gottesdienst mit seinem Prunk, seinen ganz und halb heiligen Stücken, seinen Gebärden und Prozessionen fallen. Wie viel man aus ästhetischen und pädagogischen Gründen an Formen beibehalten könne, war dem gegenüber eine ganz sekundäre Frage.

Viertens, sie protestierte gegen den Sakramentarismus. Nur die Taufe und das Abendmahl ließ sie als Einrichtungen der Urkirche bezw. als Stiftungen des Herrn bestehen, aber sie wollte sie geachtet wissen, sei es als Symbole und christliche Erkennungszeichen, sei es als Handlungen, die ihren Wert ausschließlich an dem Wort der Sündenvergebung haben, das mit ihnen verbunden ist. Alle übrigen Sakramente schaffte sie ab und mit ihnen die ganze Vorstellung, als sei Gottes Gnade und Hülfe in Stücken zugänglich und sei in geheimnisvoller Weise verschmolzen mit bestimmten körperlichen Dingen. Dem Sakramentarismus setzte sie das Wort entgegen und der Vorstellung, daß die Gnade stückweise gegeben werde, die Überzeugung, daß es nur eine Gnade gebe, nämlich Gott selbst haben als den gnädigen. Nicht weil er so aufgeklärt war, hat Luther in seiner Schrift „Von der babylonischen Gefangenschaft“ den ganzen Sakramentarismus verworfen, – er hatte noch genug Aberglauben in sich, um höchst abschreckende Behauptungen aufstellen zu können –, sondern weil er innerlich erfahren hatte, daß alle „Gnade“ Täuscherei ist, die der Seele nicht den lebendigen

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Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/178&oldid=- (Version vom 30.6.2018)