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27.
Berlin, Mai 1900.

Mehr als ein Monat ist verstrichen, ohne daß ich Ihnen geschrieben habe. Ich bin während dem über den Atlantischen Ozean gefahren, stehe auf demselben Festland wie Sie – aber doch welch unabsehbare Ferne zwischen uns – und Sie wissen noch nichts von dem, was sich in dieser Zeit ereignet hat. Warum habe ich Ihnen so lange nicht geschrieben? Ich könnte sagen, daß es mir an Zeit gefehlt. Das wäre aber nicht wahr. Ein dunkles Gefühl hat mich davon zurückgehalten, das ich mir selbst kaum zu erklären vermag. Eine Scheu. Eine letzte Loyalität, die Schweigen heißt. Ihnen konnte ich auch keine banalen Phrasen schreiben, wie ich deren so viele in diesen letzten Wochen gehört und selbst gebraucht. Denn es gibt Anlässe, wo man sich unwillkürlich ins Banale rettet, weil es eine Hülle ist, eine breite wohl ausgetretene Straße, an deren Richtigkeit von andern nie gezweifelt wird. Man bleibt damit dicht an der gehärteten Oberfläche des eigenen Wesens, enthüllt nichts, was zum innern Ich gehört. Um aber zu den eigentlichen wahren Empfindungen zu gelangen, muß man in die Tiefen des Herzens greifen, und

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Elisabeth von Heyking: Briefe, die ihn nicht erreichten. Verlag von Gebrüder Paetel, Berlin 1903, Seite 135. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Briefe_die_ihn_nicht_erreichten_Heyking_Elisabeth_von.djvu/136&oldid=- (Version vom 31.7.2018)