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Fünfzehnter Brief.


Wir erklären uns die Verschiedenheit in den Eigenschaften gleichzusammengesetzter (sog. isomerer) Körper durch eine verschiedene Anordnung oder Anzahl der Atome ihrer Bestandtheile, und diese Ansicht ist bei vielen unbezweifelbar richtig, aber diese Erklärung passt nicht auf den Phosphor, auf das Selen und viele andere Körper, die als einfache gelten; der weisse ist von dem rothen Phosphor nicht weniger verschieden in seinen physikalischen, physiologischen und chemischen Eigenschaften als das Cyansäurehydrat vom Cyamelid, und wenn wir uns denken wollten, dass der Grund der Verschiedenheit dieser Körper auf einer ähnlichen Ursache beruhe, so müsste der Phosphor als ein zusammengesetzter Körper angenommen werden, von dessen Bestandtheilen wir nichts wissen.

Ein solches Verfahren ist in der Wissenschaft nicht zulässig; denn wir schaffen uns in diesem Fall eine Hypothese, die keinen anderen Grund für sich hat als die Erscheinungen, welche erklärt werden sollen.

Man hat die verschiedenen Zustände, in welchen die einfachen Körper ungleiche Eigenschaften besitzen, mit „allotropisch“ bezeichnet, das Wort Allotropie (von ἀλλότροπος, von ungleicher Beschaffenheit) ist eben nur ein Wort und erklärt diese Zustände nicht. Unsere gewöhnlichen Erklärungen über diese merkwürdigen Zustände haben durch die Entdeckung des ozonisirten Sauerstoffs von Schönbein allen Boden verloren, und es hat das Bestehen desselben uns wieder zum Bewusstsein gebracht, wie wenig wir über die Natur der Materie und den Grund ihrer Eigenschaften wissen. Das gewöhnliche und das ozonisirte Sauerstoffgas stehen in ihren Eigenschaften eben so weit auseinander als Sauerstoffgas und Chlorgas.

Das gewöhnliche Sauerstoffgas, so wie wir es in der Luft kennen, hat bei gewöhnlicher Temperatur weniger Verwandtschaft zu den Metallen als Jod, es zersetzt die Jodmetalle nicht und verbindet sich nicht mit Jod; es oxydirt nicht das Silber, es wirkt nicht auf Alkohol, und zerstört nicht stinkende gasförmige Stoffe, es oxydirt für sich nicht das Ammoniak und nicht den Stickstoff.

Der ozonisirte Sauerstoff zersetzt die Jodmetalle und scheidet das Jod aus; ist er im Ueberschusse vorhanden, so verbindet er sich mit dem Jod unmittelbar zu einem Oxyde – er oxydirt das Silber und verwandelt es in Hyperoxyd; in ähnlicher Weise verhält er sich zu vielen anderen Metallen, welche mit Ausnahme des Goldes und Platins in Oxyde oder Hyperoxyde verwandelt werden – die niederen Oxydationsstufen des Schwefels – Phosphors – Stickstoffs etc. werden in höhere verwandelt, die Wasserstoffverbindungen des Jods, Schwefels werden unter Ausscheidung von Jod und Schwefel zersetzt, das Ammoniak in Salpetersäure und Wasser – der Stickstoff bei Gegenwart von Kalk ebenfalls in Salpetersäure verwandelt – stinkende Miasmen und organische Pigmente, selbst Indigo werden dadurch zerstört – Weingeist in Aldehyd – Essigsäure und Ameisensäure – verwandelt; dies sind Wirkungen der energischsten Art, welche dem gewöhnlichen Sauerstoff

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_115.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)