Seite:De DZfG 1889 01 079.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

aller Geschichtschreiber jetzt die Unterwerfung des Landes für vollendet hielt und eben desshalb zu Lippspringe 782 mit der Einsetzung sächsischer Grafen vorging. Welche Veranlassung hätte er haben können, eben zu diesem Zeitpunkte die Verschärfung der Strafe für Infidelität und die draconischen Strafen auf Verletzung christlicher Vorschriften zu beschliessen[1]?

Unwillkürlich sind die Ereignisse des Herbstes 782, wie sie von den Annalen Einhards berichtet werden, zu Argumenten für die Stimmung des Königs im voraufgegangenen Sommer geworden.

Aber selbst wenn nachgewiesen wäre, dass das Verdener Blutvergiessen auf legaler Grundlage beruhte, so wäre meines Erachtens für seine Beurtheilung nichts gewonnen. An eine solche Massenhinrichtung hatte sicher der Gesetzgeber niemals gedacht. Gegenüber einem Thatbestand, nach welchem 4500 Männer die gesetzliche Todesstrafe verwirkt hatten, hätte, wenn nicht die summa justitia zur summa injuria werden sollte, auch im 8. Jahrhundert die strenge Forderung des Gesetzes der Gnade weichen müssen, es sei denn, dass politische Motive die Ausführung des Gesetzes zwingend erheischten. Darf man aber das behaupten? Die Ereignisse der Jahre 783 und 784 zeigen jedenfalls, dass Karl, wenn er jene Massenhinrichtung wirklich vollzogen hatte, sich über deren Wirkung völlig getäuscht hat. Das Land erwies sich keineswegs als „betäubt von dem gewaltigen Schlage“[2], sondern es spannte jetzt erst recht seine Kräfte an, um die Fremdherrschaft abzuschütteln. Karl scheint sich allerdings mehrfach Täuschungen über den Zustand Sachsens hingegeben zu haben, aber sollte er wirklich, im Herzen des Landes stehend, umgeben von dem sächsischen Adel, unter welchem nur Widukind, der Führer des Aufstandes, fehlte, so sehr über die nachhaltige Kraft des Volkes sich geirrt haben, dass er erwarten durfte, mit diesem einen Schlage das Land für immer bezwungen zu haben? Und doch nur wenn dies seine Meinung war, liesse sich das ungeheure Blutvergiessen allenfalls politisch vertheidigen.

  1. Wie Kentzler S. 356 angesichts der cc. 4 u. 8 behaupten kann, „wie fern dem König der eigene Antrieb zu terroristischer Gesetzgebung gelegen hat, das zeigt sich in der Vermeidung der Todesstrafe als Strafmass bei Verletzung von solchen Geboten, welche rein christlichen Ursprungs sind“, ist ganz unerfindlich.
  2. So Abel S. 358.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1889, Seite 79. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1889_01_079.jpg&oldid=- (Version vom 8.11.2022)