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Angst Sie peinigt, Sie überlassen sich auch in grausamer Selbstquälerei den Vorwürfen eines allzu zarten Gewissens.

Ist es Ihre Schuld, daß Sie, wie Herr Dr. Tronchin Ihnen sagte, zu früh Mutter wurden? Ist es nicht Schuld der Gesellschaft, die es zur Sitte werden ließ, daß die Töchter vornehmer Familien so früh als möglich – verkauft werden? Ist es Ihre Schuld, daß Sie nicht warten durften, bis Ihr Herz und Ihre Sinne den Vater Ihres Kindes wählten? Oder ist es nicht abermals die unsühnbare Schuld einer bis ins innerste Mark hinein verdorbenen Gesellschaft, daß sie die Ehe zu einem Geschäft erniedrigte und damit die Liebe zu einem Laster werden ließ? Ist es wirklich Ihre Schuld, daß der zarte Knabe einer derben Bäuerin zur Pflege anvertraut wurde? Kein Gärtner ist in seinem Fach so ungebildet, daß er eine blasse Treibhausrose in einen Küchengarten der Vogesen verpflanzen würde, aber die Gesellschaft rühmt sich, ihre Glieder dann am besten erzogen zu haben, wenn sie sich am weitesten von den Gesetzen der Natur entfernen.

Ich möchte Ihre Seele heilen, Frau Marquise, damit Sie die Dolchklingen des Gewissens nicht mehr selbstmörderisch gegen sich selber zückt, sondern gegen die großen Verbrecher wider die Natur: Staat und Gesellschaft. Die Zeit kann nicht mehr fern sein, wo sich alle seine unschuldigen

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Lily Braun: Die Liebesbriefe der Marquise. München 1912, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Liebesbriefe_der_Marquise_(Braun).djvu/221&oldid=- (Version vom 31.7.2018)